Leseprobe Nacktgebiete

Prolog

Die verrückte Idee stammte natürlich von meiner Frau.

Nein, nicht falsch verstehen!

Es war eine fantastische Idee, wie immer, wenn ich es auch zunächst nicht zugeben wollte, ebenfalls wie immer.

Frauen sagen einfach, was sie fühlen und denken. Sie können beides – keine Frage.

Männer können weder das eine noch das andere. Ich meine nicht, dass sie es nicht könnten. Es ist nur so, dass keiner von ihnen so einfach und unbeschwert damit herausplatzt. Männer müssen zuerst alles in ihren Köpfen und Eingeweiden mit vielfältigen Erwartungen abgleichen. Neue, ganz besonders verrückte Ideen haben kaum eine Chance, die kurze Strecke vom Ort der Entstehung bis zu den Lippen unzensiert zurückzulegen. Ihre Bahn ist die einer Stahlkugel im Flipperautomaten.

Sie wissen, was ich meine. In ganz seltenen Fällen erreicht diese Stahlkugel ihr Ziel, ohne irgendwo gehörig anzubumsen, und in einem schwindelerregenden Zickzackkurs weiterzurasen. In diesem ganz seltenen Fall allerdings, werden auch Männer von einem Tsunami der Begeisterung mitgerissen. Sie heben spontan einen Zeigefinger auf Brusthöhe und öffnen tonlos den Mund, bevor sie ihn wieder schließen und nachdenklich innehalten.

Ich bin übrigens Johannes Gruber, fünfundvierzig Jahre alt, verheiratet, eine Frau, Martina, ebenfalls Gruber, vierzig Jahre, eine Tochter, Friederike, fünf Jahre alt. Nach dem Abitur ging es mir, wie es den meisten ging. Keine Ahnung, was ich machen sollte. Ein gewisser Idealismus, den man der Jugend nachsagt, und der in meinem Jahrgang absolut schick war, verlangte, dass ich Franz von Assisi oder ein bisschen Albert Schweitzer würde. Da das Zölibat für mich nicht infrage kam, entschied ich mich unter dem Jubel meiner Eltern nach längerer Untätigkeit für die zweite Option.

Ich bewarb mich für ein Medizinstudium, obwohl ich kein Blut sehen konnte. Ich will nicht leugnen, dass es ein halbherziger Versuch war, der mehrmals an der Hürde des Numerus clausus scheiterte. Also schrieb ich mich – nun zum Entsetzen meiner Eltern – für das Studium der Philosophie und Germanistik ein, nur um irgendetwas anzufangen, bevor ich ins Rentenalter käme.

Ohne Zugangsbeschränkungen ging es relativ kurzfristig und für mein Empfinden viel zu schnell los. Ich fand Gefallen am Studentenleben, empfand aber die Vorlesungen als unangenehme Unterbrechung desselben. Also reduzierte ich den unangenehmen Teil stetig, um den angenehmen Dingen mehr Raum zu geben. Das führte schließlich dazu, dass ich zwangsexmatrikuliert wurde, da die Fakultät rätselte, ob ich verstorben sei oder man aus anderen Gründen nicht mehr mit mir rechnen müsse.

Am Ende bin ich dennoch auf Umwegen und mit überschaubarem Aufwand etwas geworden. Mein Wissen um die gefährlichen Klippen und gewaltigen Hürden schulischen Lernens prädestinierten mich geradezu für den Lehrerberuf. Zu guter Letzt wurde aus mir eine gesunde Mischung aus Albert Schweitzer, Franz von Assisi und Arnold Schwarzenegger. Auch die Zeit, die ich der Philosophie und Germanistik ohne Abschluss gewidmet habe, möchte ich nicht missen. Es ist eine gewisse Leidenschaft geblieben, Schachtelsätze zu formulieren, deren Sinn mir bisweilen selbst entgleitet, und jeden banalen Sachverhalt philosophisch aufzuarbeiten, bis auch der letzte Zuhörer oder Leser eingeschlafen ist.

Sie werden schon sehen: Das kann bisweilen lästig werden, soll sie aber auf keinen Fall davon abhalten, dieses Buch zu kaufen und, was weniger wichtig ist, auch zu lesen. Nichts im Leben ist umsonst oder zufällig. Davon handelt unter anderem die folgende aberwitzige Geschichte.

Alle Kreise schließen sich. Das weiß ich, seit ich Yoga mit fernöstlichen Weisheiten kombiniere, um Körper und Seele geschmeidig und Arnold Schwarzenegger in mir unter Kontrolle zu halten. Sonst bestünde im Lehrerberuf täglich die Gefahr, einem der demonstrativ gelangweilten Provokateure, die Albert Schweitzer zudem für den Lead-Sänger der Toten Hosen halten, eine Ohrfeige zu verpassen.

Ommmmm, Shanti.

So, jetzt meinen Sie eine ungefähre Ahnung zu haben, worauf Sie sich einlassen. Doch da muss ich Sie enttäuschen. Lassen Sie sich einfach überraschen.

1

Männer – und ich spreche aus Erfahrung – werden sehr früh darauf getrimmt, den Anschein makelloser Seriosität ein Leben lang aufrechtzuerhalten. Mit neun steckte man mich in einen blauen Anzug mit Krawatte, die ein Metallklipp am Kragen meines gestärkten weißen Hemdes befestigte. Rund fünfzig gleichermaßen gestärkte Gäste steckten mir in einem schicken Restaurant diskret Kuverts mit Geldscheinen zu. Nein, es handelte sich nicht um Bonuszahlungen an einen zu kurz geratenen Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank auf der Aktionärshauptversammlung, sondern um meine Erstkommunion. Dieselben Aktionärshauptversammlungen absolvierten die Mädels meines Jahrgangs kichernd in weißen Ballerinakleidchen. Wissen Sie, was ich meine? Dieses Ereignis meines frühen Lebens erscheint mir heute wie der erste Spatenstich für ein gewaltiges, fragiles Lügengebäude.

Waren Sie mal in den Universal Filmstudios in Los Angeles? Nein? Macht nichts! Ich erkläre es Ihnen.

Dort stehen noch immer verstaubte Filmkulissen aus den Western meiner Kindertage irgendwo mitten in der Landschaft herum. Wenn Sie näher hinschauen, erkennen Sie überrascht, dass es nur Holzfassaden sind, die von hinten mit langen Stangen gestützt werden. Dann erklärt man Ihnen, dass für John Wayne, der ziemlich kurz war, Hausfassaden mit kleinen Türen gebaut wurden, an deren Rahmen er sich machomäßig abstützen konnte, ohne auszusehen wie Speedy Gonzales, die schnellste Maus Mexicos. Verstehen Sie, was ich damit sagen will? So ungefähr? Okay.

Stellen Sie sich jetzt ein Bierdeckelhäuschen vor, an dem Sie in Ihrer Lieblingskneipe eifrig den ganzen Abend gebaut haben. Es wird breiter und höher und ihr Erfolg vermittelt Ihnen unterbewusst schließlich das Gefühl, es könne gar nicht mehr einstürzen. Stimmt aber nicht, im Gegenteil. Sie kennen das Phänomen von der Titanic. Größe hat nicht unbedingt was mit Sicherheit zu tun, häufig aber mit Größenwahn. Und der Größenwahn, genährt vom Applaus und dem Schulterklopfen der Anderen, wiegt uns in jener trügerischen Sicherheit, die uns immer übermütiger und unvorsichtiger werden lässt.

Ein einziger Windstoß von der aufschwingenden Eingangstür wird das Bierdeckelhäuschen mathematisch gesehen mit zunehmender Größe immer wahrscheinlicher zum Einsturz bringen. Es beginnt mit einem unmerklichen Zittern und endet in der totalen Vernichtung unseres Lebenswerkes.

Rums … Eisberg ahoi!

Ein Beispiel:

Stellen Sie sich vor, der Bundeskanzlerin würde vor laufenden Kameras der Rock durch einen solchen Windstoß angehoben.

Stellen Sie sich weiter vor, alle Welt schaute unverhofft auf ein Piercing, dem ausgerechnet an diesem herrlichen Sommertag die Bedeckung durch ein standesgemäßes Höschen fehlte.

Sie erinnern sich an die Szene aus dem Film Das verflixte siebte Jahr, in dem Marilyn Monroe mit ihrem weißen Röckchen über einem U-Bahnschacht steht und ihre Löckchen trocken föhnt, also die unterhalb des Bauchnabels. Haben wir doch alle gedacht, zumindest wir Männer, oder nicht? Ein Bild, das alleine in unserer Fantasie Gestalt annimmt und einen Hochdruckpatienten in eine ernste Krise stürzen kann.

Erotik ist ein sensibles Spiel. Wehe aber, wenn das Gesamtbild nicht stimmt. Dann ist es so, als würde sich Lang Lang höchst konzentriert ans Klavier setzen, um den Flohwalzer herunterzunudeln. Natürlich traue ich Lang Lang zu, selbst aus dem Flohwalzer ein Tröpfchen Erotik zu quetschen. Sie wissen aber, was ich meine.

In unserem Fall käme ein Vergleich mit Marilyn Monroe so hinkend daher, dass unsere erotische Fantasie schlicht überfordert wäre. Selbst dem geneigten Berichterstatter bliebe nichts übrig, als gemeinsam mit allen blökenden Lachern die Person nebst Staatsamt in diesem einen Moment der Lächerlichkeit preiszugeben, und zwar für immer.

Ich war nicht die Bundeskanzlerin. Viel schlimmer! Ich war Mathe- und Physiklehrer an einer kleinen Schule in einem Ort, der noch viel kleiner sein konnte, wenn es darauf ankam. Sie werden meinen wirren Vortrag verstehen, wenn Sie gleich erfahren, worum es geht.

Um allen eventuellen Peinlichkeiten vorzubeugen, versuchte mein Gehirn stets, ohne mein besonderes Zutun, potenziell gefährliche Ideen mit den möglichen Reaktionen meiner Schüler, der Gesellschaft, des Arbeitgebers, der Kinder, unserer beiden Zwergkaninchen und nicht zuletzt meiner Ehefrau abzugleichen. Nahezu alle spontanen, vielversprechenden Ideen blieben dabei zwangsläufig auf der Strecke. Mein Mund zuckte in so einem Moment oder öffnete sich stumm, um sich gleich wieder zu schließen. Wenn meine Frau dies mit ihrem sechsten Sinn wahrnahm und mich zur Rede stellte, pflegte ich ertappt rasch „Ach nichts“ zu sagen und irritiert zu lächeln.

Idiotisch aber irgendwie nicht zu ändern, und anderen Männern in meiner staatstragenden Position geht es nicht besser, das weiß ich.

Aber nun zu jener verrückten Idee meiner Frau.

Ich erinnere mich noch genau. Es war ein heißer Sommertag kurz vor den Ferien.

Was Martina laut aussprach, spukt in Männerköpfen spätestens nach der ersten feuchten Nacht herum.

„Wie wär’s, wenn wir mal auf einem FKK-Campingplatz Urlaub machen?“

Ich tat, was ich am besten konnte. Ich lächelte irritiert, als hätte ich nicht richtig verstanden.

Martina ignorierte meine Irritation und lächelte anzüglich zurück.

„Wer weiß, vielleicht ergeben sich Situationen …“

Der Satz hing unvollendet im Raum und erforderte eine Fortsetzung meinerseits. Diese kam prompt. Ich lächelte wie ein Mitverschwörer, modifizierte meine Reaktion aber ungewollt durch ein paar winzige Schweißperlen auf meiner Nase. Schweißperlen sagen oft mehr als tausend Worte, von denen mir nur drei spontan in den Sinn kamen.

„Ganz schön heiß.“

Ich lächelte jetzt schief, weil mir die Zweideutigkeit meiner intelligenten Bemerkung selbst klar wurde.

Meine Frau nahm es als Zustimmung.

Moment. Nicht so schnell.

Ich runzelte die Stirn, als hätte ich eine wichtige Eingebung, über die ihr Vorhaben doch noch stolpern könnte.

„Und unsere Tochter?“

„Johannes, sie wird im Herbst sechs Jahre alt und läuft im Sommer sowieso nackt herum.“

Bedenken rasten durch meine Hirnwindungen, lieferten aber lediglich Ergebnisse, die Martina den Eindruck vermitteln mussten, ich sei ein Spießer und Feigling. Der war ich nun wirklich nicht … eigentlich. Als sich auf meiner panischen Suche schließlich etwas auftat, fiel sie mir ins unausgesprochene Wort, als hätte sie meinen letzten, ernst zu nehmenden Widerstand vorausgeahnt.

„Wir fahren an den Atlantik. Das sind über tausend Kilometer von hier. Da triffst du keine Kollegen oder Freunde.“

Sie sagte dies so kategorisch, dass mir die plötzliche Eingebung, Oberstudienrat Vierteles-Rotwein-Schlotzer Bucher, dessen Tochter mit Friederike in der Krabbelgruppe gewesen war, würde jedes Jahr in die Weinregionen am Atlantik fahren, lächerlich erschien. Meine Lippen bewegten sich stumm und erstarrten, als sie mir den allerletzten Windhauch aus den Segeln nahm.

„Und selbst wenn jemand aus dem Ort an den Atlantik fährt. Die Côte dʼArgent ist hundert Kilometer lang. Da gibt es mindestens genauso viele Campingplätze. Glaubst du, die Spießer hier gehen ausgerechnet auf einen FKK-Campingplatz? Na also!“

Ich hatte das Gefühl, dass mein Gesicht in diesem Moment ungefähr so lang wurde, wie die Côte dʼArgent. Martina schien das nicht zu bemerken. Ich spannte meine Gesichtsmuskeln an, scheinbar zu einem Lächeln, doch tatsächlich, um die Einzelteile zusammenzuhalten, bevor sie auf den Boden kullerten und unter der Couch verschwanden.

Eigentlich fand ich ihre Idee …, vielleicht …, möglicherweise … auch irgendwie toll, … überraschend.

Ich musste erst ausgiebig darüber nachdenken!

Keine Ahnung wie lange. Ich hatte Panik. Nach kurzem Grübeln räusperte ich mich und sah nur einen gangbaren Weg vor mir. Ich musste die Initiative bei alldem übernehmen.

„Dann müssen wir eine schöne Anlage aussuchen. Sind die nicht alle ausgebucht … in den Sommerferien?“, fragte ich und spürte ein Kribbeln am Haaransatz, nicht da, wo Sie jetzt denken. Es war unverhofft eine kleine Hoffnung aufgetaucht, das Ganze ins nächste Jahr zu verschieben. Sie taumelte durch mein Gehirn wie eine Motte auf dem Weg zu einem prasselnden Lagerfeuer.

Martina lächelte verschwörerisch.

„Zum Glück habe ich schon gebucht“, flüsterte sie, als hätten die Wände Ohren.

Mein Herzschlag setzte einen Moment lang aus.

„Und wo?“, flüsterte ich unsinnigerweise ebenso leise zurück.

„Die Anlage heißt Angape und liegt am Atlantik nördlich von Biarritz.“

„Nein, ich meine, wo du gebucht hast?“ Ich wischte mir die kleinen Schweißperlen von der Nase.

„Bei Gabi im Reisebüro natürlich.“

Es roch ein wenig verbrannt, als die Motte in das prasselnde Lagerfeuer am unendlich langen feinsandigen Sandstrand der Côte dʼArgent stürzte, an dem ich mit Martina eng umschlungen und splitterfasernackt saß, während die vollkommen bekleidete Gabi vor uns stand und mit anzüglichem Grinsen fragte:

„Na, hab ich euch zu viel versprochen, ihr Turteltäubchen?“

Ich öffnete die Augen, weil der Film, der hinter meinen geschlossenen Lidern ablief, auf einen unvermeindlichen Showdown zusteuerte, der unerträglich war. Nicht wegen Martina. Unerträglich war die glotzende Gabi, die ihren Blick eindeutig auf mein erigiertes Glied richtete und sich Notizen machte.

Ich muss dazu sagen, dass sie eine meiner verblichenen Jugendlieben war, mit der außer Petting nie etwas gelaufen war. Jetzt wollte sie alles nachholen, das spürte ich. Ich schüttelte mich heftig, und da riss der Film endlich, bevor es zum Äußersten zwischen mir und Martina und Gabi kam.

„Was ist? Du schaust so komisch“, fragte sie besorgt, also Martina, nicht Gabi.

„Du hast was?“ Die Schärfe in meiner Stimme überraschte mich selbst.

„Ist dir klar, dass inzwischen das ganze Städtchen weiß, wohin die Grubers dieses Jahr in Urlaub fahren?“

„Du übertreibst“, beschwichtigte Martina, doch ihre Stimme klang weniger selbstsicher. „Außerdem gibt es eine Schweigepflicht für Reisebüromitarbeiter, oder nicht?“

Ich wusste es nicht, glaubte es aber nicht, und Martina verfügte offensichtlich über keine stichhaltigen Informationen.

Das oder nicht signalisierte mir ganz im Gegenteil schmerzlich, dass es überflüssig wäre, jemandem aus dem Dorf körperlich, also körperlich nackt, auf dem Campingplatz über den Weg zu laufen.

Mir fiel dazu ein, dass Gabi uns letztes Jahr auf dem Stadtfest aufgeregt erklärt hatte, dass sie sich überhaupt nicht vorstellen könne, woher die Breitlings das Geld hätten, um als vierköpfige Familie einen All-inclusive-Urlaub auf den Malediven zu buchen. Wir hatten sie weder nach den Breitlings im Allgemeinen gefragt, noch nach deren Urlaub im Speziellen. Gabi schien sich nicht mit dem Gedanken an eine berufsbedingte Schweigepflicht zu belasten.

Ich weigerte mich, diese Begebenheit eins zu eins auf unseren Fall zu übertragen. Dennoch zwang mich meine männliche Logik dazu. Das diesjährige Stadtfest, das in unsere Sommerferien fiel, würde uns schlagartig in die Kategorie best-known people in town katapultieren. Wir mussten also unbedingt weg, und selbst, wenn wir den gebuchten FKK-Campingplatz absagten, würde das nichts mehr ändern. Dann wären wir eben die stadtbekannten Ferkel, die erst einen FKK-Urlaub gebucht hatten, um ihn dann wieder abzusagen.

Ich erinnerte mich an Dürrenmatts Physiker, die ich in der Schule gelesen und meinen Schülern ans Herz gelegt hatte, und an den resignierten Ausspruch des Möbius, den ich erst jetzt in seiner vollen Tragweite verstand: Ein einmal ausgesprochener Gedanke kann nicht mehr zurückgenommen werden.

Möbius war ein Mann und hatte gelernt, seine Gedanken für sich zu behalten. Ja, Männer waren in bestimmten Situationen das überlegene Geschlecht. Was nützte das allerdings, wenn man mit einer Frau verheiratet war, die ihr Herz und ihre Ideen auf der feuchten Zunge trug, von der sie ins Freie abglitten, bevor sie einer angemessenen Prüfung unterzogen werden konnten?

Ach zum Teufel. Ich liebte Martina für ihre Spontanität. Auch deshalb hatte ich sie letztlich geheiratet. Ich betrachtete sie als beste Ehefrau von allen, um es mit den Worten meines verstorbenen Lieblingssatirikers Ephraim Kishon zu sagen.

„Was soll’s. Schließlich brauchen wir uns nicht zu verstecken. Noch ein bisschen Radfahren und Bauch-Aufzüge, und ich werde mich gekleidet wie Adam und gebaut wie Adonis in die Fluten des Atlantiks stürzen“, erklärte ich meiner Frau heroisch. „Nur um den bewundernden Blick meiner Eva auf mich zu ziehen“, ergänzte ich mit einem mehrdeutigen Grinsen, das eine Mischung war aus Daniel Craig und Sascha Hehn. Es verfehlte seine Wirkung nicht.

Zuerst wirkte Martina überrascht. Dann fiel sie mir um den Hals.

„Ich hatte schon Angst, du würdest nein sagen.“

„Quatsch“, erwiderte ich. „Ich hatte diese Idee schon lange.“

Der Tag X kam schneller, als mir lieb war. Wir packten unseren Wohnwagen und wurden uns auf angenehme Weise bewusst, dass der kleine Kleiderschrank dieses Mal mehr als ausreichen würde. Natürlich mussten wir auf der Fahrt an den Atlantik Zwischenstopps einlegen, schon weil unsere Tochter die Längen der Etappen durch ihre Launen vorgab. Da man die Notre-Dame in Paris für Nudisten gesperrt und das Verbot sogar auf Spaghettiträger-Tops bei Frauen und Flipflops bei Männern erweitert hatte, nahmen wir pro Person eine geschlossene Garnitur mit.

Ich äußerte scherzhaft Bedenken, ob wir nach so einem Urlaub sonntags nicht gedankenlos nackt in unsere Dorfkirche einlaufen würden, nur weil es Sommer und heiß wäre.

„Haha, sehr witzig.“

Martina war vor Urlauben immer nervös. Die Tatsache, sich zum ersten Mal überlegen zu müssen, was sie nicht mitnahm, schien sie noch nervöser zu machen. Mein penetranter Humor, der lange in dieselbe Kerbe schlagen konnte, erreichte deshalb früher als sonst ihre Schmerzgrenze. Es reizte mich ungemein, mich nun, nachdem ich mich mit dem unbekannten Abenteuer angefreundet hatte, auf meine typische Weise damit auseinanderzusetzen.

„Vielleicht buche ich den nächsten Urlaub bei Gabi gleich nackt im Reisebüro.“

Martina funkelte mich böse an. Ups, ich hatte es übertrieben, zumal ich vor tausend Jahren mit Gabi intim gewesen war. Eine kurze Zeitspanne für die Eifersucht einer Ehefrau.

„Tut mir leid. Hab mir nichts dabei gedacht.“ Ich senkte reumütig den Blick und hoffte, dass Martina das leckere Häppchen meiner Phrase schlucken würde, welche Frauen bei Männern so lieben: Habe nichts gedacht. Weil das für sie impliziert: Habe gefühlt.

„Okay, schon vergessen“, erwiderte sie.

Ihr Blick, den ich auffing, als ich wagte, sie wie ein Dackel anzusehen, der gerade auf den Teppich gepinkelt hatte, war heiter, zu heiter.

„Ich hab unterwegs noch einen FKK-Campingplatz gebucht. Er ist bei Deutschen sehr beliebt und in nur fünf Stunden von hier zu erreichen. Von dort aus können wir super Paris erkunden. Heißt Heliomonde. Da können wir uns schon ein bisschen auf den Atlantik einstimmen.“

Ich schluckte. Die Angst, dort mit nicht mehr zu vernachlässigender Wahrscheinlichkeit einem Lehrerkollegen mit hängenden Glocken und einem Bier in der Hand zu begegnen, kehrte zurück. Diese Angst war geradezu physisch. FKK hatte ohnehin etwas ungemein Physisches.

Wer wollte gleich noch mal diesen Sommer nach Paris? Mir fielen dummerweise vier Kollegen ein, die ausgerechnet dieses Jahr einen auf Bildung und Kultur machen wollten. So ein Schwachsinn. Was sollte das für ein Erholungsurlaub sein? In Paris bei dieser Hitze rumzurennen und sich die Klamotten nicht vom Leib reißen zu können. Waren unter jenen Familien verkappte Nudisten? Wahrscheinlich nicht. Es würde allerdings schon genügen, ihnen vollkommen bekleidet in Paris über den Weg zu laufen.

„Auf welchem Campingplatz seid ihr?“

Bingo.

Ich würde mir eine knallharte Lüge zurechtlegen, doch noch bevor ich Luft holen könnte, würde Martina auf ihrer feuchten Zunge alles rausrutschen.

Möbius, alter Leidensgenosse!

Mit einem Mal wurde mir klar, dass man auf einem FKK-Campingplatz keinen Mantelkragen hochschlagen konnte, um an jemandem vorbeizueilen, dem man nicht begegnen wollte. Man war ziemlich nackt. Vielleicht sahen Nudisten niemandem ins Gesicht, weniger aus Diskretion als wegen neuer unverhüllter Körperteile, die man jetzt anstarren konnte. Ein kleiner Trost lag in dieser Vorstellung, wenn ich auch ahnte, dass es die typisch falsche Vorstellung eines Noch-nicht-Nudisten war. Es ging dabei nämlich nicht um einen Schwanzvergleich, sondern um die besondere Verbundenheit mit der Natur. Naturisten war der richtige Begriff, das hatte ich im Internet recherchiert.

Ich bemerkte, dass Martina heimlich zum dritten Mal meine drei Badehosen aus dem Wohnwagenschränkchen zog, wo ich sie in die dunkelste Ecke unter die Handtücher gestopft hatte. Ich fand sie versteckt in der Unterhosenschublade im Schlafzimmer wieder, schlich mich mit ihnen zurück in den Wohnwagen und sah mich um. Schließlich schraubte ich das Blech der Gasheizung ab und schob die drei Synthetikfummel hinein. Da drinnen würde es sehr heiß, stand auf einem kleinen, roten Warnschild, das sich nicht explizit an Synthetikbadehosen richtete. Wer von uns würde schon im Sommer die Gasheizung anstellen? Ich lächelte zufrieden, denn jetzt war ich sicher, dass meine drei Freunde mit auf die Reise gingen. Wer wusste schon, wie ernst die anderen Camper auf dem Platz die Badehosenlosigkeit nahmen? Am Schluss waren wir die Einzigen, die die Hosen runterlassen wollten, und dann musste ich mit meiner Feinripp von Schießer in den Atlantik stürzen, der sich die schlabbrige Schießer sofort schnappen oder komplett mit dem puderigen Sand füllen würde.

Niemals! Sicher ist sicher. Ich rieb mir zufrieden die Hände. Inzwischen übertraf die Spannung meine Ängste. Ich hoffte, dass die üppigen Blondinen von der Homepage des Campingplatzes Angape auch da wären. Der Gedanke, nackte Hintern ungeniert bei vollem Tageslicht in allen Details studieren zu können, bekam etwas Reizvolles. Ähem, etwas Akademisches, wollte ich sagen. Ich war schließlich Lehrer!

Einem Gynäkologen machte man auch keinen Vorwurf, wenn er sich nackte Frauen ansah. Vielleicht gefiele es mir ja, wenn eine junge Brünette dasselbe bei mir täte. Da waren sie wieder, die feuchten Träume der Jugendzeit, die dank der Pornoecke des Kiosks auf dem Schulweg ständig Nahrung erhalten hatten. Alle Jungs saugten die Titelbilder der Schmutzblättchen verstohlen und gierig im Vorbeigehen in sich auf und verarbeiteten sie des Nachts in wilden, erotischen Träumen. Was hätten wir dafür gegeben, ein Zeltlager der Katholischen jungen Gemeinde auf einem FKK-Campingplatz abzuhalten. Warum hatte das nie jemand vorgeschlagen?

Es fehlte der Mut! Musste ich wirklich erst so alt werden, um mutige Entscheidungen zu treffen?

Doch dann fiel mir ein, dass der Vorschlag eigentlich von Martina gekommen war.