Eine spezielle Herausforderung
Claire klappte den kleinen Handspiegel zu, mit dem sie im Viertelstundentakt ihr Make-up prüfte. Sie ließ ihn in der kleinen Schublade unterhalb ihres weißen Schreibtisches verschwinden. Kurz darauf betrat ihre Chefin Olivia Barns das Büro. Mit einem Lächeln kam sie auf sie zu.
„Hier ist es“, verkündete sie mit bedeutungsschwangerem Unterton und legte Claire ein paar Seiten auf den Tisch. Dann stützte sie sich mit beiden Händen an der Kante des Tisches ab. Claire blickte zu ihr auf. Ihre Chefin verzog die schmalen Lippen, die so kupferfarben waren wie ihr kurzes Haar, zu einem breiten Grinsen und nickte ihr zu. Der stechende Ausdruck in ihren aschblauen Augen gefiel Claire nicht.
„Das Skript ist sensationell. Was auch sonst. Er hat also auf meinen kleinen Rat gehört“, sinnierte Olivia laut.
„Welches Skript, welcher Rat?“, fragte Claire.
Ohne darauf einzugehen, redete ihre Chefin weiter: „Den Stick zum Skript bekommen Sie auch gleich.“ Sie tippte auf den kleinen Blätterstapel. „Das sind nur die ersten Seiten. Das erste Kapitel. Lesen Sie einmal den ersten Absatz. Den müssen Sie einfach schwarz auf weiß inhalieren.“
Das klang vielversprechend, dachte Claire. Olivia ließ die Tischkante los und straffte die Schultern. Claire bemerkte neidvoll, dass ihre Chefin schon wieder schlanker geworden war. Das grau-rosa Businesskostüm passte ihr wie angegossen. Dazu trug sie eine Seidenstrumpfhose und schwarze Pumps. Genau die Art Outfit, die Claires Verlobter Ray mochte. Sie selbst hatte sich diesen Stil inzwischen angeeignet wie eine zweite Haut. Früher bevorzugte sie hipp und lässig. Jeans, Shirt, Sneakers – fertig. Nein. Nicht nur wegen Ray habe ich meinen Stil geändert, protestierte Claire gegen ihre innere Stimme. „Claire?“, fragte Olivia Barns.
„Was?“ Sie räusperte sich und kämpfte sich aus ihren Gedanken zurück in die Wirklichkeit.
Ihre Chefin tippte noch einmal auf die erste Seite des Skriptes. „Es ist das neueste Werk unseres Bestsellerautors Samu Boheme.“ Ehrlich gesagt hatte Claire keinen einzigen Thriller von ihm gelesen. Und das, obwohl Boheme schon jahrelanger Stammautor des Hauses war, in dem sie seit Abschluss ihres geisteswissenschaftlichen Studiums als kleine Lektorin arbeitete, aber das würde sie der Barns sicher nicht auf die Nase binden.
„Wir sind die Ersten, neben seinem windigen, zuweilen wortbissigen Agenten Bob, die es lesen dürfen. Also fühlen Sie sich geehrt!“, verkündete Olivia.
„Wir?“
„Ja, Sie und ich.“
„Wow!“, entfuhr es Claire. Sie hatte bis dato immer die Skripte von Debütautoren begleiten dürfen. Konnte sie doch bald auf die ersehnte Beförderung hoffen? Claire schob die Seiten näher an sich heran und schreckte auf. Einer ihrer Fingernägel, die sie erst kürzlich in Rays Lieblingsfarbe – Blutrot – hatte lackieren lassen, war dabei gebrochen.
„Katastrophe“, murmelte sie und schluckte.
„Konzentration, Miss Winston! Ich will Ihre Meinung. Das kleine Malheur können Sie später wieder richten lassen. Sehen Sie es als gutes Omen. Die kürzeren Nägel früher standen Ihnen sowieso besser.“
„Früher?“, fragte Claire.
„Vor Ray“, betonte Olivia.
Claire fragte sich, ob Olivia etwas gegen Ray hatte. Dabei waren sich die beiden doch erst ein paar Mal flüchtig begegnet.
Kopfschüttelnd blickte sie ihre Verlagschefin an. „Später ist zu spät, Mrs. Barns, und klein ist untertrieben. Ray wird verärgert sein. Wir sind mit seinen Eltern zum Essen verabredet. Er holt mich gleich nach der Arbeit ab. Ich kann heute also auch keine Minute länger bleiben. Tut mir wirklich leid!“ Das musste sie doch verstehen.
Ihre Chefin hob eine Braue. „Einen Mann lässt man immer warten. Meiner hat sich daran gewöhnt. Sie müssen sich gegenüber dem anderen Geschlecht Respekt bewahren, meine Liebe. Privat wie auch in der Geschäftswelt. Es kann nicht angehen, dass ihr Schätzchen schon wegen solch einer Lappalie austickt. Und jetzt lesen Sie schon! Ich habe gleich noch ein Meeting. Ich dachte, Sie fallen vor Begeisterung vom Stuhl. Was ist denn los? Wo ist Ihr sonstiger Gefühlsüberschwang, wenn es ein neues Projekt gibt?“
Claire versuchte ein Lächeln. „Es ist die Ehrfurcht und ja, ich bin auch überrascht“, gab sie zurück.
Olivia zeigte sich zufrieden. „Sehr gut. Dann strengen Sie sich an. Ich will Sie auch hierbei in Höchstform erleben. Und denken Sie an das, was ich gesagt habe. Männer muss man ab und zu schmoren lassen. Das macht uns Frauen für sie nur interessanter.“
Olivia Barns, die Männerversteherin.
Ihre Worte hallten in Claire nach. Ray würde das, was ihre Chefin da eben gesagt hatte, niemals mit sich machen lassen. Claire dachte an letzte Nacht. Ray war ein Hengst im Bett. Zärtlich und wild zugleich. Das machte seinen Kontrollwahn wieder wett. Zumindest redete sie sich das täglich ein und erstickte jeden Zweifel im Keim. Claire liebte Ray und freute sich auf eine Zukunft mit ihm – Kinder, Haus, einen Baum pflanzen, vielleicht sogar einen Hund. Zudem sah Ray fantastisch aus und war ein erfolgreicher Geschäftsmann, zu dem viele aufsahen. Und sie fühlte sich sicher an seiner Seite. Claire seufzte innerlich, wenn sie an seine Küsse dachte. Kein Zweifel, sie war diesem Mann verfallen. Und bald würde sie einen Ehering am Finger tragen. Außerdem hatte er eine Schokoladenseite in seiner Seele. Sie war sicher, wenn sie erst einmal verheiratet waren, würde diese Seite richtig zum Vorschein kommen. Ihr Blick richtete sich wieder auf das erste Kapitel von Boheme.
Erster Absatz, rief sie sich in Erinnerung und las:
Casanova war Schnee von gestern. Sie hatte keine Ahnung, was ich heute Nacht alles mit ihr anstellen würde. Ich war sicher, dass sie mich danach nie wieder vergaß. Schon allein mein neues Baby, eine schneeweiße Corvette, ließ ihr Herz höherschlagen. Selbst wenn sie es sich nicht anmerken lassen wollte, konnte ich es an ihrem tiefen, von champagnerfarbenen Perlen gesäumten Ausschnitt erkennen. Ihre Brüste hoben und senkten sich vor offensichtlicher Aufregung. Sie fraß mir schon jetzt aus der Hand, war eine leichte Beute, die zu erlegen ich mir dennoch nicht entgehen lassen würde. Naives Ding.
Claire rümpfte die Nase. Sie wusste nicht recht, was sie von diesen Zeilen halten sollte. Begeisterung fühlte sich anders an. Olivia lachte. „Da bekommt man gleich Gänsehaut. Nicht wahr? Es ist eine Romance. Sie werden beim Lesen gehörig ins Schwitzen geraten, meine Liebe“, versprach sie.
Mal sehen, dachte Claire. „Ich habe bisher angenommen, Mr. Boheme schreibt ausschließlich Thriller ‒ wenig Romantik, aber dafür umso mehr Spannung. Obwohl, von Romantik scheint sein Protagonist, den ersten Sätzen nach, nicht viel zu verstehen.“
Olivia winkte ab. „Er will dieses Mal etwas Neues ausprobieren. Ein wahrer Künstler eben. Bleibt nie auf einer Stufe stehen, muss sich ausprobieren. Also mir gefällt es. Ich bin sicher, das Buch wird ebenso erfolgreich wie seine Thriller. Ich glaube sogar noch mehr. Laut einer Umfrage stellen ihn sich viele Frauen und auch Männer als äußerst attraktiv und lässig vor.“
„Er will aber nicht ins Porno-Genre wechseln, oder?“, fragte Claire.
Mrs. Barns runzelte die Stirn. „Was? Nein! Es ist eine prickelnde bittersüße Romance. Sehr prickelnd halt. Kommen Sie. Seit gewissen bekannten pikanten Romanen gibt es doch keine Tabus mehr. Knöpfen Sie sich mal ein wenig auf, Miss Winston. Das Skript wird Ihnen dabei helfen und guttun.“
Ihre Chefin hielt sie also für bieder.
Ehrlich gesagt waren übertrieben romantische Geschichten weniger Claires Fall. Am liebsten las sie Liebeskomödien. Diese konnten Erotik enthalten, wenn es stilvoll und nicht zu übertrieben war. Aber das … Sie war nicht sicher, wohin das führen sollte. Ihr Gefühl sagte ihr nichts Gutes. Der Protagonist schien auf den ersten Blick recht oberflächlich und luxusbesessen. Für Claire war er eindeutig nicht die Art Held, in die sich Frauen verlieben sollten. Oder, fragte sie sich, bin ich vielleicht nicht normal? Es gab kein Zurück. Claire hoffte, dass das Skript besser werden würde. Eines war sicher. Sie wollte wissen, warum der Protagonist so tickte. Wenn Boheme es darauf anlegte, dass der Leser sich das lange fragte und damit Spannung erzeugen wollte, war es ein geschickter Schachzug, den er aber nicht offenlassen sollte. Zudem gab man Olivia Barns keinen Korb. Schon gar nicht, wenn man wie Claire die Betriebsjüngste im Verlag war und nur eine kleine Lektorin. Für sie war es ein Glücksfall gewesen, dass Olivia sie damals eingestellt hatte. Das durfte sie nicht vergessen.
„Du hast tolle Praktikumsplätze vorweisen können und einen klasse Abschluss“, hielt Jenny, Claires beste Freundin, dagegen. „Also mach dich nicht kleiner, als du bist.“
Ein halbes Jahr später hatte Claire Ray kennengelernt. Er war der Sohn einer großen Familiendynastie, die seit 1959 Markenstifte herstellte. GereStar-Pens verkaufte seine Ware erfolgreich auf der ganzen Welt. Ray hatte die Firma vor ein paar Monaten überschrieben bekommen. Seine Eltern unterstützten ihn bei den Geschäften. Es machte ihm nichts aus, denn er vergötterte sie.
„Oder gibt es ein Problem?“, riss sie Olivias Stimme aus ihren Gedanken.
„Problem? Nein, ich …“
„Kathleen verlässt sich auf Sie, Claire. Es sollte eigentlich ihr Baby sein. Und es ist eine große Chance für Sie.“
Claire nickte.
„Das mit ihrem Unfall tut mir echt leid. Es ist schrecklich, dass sie durch den Sturz dazu zwei blaue Augen hat.“
Olivia kräuselte die Stirn. „Das hört sich so an, als wären Sie schuld, dass sie die letzten zwei Stufen der Treppe auf dem Weg zur U-Bahn übersehen hat. Meine Güte! Augen auf, sage ich immer. Nun ist es nicht zu ändern. Sie wird für mehrere Wochen ausfallen. Die Krankmeldung ist schon da. Und die anderen Lektoren stecken bis über beide Ohren in anderen Projekten. Enttäuschen Sie mich nicht. Ihre letzten Lektorate waren wirklich hervorragend.“
Der Ausdruck in ihren Augen wurde stechender. Claire wusste, was das bedeutete. Gleich würde Olivia Barns ungehalten reagieren.
„Danke für das Lob“, entgegnete Claire schnell, die sich ehrlich darüber freute.
„Gewöhnen Sie sich nicht daran. Der Stick kommt wie gesagt gleich. Geben Sie mir den Ausdruck wieder. Ich habe mir auch den Rest ausgedruckt. So lese ich lieber.“ Sie zwinkerte in Claires Richtung. „Viel Spaß.“ Danach stolzierte sie zur Tür, öffnete sie schwungvoll, hielt dann inne und drehte sich um. „Ach, bevor ich es vergesse: Boheme möchte wissen, was Sie von dem ersten Kapitel halten. Das ist normal bei ihm. Vergessen Sie nicht, es ihm zu schreiben. Noch heute. Sein Skript hat Priorität. Die Mailadresse finden Sie auch auf dem Stick. Boheme ist unser …“ Sie zeigte auf Claire.
Diese nickte. „… bester Autor und sehr wichtig für den Verlag. Aber er kann auch dankbar sein. Barns-Books hat ihn von Anfang an gehypt und …“
„Dankbarkeit verliert sich schnell und kann rasch zum Nächsten wandern, wenn jemand Erfolg hat. Daher muss man immer achtsam sein, dass man diese Menschen bei Laune hält. Denn letztendlich hat man auch etwas davon. Ein Geben und Nehmen“, erwiderte Olivia.
Vor sich hin pfeifend verließ sie das kleine Büro im Südflügel des riesigen Verlagsgebäudes. Claire war froh, als die Tür ins Schloss fiel. Gregor Barns hatte Olivia ‒ seiner einzigen Tochter ‒ den Verlag vererbt. Er war vor zehn Jahren gestorben. Olivia hatte definitiv sein geschäftliches Erfolgs-Gen geerbt. Barns-Books war einer der erfolgreichsten Verlage Englands und hatte seinen Sitz in Brighton. Claire rieb sich mit einer Hand über das Gesicht. Jetzt brauchte sie erst einmal einen Kaffee. Ihr Blick wanderte zur Fensterfront ihres Büros, das im obersten Stockwerk lag. Sie stand auf und ging hinüber, schaute hinaus auf den perfekt gemähten Rasen mit der Buchshecke, der das weiße Gebäude mit den vielen Spiegelfenstern umgab. Von hier aus konnte sie das Brighton Palace Pier sehen. Ein Anblick, der sie immer beruhigte. Sie liebte die englische Stadt an der Küste des Ärmelkanals der Grafschaft East Sussex, die liebevoll die Badewanne Londons genannt wurde. Der Vergleich ließ Claire, die zuvor im Haus ihrer Eltern in einem kleinen Ort in der Nähe gewohnt hatte, immer schmunzeln. Olivias Sekretärin Andrea Whiler reichte Claire den Stick herein und zog sich sofort wieder zurück. Sie sah abgehetzt aus. Kein Wunder bei all den kleinen und großen Wünschen, die Olivia Barns an einem Tag äußerte.
„Dann machen wir uns mal an die Arbeit, Mr. Boheme“, flüsterte Claire, rieb sich die Hände und hoffte inständig, dass sie der Rest des Skriptes flashen würde. Es kribbelte ihr in den Fingern.
Im Grunde hat Olivia recht. Ausgedruckt liest es sich angenehmer, dachte Claire. Man konnte sich damit zurücklehnen oder durch den Raum schlendern oder das Fenster öffnen und es hinauswerfen. Das wäre bei dem Autor ein gefundenes Fressen für die Presse, wenn sie es mitbekommen würde. Letztendlich entschied sie sich dafür, das erste Kapitel in Druckform zu lesen. Bemerkungen, von denen auch ein Mr. Boheme nicht verschont blieb, würde sie danach über den Laptop einfügen. Sie stand auf, öffnete das Fenster und genoss den Wind, der sanft ins Zimmer wehte. Dann nahm sie das erste Kapitel und ging lesend im Zimmer auf und ab. Mr. Boheme ließ seinen Protagonisten aufs Ganze gehen, leider jedoch auf eine billige und machohafte Weise. Schrieb er immer so gewollt? Wo blieb das Gefühl?, fragte sich Claire. Nachdem der Protagonist seine neue Partnerin entblättert hatte und auf dem Rücksitz seiner Corvette wie eine hungrige Raubkatze über sie hergefallen war, reichte es ihr. Nicht, dass sie bieder oder frigide war, wie ihre Chefin meinte, aber das schoss weit über das Ziel einer leidenschaftlichen Romance hinaus. Sie brauchte eine Pause. Ihr Blick fiel auf ihren Laptop, da kam ihr eine Idee. Sie brauchte einen Vergleich und lud eine Leseprobe aus einem von Bohemes Thrillern herunter. Shadow Hunter fesselte sie sogleich. War Olivia sicher, dass das der gleiche Autor geschrieben hatte? Oder hatte Boheme beim Schreiben unter Einfluss von Drogen gestanden? Schön und gut, dass er sich in einem neuen Genre ausprobieren wollte, aber das würde zumindest dieses Mal gehörig nach hinten losgehen, wenn er so weiterschrieb ‒ da war sich Claire absolut sicher. Die ersten Seiten entschieden oft schon, ob ein Leser weiterlesen oder das Buch schließen würde und dann oft für immer. Es fehlte das Elementare – Gefühl. Vielleicht besaß er davon nicht viel. Bei seinen Thrillern brauchte er doch ebenso Einfühlungsvermögen ‒ wenn auch auf andere Art. Ihre Gedanken überschlugen sich. Claire führte den Stick in den Laptop ein und öffnete das Skript, um sich den Rest des ersten Kapitels anzutun. Wie befürchtet, wurde es nicht besser. Dank Boheme kannte sie nun Stellungen, die ihr absolut neu waren und bei denen sich sogar Jennifer, die biegsamer war als eine Schlange, verrenken würde. Das war harte Kost. Ihre Anmerkungen würde sie Boheme, wie gewünscht, per Mail zukommen lassen. Und zwar sofort. Ihrem angestauten Unmut wollte sie Luft machen.
Sehr geehrter Mr. Boheme,
Mit großer Erwartung habe ich das erste Kapitel Ihres Skriptes gelesen, gleich nachdem ich es von Mrs. Olivia Barns erhalten hatte. Ich freue mich, dass ich eins Ihrer Werke bearbeiten darf. Leider muss ich Ihnen sagen, dass es mich …
Claire stoppte, vergrub das Gesicht in den Händen und atmete ein paarmal hinein. Sie musste und wollte ehrlich bleiben. Nur wie genau sollte sie ihm auf die nette Art beibringen, dass sie bisher gedacht hatte, einen reinen billigen Porno zu lesen, dessen Protagonist ein gefühlskalter Macho war? Langsam nahm sie die Hände herunter und klickte in das Skript, dessen zweites Kapitel sie überflog. Es brauchte nur ein paar Zeilen, um zu sehen, dass es darin ebenfalls zur Sache ging. In den folgenden Kapiteln nahm die Geschichte keine Wendung oder ging näher auf die Vergangenheit des Protagonisten ein. Wenigstens die Frauen schienen Mr. Macho toll zu finden. Sie schüttelte den Kopf. Nachdem sie den letzten begonnenen Satz wieder gelöscht hatte, flossen die Worte nur so aus ihrem Kopf durch die Finger in die Mail. Sie dachte an ihre Chefin und schaltete einen Gang zurück.
Ich muss Ihnen sagen, dass ich mir mehr Gefühl in Ihrem Roman wünsche. Und damit meine ich ein anderes, als das, das sie vermittelt haben. Ihre Zeilen erinnern mich leider an einen Hardcore-Porno. Ich bin sicher, dass Sie ein hervorragender Schriftsteller sind. Dafür spricht allein die Größe Ihrer Fangemeinde. Ihr Schreibstil gefällt mir. Doch das bisher Gelesene klingt nach Machogehabe. Ich weiß nicht, ob sich die Leserinnen so in Ihren Protagonisten verlieben könnten, da es ihm offensichtlich an emotionaler Tiefe fehlt. Ich habe schon über das erste Kapitel hinaus geblättert, insofern bezieht sich meine Einschätzung nicht nur auf die ersten paar Seiten. Ich hoffe, dass ich von dem Protagonisten selbst, seinem früheren Leben, bald etwas erfahre, um ihn besser verstehen zu können. Ansonsten sollte man dringend darüber nachdenken, dies nachzuholen. Ich möchte nur vermeiden, dass Leser, die Herz und nicht nur Sex erwarten, zu früh abspringen. Ich selbst will die Geschichte im Herzen spüren können. Ich bin sicher, wir finden einen Kompromiss.
Mit freundlichen Grüßen
Ms. Claire Winston
Lektorin
Claire spitzte die Lippen und nickte für sich. Das war schon besser. Die Zeilen drückten überaus nett aus, was sie dachte. Sie konnte nur auf sein Verständnis hoffen und schickte die Mail ab, bevor sie es sich anders überlegte. Man konnte über alles reden. Das war immer das Beste, um am Ende zu einer zufriedenstellenden Lösung zu kommen. Sie schloss den Laptop, räumte schleunigst zusammen und freute sich auf den Feierabend. Mit Sicherheit wartete Ray schon auf sie.
„Und haben Sie’s gelesen?“, rief ihr ihre Chefin hinterher. Olivia kam ihr auf dem Weg zum Ausgang in dem großzügigen hellen Flur entgegen.
„Natürlich. Aber noch nicht alles“, gab Claire sofort zurück.
Olivias Augen glänzten. „Schon klar. Haben Sie ihm das Resümee des Beginns bereits mitgeteilt?“
„Allerdings habe ich das.“
„Er ist so gut. Das wird vielen Damen heiße Gedanken bescheren. Ich sehe schon die Schlangen vor den Buchläden. Boheme ist nicht nur spannend, sondern auch heiß.“ Olivia knurrte und eilte weiter in ihr Büro. Claire sah ihr nach. Was sollte denn das?, fragte sie sich.
„Schönen Feierabend. Und brav bleiben, Claire!“, rief die Barns lachend, bevor sie hinter ihrer Bürotür verschwand. Allmählich machte ihr Olivia Barns Angst.