Leseprobe Nacktgebiete 2.0

Prolog

Schön, dass Sie wieder da sind. Sie erinnern sich doch noch an uns: Johannes Gruber, Ehemann von Martina und Vater von Friederike, die ebenfalls bekennende Gruber sind im Sinne von: Ja, wir waren schon mal auf einem FKK-Campingplatz. Nacktgebiete hat viele, zu einem erheblichen Teil auch begeisterte Leser gefunden, was mich überrascht hat. Noch mehr hat mit überrascht, dass einige dieser begeisterten Leser weniger begeistert als ungeduldig anfragten, wie denn jetzt die Geschichte mit Claudia und Luc ausgegangen sei. Nun. Das hat mich schließlich selbst neugierig gemacht. Ich will Ihnen nichts vormachen. Sie werden starke Nerven brauchen. Küsschen hier, Küsschen da, Friede, Freude, Eierkuchen mit einem Sahnehäubchen prickelnder Erotik können Sie sich abschminken. Okay. Gibt es alles auch, aber: Es kommt erstens immer anders und zweitens als man denkt. Ein passendes Zitat, das in etwa beschreibt, was Sie erwartet. Es wird Heinz Erhardt zugeschrieben, dem Meister feinsinniger Wortschöpfungen und gelebten Alltagshumors in eklatant biederer Schale.

Von „erstens kommt es anders und zweitens als man denkt“ handelt die folgende aberwitzige Fortsetzung jener aberwitzigen Geschichte Nacktgebiete – Campingurlaub mal erotisch, die sie unbedingt ebenfalls kaufen müssen – sehr wichtig – und dann lesen können – weniger wichtig –, um die komplexen Beziehungskisten zu verstehen, die ich für die zu spät Gekommenen ja nicht noch mal in allen Details erläutern kann. Aber nein, im Ernst: Sie dürfen getrost auch jetzt noch in die Geschichte einsteigen. Wenn Unklarheiten bestehen und Sie Fragen haben, dann liegt das wahrscheinlich an den Unklarheiten und offenen Fragen des Romans. Ist dann eben so. Ich entschuldige mich nicht dafür. Vielleicht sind Sie wie ich jenseits der vierzig und gehören damit zur Generation „Tut mir leid“.

Die Jugend von heute ist da ganz anders drauf, weil sie von uns, der Tut-mir-leid-Generation, gezeugt, erzogen und auf Händen getragen wurde. Tut mir leid, dass ich nicht ausreichend mit dir gepaukt habe und du deshalb eine sechs in Mathe bekommen hast. Verzeih mir. Du bekommst ein neues Fahrrad und ich werde der Lehrerin erklären, dass es meine Schuld ist.

Tut mir leid, dass ich dich im Suff gezeugt habe und du deshalb eine hohe Affinität zu Spirituosen jeder Art entwickelt hast. Kein Wunder, dass dein Führerschein für ein Jahr eingezogen werden musste, bei dem Rabenvater. Schick die Taxirechnungen einfach an mich. Okay?

Vor ein paar Monaten habe ich im Rahmen meiner unermüdlichen, philosophischen Auseinandersetzung mit dem Naturismus, in physischer wie metaphysischer Hinsicht, zu einer universellen Weisheit gefunden, die ich Ihnen nicht vorenthalten will. Sie war eine radikale Abkehr von der Opferrolle der Tut-mir-leid-Weltanschauung meines alten Lebens und lautet: Suchen Sie Fehler grundsätzlich bei den anderen! Das vereinfacht das Leben ungemein und bewahrt Sie wenigstens zum Teil vor dem Kommunikationswahnsinn des einundzwanzigsten Jahrhunderts, in dem man ständig meint, einen seiner unzähligen Termine verpasst, etwas missverstanden oder wichtige Informationen, die ja immer und überall verfügbar sind, nicht abgerufen zu haben. Dieser Wahnsinn endet damit, dass Sie alle fünf Minuten Emails auf Ihrem Smartphone checken und irritiert sind, wenn es immer noch dieselben wie vor fünf Minuten sind. Wahrscheinlich nur ein vorübergehendes Funkloch. Puh.

Haben Sie Mut zur Lücke, Mut zum Nichtwissen, Mut zum Anderssein. Ignorieren Sie Anweisungen. Verpassen Sie bewusst Termine. Der Chef ist ganz klar selbst schuld, wenn er nicht deutlich macht, dass die Teambesprechung um 12 Uhr mittags in seinem Büro sein soll und nicht um Mitternacht in Ihrer Stammkneipe, in der Sie mindestens eine Stunde und zwei Liter Bier lang auf die anderen gewartet haben.

Waschen Sie Ihre Hände mit Inbrunst und Überzeugung in Unschuld. Geben Sie den anderen die Zeit, die sie brauchen, um die Schuld bei sich zu finden. Das entspannt Ihr Leben in einer nie da gewesenen Weise und führt häufiger, als Sie denken, zum Erfolg.

Vermeiden Sie es, sich zu entschuldigen. Überlassen Sie das großzügig den anderen. Auch ich entschuldige mich nicht für das, was jetzt kommt. Es ist die schlichte und nackte Wahrheit, die im Auge jedes Betrachters komplett anders aussehen mag. Na und? Ich habe keine Schuld, wenn Ihnen diese Geschichte nicht gefällt, sondern Sie. Ja, da staunen Sie! Brutal. Unamerikanisch. Typisch deutsche Dienstleistungswüste.

Alles Quatsch! Machen Sie es wie ich. Kehren Sie dem lauen, dümmlich lächelnden, allzeit servilen Amerikanismus den Rücken. Sagen Sie knallhart, was Sie denken, ohne Rücksicht auf Empfindlichkeiten der anderen. Schreiben Sie die wahren Geschichten Ihres wahren Lebens auf. Machen Sie Menschen eine Freude oder langweilen Sie sie, aber lassen Sie sie unverstellt an Ihren Gedanken teilhaben, damit sie Ihren wahren Kern erkennen. Seien Sie nackt, seien Sie authentisch, seien Sie real, um einen letzten Kontrapunkt gegen die komplette gleichschaltende Virtualisierung unseres Daseins zu setzen. Sonst lösen wir uns allmählich als ununterscheidbare Dunstwölkchen, die alle dasselbe plappern, dasselbe meinen, dasselbe essen, trinken und anziehen, in der großen Dunstwolke, der I-Cloud, Google-Cloud, Wie-auch-immer-Cloud auf, einem Nebel, in dem wir als Marionetten allmächtiger Puppenspieler orientierungslos und willenlos herumtapsen.

Ich bin mit Raumschiff Enterprise groß geworden. Vielleicht drängt sich mir deshalb ein furchtbares Bild auf: Diese Puppenspieler sind nicht menschlich, sondern schwabbelnd fette Außerirdische mit schleimigen Stielaugen und langen dürren Fingern auf den Knöpfen kryptischer Schaltpulte. Dabei versorgen sie die Dunst-Clouds stetig mit neuen Dunst-Fürzen aus ihren gewaltigen Hintern. Sie werden meinen wirren Vortrag besser verstehen, wenn Sie sich auf die nachfolgende Geschichte einlassen.

Es war für mich eine geradezu heroische Entscheidung, als Lehrer an einer Schule in einem kleinen Örtchen, das noch sehr viel kleiner sein konnte, wenn es darauf ankam, einen Familienurlaub auf einem FKK-Campingplatz an der französischen Atlantikküste zu buchen. Dieser Campingplatz hatte allerdings in relativ sicherer Entfernung immerhin 1000 Kilometer von unserem kleinen Örtchen entfernt gelegen. Okay. Gebucht hatte eigentlich Martina bei Gabi im Reisebüro. Jener Gabi, die so verschwiegen war wie eine Gießkanne wasserdicht.

1

Als wir nach drei herrlichen Wochen mit unserem Wohnwagen in die Einfahrt vor unserem Haus rollten, hatte ich ein flaues Gefühl im Magen. Martina ging es genauso. Das spürte ich, glaubte es, am leicht veränderten Geruch ihres Schweißes zu erkennen, in dem die aphrodisierenden Pheromone der vergangenen Nacht, in der wir nicht nur geschlafen hatten, langsam verblassten. Die nüchterne Realität des Textilo-Alltags griff mit gierigen Fingern nach uns.

Friederike schnarchte, unbehelligt von unangenehmen Gedanken an den jähen Interruptus unserer paradiesisch nackten Ferien, in ihrem Kindersitz. Ich drehte den Zündschlüssel, entspannte die von der langen Fahrt verkrampften Arme, ließ aber die Hände auf dem Steuer liegen, als könnte ich damit das Verglimmen des letzten köstlichen Urlaubsfünkchens in meinem Kopf hinauszögern. Ich seufzte und drehte mich mit einem wehmütigen Lächeln zu Martina.

Sie flüsterte: „Waren das nicht die unglaublichsten Ferien, die wir je zusammen erlebt haben?“

Ich nickte und flüsterte zurück: „Und mit Abstand die schönsten. Ich will gar nicht aussteigen. Irgendwie habe ich Angst, dass der Zauber bricht.“

„Ach Quatsch“, erwiderte Martina lachend, nahm mein Gesicht in ihre Hände und küsste mich leidenschaftlich. Dann flüsterte sie, um Fritzi nicht zu wecken: „Wir werden auch hier Plätzchen für wilden Sex finden. Mir fallen da schon ein paar ein, die ich unter diesem Aspekt noch gar nicht geprüft habe.“

Ich stöhnte gekünstelt und lächelte, ohne zu wissen, was genau Martina sich darunter vorstellte.

„Was denn?“, fragte die beste Ehefrau von allen. „Braucht es denn Sand, Meer und einen FKK-Campingplatz, um einen ganzen Mann aus meinem Mann zu machen?“

„Sinwirschonda?“, nuschelte es gähnend von der Rückbank. Friederike war aufgewacht, nachdem sie die vergangenen vier Stunden auf dem Weg von Taizé nach Hause verschlafen hatte. Wir hatten noch einmal gestoppt und die letzte Nacht auf einer grünen Wiese unweit von Chalon–sur-Saône im Burgund verbracht. Taizé war jenes weltbekannte Taizé, in dem Roger Schutz, ein evangelischer Pfarrer aus Genf, in den letzten blutigen Tagen des Zweiten Weltkriegs politische Flüchtlinge und Juden vor dem Zugriff der Gestapo bewahrt hatte.

In diesem unscheinbaren Ort mit seinen alten Steinhäusern, eingebettet in Felder, Weinberge und sanfte Hügel, auf denen gewaltige Burgruinen thronten, hatte sich seit diesen frühen Tagen eine konfessionslose christliche Brüdergemeinschaft etabliert. Sie hatte keine Nachwuchssorgen und war Anziehungspunkt für Menschen aus aller Welt geworden, die rund um den Ort auf den Grünflächen ihre Zelte aufschlugen oder in Wohnwagen und Wohnmobilen übernachteten. Hier fanden die Pilger wieder, was den großen Kirchen verloren gegangen war. Eine urchristliche Gemeinschaft, die sich radikal der Armut und dem Dienst am Nächsten verschrieb. Eine Art spiritueller FKK-Campingplatz, wie ich scherzhaft bemerkte.

Tatsächlich war ich an diesem frühen Sonntagmorgen gedankenlos und aus purer Gewohnheit nackt aus dem Wohnwagen gesprungen, um mich auf der Wiese zu räkeln und herzhaft zu gähnen, bis Martina von hinten zischte: „Wir sind in Taizé.“

Mist. Mein Herz stolperte in einen kurzen Aussetzer, nahm seine Arbeit aber mit doppelter Frequenz sofort wieder auf. Ich nahm hektisch meine weit ausgebreiteten Arme herunter und faltete sie vor meiner Körpermitte, etwas tiefer als üblicherweise zum Gebet. Dann schaute ich mich verstohlen um.

Ich stand in der aufgehenden Morgensonne. Es war bereits glockenhell, und offensichtlich waren auch meine Glocken ausgesprochen hell gewesen, sodass sich eine ältere Dame, die ebenfalls gerade aus einem Wohnwagen gestiegen war, die Augen mit der rechten Hand bedeckte, um nicht geblendet zu werden. Wobei … nein. Tatsächlich schirmte sie, wie ich nun sah, ihre Augen ab, um besser sehen zu können, was sie nicht sehen sollte.

Ist es nicht erstaunlich, dass unsere Augen wie von selbst Alltägliches ausblenden und das Neue, Unbekannte, Verbotene sofort aus einem detailreichen Gesamtbild herausfiltern können, um es gierig aufzusaugen? Vielleicht sah sie auch an mir vorbei und hatte meine ungewöhnliche Gebetshaltung noch nicht als das identifiziert, was sie war. Oder hinter meinem Rücken stand am Waldrand ein ganzes Rudel Nackter, die interessanter waren als ich.

Diese Hoffnung schien mir unsinnig. Ich lächelte verkrampft und widerstand dem panischen Verlangen, mich umzudrehen und zurück in den Wohnwagen zu stürzen, da ich dann der Frühaufsteherin meinen nackten Hintern obszön entgegengestreckt hätte. Die Sonne blendete mich. Ich konnte nicht wirklich entscheiden, ob sie mich überhaupt wahrnahm.

Martina zischte erneut von hinten: „Jo, komm rein.“

„Schschsch“, zischte ich vorsichtig zurück. Wenn ich die Luft anhielt und mich nicht rührte, würde die unfreiwillige Voyeurin mich nicht bemerken – hoffte ich zumindest. Die Frühaufsteherin stand mindestens fünfzig Meter entfernt. Mir fiel ein, dass Hühner nur im Nahbereich scharf sehen konnten und auf größere Distanzen lediglich sich bewegende Objekte wahrnahmen. Bei Dinosauriern, den direkten Vorfahren der Hühner, war das ähnlich gewesen. In Jurassic Park wurde behauptet, die großen Fleischfresser seien komplett auf Bewegungserkennung getrimmt gewesen, doch das stimmte tatsächlich nur für Amphibien wie Frösche und Molche, deren DNA im Film in das Dino-Genom eingefügt wurde. Es war doch außerordentlich hilfreich, als Mathe- und Physiklehrer mit einer guten Portion Allgemeinbildung durchs Leben zu gehen. Mein Freund und Lehrerkollege Klaus Birner hatte zudem unlängst behauptet, die Mädels in seiner achten Klasse seien alle Hühner. Das war klassische deduktive Beweisführung.

Die Sekunden dehnten sich wie Stunden, und ich hatte nicht die Bohne Ahnung, wie ich dem schwarzen Loch dieses relativistischen Kosmos entrinnen sollte, in den ich direkt aus der Tür unseres Eribas splitterfasernackt hineingestolpert war. Ich kniff die Augen zusammen. Täuschte ich mich? Die ältere Dame winkte aufgeregt in meine Richtung. Näherten sich von hinter mir nun doch ein paar betende nackte Mönche oder galt das frenetische Händegefuchtel mir?

Eine flüchtige Ahnung des Wiedererkennens streifte mich. Ich schirmte jetzt ebenfalls meine Augen mit der rechten Hand ab, um den Wohnwagen der winkenden Dame in Augenschein zu nehmen, der unserem auf bemerkenswerte Weise glich. Meine linke Hand genügte an diesem kühlen Spätsommermorgen, um zu verbergen, was beide Hände auf Angape nach den spritzigen Abenteuern kaum vermocht hätten. Da hatte uns die Bettdecke gute Dienste geleistet.

Kein Zweifel. Außer uns beiden war niemand im Freien. In den wenigen Wohnmobilen und Zelten war es noch still. Die ältere Dame, die mir mit einem Mal vage vertraut erschien, ohne dass ich sofort wusste woher, meinte mich!

Ich winkte zögernd mit der rechten Hand, da meine linke noch nicht bereit war zu einem untadeligen naturistischen Hallo. Irgendwie entspannte sich mein Körper allerdings ohne mein bewusstes Zutun, als bestünde mit einem Mal nicht mehr die Gefahr, im hohen Bogen aus dem Paradies zu fliegen, weil ich das Feigenblatt vergessen hatte. Der Kopf unter der winkenden Hand drehte sich strahlend um und brabbelte etwas in den Wohnwagen dahinter, das ich aufgrund der Distanz und der fremden Sprache nicht verstand – bis auf den Namen, mit dem der auffällig rot lackierte Mund seinen Monolog beendete.

„…, Rudi.“

Es gibt keine Zufälle. Sie erinnern sich (wenn Sie Nacktgebiete gelesen haben; spätestens jetzt ein gewichtiger Grund mehr, diesen Roman zu erwerben).

Natürlich! Das Wohnwagengespann, das unserem zum Verwechseln ähnlich sah. Rudi und Dingsbums. Wie hieß sie gleich noch mal? Hmmm. Freya! Die Liebesgöttin auf der Suche nach sexueller Befriedigung, die Rudi ihr verdammt noch mal schuldete. Hatten sie ihr persönliches Angape gefunden und wiederbelebt, was sie längst tot wähnten? Freya machte einen frischen, braungebrannten Eindruck, und das Strahlen in ihren Augen sprach für mich Bände. Sie hatten Sex gehabt! Sie hatten sich an die wesentlichen Details erinnert und festgestellt, dass man es so wenig verlernte wie das Fahrradfahren.

Das alles las ich in dem faltigen Gesicht, das einmal sehr schön gewesen sein musste und diese Schönheit nicht verloren, sondern endlich in der Tiefe ihrer Seele wiedergefunden und befreit hatte. Freya strahlte von innen heraus: sinnlich, erotisch, begehrenswert. Rudi war mir als unscheinbarer, untersetzter Mittfünfziger im Gedächtnis geblieben mit einem Allerweltsgesicht, das Millionen Gesichtern glich, sodass ich Millionen von Gesichtern in ihm wiedererkennen würde, nicht aber ihn selbst.

„Rudi, Rudi, komm endlich raus. Das sin die jungen Leude, die auf dem Suber-U-Bargplatz in unserem Wohnwaachen gebumst haben.“

Pardon. Es war unser Wohnwagen gewesen, den die Liebesgöttin Freya mit dem ihren verwechselt hatte, und fröhlich hineingestürmt war, um dem Riesenschlangendompteur Luc bei der Arbeit zuzusehen.

Ich freute mich über ‚die jungen Leude‘, nicht aber über den Bums-Rest, den sie in einem Anflug ekstatischer Wiedersehensfreude geradezu herausbrüllte. Ich stand noch immer unschlüssig herum, während er hinter den Fingern meiner linken Hand zum Glück mehr hing als stand, dennoch aber nicht unsichtbar war. Spätestens jetzt war die ganze Wiese wach. Scheiße.

Das Wohnmobil zu unserer Linken schwankte. Ich hörte, wie sich die Verschlüsse eines Ausstellfensters öffneten. Gleich würde sich ein Kopf ins Freie recken und sofort erkennen, dass der nichtbrüllende Frühaufsteher da draußen an diesem speziellen Ort underdressed war.

Jetzt war Freya, eine Eva wie alle Frauen, bis auf wenige Meter zu mir vorgestoßen und erkannte erst auf die kurze Distanz, dass ich, ein Adam wie alle Männer, tatsächlich nackt war – bis auf die linke Hand. Sie erinnern sich an die Hühneraugen – nicht die an den Füßen, von denen Freya wenigstens zwei an den Grundgelenken der großen Zehen hatte, die in Plüschpantoffeln vor mir zum Stillstand kamen. Das sah ich deshalb so deutlich, weil ich meinen Blick in den Boden Richtung Erdmittelpunkt bohrte, vielleicht ein instinkthaftes Relikt aus grauer Hühnervorzeit, als meine einfältigen gefiederten Vorfahren annahmen, dass wenn man den Kopf samt Augen in den Sand stecke, man für die Umwelt unsichtbar sei. Der Wunsch, unsichtbar zu sein, wurde übermächtig. Ungeschickt in diesem Zusammenhang waren meine leuchtend roten Ohren im Kontrast zur grünen Wiese. Ich stellte mir vor, dass sie im Takt meines rasenden Herzens blinkten.

„Is das hier auch ein FGaGa-Campingplats?“, fragte Freya verschwörerisch zu mir gebeugt und knuffte mich in die Seite. Sie stand nun so, dass mich ihr wallendes Ein-Mann-Freizeitzelt – vermutlich handelte es sich um ihr Nachthemd – durch eine glückliche Fügung der Windrichtung faktisch mit einschloss. In diesem Moment öffnete sich klickend das Fenster über dem Doppelbett des nächstgelegenen Wohnmobils.

„Grüezi mitanand“, dröhnte es in einem angenehmen Bariton unter der Plexiglasscheibe hervor.

Ein infernalisches: „Schschsch. Die Lüt schlofa noch“, ließ das hagere, gegerbte Gesicht zusammenzucken, das mit schwarzen Tätowierungen übersät war und mich an die Titelseite einer Tageszeitung erinnerte, über die jemand Kaffee geschüttet hatte. Nun lugte auch ein zweiter Kopf mit zwei roten Zöpfen aus dem Fenster und lächelte. „Hebet mir eich uffgweckt?“, kam aus dem dicklippigen Mund in einem tiefen Alt, zu dem ein gepflegter Damenbart gepasst hätte. Die beiden Gesichter starrten zu uns herüber, und in diesem Moment musste der Wind von Südwest nach Nordost gedreht haben.

Pippi Langstrumpf und Zeitungsgesicht erfassten die Situation instinktiv aber komplett falsch, sahen sich mit einem anzüglichen Grinsen an und meinten unisono: „Da wollet mir net störe“, und zogen die Köpfe zurück. Sekunden später schaukelte das Gefährt in einem Rhythmus, der wenig Spielraum für Spekulationen ließ. Entweder hatten sie nur kurz unterbrochen oder aber in vollkommener Missdeutung meiner Hosenlosigkeit den Startschuss für den eigenen Frühsport gesehen.

Endlich erschien Martina korrekt gekleidet in der Tür unseres Eribas und hielt mir meine kurze Radlerhose hin, sodass ich mit je einem Schritt rückwärts in die Hosenbeine steigen konnte. Puh.

Freya schien sichtlich enttäuscht, vermutlich weniger, weil ich jetzt eine Hose anhatte, sondern weil sich die Hoffnung auf ein generelles Hosenverbot auf dieser Campingwiese zerschlug. Jetzt stand Rudi in der Tür seines Eribas. Er hatte ein geradezu sakrales Outfit angelegt.

„Rudi is Pfarrer von Smorendörn, unser kleines Dorf nich weid von Amsterdam. Wir gehen jetz in den Frühgottesdienst“, erklärte Freya und schüttelte mir die Hand.

„Schön, Sie wiederzusehen“, sagte Martina an meiner statt, obwohl sie Rudi und Freya nur aus meinen Erzählungen kannte. Da fiel mir auf, dass ich noch keinen einzigen Ton von mir gegeben hatte. Machte Hosenlosigkeit sprachlos? Ja, unbedingt! Im falschen Kontext.

„Katholisch oder protestantisch?“, witzelte ich, nachdem ich mit der Hose auch die Sprache wiedergefunden hatte.

„Ich habe nich nur meinen Rudi, sondern auch noch vier Kinder und fünf Enkel“, erklärte Freya, um weiteren Verdächtigungen in Richtung Katholizismus vorzubeugen. „Is das Ihre reizende Frau? Auch schön, Sie wiedersusehen, und vielen, vielen Dank …“, sagte Freya. Sie schüttelte mir noch einmal, nun geradezu ehrfürchtig, die Hand. „Sie haven unsere Ehe gerettet“, flüsterte sie, weil Rudi schon fast in Hörweite war und mit einem Strahlen im Gesicht näherkam, das nicht von dieser Welt zu sein schien. Auch er hatte sich verändert, hatte vielleicht das verlorene Paradies der Anfangsjahre zusammen mit der großen Liebe seines Lebens wiedergefunden. Ich freute mich aufrichtig für die beiden, fragte aber: „Danke wofür?“

„Ich hav mich durchgesetzt. Wir sin nich su den anderen Langweilern auf den Textil-Campingplats, sondern … Sie wissen schon“, sie zwinkerte verschmitzt. „Und da hav ich Rudi mal so richtich rangenommen. Wusste gar nich, was noch alles unter der Motorhaube meines Oldtimers steckt.“ Freya grinste. Ich wusste nicht, ob sie mit dem Oldtimer Rudi oder sich selbst oder sie beide meinte. Rudi hatte zu ihr aufgeschlossen und legte liebevoll seinen fülligen Arm um Freyas ausgesprochen weibliche Hüften.

„Ich bin Rudi Schmand und das is meine Frau Freya“, erklärte er mir und erstaunte mich nun seinerseits mit einem ausgesprochen männlichen Händedruck. Richtig. Wir hatten uns noch gar nicht vorgestellt.

„Martina und Johannes Gruber“, kam mir Martina zuvor, die schon länger die Hosen anhatte als ich, also im rein physischen Sinne, und deshalb nicht unter meinen abklingenden Wortfindungsstörungen litt. Ich zog mir rasch ein T-Shirt über und Sandalen an.

„Wollen wir nich alle ,Du‘ saachen?“, meinte Freya. Wir nickten alle lächelnd. „Welchen Campingplatz habt ihr denn nach dem Super-U-Parkplatz angesteuert?“, fragte ich.

„Ein super sööner Plats direkt am Meer. Herrliche Pinien. Total nette Leute. Alle nackt“, fügte sie begeistert hinzu.

„Er heißt Angape“, ergänzte Rudi.

„Da waren wir auch“, rief Martina aus. „Schade, dass wir uns nicht begegnet sind.“

„Ja, sehr saade“, meinte Freya. „Aber vielleich treffen wir uns ja nächses Jahr. Wir wollen unbedingt wieder hin, nich wahr Rudi?“

Rudi nickte, lächelte selig und bekam rote Ohren wie ein Fünftklässler, den man mit einer Pornozeitschrift auf dem Schulklo erwischt hatte. Ich wusste genau, welche heißen Erinnerungen seine Ohren zum Glühen brachten.

Die Tür des Wohnmobils zu unserer Linken schwang auf und der Maximaltätowierte sprang auf die Wiese. Er kratzte sich ungeniert durch den dünnen Stoff einer schlabberigen Boxershort an seiner Männlichkeit, drehte sich zu uns um und faltete die Hände in katholischer Manier vor der Brust. „Namaskar“, sagte er und verbeugte sich leicht.

Hoppla. Ein Inder in Boxershorts mit Sprachkenntnissen in Schwiizerdütsch. Jetzt tänzelte auch Pippi Langstrumpf aus dem Wagen, noch sichtlich beschwingt vom seismischen Ereignis am oberen Ende ihrer Richterskala. „In zwanzig Minuten ist Morgengebet. Hopp, hopp, Urso. Yoga kannst nachher noch machen.“

„Schon so schpaat?“, meinte Urso und wandte sich zu uns. „I bin da Urso und mei Frau is di Greta. Grüezi no amol alle mitanand.“ Er wischte sich beide Hände an der Boxershort ab, dann kam er auf unser illustres Grüppchen zu und streckte uns als Ignorant indischer Begrüßungsformeln doch noch die minimalistisch aufbereitete Flosse entgegen, jene, die nicht an der Sackkratzorgie teilgenommen hatte. Hatte das Sackkratzen an seinem Hänsel, mit dem er offensichtlich gerade erst Gretel gehänselt hatte, Spuren hinterlassen, von denen ich lieber nichts wissen wollte? Wir schüttelten ihm alle die Hand und stellten uns vor.

Urso war mir auf den zweiten Blick sympathisch, wenngleich ich gegen Tätowierungen im Gesicht eine grundsätzliche Abneigung verspürte. Auch Greta kam nun herzlich auf uns zu und schüttelte uns mit grellrot lackierten Fingernägeln die Hand. Um ihren Hals baumelte eine Art Stacheldrahtverhau, der sich bei näherem Hinsehen als wirres Durcheinander asiatischer Halsketten entpuppte.

Als ich Ursos Gesicht studierte, stellte ich fest, dass das, was ich als Schlagzeilen einer Tageszeitung wähnte, Zeichen oder Runen – vielleicht aus dem Sanskrit – waren. Urso deutete meinen interessierten Blick richtig und erklärte: „Ja … is scheiße g’luffa. Greta und ich warn vor fünf Jahrn in Rishikesh. Abends händ mir was gʼraucht. Supa Stimmung. Unser Guru Maresh häd an Freund dabei, der Tätowierprofi war. Ich denk, mein Indisch war zu dem Zeitpunkt noch nöd so perfekt. Wir sind dann seelig eingedöst. Und als ich aufgʼwacht bin, na, da sah ich so aus.“ Er zuckte mit den Schultern. „Hat aber nix gekoschtet, weil die gemerkt händ, dass i nix bestellt häbbet und ein wenig unglücklich war.“ Nun grinste er. „Aber fürs Gʼschäft warʼs super. Nu seh ich selbst aus wieʼn indischer Guru, oder?“

„Du bist Buddhist?“, fragte ich spontan, weil mir der kürzeste Schüttelreim der Welt in den Sinn kam. „Wie seid ihr denn dann in Taizé gelandet?“

„Joa, du, unser Guru sagt, dass Wahrheit in allen Religionen stücka däd und der Buddhist auf der Suach nach all diesen Wahrheiten sein muss. Jetzt suachet mir halt hier.“ Guru Urso strahlte astral und Greta nickte beifällig.

„Außerdem sind wir beide katholisch und haben uns auf einem Zeltlager der Pfadfinder auf der schwäbischen Alb kennengelernt“, sprudelte es jetzt aus Greta im besten Hochdeutsch heraus. „Ich komme aus Berlin, Urso ist gebürtig aus Tübingen. Urso musste dann geschäftlich und aus steuerlichen Gründen in die Schweiz. Wir bauen gemeinsam eine kleine Yoga-Schule in Kleinandelfingen auf mit dem ganzen Drumrum.“

Mir brannte es auf der Zunge, bei den steuerlichen Gründen und dem Drumrum noch mal nachzuhaken, ich beherrschte mich aber und schnupperte in Richtung des alten Wohnmobils, einem kastenartigen Hymer-Bus aus den siebziger Jahren, aus dessen Richtung jetzt der Wind blies. Blumenwiese – also Cannabis. Eindeutig. Es rauchte unübersehbar aus der geöffneten Tür. „Kann es sein, dass die Plantage in eurer Karre brennt?“, flüsterte ich zu Urso gebeugt und deutete mit dem Finger in die entsprechende Richtung.

„Mensch, Greta. Drück doch den Schoint aus, wenn du fertig bischt.“ Urso spurtete zurück in sein Fahrzeug und war wenige Augenblicke später wieder bei uns. Er grinste verlegen. Rudi räusperte sich und schaute auf seine Armbanduhr.

„Sind noch fünf Minuden. Freya und ich wollen nix verbassen.“ Er lächelte entschuldigend in die Runde.

„Da könnet mier doch zʼsamma gea“, meinte Urso, der noch immer in seiner Boxershort mit nacktem Oberkörper dastand. Er wechselte mit Rücksicht auf unsere Holländer zusehends in das nur halb so unverständliche schwäbische Deutsch seiner Tübinger Kinderzeit. Als er Rudis irritierten Blick unter der gerunzelten Stirn wahrnahm, buchstabierte er akzentuiert wie ein Lehrer seinem zurückgebliebenen Schüler: „W-i-r k-ö-nn-e-t d-o-c-h z-u-s-a-mm-en gehn. S-i-n-d g-l-e-i soweit“, und spurtete mit Greta im Schlepptau los. Es schaukelte noch einmal heftig im Hymer-Bus, diesmal offensichtlich aus einem anderen Grund, und tatsächlich standen beide nach weniger als sechzig Sekunden wieder bei uns, heftig keuchend, ebenfalls aus einem anderen Grund.

„Wir können los“, meinte Greta, und so setzten wir uns gemeinsam in Bewegung. Wir schlossen zu einer Gruppe junger Leuten auf, die ebenfalls auf dem Weg in die Kirche waren, und als wir durch eine der einfachen Holztüren traten, empfing uns mehrstimmiger Gesang aus unzähligen Kehlen. Es waren Lieder, die Martina und ich aus unserer Jugendzeit kannten, von den Lagerfeuern der Zeltlager, den Kinder- und Jugendgottesdiensten einer weit zurückliegenden Zeit. So vieles war vertraut. Es war ein Gefühl, wie nach Hause zu kommen.

Wir sangen mit auf Französisch, Englisch, Deutsch, Spanisch und Polnisch, und ich schämte mich nicht der Tränen, die in meinen Augenwinkeln standen. Wir waren eine große Familie mit Menschen aus allen Ländern dieser Welt. Arme und Reiche, Kranke, Gesunde, Behinderte. Alle Unterschiede waren aufgehoben und der Gott, zu dem unsere Lieder emporstiegen, war schwarz und weiß, Mann und Frau und Ruach – Hauch. Ein Wort, das in der Sprache der alten Hochkulturen – der Juden, der Aramäer, Araber, Äthiopier, Semiten und Phönizier – nahezu identisch war. Der Wind in den Bäumen, der Atem alles Lebendigen, der Geist, der über den Wassern schwebte und irgendwo in grauer Vorzeit, in der Unendlichkeit der Ozeane, dem ersten Einzeller Leben eingehaucht hatte.

Warum sollten Urso und Greta nicht gerade an diesem Ort mit allen anderen beten? War uns Christen der Buddhismus da vielleicht einen Schritt voraus? War Gott nicht immer ein persönlicher Gott? Ein Gott, der so individuell war wie ich selbst und mir noch einmal auf den Wegabschnitten meines Lebens in neuen Gestalten begegnete, wie den Emmaus-Jüngern? Als lieber Gott des Kindes, als Aufpasser in der wilden Zeit des Heranwachsens, als tröstender Gott in den dunklen Stunden und der letzten Stunde meines Lebens.

Taizé war wie Angape. Ein Ort, an dem wir alle nackt waren. Das war der tiefe Sinn der Paradiesgeschichte. Man musste es nackt betreten, unverhüllt, wahrhaftig, denn Gott interessierte sich nicht für unsere Hüllen, sondern allein für unseren Kern.

Dann erklang sanft das mehrstimmige Beati voi poveri – frei übersetzt: Selig seid ihr Nackten. Ein wunderbarer Abschluss unseres Urlaubs, den wir zum ersten Mal ganz der Nacktheit gewidmet hatten – in all ihren vielschichtigen Aspekten unseres Lebens. Diese Nacktheit hatte den Gordischen Knoten der verwirrenden Komplexität unserer kleinen und großen Sorgen und Probleme aufgelöst, weil wir zu den wenigen wirklich wichtigen Dingen zurückgefunden hatten.

Als der Gottesdienst mit dem Confitemini Domino quoniam bonus (Danket dem Herrn, denn er ist gut) zu Ende ging, schielte ich zur Seite und sah in das leuchtende Gesicht Ursos, der inbrünstig in einer auffallend klaren Tenorlage mitsang, wenngleich ich nicht wusste, welchem Herrn er dankte. Vielleicht blieb das aber in diesem alten lateinischen Text aus den frühen Tagen der Christenheit ganz bewusst offen.

Vielleicht waren die Väter aller Religionen Naturisten gewesen. Wäre doch logisch. Sie waren schließlich rein abstammungstechnisch Adam und Eva, den ersten schriftlich bezeugten Naturisten, sehr viel näher als wir heute. Hatte sie die Nacktheit nicht alle zwangsläufig gleichgemacht und ihre unterschiedlichen Götter damit auch?

Wir gingen schweigend zu unserer Campingwiese zurück. Dann stellten wir unsere Campingtische zusammen und frühstückten gemeinsam. Es fielen wenige Worte. Wir lauschten dem Ruach in den Bäumen, dem Ruach im Zirpen der Grillen und im Gesang der Vögel. Ein scharfer Schmerz zwischen den Rippen ließ mich zusammenzucken. War diese friedliche Szene zu viel für mich, weshalb ich gerade einen Herzinfarkt erlitt?