Leseprobe Seelennarben

1

Zärtlich strich er ihr über das Haar und lächelte versonnen. „Susi, meine geliebte Susi.“ Seine Finger berührten behutsam ihre Wange, folgten der Linie des Halses und verharrten auf ihrer Brust. Mit langsamen, kreisenden Bewegungen begann er sie zu streicheln, wobei er sich über sie beugte. Endlich fanden seine Lippen die ihren. „Susi“, wiederholte er ihren Namen.

Seine Stimme war so unendlich sanft und liebevoll, dass Susanne ein wohliger Schauer über den Rücken lief. „Nicki, oh Nicki. Du weißt nicht, wie lange ich mir das schon wünsche.“ Ihre Worte waren kaum mehr als ein Hauch.

Er antwortete nicht, doch der glückliche Ausdruck auf seinem ebenmäßigen, ihr so vertrauten Antlitz besagte alles. Seine Hand verließ ihre Brust und strich über ihren Bauch, blieb dort einen Moment lang liegen und glitt tiefer.

Erstaunt stellte sie fest, dass es ihr nicht unangenehm war, wenn er ihren Körper erforschte. Er durfte sie sehen, ihre Rundungen berühren, sie endlich so lieben, wie sie es sich immer erträumt hatte. Ab nun würde er sich auch nie wieder über sie lustig machen, nie wieder gemeinsam mit den anderen im Chor die schrecklichen Worte hinter ihr herrufen: Rippel – Trippel – Trappel – Kugelrund. Rippel – Trippel – Trappel – Kugelrund.

„Hier stimmt etwas nicht!“, fuhr es ihr plötzlich brutal durch den Kopf, und das Gefühl, Nickis Hand auf ihrer Haut zu spüren, verblasste mit einem Mal. „Nein!“, schrie es in ihr auf. Er durfte nicht aufhören, sollte sie bitte – bitte – bitte wieder und immer wieder küssen, genau, wie er es eben getan hatte. Sie wollte sich nicht von diesem wunderbaren Traum lösen und in die Welt zurückkehren, die für sie so schwer zu bewältigen war und ihr stets viel Kummer bereitete.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich mit einer ungeahnten Kraftanstrengung überwinden konnte, die Lider zu heben. Grelles Licht überflutete ihre Pupillen. Rasch presste sie die Augen wieder zusammen. Warum fiel ihr diese kleine Bewegung dermaßen schwer? Und warum konnte sie sich nicht konzentrieren? Ihre Gedanken lagen wie unter einer Schneelawine begraben. Panik kroch in ihr hoch, und sie versuchte krampfhaft, die Situation zu erfassen. Was sollte dieses gleißende Licht über ihr? Wo befand sie sich überhaupt? Und warum schaffte sie es nicht, Nick, ihre unerfüllte Jugendliebe, aus ihrem Leben zu verbannen?

Mit einer automatischen Geste zogen sich ihre Brauen zusammen.

Komm schon! Denk nach! Wo bist du? Hol dir ein Bild, mit dem du arbeiten kannst. Du weißt doch, wie das funktioniert. Du schaffst es!

Oh ja, sie wusste es genau. Man hatte es ihr in der Therapie beigebracht, und mit der Zeit war sie sogar eine Meisterin darin geworden. Es war lange her, doch hatte sie nichts davon vergessen. Wieder versuchte sie, sich zu konzentrieren. Vor ihrem inneren Auge erschien allmählich das Bild einer Stadt im Nebel.

Ich stehe auf einem erhöhten Aussichtspunkt und schaue in Richtung Norden auf die Stadt. Ich sehe! Ich sehe 

… Wien. Die von wenigen Hochhäusern gekennzeichnete Skyline, schemenhafte Gebäude, rauchende Schornsteine, zur Linken die sanften Hügel der Weinberge. Im Hintergrund, wegen des Nebels nicht sichtbar, doch sehr wohl in ihrer Vorstellung vorhanden: die Weite des Burgenlands, der Neusiedlersee, das Leithagebirge.

Ich sehe!

Tief sog sie die Luft in ihre Lungen und stieß sie mit einem kräftigen Ruck wieder aus. „Schleier, heb dich! Nebel, verschwinde!“, formte sie die auswendig gelernten Worte in ihren Gedanken, und wie durch Zauberhand begann sich der Nebel tatsächlich zu lichten. Die Gebäude traten hervor, das Gebirge erhob sich. Nach und nach wurde alles klarer. Noch einmal atmete sie tief durch und wagte endlich, die Augen erneut zu öffnen.

Zuerst war es nur ein winziger Spalt, durch den die Helligkeit, nun dosiert, auf ihre Pupillen traf. Ihre Lider flatterten. Sie wartete, bis sie sich an das weiße Licht gewöhnt hatte, dann schlug sie die Augen ganz auf. Als Erstes erkannte sie eine Lampe auf einem Schwenkarm genau oberhalb ihres Kopfs. Ihr Blick wanderte nach links. Eine weiße Wand mit einem Regal aus dunklem Holz, auf dem unzählige Bücher säuberlich aufgereiht standen, drei Fotos von auffallend schönen Frauen, daneben einige gerahmte Schriftstücke, die sie aus der Entfernung nicht entziffern konnte. Sie schwenkte nach rechts. Ihre Augen brannten, trotzdem empfing ihr Gehirn klare Signale: wieder eine weiße Wand und davor ein Aluminiumschrank mit Glastüren. In den Fächern befanden sich diverse Gegenstände, die sie nicht genau ausmachen konnte. Das gesamte Mobiliar wirkte elegant, allerdings auch klinisch und nüchtern.

Schleier, heb dich! Nebel, verschwinde!

Ihre Schläfen pochten.

Schleier, heb dich! Nebel, verschwinde!

Angsterfüllt ließ sie ihre Pupillen auf der Suche nach einem Anhaltspunkt weiter kreisen. Noch immer war sie nicht ganz bei Sinnen, erfasste ihr Umfeld nur konfus, wie die Teile eines Puzzles, die jemand achtlos ausgeleert hatte.

Zögerlich blickte sie an sich hinab. Sie lag flach auf einer Liege ausgestreckt. Ihre Arme waren in einem Winkel von neunzig Grad gebogen und ruhten auf einem Gestell. Lederne Schlaufen fixierten ihre Gelenke. Ihre entblößten Beine standen seitlich von ihrem Körper ab. Wie in einem gynäkologischen Stuhl steckten sie angehoben in einer Vorrichtung aus Metall und waren ebenfalls mit Lederriemen befestigt. Und zwischen ihnen stand – ein Mann! Susanne erkannte ein weißes Hemd, unter dessen Kragen eine blaue Krawatte lose herabhing. Sie folgte dem Verlauf der Krawatte. Unter den Enden des Hemds blitzte Haut hervor. Seine Hüften waren nackt. Nackt!

Mit seltsam entrückter Miene stierte der Mann zur Decke, sein Becken bewegte sich rhythmisch vor und zurück, wobei er seine Finger in ihre gefühllosen Schenkel krallte.

Ein eiskalter Schauer durchlief ihren Leib. Einem ersten Instinkt folgend, wollte sie aufschreien, um Hilfe rufen, doch drang kein Laut über ihre Lippen. Ihre Furcht ignorierend, betrachtete sie sein Gesicht. Sie kannte ihn. Doch es war nicht dieses verzerrte, ekstatische Antlitz, das sie in ihrem Gehirn gespeichert hatte. In ihrer Erinnerung war es freundlich und lächelte. Sie verband es mit einem Gefühl von Vertrauen und Sicherheit. Vertrauen, Sicherheit – und Hoffnung! Eine sehnsüchtige, verzweifelte Hoffnung.

Jemand im Raum hustete. Nicht dieser Mann, eine zweite Person.

Schleier, heb dich! Nebel, verschwinde! Helft mir! So helft mir endlich!

Verzweifelt kniff sie abermals die Augen zusammen.

Hör auf zu betteln! Niemand wird dir helfen. Weißt du denn nicht, was gerade mit dir geschieht?

Da hoben sich die letzten Nebelschwaden, lösten sich wie der Morgendunst eines herbstlichen Walds schlagartig in nichts auf und offenbarten ihr die furchtbare Wahrheit. Sie erstarrte. Solange es ihre Lungen gestatteten, wagte sie nicht zu atmen und wünschte sich in einem neuerlichen Anflug von Panik wieder in die blasse Welt der Unwissenheit zurück.

Warum habe ich kein Gefühl in den Beinen? Warum spüre ich ihn nicht? Ich sehe doch, was er tut! Weiß, was er mit mir anstellt! Hilfe! Hilfe! Er vergewaltigt mich!

Das Verlangen, sich endlich aufzubäumen, an ihren Fesseln zu zerren und so laut wie möglich zu schreien, überschwemmte sie unvermittelt und war kaum kontrollierbar. Dessen ungeachtet blieb sie bewegungslos liegen und überwand den schier übermächtigen Drang.

Verhalt dich ruhig! Und denk nach, denk nach! Du weißt genau, was passiert, wenn er sieht, dass du wach bist.

Vorsichtig versuchte sie, ihre linke Hand zu bewegen, doch die Manschette saß fest am Gelenk. Sie probierte es mit der rechten Hand, aber auch diese war festgezurrt. Mit dosierter Kraftanwendung drückte sie die Gelenke langsam nach oben; vielleicht konnte sie die Fesseln auf diese Weise unauffällig lockern. Wie Eisenzangen umklammerten die Riemen jedoch ihre Arme und verschoben sich keinen Millimeter. Als ihre Muskeln zu schmerzen begannen, legte sie eine Pause ein. Erneut versuchte sie es. Ohne Erfolg.

Was würde passieren, wenn ich meine Knie mit einem Ruck zusammenpresse? Meine Beine sind zwar dick, aber in den Schenkeln steckt erstaunlich viel Kraft. Ich habe nicht umsonst tagein, tagaus trainiert.

Die nüchterne Antwort folgte umgehend.

Das habe ich dir doch gesagt: Er würde wissen, dass du wach bist. Meinst du, dass er vor dir auf die Knie fällt, sich entschuldigt und dich bittet, den Mund zu halten?

Etwas in ihr schrie auf.

Aber er wird aufhören! Endlich damit aufhören! Egal, was danach passiert, einen endlosen Augenblick lang hätte ich Ruhe.

Ein fremdartiges Hitzegefühl durchströmte ihren Körper, und mit einem Mal orientierte sich ihr gesamtes Denken an diesem kläglichen Hoffnungsschimmer.

Aufhören! Aufhören! Aufhören!

Tief atmete sie ein und gab die Luft mit einem markerschütternden Schrei wieder von sich. Unter Aufbietung ihrer gesamten Kraft presste sie die Knie zusammen, doch hatte sie dabei, noch immer bewusstseinsumnebelt, nicht an die Fußfesseln gedacht. Verzweifelt riss sie an ihnen, aber auch diese saßen fest, sodass sie es gerade schaffte, seinen Körper zu berühren.

Trotzdem stöhnte er auf, und so, als hätte sie ihn tatsächlich verletzt, fiel er nach vorn und sackte auf ihr zusammen. Unversehens war sein Gesicht dem ihren zum Greifen nah.

Sie starrte ihn an, sah seine überraschte Miene, und für den Bruchteil einer Sekunde war sie glücklich und unendlich dankbar, dass ihre Qual ein Ende hatte. Sie konnte nicht sehen, wie jemand hinter ihr die Hände erhob und mit voller Wucht einen Gegenstand auf ihren Kopf herabsausen ließ. Alles um sie herum wurde schwarz.

2

„Er war ein Punker, und er lebte in der großen Stadt, es war in Wien, war Vienna, wo er alles tat. Er hatte Schulden, denn er trank, doch ihn liebten …“

Bereits bei Vienna war Nick hellwach und aufnahmebereit, allerdings benötigte er eine Weile, bis er in der Dunkelheit den Ton seines Handys lokalisiert hatte. Er kletterte aus dem Bett und zog es aus der Tasche seiner auf dem Boden liegenden Hose. Das Display flammte auf, und Nick drückte die Annahme-Taste. „Ja? Stein.“

„Entschuldigen Sie die nächtliche Störung, Doktor Stein, Code 107“, vermeldete eine leicht schleppende Frauenstimme.

Code 107 – ein Mordfall! Nick seufzte. „Geben Sie mir die Adresse.“

Sie hüstelte und erwiderte stereotyp: „Ort: Mödling, Straße: Brühlerstraße Nummer 19. Genügt Ihnen diese Information, oder wünschen Sie weitere Details?“

„Ja.“

„Sie meinen … ich verstehe nicht?“, erkundigte sich die Stimme mit einem Anflug von Missmut.

„Ja, bitte geben Sie mir weitere Details“, setzte er, umgänglicher, nach. Ihm lag nicht daran, die Nerven dieser armen Nachtdienst-Seele zu strapazieren.

„Die Hausnummer 19 ist die Adresse eines Lokals oder Veranstaltungsorts, wie ich am Bildschirm sehe, Name: Kursalon. Den 107er finden Sie laut Angaben am hinteren Ende des rechts an das Gebäude grenzenden Parkplatzes“, erklärte sie, wieder ganz in die monotone Sprachmelodie verfallend.

„Sagen Sie den Leuten vor Ort, ich bin in einer Stunde bei ihnen.“ Er beendete das Gespräch.

Nackt, das Handy fest umklammert, blieb er einen Moment lang bewegungslos inmitten des fremden Schlafzimmers stehen und versuchte sich zu orientieren. Dabei warf er einen Blick auf das Bett, in dem sich jemand regte. Schemenhaft kam ein Kopf zum Vorschein.

„Warum schaltest du mitten in der Nacht das Radio ein?“, murmelte die Frau verschlafen.

Rasch ließ Nick den gestrigen Abend Revue passieren; ein versonnenes Lächeln umspielte seine Lippen. „Das war nur mein Handy. Amadeus von Falco ist mein Klingelton“, flüsterte er und beschloss, sich bei Gelegenheit eine neutrale Melodie zuzulegen.

Aus dem Bett kam als Antwort ein undefinierbares Grunzen.

„Ich muss weg. Wo ist das Bad?“, fragte er.

„Die nächste Tür rechts. Wieso musst du weg?“, nuschelte sie unter einem langen Gähnen.

„Meine Arbeit. Ich ruf dich später an und erkläre dir alles, okay?“

„Hast du denn überhaupt meine Telefonnummer?“

„Du hast mir in der Bar deine Karte gegeben.“

Wieder ertönte eine Art Grunzen.

Mittlerweile hatte Nick seine Kleidungsstücke eingesammelt. Leise durchquerte er den Raum und zog die Schlafzimmertür geräuschlos hinter sich ins Schloss.

Das Badezimmer war klein, aber sauber und ordentlich aufgeräumt; keine Haare im Waschbecken, keine Schimmelspuren in den Ecken. Er atmete auf und schnappte sich eines der auf einem offenen Regal gestapelten rosafarbenen Handtücher. Das folgende Prozedere war ihm mit der Zeit in Fleisch und Blut übergegangen: nicht länger als eine Minute lauwarm duschen, damit die verschlafenen Glieder in Schwung kamen, dabei das Haar mit den Händen und Wasser in Form bringen, danach Zähne putzen, zur Not, wenn er, so wie jetzt, keine Zahnbürste zur Verfügung hatte, mit dem Zeigefinger der linken Hand und einer doppelten Portion Zahnpasta, ankleiden – fertig. Er fasste in die Innentasche seines Sakkos und griff nach dem Schlüsselbund, dem Portemonnaie sowie der Polizeimarke. Perfekt.

Eilig verließ er die Wohnung, ignorierte den Fahrstuhl und öffnete die Tür zum Treppenhaus. Während er die ersten Stufen nahm, drückte er auf seinem Handy die Kurzwahltaste eins.

Samantha Smith meldete sich nach dem ersten Läuten. „Chief!“ Sie stockte und schien zu lauschen. „You’re not at home! Da sind fremde Geräusche im Hintergrund. Wo bist du?“ Ihr weicher britischer Akzent konnte nicht über den beißenden Hohn in ihren Worten hinwegtäuschen.

„Ich werde dich für die neugierigste Sekretärin der Welt nominieren“, konterte Nick. „Bist du schon im Bild?“

„Yep. Ich habe soeben den Anruf erhalten und bin bereit. Soll ich ins Büro fahren?“

„Nein. Bleib vorerst auf Abruf zu Hause. Sollte ich dich vorzeitig brauchen, melde ich mich.“ Er wusste, dass sie rund um die Uhr für ihn zur Verfügung stand.

„Wo bist du?“, wiederholte sie ungerührt.

„Das geht dich nichts an.“

„Hat es gar mit diesen drei Ladys aus der Bar zu tun?“

Nick ächzte. „Kannst du dich an die sportliche Blondine erinnern?“, gestand er.

„Die sich mit dem verräterischen Augenzwinkern als die schöne Bella, weil doppelt hält besser vorgestellt hat?“, spöttelte Samantha.

„Genau die! Im Übrigen heißt sie mit vollem Namen Isabella. Warum bist du auch so schnell verschwunden, Sam? Du hättest auf mich aufpassen sollen.“

„Auf dich kann niemand aufpassen! Wenn du dich nicht änderst, wirst du in ferner Zukunft als old dodderer auf einer Frau liegend sterben. Das prophezeie ich dir. Hättest du dir einfach noch einen Whisky bestellt und wärst dann nach Hause gefahren!“

Bei der Erinnerung an den zwölf Jahre alten Single Malt und den starken Mokka, den er dazu getrunken hatte, verzog sich sein Mund auch jetzt noch genießerisch. Wie er diese Kombination mochte! Der säuerliche Geschmack, den der Mokka auf der Zunge hinterließ, harmonierte in unvergleichlicher Weise mit der Schärfe des Whiskys. Aber nicht nur der Gedanke an das Whisky-Aroma brachte ihn zum Lächeln. „Ich denke, Isabella ist eine wirklich nette Frau. Vielleicht …“

Mit einem derben Lacher unterbrach Samantha ihn. „Du kennst sie überhaupt nicht, und außerdem war sie betrunken. Lass ein paar Wochen ins Land gehen, schieb hundert Nummern mit ihr, dann sprechen wir weiter.“

„Du bist ordinär.“

„Das nehme ich als Kompliment. Thank you.“ Ohne ein weiteres Wort legte sie auf.

Nick steckte das Handy weg und holte im selben Atemzug seinen Autoschlüssel aus der Tasche. Sein schwarzer Range Rover parkte auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Er überquerte zügig die leere Fahrbahn und lauschte dem Klicken des sich entsperrenden Wagens. Voller Tatendrang öffnete er die Autotür, sprang auf den Fahrersitz, drückte den Startknopf und stellte den Schalthebel auf Drive. Mit einem Blick in den Rückspiegel fuhr er los. Seine Augen wanderten zur Uhranzeige. Von dem Anruf aus der Zentrale bis jetzt waren knapp zwanzig Minuten vergangen. Bis nach Mödling benötigte er um diese nachtschlafende Zeit noch einmal so lange. Er lag gut im Rennen, zwar nicht sein Rekord, aber zufriedenstellend.

Tatsächlich war auf den Straßen kaum Verkehr, und die wenigen Nachtschwärmer oder Frühaufsteher, die ebenfalls unterwegs waren, wichen aus, wenn sie ihn im Rückspiegel näher kommen sahen. Nach zehn Minuten passierte er die Stadtgrenze Mödling und bog kurze Zeit später auf den Parkplatz neben dem Kursalon ein.

Er hatte sein Ziel erreicht.

Sofort fiel ihm der silberfarbene Porsche Cayenne Turbo mit dem Kennzeichen W DOC 1 auf, der ohne Rücksicht auf Bodenmarkierungen in Poleposition parkte. „Verdammt!“, entfuhr es Nick, und eine eigentümliche Mixtur aus Erleichterung, Enttäuschung und Widerwillen überkam ihn. So war es immer, wenn er mit dem Besitzer dieses Autos zusammenarbeitete: Doktor Robert Hofer, Facharzt für Rechtsmedizin, einer der unsympathischsten, eitelsten und arrogantesten Menschen, die er jemals kennengelernt hatte – dabei mit Abstand der Beste seines Fachs.

Zwei Drittel des Parkplatzes waren weitläufig mit einem Polizeiband abgesperrt. Starke Scheinwerfer, die alles in ihrer Umgebung in eine – wie Nick es gern nannte – Operationsraum-Atmosphäre tauchten, standen überall herum, wobei ihr Fokus auf eine aus seiner Position noch nicht einzusehende Stelle im Hintergrund ausgerichtet war. Doch er wusste auch so, worauf die grellen Lichter zeigten. Genau dort verlief das Bett des Mödlingbachs.

Mit einer schwungvollen Bewegung hob er das Absperrband hoch und schlüpfte hindurch. Unwillkürlich wurde er langsamer und sondierte die Lage. Ein paar Gestalten schwirrten in den Lichtkegeln der Lampen hin und her, zwei Personen knieten auf dem Boden. Auf der kleinen Holzbrücke, die den Parkplatz mit der Bachpromenade verband, lehnten drei Polizisten am Geländer und gafften in die Tiefe. Nick blieb stehen, holte tief Luft und blickte zu dem Aquädukt hoch, das den Parkplatz der Länge nach in zwei Hälften teilte. Das Bauwerk wirkte selbst heute noch mächtig und einschüchternd auf ihn; erstaunlich gut konnte er sich daran erinnern, wie er als kleiner Junge Angst gehabt hatte, ein Ziegel könnte sich lösen und auf ihn herabdonnern. Kopfschüttelnd riss er sich aus der Momentaufnahme seiner Vergangenheit los und setzte sich wieder in Bewegung.

Als er in den ersten Lichtkegel trat, wandten die drei Uniformierten wie auf Befehl ihre Köpfe und ließen von der Stelle ab, die sie fixiert hatten. Mit schnellen Schritten näherten sie sich ihm. Nick ließ es auf kein zeitraubendes Frage-Antwort-Spiel ankommen, sondern zog seine Dienstmarke hervor und setzte ein gewinnendes Lächeln auf. „Wie ich sehe, haben Sie alles im Griff. Setzen Sie mich bitte über die Fakten in Kenntnis.“

Der kleinste der drei Männer trat einen Schritt vor und präsentierte eine durchaus überzeugende Pistolero-Miene. „Sie sind …?“ Seine Worte klangen wie Pistolenschüsse.

Unvermittelt drängte sich Nick ein verräterisches Grinsen auf. Diesem Mann reichte eine schnöde Polizeimarke, die man ihm vor die Nase hielt, keineswegs, er wollte auf Nummer sicher gehen. Prinzipiell respektierte Nick diese Einstellung. Die grimmig zusammengezogenen Augenbrauen, die zum Zücken der Waffe bereiten Arme, leicht angewinkelt, und dazu die Ausdrucksweise waren aber doch einen Tick zu viel.

„Nick Stein“, erwiderte er nichtsdestoweniger betont freundlich.

Augenblicklich glättete sich die Stirn des Angesprochenen. Verlegen räusperte er sich. „Ah, Doktor Stein! Wir … ja, wir haben Sie nicht so rasch erwartet.“ Dienstbeflissen fuhr er fort: „Das Opfer liegt unten am Bachufer. Rein äußerlich sind keine größeren Verletzungen zu erkennen. Trotzdem: Ein schrecklicher Anblick, ich muss Sie warnen!“

„Sie waren da unten?“, fragte Nick. Selbstverständlich kannte er die Antwort, doch wollte er sich das Spielchen nicht entgehen lassen. Ein Dämpfer konnte diesem Reserve-Django nicht schaden.

„N-Nein. Aber man kann von hier oben alles recht gut sehen. Es sind ja nur ein paar Meter“, entgegnete der Polizist und strich mit einer nervösen Geste über sein Kinn.

Nick warf einen Blick auf seine beiden Kollegen. Während der Ältere gelangweilt wirkte und keinerlei Gefühlsregungen zeigte, tat sich der andere sichtlich schwer, ernst zu bleiben. Seine Mundwinkel zuckten. – Das war sein Mann!

In nächster Zeit würde Nick erfahrungsgemäß ständig mit den hiesigen Beamten zu tun haben. Neben dem Leiter des Reviers, den er nehmen musste, wie er war, benötigte er ein oder zwei verlässliche Ansprechpartner, an die er sich immer wenden konnte und die er bei Bedarf sogar eigens für sich abstellen ließ.

„Wie heißen Sie?“, sprach Nick diesen dritten Polizisten direkt an.

„Peter Westernschmidt.“ Kurz und bündig, ohne Anzeichen von Ergebenheit.

Zufrieden streckte ihm Nick die Hand entgegen, blieb jedoch so weit auf Distanz, dass sich der Polizist mit mindestens einem Schritt auf ihn zubewegen musste. Als Peter Westernschmidt seine Hand ergriff, zog ihn Nick mit einer unauffälligen Bewegung noch ein Stück zu sich heran und isolierte ihn auf diese Weise von seinen Kollegen.

„Um ein Uhr dreißig erhielten wir den Anruf eines Mannes“, begann Peter Westernschmidt spontan seinen Bericht. Als Nick ihn mit einer einladenden Geste aufforderte, fortzufahren, legte er sofort nach: „Er habe mit seiner Freundin einen Spaziergang unternommen, sich für ein paar Minuten auf der Brücke aufgehalten und dabei die Leiche entdeckt.“

Nick schaute zum Himmel empor. Beinahe Vollmond, keine Wolken. Die Sicht war fraglos ausreichend. „Haben Sie das Paar gesehen, Herr Westernschmidt?“

„Ja. Sie befinden sich auf dem Revier und werden gerade von einer Kollegin befragt. Er ist etwa zwanzig Jahre alt, und dem Mädchen fehlt noch einiges auf die achtzehn. Wenn Sie mich fragen, wollten die beiden alles denkbar andere, als einen Spaziergang unternehmen.“

Nick unterdrückte ein wissendes Lächeln. Der Wald hinter der Brücke war schon in seiner Jugend ein beliebter Ort für mehr oder weniger romantische Schäferstündchen gewesen. „Können Sie mir etwas über das Opfer sagen?“

„Wie mein Kollege bereits erwähnte, weist sie, zumindest aus der Entfernung, keine sichtbaren, größeren Verletzungen auf. Ein paar Kratzer, zerfetzte Kleidung, sonst konnten wir nichts feststellen. Sie liegt mit dem Bauch nach unten. Kopf und Gesicht befinden sich teilweise unter Wasser. Noch wurden keine persönlichen Gegenstände gefunden. Das ist einstweilen leider alles.“

„Eine Frau also.“

Der Polizist nickte und deutete in Richtung Brücke. „Kommen Sie.“

Gemeinsam betraten sie den Übergang und blickten auf das Flussbeet hinab. Das Bild, das sich Nick bot, war natürlich kein ansprechendes, nichts für empfindsame Seelen, doch hatte er in der Vergangenheit weitaus schlimmere Tatorte gesehen.

Wie von Peter Westernschmidt angekündigt, lag die Frau mit dem Bauch nach unten schräg zum Bachverlauf. Ihre Beine hatten sich in einem Busch verfangen und wirkten seltsam verdreht. Der Kopf war etwa zur Hälfte im Wasser verschwunden, wobei ihre langen, blonden Haare in wellenförmigen Bewegungen der Strömung folgten; ein sanft anmutendes Detail, das in groteskem Gegensatz zur tragischen Wirklichkeit stand. Das weiße Licht der Scheinwerfer ließ den femininen, rundlichen Körper wie eine überdimensionierte Puppe erscheinen, die ein Kind achtlos zur Seite geworfen hatte und deren Glieder an einem Stein zerbrochen waren. Konzentriert versuchte Nick, weitere Einzelheiten auszumachen, doch auch er war nicht imstande, aus der Entfernung explizite Spuren von Gewalteinwirkung festzustellen. Aber das musste noch lange nichts bedeuten. Unter all dem Schmutz, der auf dem Körper klebte, konnte sich leicht ein Einschussloch oder ein Messereinstich verbergen.

Neben der Leiche kniete ein Mann: Doktor Robert Hofer. Nick beugte sich über das Geländer. „Robert, alter Freund!“ Niemand, auch nicht der Angesprochene selbst, bemerkte den unterschwelligen Zynismus.

Der Arzt hob den Kopf und anschließend die Hand zum Gruß. „Nick Stein! Zieh dir etwas Hübsches über, und komm zu mir herunter.“

„Ich bin sofort bei dir“, antwortete Nick. „Ich brauche einen Schutzanzug“, wandte er sich wie selbstverständlich an Peter Westernschmidt.

Der Polizist tippte mit dem Zeigefinger an seine Kappe und entfernte sich, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Es dauerte nicht lange, und er kehrte mit einem Mitarbeiter der Spurensuche im Schlepptau zurück.

„Nick, schön, dich zu sehen, seit unserem letzten Zusammentreffen sind Wochen vergangen“, rief der Spurensucher bereits aus einiger Entfernung. Als er vor Nick zum Stehen kam, hielt er ihm einen weißen Anzug sowie Überzieher für die Schuhe entgegen. „Hier, dein Ganzkörperkondom.“

„Hallo, Freddy! Ja, es muss mindestens fünf oder sechs Wochen her sein. Ich dachte schon, du hast einen besseren Job gefunden; vielleicht einen Bestseller zum Thema Fingerabdrücke geschrieben – oder gar eine Ode über die Unendlichkeit der DNS.“ Nick zwinkerte und deutete ein ironisches Lächeln an. Er mochte diesen besonnenen Mann mit seinem trockenen Humor, von dem er wusste, dass er ein leidenschaftlicher Verfasser lyrischer Texte war. Im Gegensatz zu Doktor Robert Hofer arbeitete er mit dem Spurenermittler sehr gern zusammen. Nicht nur, weil Freddy ebenfalls einer der Besten seines Fachs war.

„Nichts dergleichen. Flitterwochen auf den Malediven. Ein wahr gewordener Traum! Die Sonne scheint ohne Unterlass, und der Sandstrand hat die Farbe einer Piña colada, dazu das türkisfarbene Meer.“ Er schloss genießerisch die Augen. „Aber ich muss dich enttäuschen, Nick, für dich ist dieser wunderbare Ort definitiv kein geeignetes Urlaubsziel. In deinem Fall würde es sich wohl eher um einen wahr gewordenen Albtraum handeln. Nick Stein, gefangen auf einer winzig kleinen Insel, umgeben von zwanzig verliebten Paaren.“ Der Spurenermittler lachte. „Und du müsstest mit der einen Frau auskommen, die du mitgenommen hast.“

Nick hob die Arme. „Du sagst es! Sollte ich allerdings einmal die Richtige finden, werde ich den Namen dieser Malediven-Insel von dir einfordern.“

„Tu das. Die Malediven könnten allerdings bis dahin im Meer versunken sein“, entgegnete Freddy und drückte Nick endgültig die Kleidung in die Hand. „Rein in das Ding! Und ruinier mir da unten nichts, wir sind noch lange nicht fertig. Wie du weißt, geht es für uns erst richtig los, wenn die Leiche abtransportiert worden ist.“

Nick verdrehte die Augen und schlüpfte in das Gewand. „Habt ihr etwas Verwertbares gefunden?“, erkundigte er sich nebenbei.

Der Spurenermittler verzog sein Gesicht zu einer unzufriedenen Grimasse. „Bis jetzt Fehlanzeige bei Fußspuren und Reifenabdrücken. Keine Handtasche, kein Handy, kein Ausweis. Wir werden das Gebiet natürlich großräumig absuchen, aber ich muss dir nicht erklären, wie rasch sich die Chance verringert, etwas zu entdecken, wenn es sich nicht in unmittelbarer Nähe befindet.“

„Ja, leider. Das rote Notizbuch mit dem Namen des Mörders hinter dem Haus der Großcousine unter einem Stein gibt es nur im Kino“, erwiderte Nick und gab einen höhnischen Lacher von sich.

Freddy stimmte in das Gelächter ein und entfernte sich winkend. Kurz blickte ihm Nick versonnen hinterher, bevor er sich wieder seiner Arbeit zuwandte. Vom Brückengeländer aus konnte er gut in beide Richtungen sehen. Ein Stück stromaufwärts führte ein asphaltierter Spazierweg zum Bachbett hinunter. Sofort setzte er sich in Bewegung. Wegen des ersten Herbstlaubs, das bereits von den Bäumen fiel, war der Abgang feucht und rutschig. Mit seinen nicht gerade geländegängigen Hugo Boss-Schnürschuhen aus Kalbsleder kam er nur mühsam voran. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, bis er endlich das Ufer erreichte. Er bewegte sich unter der Brücke hindurch und streifte sich wenige Meter vor dem Tatort den Fußschutz über. Achtsam machte er die letzten Schritte. An seinem Ziel angelangt, kniete er sich neben dem Rechtsmediziner hin. „Berichte!“

„Sie ist tot.“ Der Arzt grinste.

Nick seufzte. „Robert! Es ist drei Uhr nachts. Nerv mich nicht mit solchen Sprüchen. Hast du etwas Interessantes für mich oder nicht?“

„Ist ja gut, ich verstehe dich. Aber du musst dich wegen eines kleinen Scherzes nicht gleich so aufregen“, beschwichtigte ihn Robert Hofer und deutete mit dem Kinn auf das Opfer. „Sie liegt noch nicht lange hier, maximal seit ein paar Stunden; die aktuelle Umgebungstemperatur beträgt knapp elf Grad, und die Totenstarre hat eben erst begonnen einzusetzen. Konkretes zum Todeszeitpunkt kann ich dir nach der Untersuchung sagen.“ Er wies auf ihren Kopf. „Hier an der Schläfe hat sie eine größere Verletzung.“

Nick beugte sich über die Leiche und hob das Haar sachte an. Die Haut war am Haaransatz aufgeplatzt und zeigte das darunterliegende Fleisch; ein Stück weißer Knochen blitzte hervor. „Die Todesursache?“

Robert schüttelte abwehrend die Hände. „Was willst du von mir hören? Du weißt doch, dass ich nicht irgendwelche obskuren Vermutungen äußern werde. Warte die Autopsie ab, dann bekommst du Fakten, mit denen du etwas anfangen kannst.“

Nick senkte den Kopf. Warum versuchte er es immer wieder! „Okay. Wenn es in dieser Position sonst nichts mehr zu sehen gibt, drehen wir sie um“, antwortete er resigniert.

Robert Hofer nickte zustimmend und erhob sich. Vorsichtig fassten sie den Körper seitlich an und legten ihn sanft auf den Rücken, wobei sie darauf achteten, dass der Kopf nicht wieder im Wasser landete. Instinktiv trat Nick einen Schritt zurück. Fassungslos starrte er auf das Gesicht des Opfers. Er kannte dieses herzförmige, hübsche Antlitz mit der kleinen, ein wenig zu breiten Nase und den großen, wasserblauen Augen, die sich nun für immer hinter geschlossenen Lidern verbargen.

„Ich kenne sie“, flüsterte Nick tonlos und mehr zu sich selbst.

„Was?“ Robert blickte ihn überrascht an.

„Susanne Rippel. Ich habe sie lange nicht mehr gesehen. Eine Schulkollegin aus alten Zeiten.“ Nick presste die Lippen zusammen. Sie war vom Teenager zur Frau gereift. Um die Augen herum befanden sich nun winzige Lachfalten, und ihr Haar war länger als früher. Aber sie war es, da gab es keinen Zweifel.

Ohne weiteren Kommentar griff er nach seinem Handy und wählte eine Kurzrufnummer. Als am anderen Ende der Leitung eine Stimme erklang, diktierte er, vermeintlich emotionslos, folgende Meldung: „Nick Stein. Vorfall Mödling, Parkplatz Kursalon. Code 107. Name des Opfers: Susanne Rippel. Letzte bekannte Adresse: Wien, siebenter Bezirk, Mariahilfer Straße, keine Hausnummer.“

Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Die Aktualität der Adresse liegt allerdings zehn Jahre zurück.“ Erneute Pause. „Ja, ich bin jederzeit erreichbar.“

Betont gelassen steckte Nick sein Handy wieder weg. Unvermutet kam ihm ein alter Reim in den Sinn, den er in seinem Unterbewusstsein vergraben und lange nicht mehr gehört hatte: Rippel – Trippel – Trappel – Kugelrund. Rippel – Trippel – Trappel – Kugelrund.

3

„Möchten Sie einen Kaffee, Herr Doktor Stein?“, fragte Peter Westernschmidt, kaum, dass sie den Vorraum des Polizeireviers Mödling betreten hatten. Seine beiden Kollegen, der Kleine und der Alte, waren am Tatort geblieben und warteten auf ihre Ablösung.

„Danke, gern. Ein Kaffee wäre jetzt genau das Richtige“, erwiderte Nick und folgte dem Beamten in einen nüchtern ausgestatteten Aufenthaltsraum mit einer kleinen Küche.

„Ich weiß, nicht gerade ein Highlight des guten Geschmacks, aber es fehlt an nichts.“ Entschuldigend deutete der Polizist auf einen modernen Mikrowellenherd sowie eine glänzende Kaffeemaschine.

„Eine Jura-Maschine! Sie verstehen es, meine Vorfreude zu schüren!“

„Dieses wunderbare Stück haben wir uns vor einem Jahr geleistet“, erklärte Peter Westernschmidt mit unverhohlenem Stolz.

„Vortreffliche Investition“, entgegnete Nick mit einem so ernsten Gesichtsausdruck, als ginge es um einen Millionendeal.

„Fürwahr! Wie möchten Sie Ihren Kaffee?“

„Nach dieser Nacht? Schwarz und sehr stark mit viel Zucker. Kann sie das?“

Peter nahm seine Kappe ab und fuhr sich durch das dichte Haar. „Unser Prachtstück kann nur eines nicht: Tango tanzen.“ Dabei lachte er herzlich, fischte eine weiße Kaffeetasse aus einem schmalen Schrank, stellte das Gefäß unter den Auslauf, drehte einen Schalter und drückte auf einen Knopf. Zunächst ertönte ein dumpfes Brummen, gefolgt von einem metallischen Knacken, dann wieder ein Brummen, und schließlich lief dampfender, herrlich duftender Kaffee in die Tasse. Fast unmittelbar erfüllte den Raum ein unvergleichliches Aroma. Während die letzten Tropfen in die Tasse perlten, stellte er eine Zuckerdose auf den Tisch und bereitete eine Untertasse vor, auf die er die Kaffeeschale platzierte. „Bitte, Herr Doktor Stein.“

Nick schaufelte reichlich Zucker in den Kaffee, rührte um, nahm einen Schluck und gab ein bewunderndes „Ah“ von sich.

Der Polizist holte eine weitere Tasse aus dem Schrank. Von ihren Ausmaßen her hätte sie als Teetasse durchgehen können. „Ich bin der Milchkaffee-Typ.“

Wenn auch nur so dahingesagt, passte diese knappe Selbsteinschätzung doch erstaunlich gut, fand Nick. Peter Westernschmidt war groß und trotz eines Bauchansatzes noch als schlank zu bezeichnen, er hatte dunkelblonde Haare und eine helle Haut. Obwohl in Nicks Alter, wirkte er jungenhaft und strahlte Sanftmut und Gelassenheit aus. Ja, er war ganz und gar der Milchkaffee-Typ!

„Nun, jedem das Seine.“ Nick grinste breit und streckte dem Mann zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit die Hand entgegen. „Ich bin Nick.“

Peter Westernschmidt ergriff Nicks Hand und erwiderte die Geste mit einem wohldosierten Gegendruck. „Peter.“

Für eine Weile herrschte einhelliges Schweigen. Sie tranken ihren Kaffee und erholten sich von den letzten Stunden.

„Es ist sicherlich nicht ganz einfach, wenn man das Opfer gekannt hat“, durchbrach Peter die Stille. Natürlich hatte am Tatort jeder mitbekommen, dass die Tote für Nick keine Fremde gewesen war.

Nick warf einen prüfenden Blick auf den Beamten, der ihn offen und ohne übertriebene Neugierde ansah. „Ich habe sie seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Sie war nur eine Schulkollegin.“ – Eine Schulkollegin, die ich verspottet und missachtet habe, obwohl sie ihr junges Herz an mich verloren hatte, fügte Nick in Gedanken hinzu.

„Kann das zu Komplikationen führen?“

„Du meinst Schwierigkeiten bei der Leitung der offiziellen Ermittlungen?“

Als Antwort zog Peter nur die Augenbrauen hoch. Entweder verfügte dieser Mann tatsächlich über ein außerordentliches Feingefühl, oder er verbarg seine Neugierde gekonnt hinter einer mitfühlenden Fassade.

„Ich muss es auf jeden Fall melden. Solange es für mich persönlich aber kein Problem darstellt, handelt es sich um eine Pro-forma-Angelegenheit.“ Nick streckte sich, er hatte genug preisgegeben. „Wir sollten jetzt weitermachen.“

Wie auf ein Stichwort steckte eine junge Polizistin den Kopf durch die Tür. „Da bist du ja, Peter, ich habe dich überall gesucht! Wie ich hörte, hast du Doktor …“ Als sie den Kriminalpsychologen registrierte, hielt sie mitten im Satz inne. Unwillkürlich fuhr sie sich mit der Hand durch ihr dunkles Haar und straffte die Schultern. Ihr Gesicht präsentierte ein kokettes Lächeln. „Doktor Stein?“, schnurrte sie.

Nick reichte auch ihr seine Hand und erwiderte das Lächeln.

Sie schmolz förmlich dahin. Er war ein attraktiver Mann, ohne Zweifel, besaß Charisma sowie eine ungekünstelte Eleganz. Für die Polizistin machte ihn jedoch erst die Tatsache unwiderstehlich, dass er in Polizeikreisen als lebende Legende galt. Seit Beginn seiner Karriere war er an der Aufklärung einiger medienwirksamer und vieler vornehmlich innerbetrieblich bemerkenswerter Fälle maßgeblich beteiligt gewesen. Sein Ruf als herausragender Ermittler und Analytiker war weit über die Grenzen hinaus bekannt. Die Medien hatten ihn im Laufe der Zeit mit Namen wie österreichischer Grissom oder Mister Profiler tituliert, und obwohl Nick mit diesen von Fernsehserien inspirierten Bezeichnungen nichts anzufangen wusste, umgaben sie ihn automatisch mit einem Hauch von Magie. In der Vergangenheit hatte ihm dieses Image drei Liebesabenteuer mit Damen aus den eigenen Reihen eingebracht, die alle ein glückloses Ende gefunden hatten und auf die er keineswegs mit Stolz zurückblickte. Danach hatte er sich geschworen, fortan nach einem Leitsatz zu leben, den er sich anlässlich eines USA-Aufenthalts eingeprägt hatte: You don’t shit where you eat.

Die Polizistin kicherte verhalten. „Wie gut, dass ich Sie gefunden habe, Herr Doktor Stein!“ Sie legte den Kopf schief und fuhr sich abermals durchs Haar. „Franz Mayerhofer, unser Chef, möchte mit Ihnen sprechen. Er erwartet Sie in seinem Büro.“

„Ich bin in zehn Minuten bei ihm. Könnten Sie ihm das bitte ausrichten?“, entgegnete Nick und ermahnte sich, auf Distanz zu bleiben, egal, wie verlockend ihre Stimme klang und wie hübsch ihr Körper war. Ihre langen Beine und die schlanken Hüften in der dunkelblauen Uniformhose waren ihm nicht entgangen.

„Selbstverständlich, das erledige ich gern … für Sie!“ Kurz blieb sie noch, scheinbar unentschlossen, im Türrahmen stehen und entfernte sich dann widerstrebend.

„Interessante Reaktion“, bemerkte Peter und deutete mit dem Kinn in die Richtung, wo die Polizistin gestanden hatte.

Nick zuckte mit den Schultern, blieb jedoch eine Antwort schuldig. Er kannte den Beamten nicht gut genug, um sich offen, von Mann zu Mann, zu äußern.

Den Polizisten schien das nicht zu stören. „Trink in Ruhe deinen Kaffee aus. Danach begleite ich dich zu unserem Chef“, fuhr er ungerührt fort und stellte seine Kaffeetasse im Ausguss ab.

Nick kippte den letzten Schluck hinunter, platzierte seine Tasse ebenfalls in der Spüle und folgte Peter auf den Gang hinaus. Vor der hintersten Tür blieb der Uniformierte stehen, klopfte einmal kräftig dagegen und öffnete sie, ohne abzuwarten. Dabei vollführte er eine einladende Handbewegung. „Bitte!“

Nick dankte ihm mit einem knappen Nicken und betrat den Raum.

Hinter einem Holzschreibtisch mit zerkratzter Platte und ramponierten Ecken saß ein etwa fünfzigjähriger Mann. Um seine blauen Augen drängten sich Lachfalten. Sein meliertes Haar hätte einen neuen Schnitt vertragen. Er erhob seinen fülligen Körper und umrundete den Schreibtisch, wobei er eine erstaunliche Geschmeidigkeit an den Tag legte. „Herr Doktor Stein! Ich freue mich aufrichtig, Sie kennenzulernen.“ Er streckte Nick seine Hand entgegen und deutete mit der anderen auf einen kleinen Besprechungstisch. „Setzen wir uns!“

Nick drückte die Hand des Revierleiters und nahm auf einem dem Fenster abgewandten Sessel Platz. Franz Mayerhofer setzte sich vis-à-vis und nahm auf diese Weise in Kauf, von den ersten herbstlichen Sonnenstrahlen, die durch das Fenster in den Raum fielen, geblendet zu werden. Neugierig, wie und ob der Mann darauf reagieren würde, ließ Nick ihn nicht aus den Augen. Seine Geduld wurde nicht lange auf die Probe gestellt. Franz Mayerhofer verzog seinen Mund, sprang auf und marschierte zügig auf das Fenster zu. Mit einer resoluten Geste schnappte er sich die Vorhangenden und zog sie ruckartig zu. „So, besser.“ Zufrieden ließ er sich wieder auf den Sessel fallen.

Nick lächelte verhalten. Der Mann agierte prompt und gut. Einen Revierleiter an seiner Seite zu wissen, der effizient Entscheidungen zu treffen vermochte, erleichterte seine Arbeit. Mehr als einmal hatte er es anders erlebt.

„Wie ich schon sagte, freut es mich, Sie kennenzulernen, und ich möchte mich dafür bedanken, dass Sie so rasch zur Stelle waren“, wiederholte Franz Mayerhofer.

„Danken Sie nicht mir, jemand beim Bundeskriminalamt hat ausgesprochen schnell reagiert.“

„Habe ich es mir doch gedacht, dass bestimmte Personen ein paar Rädchen gedreht haben! Kein Wunder, bei der aktuellen Lage.“ Der Revierleiter stieß einen undefinierbaren Laut aus. „Aber egal, welcher glückliche Umstand Sie hergebracht hat, ich bin ungemein froh darüber.“

„Von welcher aktuellen Lage sprechen Sie?“

„Vom Schönberg-Festival natürlich!“ Franz Mayerhofer blickte in Nicks fragendes Gesicht. „Sie wissen nichts davon?“ Er lehnte sich vor und stützte die kräftigen Arme am Tisch ab. „Im Frühjahr fand hier in Mödling ein kleines Schönberg-Festival statt. Das Echo war unerwartet gewaltig. Also wurde es im Juni wiederholt, größer und medienwirksamer.“ Er senkte seine Stimme. „Plötzlich waren auch viele Institutionen und hiesige Persönlichkeiten involviert, die sich ursprünglich dezent zurückgehalten hatten – Sie verstehen, was ich meine …“

Nick senkte den Kopf als Zeichen seiner Bestätigung. Er verstand. Eilig kramte er in seinem Gedächtnis nach Erinnerungen aus der Schulzeit. „Sprechen Sie von dem Komponisten Arnold Schönberg?“

„Von wem denn sonst?“ Die Ironie war unüberhörbar, trotzdem setzte Franz Mayerhofer zur Sicherheit schnell nach: „Um bei der Wahrheit zu bleiben, wusste ich bis zum heurigen Jahr nicht, welche Art von Musik er komponierte. Und schon gar nicht, dass er einige Jahre in Mödling gelebt und gearbeitet hat. Sein Haus gilt sogar als die Geburtsstätte der Zwölftontechnik! Fragen Sie mich bitte nicht, was das zu bedeuten hat.“

In Nicks Kopf blitzten Schlagwörter aus dem Musikunterricht auf. Das hier genügte aber vorerst. „Ich verstehe immer noch nicht, in welchem Zusammenhang der Mord mit diesen Schönberg-Veranstaltungen stehen soll“, kam er wieder auf das Kernthema zu sprechen.

„Nun, in Kürze wird ein drittes Schönberg-Festival veranstaltet. Unser Bürgermeister und die Verantwortlichen holen dazu jeden Prominenten und jeden VIP nach Mödling, den sie bekommen können. Man muss das Eisen schmieden, solange es heiß ist.“ Franz Mayerhofer zwinkerte.

„Ein Mord kommt in solch einer Situation denkbar ungelegen.“

„Sie sagen es, Herr Doktor, Sie sagen es!“

 

Eine Stunde später ließ Nick die Eingangstür des Polizeireviers hinter sich ins Schloss fallen und verharrte kurz auf dem Treppenabsatz. Das Gespräch mit Franz Mayerhofer war erfreulich unkompliziert verlaufen. Der Mann verfügte über Esprit und hatte mehrmals auf eine mögliche Unterstützung seinerseits hingewiesen, wobei er – mit Erleichterung – einen beträchtlichen Teil der Verantwortung abzugeben gedachte. Nick kannte das. Morde standen in einem normalen Polizeirevier nicht auf der Tagesordnung.

Von seiner erhöhten Position aus überblickte er den Parkplatz des benachbarten Museums in Richtung Hauptstraße. Langsam setzte der Morgenverkehr ein. Er gähnte, wandte sich in die entgegengesetzte Richtung und marschierte die Klostergasse entlang in Richtung Fußgängerzone, um sein Auto zu holen. Vom Fundort der Leiche zum Revier war er in Peters Polizeiwagen mitgefahren.

Mit jedem Schritt brachte sein Gehirn neue Erinnerungen an Susanne Rippel hervor. Er hatte sie nach der Schule aus den Augen verloren. Das einzige Aufeinandertreffen war eine zufällige Begegnung vor etwa zehn Jahren auf der Kärntnerstraße in Wien gewesen. Daher stammten auch seine Informationen, die er an die Zentrale weitergegeben hatte. Damals war sie ihm, beladen mit zwei riesigen dunkelbraunen Einkaufstaschen von Louis Vuitton, beinahe in die Arme gelaufen. Ihr rundlicher Körper war unter ihrer weiten Kleidung nach wie vor nicht zu übersehen gewesen. Allerdings hatte sie selbstsicher und fröhlich gewirkt, ganz anders als in ihrer Teenagerzeit. Wie bei einer Aufziehpuppe war es aus ihr herausgesprudelt: dass sie dem kleinstädtischen Wahnsinn entflohen sei und nun ein ausgelassenes Singledasein in Wien führe, viele Freunde habe und kaum ein Tag ohne Feiern bis in die Morgenstunden vergehe. Irgendetwas an diesem euphorischen Auftritt war Nick suspekt vorgekommen, doch hatte er sich viel zu hastig verabschiedet, um diesem Gefühl auf den Grund gehen zu können.

Jetzt bereute er diese Unachtsamkeit. Noch während er versuchte, sich Susannes Worte zu vergegenwärtigen, passierte er den Platz mit der Dreifaltigkeitssäule, überquerte die Straße zur Fußgängerzone und schritt zügig voran. Unwillkürlich streifte sein Blick das gläserne Schaufenster eines Restaurants. Die Eingangstür war einladend einen Spaltbreit geöffnet, offensichtlich, um frische Herbstluft in die Räumlichkeit einzulassen. Licht schimmerte hindurch. Nick las das Namensschild: Echtzeit living-room. Plötzlich überkam ihn eine unbändige Lust nach Wärme und einer weiteren Tasse Kaffee. Durch die Glasscheibe nahm er eine Bewegung wahr. Kurz entschlossen betrat er das Lokal und setzte sich nach einem Rundumblick an die Bar. Ein hinter dem Tresen lehnender, verschlafener Kellner richtete sich auf. „Guten Morgen, was darf es sein?“

„Einen großen Braunen mit Süßstoff und eine Cola light, kalt, bitte.“ Nick rieb sich die mittlerweile tonnenschweren Augenlider. Susanne … Susanne Rippel. Sie versetzte ihn in eine Zeit und in ein Leben zurück, das er als abgeschlossen verbucht hatte. Aber die Vergangenheit holte jeden Menschen ein, unausweichlich und erbarmungslos. Reiß dich zusammen!, ermahnte er sich. Was damals geschehen war, ließ sich nicht mehr ändern, doch jetzt konnte er dafür sorgen, dass Susannes Mörder seine gerechte Strafe erhielt.

Schwungvoll stellte der Kellner die Getränke auf die Theke und knallte das kleine Silbertablett auf den Stapel mit den anderen Tabletts zurück; erschrocken fuhr Nick aus seinen Gedanken hoch. Der Kaffeeduft half ihm, sein Gleichgewicht wiederzufinden. Er angelte sich das Süßstoffsäckchen auf der Untertasse und schnipste die kleinen Pillen in die heiße, schwarze Flüssigkeit, wo sie sich sofort auflösten und feine Schaumkrönchen an der Oberfläche hinterließen. Versonnen betrachtete er den Bildschirm eines großflächigen Fernsehers: Models mit endlos langen Beinen, die über einen Laufsteg liefen und in knappen Shorts und Sandalen Winterjacken und Mäntel präsentierten.

Ein Mann, bewaffnet mit einem iPad in der einen und einem iPhone in der anderen Hand, schoss um die Ecke. Nick nahm ihn zunächst nur aus dem Augenwinkel wahr. Eigentlich hatte er vom appetitlichen Anblick der schlanken Frauen noch nicht genug, doch irgendetwas an dieser Person irritierte ihn.

Auch der andere schien erstaunt, verharrte in seiner Bewegung und stieß einen erstickten Laut aus. „Nick Stein? Stoni! Ich kann es nicht glauben! Es muss eine Ewigkeit her sein … Was machst du in meinem Lokal?“ Er bewegte sich mit einem Riesensatz auf Nick zu, wobei er seine Apple-Geräte achtlos auf den Tresen katapultierte, und schloss den alten Freund in die Arme.

„Daniel!“, antwortete Nick atemlos und spürte förmlich, wie das Adrenalin in seinem Körper zu arbeiten begann und Blutdruck und Herzschlagfrequenz in die Höhe trieb. Daniel Bachinger! Alter Schulkamerad, ehemals enger Freund und einer von jenen, die ebenfalls mit Freude hinter Susanne hergerufen hatten: Rippel – Trippel – Trappel – Kugelrund. Rippel – Trippel – Trappel – Kugelrund.

In Nicks Kopf explodierte ein viele Jahre lang tief vergrabener Sprengkörper. Die Vergangenheit hatte ihn nicht nur eingeholt, er saß sogar mitten in ihrem verzehrenden, vermeintlich faszinierenden Zentrum.

Daniel deutete auf die beiden Getränke vor Nick. „Kaffee und Cola light? Kein doppelter Gin mit Tonic Water zum Aufwärmen? Oder wenigstens ein kleiner Rum und ein Schlückchen Cointreau in den Kaffee?“

Nick schüttelte den Kopf. „Das ist zwanzig Jahre her, Dani. Danke, nein, es hat sich einiges geändert.“ Am liebsten wäre er aufgestanden und hätte fluchtartig das Lokal verlassen, doch einem Instinkt folgend blieb er sitzen.

„Als du damals in das Flugzeug nach Amerika gestiegen bist, habe ich gewusst, dass dir das nicht guttun wird“, erwiderte Daniel ungerührt. „Na ja, wenigstens ist etwas aus dir geworden, nachdem du dem Lotterleben in Mödling den Rücken gekehrt hast. Ich habe jeden gottverdammten Bericht über dich gesehen und gelesen, den die Medien im Laufe der Zeit ausgespuckt haben.“ Er verbeugte sich mit einem süffisanten Grinsen, wurde aber schlagartig wieder ernst und blickte Nick eindringlich an. „Was führt dich in die alte Heimat? Handelt es sich um einen Freundschaftsbesuch, oder hat deine Anwesenheit unter Umständen mit dem Tumult auf dem Parkplatz beim Kursalon zu tun, oder beides …?“

„Woher weißt du von der Kursalon-Sache?“ Nick hatte ganz vergessen, dass Daniel schon früher über jeden Vorfall und jedes kleinste Gerücht bestens informiert gewesen war und außerdem wie ein Wasserfall zu reden vermochte. Womöglich konnte er ihm die eine oder andere Geschichte über Susanne Rippel entlocken – Geschichten, die er selbst längst vergessen hatte. Es war zumindest ein Anfang.

„Ich habe seit über einer Stunde geöffnet. Du bist nicht mein erster Gast.“ Daniel klopfte auf die Theke. „Lenk nicht vom Thema ab. Ich bin neugierig.“

Beschwichtigend hob Nick die Arme und packte Daniel bei seiner Wissbegierde. Damit hatte er ihn genau da, wo er ihn für eine Befragung haben wollte. „Ich erzähle es dir. Beantworte mir jedoch zuvor eine Frage.“ Er wartete geduldig, bis Daniel widerstrebend nickte, und sprach gelassen weiter: „Erinnerst du dich an Susanne Rippel?“

Daniel sah ihn erstaunt an. „Susi? Was soll die Frage? Natürlich. Sie kommt nahezu jeden Tag nach der Arbeit hierher.“

„Was?“ Diese überraschende Wende vollendete das, was das Adrenalin begonnen hatte: Nick war schlagartig hellwach und aufnahmebereit.

„Vor einiger Zeit ist sie wieder nach Mödling gezogen und hat sich eine große Wohnung in dem neuen Gebäudekomplex am Ende der Neusiedler Straße gekauft. Weißt du das denn gar nicht?“ Er verdrehte die Augen und gab sich selbst die Antwort: „Wie solltest du auch! Du lässt dich ja nicht mehr blicken.“

Nick zuckte entschuldigend mit den Schultern, doch Daniel tat seine Reue mit einer Handbewegung ab und fuhr fort. „Susi arbeitet im Industriezentrum Wiener Neudorf in der Zentrale der EVER AG. Sie ist die Chefin der Marketing-Abteilung und hat immer lustige Geschichten über ihre Angestellten auf Lager.“

„Susanne Rippel und lustige Geschichten?“

„Sie hat sich verändert, sehr sogar.“

„Verheiratet?“

„Nein, kein Ehemann, kein Lebenspartner. Aber einen Lover gibt es sehr wohl. Den hält sie allerdings geheim, aus welchem Grund auch immer.“ Daniel beugte sich verschwörerisch nach vorn. „Vertrau mir, ich bin Barkeeper, und Barkeeper erkennen so etwas instinktiv.“

„Du bist kein Barkeeper, mein Lieber! Was du hier geschaffen hast, ist beeindruckend!“ Mit seinem Arm zeichnete Nick einen Halbkreis in die Luft.

Daniel straffte die Schultern. „Mit dem Echtzeit living-room habe ich meine Vorstellung von Gastronomie verwirklicht. Das hier ist nicht nur ein Café oder ein Restaurant, auch keine Bar, sondern ein Gesamtkonzept – mit allem, was du dir als Gast wünschen kannst. Lust auf ein zeitiges Frühstück? Bitte sehr! Brunch, Mittagessen, ein Nachmittagsimbiss, Abendessen? Kein Problem. Unterhaltung an der Bar? Wird alles geboten!“

Nick lachte. „Ich bin auch ohne deine Erklärungen restlos begeistert und erinnere mich dunkel daran, dass ein eigenes Lokal schon immer dein Traum war.“

„Deine Erinnerung trügt dich nicht.“

„Ein paar Details von damals habe ich mir nicht weggesoffen.“

„Und weggekifft“, fügte Daniel hinzu.

Nicks Nacken versteifte sich unmerklich. „Wie gesagt: Das ist alles lange her.“

Daniel sah dem alten Freund prüfend in die Augen. „Ob du es mir glaubst oder nicht, ich verstehe deine Entscheidung zu verschwinden und bewundere dich dafür.“ Er zückte seine Brieftasche und klappte sie vor Nicks Nase auf. Ein Foto kam zum Vorschein. „Meine beiden Kinder und meine Frau – meine Exfrau. Das Leben, das ich unbedingt führen wollte, hat mich einiges gekostet.“

„Du hast wenigstens Kinder und eine Exfrau. Weißt du, was ich auf diesem Gebiet vorzuweisen habe? Nichts, nada, niente.“

„Tja, jeder hat sein Päckchen zu tragen, Stoni.“ Daniel schüttelte sich. Lautstark klopfte er wieder auf den Tresen. „Aber zurück zum Thema! Du kommst um eine Antwort nicht herum. Jetzt will ich endlich wissen, was am Kursalon-Parkplatz los war und warum du dich plötzlich für Susi interessierst? Die Kleine war dir doch früher völlig gleichgültig.“ Er kicherte wie ein junges Mädchen, verstummte jedoch sofort, als er Nicks ernsten Gesichtsausdruck bemerkte.

„Daniel.“ Nicks Stimme klang leise und eindringlich. „Ich bin wegen Susanne hier. Sie wurde heute Nacht beim Mödlingbach gefunden; bei der Brücke hinter dem Kursalon-Parkplatz. Ich führe die Ermittlungen.“

Daniel starrte Nick fassungslos an. „Susi ist … tot? Willst du mir gerade schonend beibringen, dass sie … ermordet wurde?“

Nick senkte bejahend den Kopf. „Wenn du irgendetwas weißt, das mir weiterhelfen könnte, sag es mir bitte.“

„Ich weiß nicht viel mehr über sie als das, was ich dir erzählt habe“, antwortete Daniel heiser. Sämtliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Nichts erinnerte mehr an den eben noch so lebhaften, gut gelaunten Mann.

„Lass mich dir ein paar Fragen stellen. Das hilft bei der Erinnerung.“ Mit geeigneter Unterstützung würde Daniel alles preisgeben, was er in seinem Gedächtnis versteckt hatte.

„Okay.“ Daniel stieß einen tiefen Seufzer aus.

Einem plötzlichen Impuls folgend, legte Nick seine Hand auf den Arm des Jugendfreunds. „Welchen Eindruck hattest du von ihr? War sie glücklich? Wirkte sie zufrieden? Das kleinste Detail kann wichtig sein. Denk in Ruhe nach, bevor du antwortest.“

„Glücklich?“ Daniel blies seine Wangen auf. „Ich weiß nicht recht, wie ich es dir beschreiben soll. In der Schule war sie zurückhaltend, ängstlich und in sich gekehrt.“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wie ich schon sagte: Sie hatte sich verändert. Aber was heißt verändert? Das Wort trifft es nicht einmal annähernd. Sie hatte sich um hundertachtzig Grad gedreht! Meistens war sie richtig aufgekratzt, redete und lachte viel.“ Er kniff die Lippen zusammen. „Du kannst es dir wahrscheinlich nicht vorstellen, sie hat Schwung in unsere Runde gebracht, war immer witzig und sprühte vor Lebensfreude. Wir haben sie alle sehr gemocht.“ Mit einer fahrigen Geste rieb er sich das Kinn. „Und sie hatte einen geheimen Liebhaber! Ganz sicher. Aber auch das erwähnte ich bereits.“

„Du hast nicht die leiseste Ahnung, wer es gewesen sein könnte?“, bohrte Nick weiter.

Daniel schüttelte entschieden den Kopf. „Nicht die leiseste. Vielleicht jemand aus der Runde? Oder ein Arbeitskollege?“

„Aus der Runde?“ Innerhalb kürzester Zeit hatte Daniel die Runde zweimal erwähnt. Nick ahnte, dass er mit dieser Frage auf weitere Personen aus seiner unrühmlichen Vergangenheit stoßen würde.

„Es sind fast alle noch hier: Georg, Andreas, Rudolf, Gabriel, Carl, Carina, Alexander, Tina und Lisa, Thomas, Werner.“

„Alle außer mir. Das meinst du doch?“

„Stimmt“, erwiderte Daniel abschätzig.

Mit einem letzten Schluck aus der Kaffeetasse überspielte Nick die Peinlichkeit. „Ich muss leider wieder an die Arbeit. Was bin ich dir schuldig?“

Daniel verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. „Du meinst für die beiden Coffein-Wässerchen? Die gehen aufs Haus, wenn du mir versprichst, bald wiederzukommen.“

„Darauf kannst du dich verlassen“, entgegnete Nick.

Wie früher küssten sie sich links und rechts auf die Wange. Dann verließ Nick das Lokal. Vor dem Ausgang wandte er sich noch einmal zufrieden um. Sein spontaner Lokalbesuch war völlig unerwartet ein Erfolg gewesen. Jetzt verfügte er nicht nur über erste Informationen zum Fall, Daniel hatte ihm, ohne es zu wissen, bei seiner Erinnerungsarbeit geholfen. Endlich war ihm klar, was ihn an Susanne bei dem zufälligen Aufeinandertreffen in Wien gestört hatte: die beiden riesigen Louis-Vuitton-Taschen. Schon ein Täschchen oder eine Geldbörse der exquisiten Marke kostete viel Geld. Ihre Position in einem Konzern wie der EVER AG wäre die Erklärung, doch stellte sich die Frage, ob sie diese Stellung bereits vor zehn Jahren innegehabt hatte.

Gleich als Nächstes würde er Susannes finanzielle Situation und ihr Arbeitsumfeld unter die Lupe nehmen. Zuvor brauchte er aber dringend einige Stunden Schlaf. Wie lautete eines der berühmtesten Filmzitate aller Zeiten: After all, tomorrow is another day. Diesem weisen Rat wollte er nun Folge leisten, fühlte er sich im Augenblick doch tatsächlich wie vom Winde verweht.