Leseprobe Nell Drury und das Varieté des Todes

Kapitel 1

„Eine Revue!“ Mrs Fielding gab ein verächtliches Schnauben von sich.

Nell hatte Mühe, ein Kichern zu unterdrücken. Die Missbilligung der Hausdame war zu erwarten gewesen, aber als Chefköchin war Nell anderer Auffassung.

„Triefende Törtchen“, feuerte sie zurück. „Wieso sollen sie denn nicht zum Spaß eine Revue aufführen? Die Ansleys toppen die Ziegfeld Revue doch mit Leichtigkeit.“

„Pierrots, also wirklich. Man stelle sich nur Ihre Ladyschaft als Clown verkleidet vor, wie wir sie an der Küste gesehen haben. Das ist einfach falsch.“

„Es ist für einen guten Zweck“, sagte Nell strahlend. Sie wusste, dass Lord Ansley dem Vorschlag seiner Kinder einzig aus dem Grund zugestimmt hatte, dass die Einnahmen an eine Wohltätigkeitsorganisation für Kriegsveteranen gespendet werden würden. Es war 1926 und der Krieg war seit sieben Jahren vorbei, doch wie sollte man das so genau feststellen? Die überlebenden Männer und Frauen waren zwar physisch heimgekehrt, aber viele von ihnen weilten gedanklich noch immer in 1918, kämpften mit psychischen Wunden und physischen Verletzungen und sie alle hatten emotionale Narben, mit denen sie rangen.

Mrs Fielding stand vom Tisch auf und gab damit zu verstehen, dass die Unterhaltung beendet war. „Und außerdem fängt es an zu schneien“, ergänzte sie düster und ignorierte Nells Argument.

Nell sah aus dem Fenster im Zimmer der Butler, welches noch immer liebevoll Pug’s Parlour genannt wurde, wo sich die anderen höhergestellten Bediensteten des stattlichen Herrenhauses Wychbourne Court zu einem kurzen Mittagessen versammelt hatten. Zu Nells Überraschung behielt Mrs Fielding recht. Tatsächlich tanzten vor dem Fenster auf einmal Schneeflocken, die im Küchenhof zu Boden fielen. Es war der erste Schnee in diesem Monat, aber es war noch mehr als genug Zeit dafür, schließlich war es erst Mitte Januar. In einigen Stunden würden die Gäste eintreffen und das widrige Wetter war kein gutes Omen für einen ruhigen Verlauf des Wochenendes, das ihnen bevorstand – und schon gar nicht für die Wychbourne Revue.

„Lassen Sie es sich gesagt sein. Da kommt nichts Gutes bei heraus.“ Mit einem abschließenden Naserümpfen marschierte Mrs Fielding hinaus, wobei sich der altmodische Bombasinstoff ihres Rockes aufbauschte. Der Butler Mr Peters warf Nell einen mitleidigen Blick zu und folgte der Hausdame aus dem Salon. Er hatte keine Wahl jetzt, da seine tendresse zu Mrs Fielding ein offenes Geheimnis war. So blieben nur noch Lord Ansleys Kammerdiener Mr Briggs, da Lady Ansley auf die Ankunft einer neuen Kammerzofe wartete. Mr Briggs war wie zumeist in seine eigene Gedankenwelt vertieft und lächelte besonnen. Seit dem Krieg litt er an einer Bombenneurose und hatte seine eigene Art und Weise, den Alltag zu bestreiten.

Insgeheim hatte auch Nell ihre Zweifel an der Revue, aber sie hatte diese als nichtig abgetan. Als Köchin war es ihre Aufgabe, für den heutigen Abend ein so grandioses Abendessen zu zaubern, dass es den Weg zu der Revue ebnen und am Wochenende alles glatt über die Bühne gehen würde. Beim Willkommensessen würde es Seebarsch an einer Champagnersoße geben, gefolgt von Fasan und dann Apfelkompott mit einer Kirschcreme, sodass alle Gäste, die von Donnerstag bis Sonntag blieben, glücklich gestimmt sein würden. Wieso sollte es denn auch nicht glatt laufen? Draußen der Schnee und drinnen die Wärme und Gemütlichkeit von Wychbourne Court und dazu noch ihre Kochkünste – was wollte man mehr?

Es waren die 1920er-Jahre. Der Krieg war vorüber und trotz der Probleme, die er hinterlassen hatte, entstand um sie herum eine schöne neue Welt, genau wie auch in ihrem Kopf neue Ideen entstanden. Kochen war eine Kunst und die Küche war ihr Atelier. Ihre Aufgabe war es, sicherzustellen, dass die Gerichte, die sie kochte, dem gerecht wurden. Schwere Speisen waren ein Ding der Vergangenheit, genau wie die Vorschriften der Lebensmittelrationierung zu Kriegszeiten. An ihren Platz trat nun der Reiz, in Vergessenheit geratene Düfte und Gewürze wiederzuentdecken und sich den prächtigen exotischen neuen Aromen und Gerichten aus weiter Ferne hinzugeben. Wychbourne Court mit seinen eigenen Kräuter- und Gemüsegärten und dann noch der Obstplantage glich in Nells Augen einem Paradies, in dem sie ihren Traum, ihre eigene Küche zu kreieren, verwirklichen konnte. Fort mit den Zweifeln und den Sorgen. Dieses Wochenende würde alles gut gehen.

Lady Gertrude Ansley hingegen rang noch immer mit ihren Zweifeln. Bis ihre Kinder sie mit der Planänderung der Revue überrumpelt hatten, hatte sie ein Wiedersehen auf Wychbourne Court mit ihren Theaterfreunden vom Gaiety Theatre für eine wunderbare Idee gehalten und auch die recht spontane Aufführung, die im Ballsaal hatte stattfinden sollen. Seit ihrer Hochzeit mit ihrem geliebten Gerald, dem 8. Marquess Ansley, vor mehr als dreißig Jahren, hatte sie nur wenige ihrer Freunde gesehen und noch immer sehnte sie sich manchmal nach den aufregenden alten Zeiten auf der Bühne. Ihre Bühnenkarriere war kurz, aber erfolgreich gewesen, dank ihrer Rolle in The Flower Shop Girl.

„Hast du die alten Postkarten gefunden, Helen?“, fragte sie ihre ältere Tochter nervös. Die Karten ihrer Freunde und ihr waren tausendfach verkauft worden, doch nun stand eine neue Generation auf der Bühne. Die alten Karten auszustellen, würde ihren ehemaligen Freunden und auch ihr selbst Freude bereiten, denn für gewöhnlich waren Erinnerungsstücke an die Zeit am Theater auf den Fliederfarbenen Saal, ihren Salon, beschränkt. Hier konnte sie sich von ihren Aufgaben als Marchioness Ansley erholen und in Erinnerungen schwelgen.

Helen gähnte und nahm eine andere ebenso elegante Pose auf der Chaiselongue ein. Wenn doch nur diese Herrenschnitte aus der Mode gingen, sodass das goldene Haar ihrer Tochter wieder die klassisch hübschen Gesichtszüge umspielte, dachte Gertrude, doch Helen beharrte darauf, à la mode zu sein. „Sie sind alle im großen Saal ausgestellt“, versicherte Helen ihr. „Peters kümmert sich darum und der nervige kleine Herr hilft ihm.“

„Mr Trotter meint es nur gut, Helen“, sagte Gertrude beschwichtigend. „Und außerdem ist deine Tante auf diese Weise beschäftigt.“

Das war eine gehörige Untertreibung. Geralds Schwester Clarice lebte bei ihnen und war stets sehr beschäftigt, wenn es um die Geister von Wychbourne Court ging. Sie hatte sich ihrem Wohlergehen – wie sie es bezeichnete – verschrieben und hatte arrangiert, dass Mr Timothy Trotter, ein bekannter Geisterfotograf, einige Tage auf Wychbourne Court verbrachte. Wie Clarice nun einmal war, hatte sie natürlich vergessen, dies ihr oder den Bediensteten gegenüber zu erwähnen. Gestern musste Peters daher rasch veranlassen, dass eine Dunkelkammer eingerichtet und ausgestattet wurde, wozu ihr Sohn Richard nach Sevenoaks hatte fahren müssen, um Chemikalien, Schälchen und andere merkwürdige Gegenstände zu besorgen. Mr Trotter hatte ihnen nervös versichert, dass er seinen eigenen Vergrößerer mitgebracht hatte und ihnen keine Arbeit machen würde. Dies ließ vermuten, dass das Gegenteil eintreten würde und tatsächlich gab er einfach keine Ruhe.

Gertrude hing wieder ihrer größten Sorge nach. „Hast du auch die Poster und Programme dekoriert?“ Es war ein Jammer, dass ihre jüngere Tochter Sophy bei der örtlichen Labour-Partei so eingebunden war und sie die Aufgaben nicht ihr übertragen konnte. Helen war ein Schatz, aber launenhaft und langweilte sich schnell. Es war die Last, die hübsche Frauen trugen, dachte Gertrude. Sie erhielten zu viel Aufmerksamkeit und konnten vor lauter Glitzer und Glamour den rechten Weg nicht mehr sehen. Wenn Helen doch nur den liebenswürdigen Rex Beringer heiraten würde.

„Erledigt“, antwortete Helen gelangweilt. „Wir haben sie im Frühstückssaal, der Bibliothek und den Gästezimmern verteilt. Hast du denn deine waghalsige Tat schon hinter dich gebracht?“

Gertrude erbleichte bei dem Themenwechsel. „Noch nicht“, sagte sie abwehrend. „Ich dachte, ich erzähle es ihnen beim Dinner.“

„Sag es ihnen nach dem Dinner. Dann hat auch der verkrampfte Hubert Jarrett schon genug Port getrunken.“

Gertrude seufzte. Das Wochenende war ursprünglich bloß als Wiedersehen geplant und bisher hatte sie nicht den Mut zusammennehmen können, ihren Gästen von der Revue zu erzählen, die als lustige Idee zu ihrer eigenen Unterhaltung angefangen hatte, sich aber dann dank Richard zu einer ausgewachsenen Show, die im Dorf Wychbourne im Coach and Horses Inn aufgeführt werden würde, entwickelt hatte. Nun durften auch Dorfbewohner und natürlich auch die Bediensteten Karten für die Revue erstehen. Es war alles für einen guten Zweck, hatte Richard ihnen großspurig versichert, schließlich war es eine wunderbare Tat, den Ertrag zu spenden. Trotz alledem erschauderte Gertrude bei dem Gedanken, was alles schiefgehen könnte. Was, wenn der Unruhestifter Jethro James eine Karte kaufte?

Gertrude klammerte sich an Helens Lösungsvorschlag. „Also gut“, sagte sie zögerlich.

„Ach, Mutter“, warf Helen plötzlich alarmiert ein, „hast du Neville Heydock gesagt, dass Lynette Reynolds anwesend sein wird?“

„Das habe ich nicht“, gab Gertrude zu. Lynette hatte typischerweise zunächst die Einladung abgelehnt, nur um im letzten Moment ihre Meinung zu ändern. Obgleich ihr jetziger Ehemann sie nicht begleiten würde, hatte sie die Einladung doch angenommen.

„Neville Heydock ist immer noch ein heißer Feger, auch wenn er ein Oldie ist.“ Helen kicherte. „Ich kann seinen Gesichtsausdruck kaum erwarten, wenn er sie erblickt.“

Gertrude war zu beschäftigt damit, sich Lynettes Gesichtsausdruck vorzustellen, um Helen zu antworten. Es war ihr gar nicht in den Sinn gekommen, dass das zu Problemen führen könnte. Lynette war immer sehr emotional gewesen und auch wenn sie offensichtlich wieder geheiratet hatte, waren die Zeit der Scheidung von Neville und die Gerüchte, die man sich danach zugeflüstert hatte, so unschön gewesen, dass sie nicht daran zurückdenken wollte.

Konnte sonst noch etwas schiefgehen? Sicherlich nicht. Natürlich war da noch Alice Maxwell. Auf eine gewisse Art und Weise ähnelte sie Hubert Jarrett sehr. Sie nahm ihre Karriere (und das Frauenwahlrecht) äußerst ernst. Gertrude war zu Ohren gekommen, dass sie beide hofften, ihren Status zu erhöhen, so hoffte Hubert, in den Adelsstand erhoben zu werden und Alice darauf, eine Dame des Ordens des Britischen Weltreichs zu werden. In Gertrudes Augen war dies jedoch sehr unwahrscheinlich, wenn man bedachte, wie lange Henry Irving und Ellen Terry auf eine solche Anerkennung gewartet hatten. In ihren Fällen jedoch hatte es Gerüchte über unkonventionelle Lebensstile gegeben, die ihre Chancen verringert und die Anerkennung hinausgezögert hatten. So etwas konnte jedoch gewiss nicht über Hubert oder Alice geflüstert werden, die strenge moralische Prinzipien hatten. Doch was würden sie nur zu ihren Revue-Plänen sagen? Und würden sie überhaupt miteinander reden? Helen hatte ihr die neuesten Gerüchte, dass zwischen den beiden Funkstille herrschte, zu spät zugetragen, um jetzt noch die Gästeliste zu ändern.

Abgesehen von Gerald, konnten nur zwei Personen Gertrude aus ihrer verzweifelten Lage retten. Eine war die unbezahlbare Nell. Sie war eine großartige Chefköchin und würde sichergehen, dass Dinner und Lunch ausgezeichnet sein würden und sie stand ihr als Vertraute stets treu zur Seite, wenn Ärger drohte. Nell würde für sie nach Warnsignalen Ausschau halten.

Ihr zweiter Retter würde ihr Gast Tobias sein. Er würde die Situation schon beruhigen, dachte Gertrude dankbar. Tobias St. John Rocke war im Gaiety Theatre der Trostspender und Geheimniswahrer gewesen, an dessen Schulter sie alle ab und zu geweint hatten. Der Friedensstifter, der Überbringer des gesunden Menschenverstandes würde ihr beistehen.

 

Auf ruhiger See ist jeder gern Kapitän, so ging das Sprichwort. Eine stürmische See erforderte jedoch, dass man rasch handelte. Nell atmete tief durch. Brutzelnde Bohnen, die Zeiger der Uhr bewegten sich viel zu schnell. Einer ihrer Souschefs war in Tränen aufgelöst, die andere schmollte, Mrs Fielding freute sich hämisch, wohingegen Mrs Squires, Nells Beiköchin, sich nach bestem Bemühen raushielt. Die Küchen- und Spülmädchen schwirrten verängstigt umher und warteten auf Anweisungen, während alle anderen sich flugs Gründe ausdachten, wieso sie gerade nicht in der Küche sein konnten. Nell hatte gerade erfahren, dass das Esskastanienpüree, welches zum Fasan serviert werden sollte, wohl versehentlich weggeworfen worden war. Sie biss die Zähne fest zusammen. Die Schuldigen würde sie später ausmachen können, im Moment brauchte sie jedoch eine Lösung.

„Also dann“, sagte sie kämpferisch, „wippende Windbeutel, worauf wartet ihr denn noch? Röstet und glaciert mehr Esskastanien, aber flott. Benutzt sie als Garnitur. Kocht eine Madeira-Soße zum Fasan. Und jetzt guckt nicht groß wie ein Hummer, der bettelt, nach Hause zu dürfen. Legt los.“

Und sie legten los. Sie sah Michel an, dass er der Übeltäter war, aber sie wusste auch, dass es ein einmaliger Fehler gewesen war. Damit war das Thema gegessen. Ordnung kehrte wieder ein. Küchen waren wie Schnellzüge zu grandiosen Orten. Es brauchte nicht viel, um sie von den Gleisen zu stoßen, aber es war auch nicht zu schwer, sie wieder auf die Gleise zu bringen, wenn man wusste, was man tat. Nach einem glücklichen Jahr als Köchin auf Wychbourne Court und ihrer sechs Jahre langen Ausbildung bei Monsieur Escoffier im Carlton Hotel in London, war Nell sich dessen bewusst. Gelegentlich tauchte ein faules Ei auf, aber das war ganz normal. Nur bitte nicht an diesem Wochenende, hoffte sie.

Als sie die Mandelsuppe (eine Spezialität von Vorspeisenköchin Kitty) inspiziert hatte, sah Nell Mr Peters hereintreten. Was er wohl wollte? Mr Peters war nicht besonders groß gewachsen, strahlte jedoch eine enorme Autorität aus und das, obwohl er kein ausgebildeter Butler war, als er nach Wychbourne kam. Er war der Offiziersbursche von Lord Noel gewesen, dem Sohn der Ansleys, der in der ersten Flandernschlacht gefallen war. Kenelm, ihr ältester Sohn, arbeitete im Ausland für den Kolonialdienst und Richard war mit sechsundzwanzig Jahren der Jüngste.

Mr Peters’ Anliegen erwies sich glücklicherweise als unkompliziert.

„Der Tee darf serviert werden, Mrs Fielding. Der letzte Gast ist im Salon eingetroffen“, verkündete er.

Den Bediensteten, die die Gäste begleiteten, wurden schon ihre Zimmer im Bedienstetenflügel gezeigt. Gott sei Dank waren es bloß drei an der Zahl, dachte Nell. Manchmal konnten sie mehr Mühe machen als die Gäste selbst. Einer von ihnen war der Diener des Diplomaten Lord Kencroft, dann war da eine respekteinflößende Dame namens Doris Paget, die Ankleiderin von Miss Maxwell, und zuletzt noch Mr Heydocks persönlicher Diener Mr Winter, der ein Jeeves war, wie er im Buche stand, und ihm auf Schritt und Tritt folgte, hatte Nell sich sagen lassen. Mrs Fielding zufolge schienen sie alle frohen Mutes.

Nell war froh, dass der Tee in den Zuständigkeitsbereich der Hausdame fiel und nicht in ihren. Mr Peters hatte die Ankündigung wie die Verkündung des Untergangs klingen lassen und Nell hoffte inständig, dass es nicht so war.

„Ist Mr Heydock wirklich hier?“, fragte Kitty gespannt. „Ich würde ihn so gerne sehen.“ Das Highlight des Herbstes war ihr Besuch im Drury Lane Theatre gewesen, wo sie Rose Marie gesehen hatte, eine romantische Operette, die in den kanadischen Rocky Mountains spielte.

„Ich habe ein Bild von Lady Kencroft in der Zeitschrift Illustrated London News gesehen. Lady Sophy hat es mir gezeigt“, sagte eines der Küchenmädchen. „Darauf war sie mit Rudolph Valentino zu sehen. Er dreht gerade einen Film über den Scheich.“ Auch wenn Valentino gut aussehend war, war er nicht Nells Typ, obgleich jede Frau, die Nell kannte, für ihn schwärmte.

„Ich bezweifle, dass Rudolph sie nach Wychbourne begleitet“, sagte Nell knapp. „Du wirst dich mit Neville Heydock begnügen müssen.“ Neville war zumindest unterhaltsam. Er war in vielen Komödien und Musicals aufgetreten und hatte eine beeindruckende Singstimme. So stellte er die meisten Hauptdarsteller in den Schatten, auch wenn er nicht mehr der Jüngste war. Sie hatte ihn im Albion am Strand in London spielen sehen und konnte es kaum erwarten, ihn in Wychbourne wiederzusehen. „Er wird bei der Revue am Samstag auftreten.“

„Vielleicht singt er Rose Marie, I Love You“, sagte Kitty hoffnungsvoll.

„Am Samstag ist mein freier Abend.“ Mrs Squires hatte sich bisher kaum an der Unterhaltung beteiligt. „Ich plane, mit meiner Freundin Ethel hinzugehen.“ Im Gegensatz zu den meisten Bediensteten von Wychbourne Court, die wie Nell im Ostflügel wohnten, lebte Mrs Squires im Dorf.

„Nach der Vorstellung wird ein spätes Dinner serviert“, kommentierte Mrs Fielding bestimmt. „Du wirst also nicht gehen, Kitty“, fügte sie selbstzufrieden hinzu. Da sie jedoch als Küchenbedienstete Nell als Chefköchin unterstanden, konnte sie nicht über Kitty und Michel verfügen, was der Hausdame stets ein Ärgernis war.

„Einige können möglicherweise zu der Aufführung gehen“, warf Nell ein.

„Jedoch nicht diejenigen, die sich ihrer Pflichten bewusst sind, Miss Drury.“

Doch Nell ging ihr nicht in die Falle. Sie war eine ranghohe Chefköchin und Lady Ansley hatte sie gebeten, zur Aufführung zu kommen. Aus einem Grund, der sich Nell entzog, sorgte sich Ihre Ladyschaft, dass etwas schiefgehen könnte – was wiederum Nell Sorgen bereitete. Sie liebte Wychbourne Court und fühlte sich als Teil des Ganzen, was bedeutete, dass sie helfen wollte, wenn es Schwierigkeiten gab. Und hin und wieder gab es die. Es war eigentlich gar keine Überraschung, wenn man bedachte, dass die Ansleys schon vor der Normannischen Eroberung Englands auf Wychbourne Court gelebt hatten. Das ursprüngliche Bauernhaus war längst zu einem prächtigen Herrenhaus aus rotem Backstein geworden, das im achtzehnten Jahrhundert um zwei Flügel erweitert worden war.

Nell konzentrierte sich auf die anstehende Aufgabe: die Vorbereitungen für das Dinner. Der Seebarsch mit Champagnersoße war das Lieblingsgericht des berühmten Carême, dem Koch des Prinzregenten, gewesen und man durfte es nicht aus den Augen lassen. Den Fasan, nun mit einer Madeira-Soße, hatte sie unter Kontrolle, wie auch die Äpfel und die Syllabubs. Syllabub war das Lieblingsdessert von Dr Johnson, erinnerte sich Nell, und es war ein hervorragendes Ass im Ärmel, genau wie ein Ersatzdarsteller. Es kehrte wieder Ordnung ein. Küchen sind wie Rezepte, dachte sie. Man musste nicht jeder kleinsten Anweisung folgen, aber man musste wissen, was man tat.

Sie nahm im Hintergrund die Unterhaltung über die Revue am Samstag unterschwellig wahr, doch Muriel, eine der Küchenhilfen, zog ihre Aufmerksamkeit auf sich, als sie den Fischtopf und Dämpfer hereintrug. Sie war kurz stehen geblieben, um mit einem der Küchenmädchen zu reden und Nell konnte hören, worum es ging.

„Lady Sophy hat gesagt, dass Ihre Ladyschaft und ihre alten Freunde sich als Pierrots verkleiden und tanzen werden“, sagte Muriel.

Nell verdrehte innerlich die Augen. Lady Sophy neigte dazu, zu viel über die Pläne der Familie zu schwatzen, was mit ihren politischen Ansichten zusammenhing, dass die Familie und Bediensteten in ihren Augen eine große glückliche Familie sein sollten. Und das waren sie auf eine Weise, doch es bedeutete nicht, dass jedes Mitglied wollte, dass alle über alles Bescheid wussten, oder dass manche Mitglieder niemanden einstellen konnten, um ihre Wünsche zu erfüllen. Darüber hinaus würden Lady Ansleys Sorgen sicherlich nicht dadurch schrumpfen, dass die Revue hier diskutiert wurde.

Nell wusste haargenau, dass es Lord Richards Idee gewesen war, die Revue im Coach and Horses Inn zu veranstalten und dass Lady Ansley eine Heidenangst davor hatte, wie ihre Gäste auf die Neuigkeiten reagieren würden. Auch wenn die meisten von ihnen noch auf der Bühne standen, würden sie ihre Meinungen dazu haben, ob es ratsam war, bei einer Revue aufzutreten, jetzt wo die Bühne ins Coach and Horses Inn verlegt worden war. Die Gäste gingen noch von einer spontanen Revue im Ballsaal von Wychbourne Court mit einem vergnügten Publikum des Freundeskreises unter sich aus, aber für die Förmlicheren von ihnen mochte es eine ganz andere Situation sein, dass die Familie Karten in einer Gaststätte verkaufte. Lord Richard, Lady Helen und Lady Sophy hatten mit besten Absichten gehandelt, aber manchmal führten diese auf direktem Weg ins Desaster.

 

Hier vereint waren die Menschen, die sie gekannt und lieb gewonnen hatte, dachte Gertrude und sah sich am Tisch nun etwas beruhigter um. Es waren natürlich noch weitere Gäste anwesend. Clarice kümmerte sich um Mr Trotter, der etwas überfordert wirkte, so nervös, wie er vom einen zum anderen der versammelten Mannschaft blickte. Rex Beringer hatte wie so häufig nur Augen für Helen, die sich wie Richard und Sophy von ihrer besten Seite zeigte. Gertrude hatte sich gesorgt, dass sie zu schnell in Diskussionen über die Revue eintauchen würden, aber stattdessen und scheinbar mit echtem Interesse fragten ihre Kinder die Gäste vom Gaiety Theatre über ihre Erinnerungen an die Zeiten dort aus.

Sieben Gäste aus ihrer Gaiety-Zeit waren anwesend. Manche hatte sie seit ihrer Zeit auf der Bühne nicht mehr gesehen und andere hatte sie vor zehn Jahren bei der Beerdigung von George Edwardes, der als Guv’nor bekannt gewesen war, getroffen. Edwardes war lange Zeit der Leiter der Gaiety und Daly’s Theatres gewesen, sodass man seinen Namen für immer mit den Gaiety Girls in Verbindung bringen würde, mit denen er Musik, Humor und Dramatik vereint hatte.

Früher hatte sie der gutherzigen, lieben Katie mit den braunen Ringellöckchen ihr Herz ausgeschüttet, die dramatische und impulsive Lynette hatte sie in schweren Stunden aufgeheitert und Constance mit den ernsten dunklen Augen hatte ihre Weisheiten mit ihr geteilt, Alice hatte stets eine Mission und wagte es sogar gelegentlich, sich dem Guv’nor zu widersetzen.

Sie alle waren dem attraktiven Neville Heydock mit seinem unvergleichlichen Stil und seiner faszinierenden Tenorstimme verfallen. Er war außerdem auch sehr nett, erinnerte sie sich. Kein Wunder, dass Lynette bis über beide Ohren in ihn verliebt war. Gertrude hatte jedoch seinen Gesichtsausdruck bemerkt, als er sie hier erblickte. Lynette hatte es zu Gertrudes Erleichterung nur amüsant gefunden. Hubert, Constances Ehemann, wirkte so nobel und trostlos, wie seine grandiosen Übertragungen tragischer und dramatischer Prosa und Dichtkunst es verlangten. Und doch hatte sie ihn als eher mürrischen jungen Neuling im Chor in Erinnerung, der sich nicht traute, den Mund aufzumachen und nur mit Glück überhaupt ein Solo bekam.

Gertrudes Blick fiel dann auf Tobias, ihren einstigen Fels in der Brandung, dem sie dankbar war. Hier war er nun, genauso füllig und fröhlich wie früher, so wie sie sich an den Friedensstifter erinnerte. Er hatte sich der Aufgabe angenommen, Constance zu unterhalten und er hatte sie sogar zum Lachen gebracht, was für ihre ruhige, stille Art untypisch war. Tobias hatte immer Charakterrollen gespielt und war berühmt für den alten Onkel in Waltzing in Summer, den Bauern in The Count of Rosenbourg und den fröhlichen Bäcker in The Flower Shop Girl.

Sie sahen alle noch genauso aus, wenngleich etwas grauer, ein bisschen molliger und ein wenig ernster. Sowohl der Tee als auch der Empfang im großen Saal vor dem Dinner waren gut über die Bühne gegangen. Katie, mit ihrem Ehemann Charles, dem Diplomaten Lord Kencroft, war so strahlend und quirlig, wie Gertrude sich an sie erinnerte. Neville schien sich angeregt mit Lynette zu unterhalten und Constances selbstgefälliger Ehemann Hubert redete sogar mit seiner Erzfeindin Alice Maxwell, die genau wie Tobias nie geheiratet hatte. Alice war immer so ernst und ihrer Karriere verschrieben gewesen und wie Hubert auch war sie von der musikalischen Komödie zum Drama gewechselt.

Gertrude entspannte sich allmählich. Worum hatte sie sich so gesorgt? Ihre Zeit am Gaiety Theatre war natürlich nicht immer nur rosig gewesen, es hatte düstere Phasen gegeben, aber das war nun alles Vergangenheit. Als die Herren ihren Port serviert bekommen hatten und sich wieder zu den Damen im Salon gesellten, musste sie bloß noch beiläufig erwähnen, wo die Revue stattfinden würde. Ja, wahrlich war alles so gut verlaufen und Nells Speisen hatten wie erhofft dazu beigetragen. Der Fasan mit der besonderen Soße war hervorragend gewesen.

Doch dann hörte Gertrude das lästige Wort, das sie erst später in den Raum hatte werfen wollen.

„Eine Revue“, merkte Lynette an. „Was für eine grandiose Idee, Gertrude.“

Gertrude bemühte sich, zu lächeln. „Es war Richards Idee. Seine Schwestern und er sind ganz erpicht darauf, in meine Fußstapfen zu treten – zumindest behaupten sie das – und wollen dieses Wochenende unser eigenes Theater auf die Beine stellen. Erinnert ihr euch …?“

„Was genau wird dabei von uns erwartet“, unterbrach Hubert sie, der entweder nicht hörte, was sie sagte, oder sich nicht darum scherte. Er beäugte sein Syllabub, als wäre es ein erbitterter Feind, dachte sie, als Panik in ihr aufstieg.

Sie sah, wie die arme Constance erstarrte. Wie konnte sie ihn geheiratet haben? Sie war so lieb und er so arrogant. Gertrude gab ihr Bestes. „Richard hat den Großteil der Revue geplant und es soll Sketche und Lieder geben, außerdem haben er und meine Töchter sich eine äußerst amüsante Pantomime-Einlage ausgedacht. Er hofft, dass ihr Lust habt, eure besonderen Talente in die Revue einzubringen und natürlich würde er sich geehrt fühlen, wenn du eine deiner meisterhaften Darbietungen vortragen würdest, Hubert.“

„Einen Monolog?“, fragte Hubert, als hätte ihn noch nie jemand um solch einen Gefallen gebeten. „Vielleicht Sein oder Nichtsein?“

„Wundervoll“, sagte Gertrude schwach und fragte sich, wie viele der Dorfbewohner wohl die Feinheiten von Hamlets Monolog zu schätzen wussten.

Als ihr Rivale so viel Aufmerksamkeit zuteil wurde, versteifte sich Alice Maxwell und mischte sich rasch in die Diskussion ein. „Also ich habe vor, Yasmins Rede aus Hassan von Flecker und dann meine berühmte Interpretation von Medea zu präsentieren.“

„Ausgezeichnet!“ Gertrude versuchte, so dankbar sie konnte zu klingen, als wäre ein altgriechisches poetisches Drama über rachsüchtige Frauen, die ihre eigenen Kinder umbringen, genau, worauf sie gehofft hatte.

Tobias musste ihre Bestürzung bemerkt haben und entpuppte sich prompt als der Friedensstifter, an den sie sich noch so gut erinnerte. „Ich mache, was immer du möchtest, Gertrude. Das weißt du ja. Immer dem Direktor gehorchen, oder wie war das? Schließlich sind wir alle Freunde.“

„Kaum Freunde, mein Liebster“, murmelte Lynette. „Aber eine Revue und Pantomime klingen angemessen für das Publikum im Coach and Horses Inn. Sie werden es lieben.“

Schockiert hielt Gertrude den Atem an. Nicht jetzt. Oh, bitte, nicht jetzt.

„Was für ein Publikum? Ich nahm an, es ist bloß eine Aufführung hier im Ballsaal“, rief Hubert aufgebracht.

„Herrje, hast du es denn nicht erklärt, meine liebe Gertrude?“, fragte Lynette unschuldig. „Wir führen die Revue in einer Gaststätte im Dorf auf, Hubert. Wird das nicht großartig, ihr Lieben?“

Stille machte sich breit. „Eine Gaststätte?“ Hubert sah sie bestürzt an. Gertrude erzitterte. Was nun? Was sollte sie sagen? Gerald war normalerweise zur Stelle, um zu helfen, aber hier war er machtlos. Doch Hilfe eilte schon. Es war nicht Gerald, auch nicht Tobias, sondern – überraschenderweise – Peters.

„Ihre Ladyschaft, der Kaffee wird nun im Salon serviert“, verkündete er schlicht.

Gertrude klammerte sich an die unerwartete Rettung. Sie hatte ihm bisher kein derartiges Signal gegeben, aber sie war ihm zutiefst dankbar. Sie erhob sich. „Meine Damen, sollen wir uns in den Salon begeben?“

 

Nell hatte sich im Servierzimmer etwas außer Sicht zurückgezogen und entspannte sich einen Moment lang, während die Damen in den Salon hinübergingen, der an der hinteren Seite von Wychbourne Court gelegen war. Mr Peters hatte nur widerwillig das gängige Protokoll gebrochen, welches verlangte, dass er wartete, bis Ihre Ladyschaft ihm das Signal gab, aber Nell hatte es geschafft, ihn zu überzeugen, dass nun der richtige Moment war. Wenn die Herren sich nach dem Port wieder zu den Damen im Salon gesellten, würde Mr Jarrett mit etwas Glück seine Sorgen um den Veranstaltungsort der Revue bereits vergessen haben. Sie beobachtete die Damen, die in ihren Abendkleidern mit den langen Schleppen den Raum verließen. Lady Helens elegantes blaues Chiffonkleid war vorne gewagte hoch ausgeschnitten, auch wenn es hinten wie üblich bis zum Boden reichte. Lady Clarice schien es zu widerstreben, sich von Mr Trotter zu trennen, aber Mr Rocke schien sich um ihn zu kümmern. Lady Sophy hatte es wieder einmal geschafft, an der Tür des Servierraums vorbeizukommen und stieß diese auf.

„Gut gemacht, Nell“, flüsterte sie ernst, dann eilte sie ihrer Schwester hinterher. Da sie deutlich kleiner und kräftiger gebaut war als Lady Helen, hatte sich Lady Sophy damit abgefunden, das Rampenlicht ihrer Schwester zu überlassen und es kümmerte sie nicht im Geringsten. Nell sehnte sich danach, ihnen zu folgen und im Salon Mäuschen zu spielen, denn es schien sich Ärger anzukündigen. Lady Ansley hatte während des Dinners sehr verstimmt ausgesehen und vielleicht konnte Nell etwas für sie tun. Konnte sie den Kaffee vielleicht einfach selbst servieren? Wieso denn nicht? Sie war in ihrem schwarzen Chiffonkleid angemessen gekleidet und so würde sie auch als Mäuschen nicht weiter auffallen. Wenn sie hören könnte, was sich zutat, würde sie besser sagen können, ob die Sorgen Ihrer Ladyschaft gerechtfertigt waren.

Der Kaffee half tatsächlich, dachte Gertrude dankbar, als die Herren schließlich durch die Türen des Speisesaals kamen. Die Damen waren bereits von ihrem kurzen Rückzug nach oben zurückgekehrt und der Portwein hatte seinen Teil für die Herren getan. Sogar Mr Trotter hatte ein Lächeln auf den Lippen und Gerald sah nicht im Geringsten besorgt aus. Mr Trotter war zwischen Tobias und Gerald hereingekommen, der seine Unsicherheit sicherlich bemerkt hatte. Lord Ansleys Rücksichtnahme auf solche Dinge bewegte Gertrude stets.

„Welch Verlockung uns hier erwartet“, erklärte Tobias, „da bin ich froh, auf das zweite Glas Portwein verzichtet zu haben. Der 1912 ist wahrhaft hervorragend, Gerald.“

„Du hast ihn hinreichend bewundert, Toby“, sagte Neville leichthin.

„Es wäre langsam wieder an der Zeit für einen so guten Jahrgang“, merkte Gerald an und Gertrude entspannte sich allmählich. Es war Verlass auf Gerald, bedrohliche Wolken zu verjagen.

Doch sie hatte sich zu früh entspannt. „Diese Idee in einer Schankwirtschaft aufzutreten, Gertrude“, setzte Hubert an.

Sie nahm alle Kraft zusammen. „Eine Gaststätte“, sagte sie mit Nachdruck. „Sie haben dort einen wunderbaren Saal, der für förmliche Untersuchungen und Ratssitzungen genutzt wird.“

„Dennoch nehme ich an, dass die Revue für alle Gäste offen sein soll?“

„Die Einnahmen aus dem Kartenverkauf werden an eine Wohltätigkeitsorganisation für Kriegsveteranen gespendet“, erklärte Gerald freundlich.

Doch vergeblich. „Ich bevorzuge es, sie auf andere Weise zu unterstützen“, sagte Hubert steif. „Ich fühle mich dabei nicht wohl. Meine Kunst raubt mir all meine Kraft. Sie verlangt eine angemessene Bühne und Publikum, das meine Arbeit zu schätzen weiß. Ich trete nicht in Schankwirtschaften auf.“

„Shakespeare hat es getan“, entgegnete Alice.

„Das hat er tatsächlich“, strahlte Tobias, der Gertrude zu Hilfe kam. „Ich habe vor, Sir Toby Belch am Samstag zu spielen, komm, Hubert, es ist eine Ehre, in Wychbourne aufzutreten.“

Gertrudes Hoffnung verflog erneut, denn Hubert sprach weiter, als hätte Tobias kein Wort gesagt. „Wie ich Constance verstehe“, tönte er hochtrabend, „gibt es Pläne, uns als Pierrots zu verkleiden. Das kann ich nicht akzeptieren. Ich habe meine Standards und ich bin weder gewillt, in einem Clownskostüm herumzutänzeln, noch erlaube ich es meiner Frau, das weiße Rüschenkleid zu tragen, das meinem Verständnis nach demselben Zweck dienen soll.“

„Aber, Hubert …“, flehte Constance.

„Genug.“ Er hob die Hand.

„Du bist immer schon ein großspuriger Langweiler gewesen“, sagte Neville freundschaftlich. „Ein Clown auf deine eigene Weise.“

„Wählen Sie Ihre Worte mit Bedacht, Mr Heydock“, sagte Hubert aufbrausend. „Wir sprechen in Anwesenheit von Damen, sonst würde ich auf Ihren Kommentar nachdrücklicher antworten.“

Einen Moment lang war es totenstill, dann folgte ein Aufruhr, als jeder versuchte, etwas zu sagen – dann die Stimme zu erheben – und das alle auf einmal. Der Lärm wurde so laut, dass Gertrude es nicht mehr aushielt. Sie hätte alles gegeben, um diesem Albtraum ein Ende zu bereiten. Nicht einmal Nell, die sie an der Tür sah, konnte sie trösten. Es gab nichts, was Nell für sie tun konnte, oder überhaupt jemand tun konnte.

Das Thema musste schleunigst gewechselt werden. Das Treffen hatte ein erfreuliches Wiedersehen sein sollen, trauerte Gertrude. Sie hatten so schöne Zeiten zusammen erlebt, oder etwa nicht? Wechsle das Thema, wechsle schnell das Thema. Eine Erinnerung kam ihr in den Sinn, eine unglückliche. Sie war dreißig Jahre verschwiegen worden, welchen Schaden konnte sie jetzt schon noch anrichten?

Als sie noch darüber nachdachte, hörte sie ihre Stimme schon verzweifelt die Frage stellen, die sie nie gewagt hatte, auszusprechen.

„Was genau ist Mary Ann widerfahren?“