Leseprobe Nell Sweeney und der dunkle Verdacht

1. Kapitel

September 1868
Boston

„Wir hatten letzten März einen Streit …“, sagte Nell Sweeney mit brummig tiefer Stimme, die angereichert war um einen im Wahnsinn erbebenden Unterton. Während sie mit einer Hand den riesigen Zylinder aus Pappmaschee festhielt, der ihr ständig vom Kopf rutschen wollte, fuhr sie fort: „… kurz bevor der da verrückt wurde. Da gab nämlich die Herzkönigin ein …“

„Zeigen! Zeigen!“ Gracie Hewitt sprang von ihrem goldenen Stühlchen am Kopf des niedrigen Teetisches auf. „Du musst mit deinem Löffel auf den Märzhasen zeigen!“

„Ach ja.“ Wie konnte Nell das nur vergessen, nachdem sie schon Dutzende Male Gracies Lieblingsstellen aus Alice im Wunderland hatte vorlesen müssen – und seit Neuestem auch aufführen musste. Sie nahm den winzigen Silberlöffel, der neben der ebenso winzigen goldumrandeten Porzellantasse lag. „Wenn du dich hinsetzt wie eine richtige junge Dame, mache ich weiter.“

Das kleine Mädchen setzte sich wieder und bauschte seine weiße Schürze um sich her. Die Schürze war ganz genau der nachempfunden, die Alice auf den Illustrationen des Buches trug, und sie war Gracies erste eigene Näharbeit – ausgeführt mit den kleinen unbeholfenen Händen einer Vierjährigen unter der umsichtigen Anweisung Nells. Die Stiche waren krumm und schief, die Nähte hielten kaum zusammen, der Saum kräuselte sich. Aber Gracie trug sie in ihrer kindlichen Unschuld mit demselben Vergnügen wie ein Modell aus dem Hause Worth.

„Wir hatten letzten März einen Streit – kurz bevor der da verrückt wurde.“ Nell zeigte mit ihrem Teelöffel über den Tisch hinweg auf Albert, das liebevoll zerzauste ausgestopfte Kaninchen, das in der heutigen Morgenvorstellung den Märzhasen spielen durfte. Verstohlen schaute sie in das Buch, das aufgeschlagen vor ihr an der Teekanne lehnte. „Da gab nämlich die Herzkönigin ein Festkonzert, und ich musste das Lied vortragen …“, sie räusperte sich theatralisch, „… ,Husch, husch, kleine Fledermaus, warum fliegst du denn so kraus?’ Kennst du es vielleicht?“

„Es kommt mir bekannt vor.“ Gracie wusste den Text nicht nur auswendig, sie sprach ihn auch in einem bemerkenswert überzeugenden Tonfall britischer Oberschicht – eine getreue Nachahmung ihrer geliebten „Nana“ Viola Hewitt. Nell fühlte sich jedoch weniger an Viola erinnert als vielmehr an Violas ältesten Sohn William. Die Ähnlichkeit war schier unheimlich: dasselbe schwarze Haar, dieselben wachsamen Augen und das feine wissende Lächeln … Und wenn Gracie so sprach – ihr Akzent zwar weniger ausgeprägt als der von Will, der in England aufgewachsen und zur Schule gegangen war, aber doch sehr ähnlich –, lief es Nell heiß und kalt den Rücken hinab.

„Wir werden uns wiedersehen, Nell“, hatte er an jenem Tag auf dem Mount Auburn Cemetery zu ihr gesagt, bevor er in der bleichen Morgensonne davongegangen war. Das war nun fünf Monate her, und natürlich hatte sie ihn seitdem nicht mehr gesehen. Sehr außergewöhnliche Umstände hatten sie letzten Winter für wenige Wochen zusammengeführt, und sie konnte sich nicht vorstellen, auf welche Weise sich ihre Wege noch einmal kreuzen sollten. Dr. William Hewitt war trotz seines medizinischen Titels ein professioneller Spieler und den Drogen verfallen. Nell schien es, als habe er sich wie Opiumrauch in Luft aufgelöst, verschwunden in den engen Gassen Shanghais, und ward nie wieder gesehen.

Der Gedanke erfüllte sie mit einer wundersamen Mischung aus Verzweiflung und Erleichterung. Es sollte sie freuen, ihn los zu sein, hatte er es doch bestens verstanden, ihre längst begraben geglaubte Vergangenheit wieder aufzuwühlen. Sie sollte Gott danken, dass er fort war, und darum beten, dass er niemals zurückkehrte.

Ja, das sollte sie.

„Miss Sweeney!“ Gracie hopste auf ihrem Stuhl herum und schlug ungeduldig mit den Händen auf das Damasttischtuch. „Du musst das Lied zu Ende singen, damit ich meinen Satz sagen kann!“ Damit meinte sie ihre Lieblingsstelle. „Ich habe gesagt, ,Es kommt mir bekannt vor’, und du musst jetzt sagen …“

„Ja, ich weiß.“ Abermals mit der Stimme des Hutmachers sagte Nell: „Es geht, wie du weißt, so weiter: Kommst in einem hohen Bogen wie ein Teetablett geflogen …“

Ein lautes Klopfen an der Tür des Spielzimmers ließ sie beide zusammenfahren. Hart schlugen die Knöchel zweimal kurz hintereinander auf das Holz – eins! zwei! – und hallten in der darauffolgenden Stille nach.

Gracie schnitt eine Grimasse. Auch sie kannte mittlerweile das unerbittliche Klopfen von Mrs Mott – der schon recht betagten Haushälterin, die aber immer noch ein despotisches Regiment im Stadthaus der Hewitts an der Tremont Street führte –, wenngleich deren Besuche im Kinderzimmer glücklicherweise recht selten waren.

Nell wollte gerade ihren Hutmacherzylinder absetzen, zögerte aber einen Moment und ließ ihn dann verwegen schief auf. Gracie jauchzte leise. Wie Mrs Mott wohl reagieren würde! Es war ein aberwitzig hoher Hut, den berühmten Illustrationen John Tenniels nachempfunden, mitsamt dem großen Preisschild. Nell und Gracie hatten ihn gemeinsam an einem glücklichen, verregneten Nachmittag gebastelt – aus Mehlkleister, Kaninchendraht und einem in kleine Stücke gerissenen Daily Advertiser – und ihn dann blau und gelb angemalt.

Schwungvoll öffnete Nell die Tür, eine Hand an der Krempe ihres Hutes, damit er ihr nicht vom Kopf fiel. „Mrs Mott, welch seltenes Vergnügen. Treten Sie ein.“

Ganz steif stand die Haushälterin in ihrem schwarzen Kleid da, ihre Lippen blass und schmal wie die Narbe einer alten Schnittwunde, als ihr Blick auf Nells Kopfbedeckung fiel. Mit betont regloser Miene sah sie beiseite. „Ihre Anwesenheit wird im Roten Salon erwünscht.“ Ihre Anwesenheit wird erwünscht statt Mrs Hewitt lässt fragen, ob Sie nicht bitte zu ihr in den Roten Salon kommen könnten, wie – da war Nell sich sicher – ihre Dienstherrin es gewiss gesagt hatte.

„Ich komme gleich nach unten.“

„Sofort, wenn ich bitten darf.“

Die Worte ärgerten Nell, da Mrs Mott damit den Eindruck erweckte, sie hätte das Recht, Nell Befehle zu erteilen. Als Gracies Gouvernante – und eigentlich auch Violas Gesellschafterin – war Nell weder Dienerin noch Dame von Stand, sondern eine jener wenigen Frauen, die mit respektabler Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienten. Sie unterstand nicht Mrs Mott, wie die Hausbediensteten, sondern Viola Hewitt, die ihr bei der Ausübung ihrer Pflichten erfreulich viele Freiheiten ließ.

Mrs Mott ließ ihren Blick durch das Kinderzimmer schweifen, wie sie es immer zu tun pflegte, wenn sie einen Raum betrat – wie ein Habicht, der nach etwas ausspähte, worauf er sich stürzen konnte. Es war ein geräumiges Zimmer, von Gracies großzügiger Nana so eingerichtet, dass es einem Salon in Versailles ähnelte, mit einer reich mit Stuck verzierten und mit pausbackigen Engeln geschmückten Decke, gravierten goldgerahmten Spiegeln und Unmengen geblümten Damaststoffes in schimmerndem Elfenbein, Muschelrosa und Meergrün. Nell konnte sich schon denken, was die grimmige alte Haushälterin sich dachte: All diese Pracht für das uneheliche Balg eines Zimmermädchens!

Als Viola Hewitt sich nach Gracies Geburt entschieden hatte, das Kind als ihr eigenes aufzuziehen, schlug ihr von allen Seiten Ablehnung entgegen. Niemand hatte diese Entscheidung jedoch so sehr missbilligt wie Evelyn Mott. Seit drei Generationen stand ihre Familie nun schon den Hewitts zu Diensten, und sie selbst kniete gläubig nieder vor dem Altar guter Erziehung – und der damit einhergehenden Tugend tadellosen Betragens. Bei den Bediensteten duldete sie keinerlei Verfehlungen, und schier hätte sie der Schlag getroffen, als sich herausstellte, dass Annie McIntyre ein Kind erwartete, denn besagtes Zimmermädchen war zwar verheiratet, doch ihr Gatte befand sich zum Zeitpunkt von Gracies Empfängnis im Krieg. Sehr zum Verdruss von Mrs Mott hatte Violas beherztes Eingreifen jedoch sowohl Annies Ruf als auch ihre Stellung zu retten vermocht – gemeinsam mit ihrem Mann arbeitete sie jetzt gar für die Astors in New York. Und Gracie hatte es davor bewahrt, im Armenhaus zu enden, wo sie – wie Nell leider nur allzu gut wusste – von Glück hätte sagen können, ihren ersten Geburtstag zu erleben.

Durch ihre winzige Brille musterte Mrs Mott das Mädchen, dessen Existenz ihrem straff und sorgsam geführten Haushalt Schande bereitete. Ob sie wusste, wer Gracies Vater war? Das Kind sah Will mit jedem Tag ähnlicher, zumal es nun auch anfing, in die Höhe zu schießen – schon jetzt war es so groß wie manche der Sechs- und Siebenjährigen, mit denen es jeden Nachmittag auf dem Common und im Public Garden spielte. Gewiss ahnte Mrs Mott, dass Viola das Kind auch deshalb adoptiert hatte, weil ihr ältester Sohn der Vater war. Ein Umstand, der die Abneigung der Haushälterin gegen den kleinen Eindringling keineswegs minderte – eher im Gegenteil.

„Sie sollten dem Kind beibringen, Erwachsene nicht so anzustarren“, bemerkte Mrs Mott. Bevor Nell sie unklugerweise daran erinnern konnte, dass Gracie sie nur deshalb anstarrte, weil sie von ihr angestarrt wurde, fuhr die Haushälterin auch schon fort: „Und Sie könnten ihr auch etwas Vorzeigbares anziehen, bevor Sie mit ihr runterkommen. Mrs Hewitt hat Besuch.“

Gracie runzelte verwirrt die Stirn und betrachtete verwundert ihre liebevoll genähte Schürze. Nell hoffte, dass sie die Bemerkung nicht verstanden hatte – und auch nicht um eine Erklärung bitten würde.

„Wer sind die Besucher?“, fragte Nell rasch.

„Ein Mann und eine Frau, ziemlich gewöhnliche Leute, klingen wie Iren. Ich habe mich schon gefragt, ob es wohl Verwandte von Ihnen sind – Ihre Eltern vielleicht?“

„Meine Eltern leben nicht mehr.“ Ihre Mutter zumindest, und vielleicht ja auch ihr Vater, wer wusste das schon. „Und sonst habe ich niemanden.“

„Ach nein?“, erwiderte Mrs Mott vielsagend.

Damit hatte Nell nicht gerechnet. Verzweifelt suchte sie nach einer Antwort. Bitte lass sie nicht von Duncan erfahren haben! Alles, nur das nicht.

Die Haushälterin ließ ein paar Sekunden verstreichen, als hoffe sie inmitten des Schweigens auf eine dramatische Enthüllung. Nell kannte diesen Trick und hielt den Mund.

„Ich kann mich erinnern, dass Mrs Hewitt einmal einen Bruder erwähnt hatte“, meinte Mrs Mott schließlich. „Oder hatte ich mich da verhört?“

Nell atmete unmerklich auf. „Sie haben sich nicht verhört. Ich habe einen Bruder, James. Jamie. Aber ich habe ihn seit Jahren nicht gesehen. Was lässt Sie glauben, die Besucher seien mit mir verwandt? Es gibt sehr viele Iren in Boston.“

„Allerdings.“ Mrs Mott rümpfte die Nase, als rieche sie etwas sehr Unangenehmes. „Aber die wenigsten sind so dreist, bei einem Haus wie diesem an die Vordertür zu klopfen, statt zur Hintertür zu kommen. Und noch weniger schaffen es, dass man ihnen sogar Tee im Roten Salon serviert.“ Schon im Gehen setzte sie hinzu: „Trödeln Sie nicht.“

„Was heißt vorzeigbar?“, fragte Gracie, nachdem die Haushälterin verschwunden war. „Ist das so was wie zeigen?“

„So ähnlich“, erwiderte Nell. „Sie hat gemeint, dass du ein hübsches Kleid anziehen sollst. Aber deine Schürze ist so schön, und Nana freut sich immer, dich damit zu sehen. Deshalb bleibst du am besten so, wie du bist.“ Es war Violas Idee gewesen, dass Gracie sie „Nana“ nennen solle – in der Öffentlichkeit hätten sich gewiss zu viele Augenbrauen argwöhnisch gehoben, wenn ein so kleines Kind eine Dame fortgeschrittenen Alters „Mama“ nannte.

Der Vorschlag schien Gracie zu gefallen, denn sie sprang sofort auf und ließ sich von Nell die Haare ordentlich flechten. „Weiß Mrs Mott nicht, wie ich heiße?“, fragte sie weiter.

„Doch.“ Nell strich einige störrische Strähnen glatt.

„Warum nennt sie mich dann immer ,das Kind’?“

Aus demselben Grund, weswegen sie Nell immer „die Sweeney“ nannte und Mrs Hewitts Krankenschwester Gabrielle Bouchard „die Negerin“. Einen Menschen nicht beim Namen zu nennen, sprach ihm zugleich auch seine Würde ab. „Sie ist schon alt“, erklärte Nell Gracie und band ihr die blaue Schleife wieder ins Haar. „Alte Leute vergessen viel.“

„Du bist auch alt und vergisst aber nichts.“

„Ich bin sechsundzwanzig. Mrs Mott ist … mmh …“ Doppelt so alt? Dreimal so alt? „… viel älter.“

„Nein! Nein!“, erhob Gracie heftig Einspruch, als Nell ihren Zylinder absetzen wollte. „Wir sind noch nicht fertig.“

„Butterblümchen, Nana wartet unten auf uns …“

„Nur noch bis zu meinem Satz“, bettelte Gracie und setzte sich an den Tisch.

„Also gut. Wo waren wir …“ Nell rückte sich den albernen Hut zurecht, setzte sich wieder und begann zu singen. „Kommst in einem hohen Bogen wie ein Teetablett geflogen. Husch, husch …“

Vom Stuhl neben sich nahm Gracie die Haselmaus, gespielt von dem mausförmigen schmiedeeisernen Türstopper, und bewegte sie sachte hin und her. Mit schläfriger Mausestimme säuselte sie: „Husch, husch, husch, husch …“

„Tja, und ich war noch kaum mit der ersten Strophe fertig“, fuhr Nell fort, „da brüllte die Königin schon: ,Er schlägt ja nur die Zeit tot! Runter mit seinem Kopf!’„

Und nun endlich kam Gracies Lieblingsstelle, vorgetragen mit jener blasierten Unerschütterlichkeit, die einer ehrenwerten Dame aus Bostons oberster Schicht würdig war: „Wie schrecklich grausam!“, rief sie aus.

 

Violas privater Salon im Hause der Hewitts – einer imposanten Stadtresidenz, gelegen an jenem als „Colonnade Row“ bekannten Teil der Tremont Street, die an den Boston Common grenzte – war ein exotisch anmutender Rückzugsort mit Antiquitäten, seidenen Stoffen und Behängen in allen erdenklichen Rottönen von Karmin und Magenta bis zu dunklem Zinnober. Die südliche Wand wurde fast gänzlich von einem japanischen Wandschirm aus dem siebzehnten Jahrhundert eingenommen, der einen schwarzen Greifvogel im Schnee zeigte, darüber einen rot unterlegten Himmel aus Blattgold. Davor saß Viola Lindleigh Hewitt auf einem ebenfalls japanischen Sitzmöbel mit prächtig geschnitzten Lehnen, das Nell wegen der hölzernen Löwenköpfe darauf nur den „Löwensessel“ nannte und Gracie den „Thron“.

Viola, eine hochgewachsene hagere Dame mit markanten Zügen und leicht ergrautem schwarzem Haar, war eine jener Frauen, die gern als „gut aussehend“ bezeichnet wurden. Sie trug ein Tageskleid aus bronzefarbener Seide – wie immer ohne Krinoline – und unzählige elfenbeinerne Armreifen. Wie sie so in ihrem majestätischen Stuhl gelehnt saß, wäre man niemals auf den Gedanken gekommen, dass die Beine ihr seit einem Anfall von Kinderlähmung vor zehn Jahren den Dienst versagten. Nur die beiden faltbaren Gehstöcke mit den Griffen aus Elfenbein, die über der Rückenlehne hingen, mochten auf ihre Gebrechlichkeit hindeuten.

„Nana!“, jauchzte Gracie beglückt, als Nell sie in den Roten Salon führte, und kletterte sogleich mitsamt ihren mitgebrachten Puppen auf Violas Schoß, wo sie stets willkommen war und eine herzliche Umarmung nie missen musste.

Die Besucher waren ein Paar in mittleren Jahren, dessen ärmliche Kleidung einen auffallenden Gegensatz zu dem opulenten Samtsofa bot, auf dem es saß. Unter der abgetragenen Haube der Frau schauten einige rostfarbene Haarsträhnen hervor. Auch ihre Nase schimmerte rötlich, ihre Augen waren rot gerändert. In der Hand hielt sie ein zerknülltes lavendelfarbenes Taschentuch, das Nell als eines von Violas erkannte.

Sie gab dem Mann neben sich einen Stups, woraufhin der Tee in seiner Tasse auf den Unterteller schwappte. Er warf ihr einen verärgerten Blick zu. Sie schaute zu Nell hinüber und deutete mit dem Kinn auf sie, sodass er sich umwandte, aufsprang und den Kopf zu einer sichtlich ungeübten Verbeugung neigte. Unverkennbar ein Ire, schwarzhaarig, mit pockennarbigen Wangen und viel zu groß geratenen Ohren. Nell erwiderte seinen Gruß mit einem Nicken und lächelte ihm beruhigend zu. Er sah seine Frau fragend an – es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass die beiden ein Ehepaar waren –, und die bedeutete ihm, sich wieder zu setzen.

„Was für ein allerliebstes Mädchen“, bemerkte die Frau. Nur noch schwach, von den Jahren geglättet, und doch unüberhörbar war der leicht singende Tonfall. „Ihre Enkelin, Ma’am?“

„Eigentlich habe ich sie adoptiert“, erwiderte Viola mit ihrer angenehmen, etwas rauen Stimme und ihrem sehr britischen Akzent. Eine mit Bedacht gewählte Antwort, schließlich war Gracie letztlich wirklich ihre Enkelin. „Ich hatte mir schon immer eine Tochter gewünscht – nur verständlich bei vier Söhnen –, und als ich mich schon mit meinem Schicksal abgefunden hatte, kam Gracie. Einer der glücklichsten Tage meines Lebens.“

„Ah ja.“ Das unsichere Lächeln der Besucherin verriet ihre Überraschung darüber, dass eine Dame von Stand wie Viola Hewitt ein Kind adoptierte, denn die richtige familiäre Abstammung und eine lange Ahnenreihe bedeuteten bekanntermaßen alles in der Bostoner Gesellschaft.

Sanft schob Viola die Kleine von ihrem Schoß und wandte sie den Besuchern zu. „Gracie, das sind Mr und Mrs Fallon.“

„Sehr angenehm. Wie geht es Ihnen?“, sagte das Kind artig, das erst kürzlich seine Schüchternheit Fremden gegenüber abgelegt hatte.

Mrs Fallon lächelte und zeigte ihre schief stehenden Zähne. „Du bist aber ein süßes kleines Mädchen!“ Fast verwundert fügte sie hinzu: „Was für gute Manieren sie hat.“

„Miss Sweeney sei es gedankt.“ Viola deutete auf den Sessel neben sich, und als Nell dort Platz nahm, sah sie sich von Mrs Fallon über den Rand ihrer Teetasse hinweg gemustert. Nells Garderobe – ausgewählt und bezahlt von Viola – war von schlichter Eleganz, wie das modisch schlank geschnittene taubengraue Kleid, das sie heute trug. Einziger Schmuck war Nells Kette mit dem goldenen Uhrmedaillon. Ihr üppiges rotbraunes Haar hatte sie mit zwei perlmuttbesetzten Spangen, die Viola ihr vor einem Monat zum Geburtstag geschenkt hatte, zu einem Chignon aufgesteckt.

Mrs Fallon schien nicht recht zu wissen, was sie von einer jungen Frau mit irischem Namen halten sollte, die so elegant gekleidet war und eine Stellung innehatte, die eigentlich nur Töchtern aus guter Familie – also wohlhabend und protestantisch – offenstand, so sie sich in finanziell bedrängter Lage befanden. Nell indes war derlei Blicke gewohnt und hatte sich angewöhnt, sie eher belustigend als ärgerlich zu finden.

„Mrs Fallon“, sagte Viola, sobald Gracie es sich zu ihren Füßen bequem gemacht hatte und dort mit ihren Puppen spielte, „warum erzählen Sie Nell nicht einfach, was Sie mir gerade erzählt haben?“

Die Fallons starrten Nell an, offenbar ebenso verwundert, warum sie herbeigebeten wurde, wie Nell selbst. „Es ist wegen unseres Mädchens“, begann Mrs Fallon. „Bridie, unsere Tochter. Na ja, eigentlich Bridget, aber wir nennen sie Bridie.“

Ihre Tochter“, wandte Mr Fallon ein und nickte mit dem Kopf zu seiner Frau hinüber. Bei ihm kam der irische Tonfall stärker durch als bei ihr. „Meine Stieftochter.“

Leise und sichtlich beherrscht sagte Mrs Fallon: „Wo, um Gottes willen, ist da der Unterschied, Liam?“

Beschwichtigend hob er die Hände. „Wollt’ ich nur mal klarstellen.“

„Dann eben meine Tochter. Sie ist seit drei Tagen verschwunden … seit Sonntag. Die von der Polizei glauben, dass sie mit ihrem Freund durchgebrannt ist, aber ich weiß, dass sie sich nicht einfach so davonmachen würde – nicht meine Bridie, niemals.“

Ihr Mann hob skeptisch eine Braue. Nell sah zu Gracie hinunter und fragte sich, wie viel sie wohl von dem verstand, was gesprochen wurde. Doch das kleine Mädchen schien ganz darin vertieft, seine Lieblingspuppe mit einer winzigen Nuckelflasche zu füttern.

Mrs Fallon warf ihrem Mann einen strengen Blick zu, ehe sie fortfuhr: „Die Polizei wollte nichts unternehmen, und da sind wir dann zu Mr Harry, weil wir dachten, sie helfen uns, wenn er es ihnen sagt, aber er hat gemeint, dass ihn das nichts angeht.“

Harry? Nell schaute Viola verwundert an. Harry Hewitt war der zweitälteste ihrer drei noch verbliebenen Söhne. Martin, der jüngste, studierte Theologie an der Harvard University und lebte noch zu Hause. Der zweitjüngste war Robbie, der vor vier Jahren in Andersonville, dem berüchtigten Gefangenenlager in Georgia, umgekommen war. Violas ältester Sohn Will, das schwarze Schaf der Familie, hatte nach seinem Aufenthalt in Andersonville ebenfalls als tot gegolten, bis er dann im vergangenen Winter kurz aus der Versenkung aufgetaucht war, als eine Mordanklage ihn fast den Kopf gekostet hätte.

So blieb nur noch Harry, mittlerer Sohn mit ausschweifendem Lebenswandel, um seinen Vater dabei zu unterstützen – und sei es nur auf dem Papier –, die beiden einträglichen Familienunternehmen zu führen. Harry fungierte als Geschäftsführer der großen Tuchfabrik Hewitt Mill & Dye Works, die nördlich des Flusses in Charlestown gelegen war, doch Nell hätte es sehr überrascht, wenn er vom Färben und Weben auch nur einen Deut mehr verstand als sie. Die Geschäfte der Reederei Hewitt Shipping führte denn auch wohlweislich sein Vater August Hewitt.

„Mr und Mrs Fallon leben in Charlestown, und Bridie arbeitet in der Fabrik“, erklärte Viola. „Deswegen hofften sie, Harry könne ihnen helfen.“

Können wahrscheinlich schon. Aber wollen? Harry Hewitt kümmerte sich eigentlich nur um die Belange von Harry Hewitt. Gerne bekannte er sich dazu, dass es wenig im Leben gab, das er der Mühe wert befand, außer der Befriedigung elementarer Bedürfnisse. Diese schlichte, doch grundlegende Wahrheit zu verstehen, hatte er Nell vergangenen Winter wissen lassen, sei sehr befreiend. Die Regeln, die einen bislang kurzgehalten hatten, hören auf zu existieren – was auch gut so sei, waren sie doch von vornherein willkürlich gesetzte Regeln, deren Beliebigkeit sie einem entbehrlich machte. Sobald man sich von ihnen befreite, sei einem alles möglich, alle moralischen Grenzen gefallen.

„Wir waren in Mr Harrys Büro in der Fabrik“, berichtete Mrs Fallon, „aber wie ich sagte, er wüsste nicht, was ihn das angehen sollte. Er sagte, wenn die Polizei meint, dass sie mit Virgil durchgebrannt wär, dann wird’s wohl so sein.“

„Virgil?“, fragte Nell.

„Hines.“ Mrs Fallon verzog das Gesicht. „Gut aussehender Kerl, aber zu nichts nutze. Letzten Mai aus dem Gefängnis gekommen, und keinen Monat später waren er und Bridie unzertrennlich. Ich weiß beim besten Willen nicht, was sie an ihm findet.“

„Das Staatsgefängnis in Charlestown?“, fragte Nell nach.

Mrs Fallon nickte, und ihr Mann fügte hinzu: „Gleich hinter der Fabrik die Straße runter.“

„Warum fragen Sie?“, erkundigte Viola sich bei Nell.

Weil Duncan dort ist. Nell strich ihr Kleid glatt und hörte den Brief in der Rocktasche rascheln, der letzten Freitag erst von Duncan gekommen war. „Nur so.“

„Weiß ja wirklich nicht, was du an dem gut aussehend findest“, warf Mr Fallon ein, „der mit seinen komischen Sternen auf der Stirn.“

„Sterne?“ Nell horchte auf.

„Während des Krieges war er in der Marine“, erklärte Mrs Fallon. „Hat sich da eins von diesen Dingern machen lassen … wie heißen sie doch, wo man sich in die Haut stechen lässt …“

„Eine Tätowierung“, meinte Viola. „Seeleute lassen sich oft so etwas machen.“

„Ja schon, aber auf der Stirn?“, fragte Nell verständnislos.

Mrs Fallon zuckte die Achseln. „Wie gesagt, ich weiß auch nicht, was sie an dem fand.“

„Wie alt ist sie?“, wollte Nell wissen.

„Einundzwanzig.“

„Und sie lebt bei Ihnen?“

„Ja“, sagte Mrs Fallon. „Nein“, meinte Mr Fallon.

Nell legte den Kopf schräg, als wolle sie fragen: Ja, was denn nun?

Nach einem kurzen Seitenblick auf ihren Mann sagte Mrs Fallon: „Sie hat eine Weile in Boston gelebt, im North End, aber den ganzen Sommer über war sie wieder zu Hause.“

„Um in der Nähe von Mr Hines zu sein?“, fragte Nell.

„Denk ich mal“, erwiderte Mrs Fallon nach kurzem Zögern.

„Da die Polizei vermutet, sie sei mit Mr Hines durchgebrannt, ist er wohl auch verschwunden“, meinte Nell.

„In den letzten Tagen hat ihn zumindest niemand mehr in Charlestown gesehen“, erwiderte Mrs Fallon, „aber das heißt noch lange nicht, dass Bridie mit ihm davon ist – jedenfalls nicht aus freien Stücken. So ist sie nicht. Im Grunde ihres Herzens ist sie ein gutes Mädchen.“

Woraufhin sich von Liam Fallon ein leises Schnauben vernehmen ließ. Doch seine Frau beachtete es nicht – oder war zu durcheinander, um es zu bemerken – und fuhr unbeirrt fort: „Meine Bridie hat die schönsten roten Haare, die Sie sich vorstellen können. Wie sie in der Sonne leuchten … Große grüne Augen hat sie und rosige Wangen. Wenn ihr etwas geschehen ist …“ Sie senkte den Kopf und hob ihr in der Hand zerknülltes Taschentuch an die Augen. Ihre Schultern zuckten.

Ihr Mann fischte sich ein Sandwich aus dem Stapel auf dem Teller vor ihm, klappte es auf und beäugte argwöhnisch den Belag.

Gerade als Nell aufstehen wollte, um die arme Frau zu trösten, sagte Gracie auf einmal: „Warum weinst du denn?“ Mit ihrer Puppe im Schlepptau ging sie zu Mrs Fallon hinüber. „Nicht weinen. Schau, willst du mal Hortense halten?“

Sie hielt der weinenden Frau ihre Puppe hin, die sie instinktiv nahm und auf jene mütterliche Weise, die manchen Frauen eigen ist, sogleich an ihre Schulter legte und mit der Hand das Köpfchen stützte. „Genauso hat sich meine kleine Bridie angefühlt“, meinte sie mit zitternder Stimme. „Meine anderen Kinder waren alle schwach und kränklich. Keins hat lange überlebt. Nur meine Bridie, die war gesund und munter und hat sich nicht unterkriegen lassen.“

„Gut gemacht“, flüsterte Nell Gracie kaum hörbar zu, als die Kleine sich wieder zu ihren anderen Puppen setzte.

„Als den Fallons klar wurde, dass Harry ihnen nicht helfen würde“, erklärte Viola Nell, „beschlossen sie, zu Mr Hewitt persönlich zu gehen.“

„Wir sind zu seinem Büro an der India Wharf gegangen“, sagte Mrs Fallon, während sie der Puppe den Rücken tätschelte, „aber er wollte uns nicht empfangen. Hat so einen Kerl rausgeschickt, der uns verscheuchen sollte. Der meinte, wenn Mr Harry findet, dass da nix zu machen wär, dann wär da auch nix zu machen. Ich hab ihn gefragt, was Mr Hewitt denn machen würde, wenn sein Kind verschwunden wäre, und da meinte er, jetzt würde ich aber … was war es noch mal, was ich werden würde?“

„Imposant“, brummelte ihr Mann mit dem Mund voller Sandwich.

„Impertinent?“, schlug Viola vor.

„Das war’s, ganz genau. Ich würde impertinent werden, hat er gesagt und uns vor die Tür gesetzt und gesagt, wir bräuchten nicht wiederzukommen.“

„Wie schrecklich grausam“, sagte Gracie.

Alle Blicke richteten sich auf sie.

„Komm mal her, Butterblümchen“, meinte Nell. Gracie kletterte auf den Schoß ihrer Gouvernante, die ihr ins Ohr flüsterte: „Es ist schrecklich grausam, aber du sollst nicht dazwischenplappern, wenn Erwachsene sich unterhalten.“

„Mrs Fallon hat gehofft, wenn sie zu mir käme und von Mutter zu Mutter spräche, würde sie eher Gehör finden“, meinte Viola.

Ganz offensichtlich war diese Hoffnung nicht enttäuscht worden.

„Haben Sie die Freunde und Bekannten Ihrer Tochter gefragt, wo sie sein könnte?“, erkundigte sich Nell.

Mrs Fallon streichelte noch immer die Puppe und nickte. „Ich hab bestimmt mit jedem in Charlestown gesprochen, oder es wenigstens versucht. Manche, also zum Beispiel die Mädchen, mit denen sie in der Fabrik arbeitet, haben mich kaum eines Blickes gewürdigt. Andere waren ganz gesprächig, wussten aber auch nicht viel. Einfach verschwunden, von einem Tag auf den andern. Samstag ist sie zur Arbeit gegangen und seitdem nicht mehr nach Hause gekommen.“

„Sagten Sie nicht, sie wäre seit Sonntag verschwunden?“, fragte Nell verwundert.

Mrs Fallon errötete. „Na ja, sie ist … äh …“

„Sie ist samstags nie nach Hause gekommen“, sprang ihr Mann ein. „Dieser Virgil hat sie von der Arbeit abgeholt, und dann sind die beiden irgendwohin hin, wo sie … na ja …“

„Ich verstehe“, meinte Nell. „Aber den Tag darauf kommt sie sonst nach Hause?“

„Jeden Sonntagabend um sechs Uhr“, bestätigte Mrs Fallon, „denn zu der Zeit muss Virgil den Pferdewagen zu Ollie Fuller zurückbringen.“

„Ollie ist ja Kohlenhändler in Charlestown“, erklärte ihr Mann, „aber weil er am Sonntag nicht arbeitet, vermietet er sein Fuhrwerk von Samstagabend bis Sonntagabend an Virgil.“

„Wo fahren sie denn hin?“, wollte Nell wissen.

Mrs Fallon schüttelte den Kopf. „Bridie mochte nicht mit mir darüber reden. Sie wusste, was ich davon hielt. Hochwürden Dunne, der Priester in der Kirche zur Unbefleckten Empfängnis, fragt uns immer, warum sie sonntags nie zur Messe kommt. Und was soll ich ihm denn da sagen?“

„Ich glaub ja doch, dass der Jimmy was wissen könnte“, meinte Mr Fallon zu seiner Frau. „Wenn du sie finden willst, fragst du am besten …“

„Ich habe gesagt, dass ich reden würde“, zischte sie ihn an. „Habe ich das nicht gesagt?“

„Jimmy?“, hakte Nell nach.

„Der ist nicht weiter wichtig“, entgegnete Mrs Fallon geschwind.

„Er ist Bridies Ehemann“, sagte Mr Fallon.

2. Kapitel

 

Mrs Fallon schaute ihren Mann finster an und errötete noch tiefer.

„Ah ja“, bemerkte Viola.

„Das wird ja immer seltsamerer“, sagte Gracie.

Oje. Nell und Viola sahen sich an.

„Ich glaube, dass Gracie jetzt gern anderswo spielen möchte“, meinte Viola. „Vielleicht könnten wir ja Miss Parrish bitten …“

Miss Edna Parrish, mittlerweile über achtzig, war einst Violas Kinderfrau gewesen und dann die ihrer Söhne. Manchmal sah sie auch nach Gracie, verbrachte ihre Vormittage nun jedoch lieber mit Bibellektüre oder ihrer Näharbeit.

„Nein!“ Gracie schlang ihre Arme um Nells Hals. „Ich will nicht zu Miss Parrish. Ich will bei Miss Sweeney bleiben!“

„Ist es denn nicht langsam an der Zeit, dass Hortense ihren Mittagsschlaf macht?“, fragte Nell sie.

„Nein! Nein. Noch nicht“, befand Gracie. Für gewöhnlich bettete sie ihre Lieblingspuppe in ihre Wiege, sobald das zweite Frühstück ins Kinderzimmer hinaufgebracht wurde.

„Aber fast“, meinte Nell und hob das kleine Mädchen von ihrem Schoß. „Vielleicht mag Mrs Fallon dir ja helfen, Hortense ins Bett zu bringen.“

Mrs Fallon hielt die Puppe noch immer im Arm. Kurz zögerte sie, dann sagte sie lächelnd: „Aber ja. Ich … ja, gerne doch. Sehr gern.“ Sie schaute so dankbar drein, dass Nell sich fast ein wenig schuldig fühlte, da sie doch nur einen Vorwand suchte, sie für eine Weile loszuwerden.

Die Aussicht auf etwas Abwechslung bei ihrer täglichen Aufgabe schien Gracie gut zu gefallen. Sogleich nahm sie Mrs Fallon bei der Hand und zog sie mit sich fort.

„Es scheint somit“, meinte Nell, während Mr Fallon sich abermals dem Teller mit den Sandwiches zuwandte, „als gäbe es einen Mann zu viel im Leben Ihrer Stieftochter.“

Er schnaubte abfällig und schnappte sich schließlich das Sandwich seiner Wahl. „Die hat sich doch schon die Lippen angemalt, da hat sie noch kurze Kleidchen getragen. So eine war das und war sie schon immer gewesen.“

War? „Glauben Sie denn, dass sie tot ist?“

Er kaute und schluckte und klaubte sich dann noch ein Sandwich vom Teller. „Mit so einer nimmt es nie ein gutes Ende, und mehr sag ich dazu nicht.“

„Erzählen Sie mir etwas über den Ehemann“, forderte Nell ihn auf. Viola verfolgte die Befragung schweigend, froh darüber, dass Nell es so machte, wie sie es für angemessen hielt – und gewiss der Grund, weshalb sie ihre Gouvernante hinzugeholt hatte. Seit letztem Winter, als Nell geholfen hatte, die wahren Umstände jenes Mordes aufzuklären, dessen Will verdächtigt worden war, konnte Viola den „scharfen Verstand“ ihrer Gouvernante gar nicht hoch genug preisen.

„Er ist Hochseefischer, wochenlang auf See, manchmal auch Monate. Die beiden war’n seit einem Jahr zusammen. Der Himmel weiß, was er sich dabei gedacht hat, so eine wie Bridie zu heiraten. War eine von denen, die man an die Kandare nehmen muss.“ Er stopfte sich das Sandwich in den Mund und fügte dann als Nachgedanken hinzu: „Ist eine von denen.“

„Jimmy, nicht wahr?“

„Sullivan. Jimmy Sullivan. Meine Frau glaubt, er würde übers Wasser wandeln können, aber der ist gewiss auch kein Heiliger, das kann ich Ihnen sagen. Da brennt öfter mal die Sicherung durch, bei dem Jimmy Sullivan, und Boxer ist er auch. Verdient sich bei Wettkämpfen in der Stadt mit den bloßen Fäusten einen guten Penny.“

„Hat er seine Fäuste auch einmal gegen Bridie gerichtet?“, wollte Nell wissen.

„Ein- oder zweimal. Sie hat’s nicht anders gewollt – andern Männern schöne Augen gemacht, betrunken nach Hause gekommen … Kann man ihm ja kaum verdenken, wenn er so eine wie Bridie im Zaum halten muss. Selbst meine Frau hat zu ihr gesagt, dass sie selbst Schuld hat. Wollte sie auch davon abbringen, sich rumzutreiben, während Jimmy auf See war. Ehebruch ist Sünde, hat sie ihr gesagt, und dass sie es besser wissen sollte.“

„Wusste Jimmy, dass sie ihm untreu war?“

„Er hat sich’s wohl gedacht, wegen der Gerüchte und wie sie mit andern Männern umging und so. Sie hat aber immer alles abgestritten, und einem hübschen Mädel glaubt ein Mann ja alles, was es will, dass man ihm glaubt. Aber er war halt öfter weg, als dass er daheim war, und wenn die Katze aus dem Haus ist …“

„Es gab also noch andere Männer außer Mr Hines?“

„Oh, sie war schon immer recht freizügig – zumindest bis dann letzten Mai dieser Virgil aufgetaucht ist. Ich wusst ja nie, wie sie alle heißen, die andern, aber den ganzen Sommer über hieß es dann auf einmal nur noch ,Virgil dies’ und ,Virgil das’.“

„Seit wann wohnt sie wieder zu Hause?“

„Seit Juni. Jimmy war ‘n paar Tage früher heimgekommen und hat die beiden erwischt. Bridie hat er ein blaues Auge geschlagen, aber Virgil hat er in Frieden gelassen. Meinte, er wüsste, dass es alles Bridies Schuld sei, sie wär halt wie ‘ne läufige Hündin … Oh, ‘tschuldigung“, brummelte er und schaute Nell und Viola verlegen an.

„Wir sind durchaus nicht so leicht zu schockieren“, versicherte Viola ihm und warf Nell ein feines Lächeln zu.

„Er hat Mr Hines einfach so laufen lassen?“, fragte Nell.

Mr Fallon nickte. „Meinte nur, dass kein Mann so einer wie Bridie widerstehen könnte, wenn sie ihm ihren … äh, also sich an ihn heranmachte. Er machte Virgil keinen Vorwurf. Hat ihm gesagt, er könne sie haben, solang sie ihm nie wieder unter die Augen käme, und klug beraten wär er, wenn er sie mit ein paar Schlägen zur Vernunft bringt, denn was anderes versteht sie nicht.“

„Wissen Sie, ob Mr Hines diesen Rat befolgt hat?“, erkundigte sich Nell.

Er schüttelte den Kopf. „Sie lebt seit Juni bei uns, und ich hab seitdem keine blauen Flecken mehr an ihr gesehen, aber vielleicht gehört er ja zu denen, die erst mal abwarten und dann richtig zuschlagen, wenn’s nicht mehr anders geht.“

Oder zu denen, die dorthin schlagen, wo man es nicht sieht, dachte Nell bei sich.

„Wenn die beiden zusammen durchgebrannt sind“, fuhr Fallon fort, „und sie ihn genauso zum Narren hält wie Jimmy … tja, wer weiß, was dann geschieht.“

Er nahm sich noch ein Sandwich und fügte hinzu: „Oder schon geschehen ist.“

 

„Sie tut mir leid“, bemerkte Viola, nachdem die Fallons gegangen waren.

„Mrs Fallon?“

Sie nickte. „Und Bridie. Es ist so leicht, sie ein gefallenes Mädchen zu nennen und als unwürdig abzutun, aber meist ist derlei doch …“

„Viel komplizierter?“, vermutete Nell und lächelte. Sie hörte diesen Ausspruch nicht das erste Mal von Viola, für die das Leben nicht nur in Schwarz und Weiß bestand, sondern unendlich viele Farbschichten verschiedenster Töne und Nuancen bereithielt. Und hatte nicht Mr Hewitt auch sie einst vor der Schande einer jugendlichen Verfehlung bewahrt, als er sie heiratete, obwohl sie ein Kind – namentlich Will – von einem anderen Mann erwartete? Wie Nell selbst, so wusste auch Viola Hewitt nur zu gut, wie leicht eine Frau durch äußere Umstände vom rechten Pfad abkommen konnte … und ebenso gut kannte sie die Folgen, wenngleich sie ihr selbst erspart geblieben waren.

Nun meinte sie: „Ich möchte Sie um etwas bitten.“

Nell seufzte.

„Wenn ich mich selbst darum kümmern könnte“, sagte Viola rasch, „würde ich es tun. Aber mit diesen nutzlosen Beinen …“

„Mrs Hewitt …“

„Als Will letzten Winter verhaftet wurde, waren Sie mir eine solche Hilfe. Ich weiß, dass Sie herausfinden können, was mit Bridie geschehen ist. Sie haben so etwas an sich … die Menschen vertrauen Ihnen – sie erzählen Ihnen Dinge, die sie anderen gegenüber gerne verschweigen. Und Sie haben einen so scharfen Verstand, Nell. Ihnen entgeht nichts.“

„Ich tappte, ehrlich gesagt, recht häufig im Dunkeln“, bekannte Nell. „Und wenn Sie wüssten, wie oft ich die falschen Schlüsse gezogen habe …“ Sie schlussfolgern zu viel, hatte Will stets zu ihr gesagt. Viel zu viele voreilige Vermutungen. Und er hatte recht gehabt.

„Harry wird ihr keine Hilfe sein“, befand Viola. „Mr Hewitt auch nicht. Diese arme Frau hat außer mir niemanden, an den sie sich wenden kann! Und ich habe nur Sie, Nell.“

„Ich muss mich um Gracie kümmern.“

„Sie macht jetzt ihren Mittagsschlaf und wird nicht vor drei, halb vier aufwachen. Und dann kann Miss Parrish nach ihr sehen.“

„Sie möchten, dass ich gleich heute damit beginne?“

„Mir scheint hier jede Minute zu zählen. Ich sage Brady sofort Bescheid, dass er Sie mit dem Brougham nach Charlestown hinüberfahren soll, damit Sie keine Mietkutsche nehmen müssen. Und ein Schreiben mit meiner Empfehlung und Bitte um Unterstützung und dergleichen gebe ich Ihnen auch mit – das könnte Ihnen vielleicht hie und da helfen.“ Eine von Viola Hewitts eigentümlichen Untertreibungen, war sie doch eine der bedeutendsten Damen Bostons, eine angesehene Philanthropin und Matriarchin einer der ältesten Familien der Stadt. Ihre Empfehlung öffnete einem alle Türen, oder zumindest fast alle.

Nell betrachtete das Muster des Orientteppichs und dachte an alles, was Viola Hewitt ihr in den letzten vier Jahren gegeben hatte, insbesondere an Gracie. Als sie wieder aufsah, begegnete sie Violas wohlwollendem Blick. „Sie wissen, dass ich Ihnen die Bitte nicht ausschlagen kann“, meinte sie.

„Ich danke Ihnen, meine Liebe.“ Viola griff nach Nells Hand und drückte sie. „Sie müssen wissen, dass Sie mir nicht nur meine Beine ersetzen – mehr noch als Gracie sind Sie mir die Tochter, die ich nie hatte. Ich wüsste nicht, was ich ohne Sie tun würde.“

3. Kapitel

 

„Das hier ist die Weberei“, sagte die junge Fabrikarbeiterin, die sich bereitgefunden hatte, Nell zum Arbeitsplatz von Bridie Sullivan zu führen. Das Mädchen musste fast schreien, um den stampfenden Maschinenlärm zu übertönen, der die Tuchfabrik der Hewitts erfüllte.

Angesichts dieser riesigen Halle beschaulich von Weberei zu sprechen, kam Nell vor, als würde man den Hafen von Boston eine kleine Bucht nennen. Unter einer hohen Decke erstreckte sie sich auf bestimmt hundert Metern Länge über das gesamte dritte Stockwerk der Fabrik. Unzählige mechanische Webstühle surrten, klackerten und rumpelten unentwegt, derweil Dutzende junger Frauen – manche von ihnen eher noch Mädchen – zwischen den Maschinen hin- und herliefen, um sie zu bedienen. Durch eine lange Reihe hoher Fenster schien hell die Mittagssonne in den weiß getünchten Raum, doch die Scheiben waren allesamt aus Milchglas, damit die Arbeiterinnen sich nicht davon ablenken ließen, dass sie hinaus auf den Fluss schauten. Früher hatte dieser die Maschinen angetrieben, bevor Mr Hewitt Wasserkraft durch Dampfkraft ersetzt hatte.

„Bridie hat an einer von den Maschinen da drüben gearbeitet, zusammen mit Ruth und Evie.“ Das Mädchen zeigte auf zwei junge Frauen, die mit vereinten Kräften an dem Lederriemen zogen, der die Webmaschine mit der darüber befindlichen Hydraulik verband. Eine der beiden war groß und kräftig, üppig und brünett, die andere klein und zierlich und eher unscheinbar mit bleicher Haut und fisseligem blondem Haar, das sie sich im Nacken zu einem Knoten aufgesteckt hatte. Wie die anderen Mädchen in der Fabrik trugen sie Schürzen über ihren zerschlissenen Kleidern, deren Röcke so kurz umgesäumt waren, dass ihre bloßen Füße und Knöchel darunter hervorsahen.

„Die Große ist Ruth“, schrie das Mädchen über den Lärm hinweg. „Ruth Watson. Die kleine Blonde ist Evie Corbet.“

„Glaubst du, sie würden sich mit mir unterhalten?“, fragte Nell ebenso laut.

„Über Bridie?“ Das Mädchen zuckte unschlüssig die Achseln. „Wenn ja, werden sie zumindest kein gutes Wort über sie zu verlieren haben. Sie konnten sie nie besonders leiden, und seit man Bridie rausgeworfen hat, müssen die beiden die Arbeit von dreien erledigen.“

„Rausgeworfen?“, wiederholte Nell überrascht. „Bridie ist entlassen worden?“

„Klar. Oder was glauben Sie, weshalb sie nicht mehr hier ist?“

Nell fragte sich, ob Bridies Mutter wohl davon gewusst hatte, und kam dann zu dem Schluss, dass sie es ganz sicher wusste. Mrs Fallon hatte Nell schon nicht erzählen wollen, dass Bridie verheiratet war, um sie nicht als Ehebrecherin erscheinen zu lassen. Bestimmt hatte sie alles verschwiegen, was ein irgendwie unschmeichelhaftes Licht auf ihre Tochter werfen könnte – zumindest bis zu dem Zeitpunkt, da sie sich der Hilfe Viola Hewitts gewiss war.

„Vielleicht warten Sie aber besser, bis Ruth und Evie mit der Arbeit fertig sind, bevor Sie mit ihnen reden“, riet ihr das Mädchen. „Der Vorarbeiter wird sonst wütend. Aber bald ist ohnehin Mittagspause.“

Nell bedankte sich bei dem Mädchen, drückte ihm eine Münze in die Hand und ging dann wieder nach draußen, um zu warten.

 

Hewitt Mill & Dye Works war ein rechtwinklig angelegter Gebäudekomplex, der die ansonsten noch ländlich idyllische Landschaft zerstörte. Herzstück der Anlage war die Tuchfabrik, ein gewaltiger steinerner Kastenbau, der von einer geradezu winzig geratenen Kuppel gekrönt wurde. Das Fabrikgelände war wie ein kleines Dorf. Es gab einen eigenen Laden, eine eigene Kirche und lange Reihen von Backsteinhäusern, in denen die Fabrikarbeiterinnen lebten.

In militärisch gerader Linie waren Bäume gepflanzt worden, dazwischen standen hie und da steinerne Bänke. Nell setzte sich auf eine Bank, von der sie glaubte, dass Harry Hewitt sie vom Fenster seines Büros nicht mehr sehen konnte, und streifte sich ihre Handschuhe aus schwarzer Häkelspitze ab. Dann holte sie ihr kleines ledergebundenes Skizzenbuch und den Drehbleistift aus ihrem am Gürtel hängenden Handbeutel hervor und fertigte mit raschen Strichen eine Zeichnung von der Tuchfabrik an.

Um genau zwölf Uhr begann eine Glocke in der Kuppel zu läuten. Binnen Sekunden strömten die Fabrikarbeiter durch das große Tor hinaus in den wohltuenden Sonnenschein. Die meisten Frauen liefen eilig zu den fabrikeigenen Wohnhäusern, wo nun vermutlich das Mittagessen für sie bereitstand. Einige blieben auf dem Hof, um miteinander zu plaudern oder den Männern schöne Augen zu machen.

Unter ihnen entdeckte Nell auch Bridies ehemalige Kolleginnen Ruth und Evie, die sich mit zwei anderen Mädchen und einem stattlichen jungen Burschen mit schwarzem Haar unterhielten. Er flüsterte Ruth, der großen Brünetten, etwas zu, woraufhin die sich kurz umsah und dann den anderen bedeutete, ihr zu folgen. Evie, die kleine Blonde, zögerte einen Moment, ließ sich dann jedoch überreden, und schon verschwanden sie allesamt still und heimlich zwischen zwei Gebäuden.

Nell folgte ihnen durch ein kleines Wäldchen zu einer abgeschiedenen Stelle am Flussufer, wo die Mädchen nah am Wasser im Gras lagen und zusahen, wie der junge Mann sich eine Zigarette drehte. Er trug keine Jacke, sein kragenloses Hemd war aufgeknöpft, die Ärmel hochgekrempelt. Bis auf Evie hatten die Mädchen sich ihre Röcke bis zu den Knien gerafft – eine Unschicklichkeit, die sie für alle Zeiten ruiniert hätte, wären sie höhere Töchter aus Boston gewesen.

„Die willst du hoffentlich mit uns teilen, Otis“, bemerkte eine hübsche, etwas füllige junge Frau, während sie sich ihr Kleid am Kragen aufknöpfte.

Otis lächelte sie an, als er mit der Zunge über das Papier leckte und dann mit dem Finger darüber fuhr. „Klar, Mary, ich lasse dich gerne mal kosten.“ Er beugte sich vor und steckte ihr die Zigarette zwischen die Lippen, holte eine Schachtel Streichhölzer hervor und gab ihr Feuer. „Aber für jeden Zug bekomme ich einen Kuss.“

Daraufhin folgte allgemeines Gekicher, das jedoch wieder verstummte, sobald sie Nell auf sich zukommen sahen. Rasch zogen die Mädchen sich ihre Röcke über die bloßen Beine; Mary versteckte die Zigarette hinter ihrem Rücken. Nur zweimal zuvor hatte Nell Frauen rauchen gesehen – einmal eine Schauspielerin und einmal eine Prostituierte. Den Anblick fand sie nach wie vor befremdlich.

„Guten Tag“, grüßte Nell, als sie sich zu ihnen gesellte.

Die andern sahen sich an. „Tag“, murmelte Otis schließlich.

„Rieche ich hier zufällig Zigarettenrauch?“, fragte Nell.

Mary war sichtlich um eine gelassene Miene bemüht, doch ihre Augen verrieten ihre Angst. Der selbst ernannte Heilige August Hewitt hatte strenge Verhaltensregeln für seine jungen Fabrikarbeiterinnen ausgegeben – Rauchen gab ganz gewiss Anlass für eine Strafpredigt, wenn nicht gar Grund zur Entlassung.

Ich habe geraucht“, sagte der junge Mann, während er hinter Marys Rücken fasste und sich die Zigarette zurückholte. „Sie hat sie nur für mich gehalten, als ich mir meine Stiefel ausgezogen habe.“ Seine Stiefel, die er wohlgemerkt noch anhatte. Er war der Einzige, der nicht barfuß war.

„Ich habe nur deshalb gefragt“, meinte Nell, „weil ich eigentlich hierherkam, um selbst eine zu rauchen, doch dann habe ich gemerkt, dass ich dummerweise meine Zigaretten zu Hause vergessen habe. Du könntest nicht vielleicht eine entbehren?“

Die jungen Leute musterten sie unverhohlen, angefangen bei ihrem schicken Hütchen bis hinab zu den Stiefeletten aus schimmernd schwarzem Satin. Gewiss fragten sie sich, warum eine Dame, die zumindest den Eindruck erweckte, als sei sie von Stand, von ihnen Zigaretten schnorren wollte.

„Oh, ich will euch keinen Ärger machen, falls das eure Sorge sein sollte“, versicherte Nell ihnen. „Ich arbeite nicht für Mr Harry.“

„Was wollen Sie dann hier?“, fragte Ruth.

Nell holte ihr Skizzenbuch hervor und schlug es bei der Zeichnung von der Fabrik auf. Die andern ließen es interessiert herumgehen und schauten sich einander über die Schulter, um einen Blick zu erhaschen.

„Sind Sie Künstlerin?“, wollte Otis wissen.

„Klar is’ sie das“, fand Ruth mit einem Blick auf die Zeichnung. „Meinst du vielleicht, jeder kann so was? Sieht ja wie eine Fotografie aus.“

Nicht ganz, aber fast. Nell war sogar bei ihren flüchtigen Skizzen auf jedes noch so kleine Detail bedacht. Viola, die selbst eine versierte Malerin war und in jungen Jahren in Paris Unterricht genommen hatte, ermutigte Nell daher immer, freier und weniger gegenständlich zu arbeiten. Doch es widerstrebte Nell, absichtlich nachlässig zu sein, wenn sie nun einmal zu solcher Genauigkeit befähigt war.

Otis blätterte durch das Skizzenbuch und meinte: „Menschen können Sie auch gut zeichnen. Richtig gut.“

Nell bedankte sich bei ihm. „Hat dich schon mal jemand porträtiert?“, fragte sie ihn dann.

„Mich?“, schnaubte er, als er ihr das Buch zurückgab. „Nee, ganz bestimmt nicht.“

„Wie wäre es, wenn ich eine Skizze von dir mache, und dafür gibst du mir eine Zigarette?“, schlug sie vor.

„Im Ernst? Sie wollen mich malen?“

Die Mädchen grinsten vielsagend, während Nell sich auf dem Boden niederließ und dabei inständig hoffte, dass ihr Kleid keine Grasflecke bekam. Sie schlug eine leere Seite in ihrem Skizzenbuch auf und suchte in ihrem Handbeutel nach dem Bleistift.

„Unser Otis“, stellte Ruth fest. „Ein unverbesserlicher Frauenheld.“

„Quatsch“, erwiderte Otis. „Sie ist Künstlerin.“

Die Mädchen neckten ihn freundschaftlich, derweil er die Pose einnahm, die Nell ihm vorschlug – zurückgelehnt, im leicht zu zeichnenden Dreiviertelprofil, das Gesicht der Sonne zugewandt, die durch das Laub hindurchschien. Ein laues Lüftchen wehte hier am Ufer, die Bäume trugen noch ihr sattgrünes Sommerlaub, und leise plätschernd floss der Fluss dahin. Es war so idyllisch, dass man die nahe Tuchfabrik fast vergessen konnte.

„Seid ihr alle hier aus der Gegend?“, fragte Nell, während sie zeichnete.

„Otis kommt von hier“, sagte Mary und stieß dabei den Rauch der Zigarette aus, die sie an Ruth weiterreichte. „Und Evie auch.“ Sie nickte zu dem blonden Mädchen hinüber. „Ich bin aus New Hampshire. Meine Eltern sind Milchbauern.“

Ruth, so stellte sich im weiteren Gespräch heraus, kam aus Vermont, und das andere Mädchen, das Cora hieß, stammte aus dem Nordwesten von Massachusetts. Alle waren auf einem Bauernhof aufgewachsen, und die meisten schickten fast das gesamte Geld, das sie hier verdienten, nach Hause zu ihren Familien. Mary arbeitete in der Fabrik, damit einer ihrer Brüder das College besuchen und der andere eine Holzhandlung eröffnen konnte. Nur Cora behielt ihren ganzen Lohn für sich, denn – Nell war sehr überrascht, das zu hören – sie wollte sparen, um auf das Frauencollege Mount Holyoke gehen zu können.

Als Nell die fertige Zeichnung aus ihrem Skizzenbuch riss und sie Otis reichte, drehte er ihr die versprochene Zigarette, die sie dankend nahm und in ihren Handbeutel steckte – „für später“. Bis auf die kleine stille Evie wollten sich nun auch die Mädchen porträtieren lassen. In Anbetracht ihrer nur halbstündigen Mittagspause, ließ Nell sie sich zusammensetzen, damit sie ein Gruppenbildnis zeichnen konnte.

„Machen eure Eltern sich denn keine Sorgen um euch?“, fragte sie, während sie die Komposition mit schnellen, sicheren Strichen umriss. „Ihr seid ja alle noch recht jung, und die meisten von euch sind doch ziemlich weit fort von zu Hause.“

„Nö, wir werden hier ja an der kurzen Leine gehalten“, erwiderte Ruth.

„Verdammt kurz“, knurrte Cora, woraufhin bei allen außer Evie, die schockiert nach Luft schnappte, allgemeine Erheiterung über ihre ungehörige Wortwahl ausbrach. „Nur weil wir für sie arbeiten, meinen sie gleich, wir würden ihnen gehören. Uns wird vorgeschrieben, wann wir abends zu Bett zu gehen und morgens aufzustehen haben, mit wem wir reden dürfen und worüber.“

„Wenn wir mal nach der Arbeit das Gelände verlassen“, fuhr Mary fort, „werden wir richtig zusammengestaucht und kriegen einen Vermerk in unserer Akte.“

Ruth meinte: „Die Hausmütter lassen uns keine Minute aus den Augen und erstatten Mr Harry über alles Bericht, und der entscheidet dann, was mit einem passiert.“

Cora verdrehte die Augen. „Der hat’s nötig.“

„Eine Unverschämtheit“, pflichtete Mary ihr bei, „dass so ein Mistkerl über unser Verhalten urteilen darf.“

„Versuche mal, ganz still sitzen zu bleiben, Mary“, sagte Nell zu ihr, während sie rasch das Gesicht des Mädchens skizzierte. „Habt ihr denn davon gehört, dass jemand tatsächlich wegen so eines kleinen Verstoßes entlassen wurde?“

Zögerlich begann Ruth: „Na ja, da war dieses eine Mädchen, Bridie Sullivan …“

Ah ja. Nell musste sich ein Lächeln verkneifen.

„Sie und Evie und ich, wir haben in derselben Reihe gearbeitet – seit Juni, als Bridie hier angefangen hat. Vor ein paar Tagen ist sie rausgeschmissen worden, aber das war ja auch kaum eine Überraschung.“

„Evie?“, rief plötzlich jemand. Alle fuhren herum und sahen einen jungen Mann – groß und kräftig mit zotteligem weißblondem Haar – aus dem Wäldchen kommen, das zwischen Fluss und Fabrik lag. „Evie, was machst du hier? Du sollst zum Mittagessen kommen.“

Evie seufzte. Nell hörte sie zum ersten Mal etwas sagen: „Es war einfach zu schönes Wetter.“

„Ich war in deinem Haus und hab nach dir gesucht“, sagte er vorwurfsvoll; seine kindlich schmollende Miene wollte nicht so recht zu seiner Statur und der tiefen Stimme passen. „Mrs Hathaway schreibt dich auf, weil du nicht zum Essen da warst. Du sollst doch nicht schwänzen!“

„Tut mir leid, Luther. Komm“, Evie klopfte neben sich auf den Boden, „setz dich zu mir, bis wir wieder zurückmüssen.“

Die anderen begrüßten Luther freundschaftlich, der nun behäbig zu Evie hinübertrottete und sich im Schneidersitz neben sie setzte. Evie strich ihm mit den Fingern durch sein Haar, während er Nell mit offenem Mund anstarrte. „Was machst du da?“

„Starr sie nicht so an, Luther“, ermahnte ihn Evie. „Sie malt ein Bild – von Mary, Ruth und Cora.“

„Kann ich mal seh’n?“

„Es ist noch nicht ganz fertig“, meinte Nell, „aber hier.“ Sie zeigte ihm ihr Skizzenbuch.

Er strahlte über das ganze Gesicht, als er sich die Skizze anschaute. „Sieht ja genauso aus, wie sie wirklich aussehen!“

„Luther ist Evies Bruder“, ließ Otis Nell wissen. „Die beiden arbeiten schon von klein auf hier.“

„Welche Arbeiten machen denn die Kinder?“, fragte Nell und wandte sich wieder ihrer Zeichnung zu. „Die Maschinen sahen mir alle außerordentlich groß und kompliziert aus.“

„Ich habe die vollen Garnspulen von den Spinnmaschinen genommen und wieder leere draufgesetzt – das musste jede Stunde gemacht werden, hat aber nicht so lange gedauert, und den Rest der Zeit konnte ich spielen. Luther hat Botengänge für die Arbeiter in der Spinnerei gemacht.“

„Macht er immer noch, nicht wahr, mein Freund?“ Otis beugte sich vor und knuffte Luther gutmütig in den Arm. „Wir armen Garnspinner wüssten gar nicht, was wir ohne unsern guten Luther machen würden.“

Luther rieb sich den Arm und sagte zu Nell: „Ich bin stark wie ein Stier. Hier gibt’s niemand, der so viel tragen kann wie ich! Niemand.“

„Ist ein Schwerstarbeiter, unser Luther“, meinte Otis. „Und wenn er’s besonders gut macht, kriegt er was Süßes.“

„Ich mach’s nicht für das Süße“, wehrte sich Luther und schien zutiefst beleidigt. „Ich krieg Geld, genauso wie ihr.“

„Was zahlen sie dir noch mal?“, fragte Otis ihn und zwinkerte Nell zu. „Zwei Dollar die Woche? Hast du das nicht schon verdient, als du neun warst?“

„Hör auf, ihn zu ärgern, Otis“, fuhr Evie dazwischen. „Du weißt doch, wie er wird, wenn man ihn auslacht.“

„Ich krieg zwei Dollar und fünfzig Cent“, verkündete Luther und starrte Otis dabei finster an. „Du weißt auch nicht immer alles.“

Um die mit einem Mal sehr gereizte Stimmung etwas zu entspannen und die Unterhaltung wieder zum Anlass ihres Besuchs zurückzuführen, fragte Nell: „Was meintest du eigentlich damit, Ruth – dass es keine Überraschung gewesen sei, als man diese Bridie Sullivan rausgeschmissen hat?“

„Bridie ist weg“, stellte Luther fest.

„Ruhig, Luther“, sagte seine Schwester. „Das wissen wir alle.“

„Sie war ein schlechtes Mädchen.“

„Luther, sei einfach nur …“

„Warum?“, fragte Nell scheinbar beiläufig, während sie weiterzeichnete und dabei zwischen ihrem Skizzenbuch und den drei Mädchen hin und her sah.

Evie antwortete für ihren Bruder: „Er sagt das nur, weil alle das sagen.“

„Wir wussten von Anfang an, was das für eine ist“, meinte Ruth. „Gleich am ersten Tag, als sie in die Weberei kam, sag ich zu Evie, ,die macht Ärger’. Ihr Kleid ganz eng zusammengeschnürt und dann diese aufgetürmten roten Haare! Dachte, sie wär was Bess’res als wir, weil sie in Boston gelebt hat.“

„Dabei war sie nix anderes“, warf Mary ein, „als ganz billiges irisches Gesindel.“

Nell zeichnete weiter und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Solange sie ihren Namen nicht nannte, erkannten meist nur ihre einstigen Landsleute sie als Irin. Es folgte eine lange Litanei von Klagen über unnütze Fremde, die ihnen die Arbeit in der Fabrik wegnahmen, doch schließlich kamen sie wieder auf Bridie Sullivan zu sprechen. Nun erfuhr Nell alles über Bridies geschminktes Gesicht und ihre kokette Art, ihre verdächtig feine Kleidung und all die Haarspangen und Stiefel – Letztere trafen bei den anderen Mädchen wohl einen besonders wunden Punkt. Nell fiel auch auf, dass Evie abermals sehr schweigsam geworden war.

„Ist nie mit uns in die Kirche gegangen“, ereiferte sich Mary, „und hat deshalb einen riesigen Aufstand gemacht, weil ihr der Kirchenzehnte gleich vom Lohn abgezogen worden ist.“

„Sie ist nämlich katholisch“, fügte Ruth hinzu.

„Die Kirche ist protestantisch“, erklärte Cora. „Bridie hat nicht hier gelebt, sondern bei ihren Eltern. Also, wenn ihr mich fragt, hat sie sich zu Recht darüber aufgeregt.“

„Evie und Luther sind auch katholisch“, erinnerte sie Ruth. „Sie gehen jeden Sonntag in ihre Kirche und stellen sich trotzdem nicht so an wegen des Zehnten.“

„Sollten sie aber“, meinte Cora.

Evie zuckte mit den Schultern und rupfte einen Grashalm aus. Ihr Bruder schaute nur verwirrt drein.

„Du hast ja keine Ahnung, Cora“, sagte Ruth. „Man merkt, dass du nie mit dieser Bridie Sullivan arbeiten musstest, sonst würdest du sie jetzt bestimmt nicht in Schutz nehmen.“

Nell mischte sich rasch ein und erkundigte sich, woher Bridie denn all ihre feinen Sachen gehabt hätte.

„Von Männern natürlich“, erwiderte Ruth. „So eine war sie.“

„Ihr Schatz war ein verdammt gut aussehender Bursche“, sinnierte Cora.

„Oh ja, mir haben diese Sterne gefallen … machten ihn irgendwie geheimnisvoll“, pflichtete Mary ihr bei.

Ruth lachte. „Das kann man wohl sagen!“

„Wenn er nicht so gut ausgesehen hätte, wär das mit den Sternen seltsam gewesen“, meinte Cora, „aber er war ein richtig stattlicher Kerl mit Schultern von hier bis nach da, und ganz dunklen Haaren, aber heller Haut und den größten blauen Augen, die man je gesehen hat. Die andern Mädels haben alle versucht, ihn auf sich aufmerksam zu machen, bis sie dann rausfanden, dass er gerade erst aus’m Knast gekommen war.“

„Weshalb war er drin?“, fragte Nell.

„Niemand hier hat sich mit Bridie gut genug verstanden, um sie danach zu fragen“, erwiderte Cora.

„Er war aber nicht der Einzige“, sagte Ruth. „Alle sind sie früher oder später um sie herumscharwenzelt, und die meisten sind nicht enttäuscht worden – solange nur Bridie dabei auch auf ihre Kosten kam.“

Mary fügte hinzu: „Die richtig teuren Sachen – Hüte, Ohrringe und die meisten von ihren Kleidern – hat sie von Mr Harry persönlich bekommen.“

„Harry Hewitt?“, vergewisserte sich Nell und sah auf. „Waren er und Bridie … haben sie …?“

„Bei jeder Gelegenheit“, bestätigte Ruth. „Er hat dann seinen kleinen Jasager Carlisle vorbeigeschickt und sie von der Arbeit weg in sein Büro bringen lassen. Wenn sie dann zurückkam, hatte sie die Haare immer anders als vorher und diesen gewissen Ausdruck im Gesicht.“

„Er hat sie während der Arbeit holen lassen?“, fragte Cora ungläubig. „Evie, ist das wahr?“

Evie saß schweigend neben ihrem Bruder, hatte die Arme um ihre Knie geschlungen und zuckte mit den Schultern.

Ruth stieß Cora leicht an und flüsterte ihr zu: „Frag sie bloß nicht nach Bridie und Mr Harry.“

„Ach je, das hab ich ja ganz vergessen!“

Wahrscheinlich war Nell ihre Verwirrung anzumerken, denn Otis grinste sie an un meinte: „Evie ist nämlich in Mr Harry verliebt – nicht wahr, Evie?“

„Lass sie in Ruhe“, sagte Ruth. Evie sah beiseite und schlang die Arme noch fester um ihre Knie.

„Ja du, lass sie in Ruhe“, wiederholte Luther, und sein Hals färbte sich bedrohlich rot.

„Ach, kommt schon, Evie weiß doch, was da läuft“, erwiderte Otis und drehte sich derweil eine neue Zigarette. „Mr Harry will eben nichts von ihr wissen. Dass Bridie Sullivan oder eine von den andern ihn in seinem schicken Büro unter ihren Rock lässt, das will er.“

„Von den andern?“, fragte Nell.

„Bridie ist nicht die Einzige“, meinte Otis. „Es gibt mindestens ein halbes Dutzend von den Mädels, die springen, wenn er ruft. Wir nennen sie ,Harrys Harem’. An der Tür zu seinem Büro ist so’n Fenster mit … wie heißt das Ding doch gleich … na ja, mit so’nem Rollo. Immer wenn das Ding unten ist, wissen alle in der Fabrik, was dann da drin vor sich geht.“

„Aber hauptsächlich ist es Bridie“, wandte Mary ein. „Oder war. Sie hätten den mal sehen sollen, wenn sie in der Nähe war! Der konnte die Augen gar nicht mehr von ihr lassen – als ob sie ihn verhext hätte.“

Ruth sagte: „Evie, hör nicht auf sie. Die wissen ja gar nicht, was sie da reden.“

Otis schnaubte verächtlich. „Damit tust du Evie keinen Gefallen. Es ist doch so. Harry Hewitt verliebt sich ganz gewiss in keines von den Mädchen aus der Fabrik und stellt es zu Hause seiner Mama vor. Und schon gar nicht irgend so ein unscheinbares, kleines …“

„Du hältst deinen Mund!“, verlangte Luther. „Halt einfach deinen dummen Mund.“

„Ich sag ja nur, was Evie eh schon weiß“, verteidigte sich Otis. „Warum sagst du deiner Schwester nicht, dass sie endlich aufhören soll, diesem reichen hübschen Jungen hinterherzuschmachten, der solche wie sie doch eh kein zweites Mal anschaut? Da hockt sie und ist ganz verzweifelt wegen Mr Harry und ganz gelb vor Neid auf Bridie Sullivan, wenn doch …“

„Evie!“, rief Luther, als seine Schwester jäh aufsprang und davonrannte. Mit mittlerweile hochrotem Kopf stand er langsam und bedächtig auf und schaute Otis von oben herab an. „Du hast Evie wehgetan.“

„Luther“, sagte Cora schnell, „lauf deiner Schwester hinterher. Los, geh schon“, drängte sie ihn und zeigte zum Wäldchen, in dem Evie verschwunden war.

Unentschlossen stand Luther da, während seine Hände sich wie von selbst zu Fäusten ballten. Otis grinste und zündete sich scheinbar seelenruhig seine Zigarette an, doch Nell sah, dass seine Hände zitterten.

„Evie braucht dich jetzt, Luther“, ließ Cora nicht locker. „Wahrscheinlich weint sie.“

Luther sah kurz zum Wäldchen, dann wieder zu Otis, sein Kinn gespannt und seine Augen vor Wut funkelnd. Als er sich schließlich umdrehte und seiner Schwester hinterherrannte, atmeten alle erleichtert auf – auch Nell.

„Eigentlich ist Luther ganz lieb, wie ein großes Kind“, erklärte Ruth. „Aber wenn er sauer wird, dreht er ein bisschen durch. Letztes Jahr hat er einen Mann fast totgeschlagen, weil der Evie dumm gekommen ist.“

„Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, ihn so zu reizen?“, fragte Cora Otis.

„Wir sind Freunde“, erwiderte er gelassen und blies den Rauch aus. „Luther würde mir nie etwas tun.“

„Da wär ich mir aber nicht so sicher“, murmelte Ruth.

„Sind Sie mit dem Bild bald fertig?“, fragte Mary Nell. „Mir tut schon alles weh vom Stillhalten.“

„Gleich“, erwiderte Nell, während sie noch ein paar unnötige Schraffuren hinzufügte. „Also, was ich ja überhaupt nicht verstehe“, begann sie, „wenn Bridie und Mr Harry … nun ja, ihr wisst schon … warum hat er sie dann rausgeworfen?“

„Er hat wohl nicht gern geteilt“, stellte Otis fest und erntete zustimmendes Gelächter von den Mädchen.

„Hat er das mit ihrem Freund herausgefunden?“, fragte Nell.

Otis nickte und zog an seiner Zigarette. „Letzten Freitag ist es passiert, als abends um halb sieben die Glocken Feierabend schlugen. Mr Harry stand draußen im Hof und hat sich mit jemand unterhalten. Und die hier“, er deutete auf die Mädchen, „konnten gar nicht mehr aufhören zu tuscheln und zu kichern, weil der so gut aussah. Ich hab gedacht, jetzt fallen sie auf der Stelle in Ohnmacht, nur weil da mal ein Bursche steht, der sich so anzieht, als ob er ein bisschen Kleingeld übrig hätte.“

Die Mädchen warfen sich verträumte Blicke zu und seufzten schwärmerisch.

„Es war nicht wegen seiner Kleidung, du Schwachkopf“, sagte Cora. „Er hatte ein Gesicht wie eine von diesen römischen Statuen! Du bist nur neidisch, weil kein Mädchen dich so anschaut.“

Otis tat, als hätte er sie gar nicht gehört, und fuhr fort: „Die Glocke schlug also zum Feierabend, und alle kamen aus der Fabrik gelaufen. Und draußen stand dieser Virgil und wartete auf Bridie. Sonst hat er immer irgendwo anders auf sie gewartet, aber an dem Abend stand er direkt vorm Tor.“

„Hat er sie oft von der Arbeit abgeholt?“, wollte Nell wissen.

„Manchmal auch unter der Woche“, sagte Otis. „Aber am Freitag und Samstag immer. Ich weiß nicht, was sie am Freitag gemacht haben, aber …“

„Ach nein?“, bemerkte Ruth und brach mit den anderen Mädchen in Gelächter aus.

„… aber am Samstag sind sie auf jeden Fall immer wo hingefahren“, fuhr Otis unbeeindruckt fort. „Vor ein paar Wochen hab ich mit Nat aus der Spinnerei geredet, und der hat erzählt, dass er Bridie mal gefragt hatte, ob sie Samstag nach der Arbeit mit ihm spazieren gehen will, und da hätt’ sie gesagt, sie kann nicht, weil ihr Freund sie abholt und sie zum White House fahren.“

Nell runzelte verwirrt die Stirn und überlegte, ob sie sich verhört hatte.

„Natürlich nicht das Weiße Haus“, sagte Otis schnell. „Aber so hat sie’s gesagt – wahrscheinlich irgendein Haus, das weiß ist oder so. Sie meinte, dass es ein alter Bauernhof wär, der nicht mehr bewirtschaftet wird, aber das Haus würd noch dastehen, und da würden sie und Virgil immer hinfahren, um ihre Ruhe zu haben.“

„Virgil stand also am Freitagabend direkt am Tor …“, drängte Nell ihn weiter.

„Ganz genau, und sowie er Bridie sieht, schnappt er sie sich und küsst sie – aber so richtig –, wo alle andern zuschauen können, auch Mr Harry. Sie hat gekocht vor Wut, das hätten Sie sehen sollen, hat sich aber zusammengerissen, bis sie ganz rot angelaufen war.“

„Warum war sie denn so wütend?“, fragte Nell verwundert. „Sie und Harry waren doch kein richtiges Paar, und er hatte ja selbst einige andere Mädchen, die ihm … gaben, was er wollte.“

„Ja, wirklich komisch“, fand auch Ruth. „Aber ich sag Ihnen, er war auch fuchsteufelswild! Rannte wutschnaubend wieder nach drinnen. Bridie und Virgil sind dann gegangen, aber als wir andern dann kurz darauf hierherkamen, um eine zu rauchen, haben wir sie gehört. Sie und Virgil haben sich im Wäldchen gestritten. Sie hat ihn angeschrien, weil er gekommen war und sie da vor Mr Harry geküsst hat.“

„Sie hat Virgil gegenüber Mr Harry erwähnt?“, vergewisserte sich Nell.

Otis grinste. „Tja, sieht so aus, als ob er von Mr Harry wusste, aber Mr Harry nicht von ihm.“

„Bis zu dem Kuss“, fügte Mary vielsagend hinzu. „Bridie hat Virgil angeschnauzt, dass er alles kaputt gemacht hätte. ,Jetzt kriegen wir keinen einzigen Cent mehr aus ihm raus’, hat sie gesagt.“

Nell sah von ihrem Skizzenbuch auf. „Das hat sie gesagt?“

„Aber ja doch.“ Otis warf seine Kippe in den Fluss. „Hat sich wohl entschlossen, mehr aus ihm rauszuholen als was Hübsches zum Anziehen. Von Virgil haben wir nicht viel gehört, außer dass er sie beruhigen wollte. Als er dann was gesagt hat, war es so leise, dass wir kaum was verstanden haben. Aber von ihr konnte man jedes Wort hören. Diese irischen Mädels kommen richtig in Fahrt, wenn sie wütend sind.“

„War Evie bei euch?“, wollte Nell wissen.

„Ja, war sie.“

„Und wann ist Bridie gefeuert worden?“

„Am Tag drauf“, sagte Ruth. „Samstag. Wir haben alle gewartet, dass es zur Mittagspause läutet, da kam dieser Handlanger von Mr Harry an – Carlisle – und holte Bridie nach oben ins Büro. Sie stolzierte davon mit diesem gewissen Lächeln, als ob sie was Bess’res wär, nur weil sie für ihn die Beine breit macht. Und zehn Minuten später war sie schon wieder zurück, knallrot im Gesicht und ganz verheulte Augen. Evie und ich wollten wissen, was los ist, aber sie hat uns nicht mal angeschaut. Kein einziges Wort hat sie gesagt, sich die Schürze abgenommen, ihr Schultertuch aus ihrem Fach geholt, und weg war sie. Seitdem hab ich sie nicht mehr gesehen.“

Mary streckte sich und rieb sich den Arm. „Sind Sie jetzt endlich fertig?“

Von der Fabrik her war das Läuten der Glocken zu hören, die sie wieder zur Arbeit riefen.

„Ja, ich glaube schon“, meinte Nell.