Leseprobe Morgen bist du tot

1

Valerie de Crécy glaubte nicht daran, dass ihr Schicksal unabänderlich war oder von einer höheren Macht vorherbestimmt. Die Zukunft existierte noch nicht. Doch ohne es zu ahnen, hing sie bereits an den Fäden eines unsichtbaren Marionettenspielers, der jeden ihrer Schritte lenkte.

Wenn sich Tommy in der nächsten Viertelstunde nicht meldet, bin ich erledigt, dachte sie.

Gehetzt drehte sie sich zu Henning um, der die geplante Aktion mit einer versteckten Kamera filmen würde. Im Gegensatz zu Valerie würde er mit seinem Können und seiner Erfahrung jederzeit einen neuen Job finden. Das war eben der Vorteil, wenn man sich hinter einem Objektiv verstecken konnte. Henning trug keine Verantwortung für verpatzte Reportagen oder schlechte Einschaltquoten. Wenn es darum ging, jemandem in den Hintern zu treten, opferte man lieber den Idioten, der sein Gesicht in die Kamera hielt.

„Hat Tommy sich bei dir auch nicht gemeldet?“, fragte sie.

„Nein, und wenn du mich noch so oft fragst.“ Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Du hast recht, es wird allmählich eng.“

Sie fluchte leise. Jede Folge ihrer Sendung Die Aufdecker fraß ein Vermögen. Seit ein paar Wochen sanken die Einschaltquoten. Weniger Zuschauer bedeuteten sinkende Werbeeinnahmen und irgendwann unweigerlich das Aus für Die Aufdecker. Die Feststellung ihres Chefs Eugen Jacobi hätte kaum klarer ausfallen können: „Valerie, wir haben ein Problem. Ich mag keine Probleme.“

Wenn er bei einer Redaktionskonferenz diesen Satz fallen ließ, konnte man davon ausgehen, dass binnen achtundvierzig Stunden Köpfe rollten. Seit der Übernahme durch einen amerikanischen Medienkonzern sparte sich Network-TV zu Tode. Aber guten investigativen Journalismus bekam man eben nicht zum Dumpingpreis.

Lautstarker Beifall riss Valerie aus ihren Grübeleien. Der beliebte Showmoderator Björn Reinhardt betrat die Bühne. Professionell und abgeklärt erläuterte er dem ausgewählten Publikum das Thema der heutigen Sendung und kündigte Gabriel Nexx an, den schillerndsten Showhellseher seit Uri Geller. Die phänomenale Trefferquote seiner Vorhersagen machte Kritiker, erfahrene Zauberkünstler und Parawissenschaftler ratlos.

Valerie war davon überzeugt, dass Nexx ein Schwindler war. Um das zu beweisen, war sie hier. Noch einmal wählte sie Tommys Handynummer, aber wieder meldete sich nur die Mailbox. Er war einer ihrer fähigsten Mitarbeiter, zuverlässig und gründlich. Seine Recherchen waren für die Reportage unverzichtbar und sollten ihr die Munition liefern, mit der sie Gabriel Nexx zur Strecke bringen würde. Doch diesmal sah alles danach aus, als ob Tommy sie im Stich lassen würde. Oder steckte Nexx dahinter?

„Ob er von der Sache Wind bekommen hat?“, überlegte Valerie laut.

„Nexx?“ Henning zuckte mit den Schultern. „Glaub ich nicht. Es sei denn, er besitzt wirklich übersinnliche Fähigkeiten.“

In diesem Augenblick betrat der Starhellseher unter dem Applaus des Publikums die Bühne. Ein Spotlight tauchte ihn in grelles Licht. Er war in Wirklichkeit größer, als die Fernsehaufzeichnungen vermuten ließen. Schlank, fast hager, mit asketischen Gesichtszügen und dichtem, fahlblondem Haar, das er streng gescheitelt trug. Valerie war ihm bisher nie persönlich begegnet. Die Fotografien und Internetvideos, die es von ihm gab, zeigten ihn zwar als einen charismatischen Mann, aber erst seine physische Präsenz brachte die Magie, die von ihm ausging, vollends zur Geltung. Nexx besaß eine Anomalie, die nur einmal unter einer Million Menschen auftrat: Seine Augen waren von unterschiedlicher Farbe, das linke grau und kalt wie ein Dezembertag, das rechte eisblau wie Frostschutzmittel.

„Was für ein Freak.” Henning schob sich einen Kaugummi in den Mund. „Ich bin gespannt, ob er heute Abend wieder ins Schwarze trifft.”

„Darauf kannst du wetten.”

Und wenn ich nicht beweisen kann, dass seine Gabe nichts weiter ist als ein billiger Trick, bin ich meinen Job los, dachte Valerie. Keine wöchentliche Sendung zur Primetime mehr, kein Starbonus.

Valerie, wir haben ein Problem.

Sie hatte mehr als einmal erlebt, wie erfolgreiche Konkurrenten nach unten durchgereicht wurden. Der Fall war tief und der Aufschlag hart.

„Komm schon, Tommy, lass mich nicht hängen”, murmelte sie.

Doch ihr Handy blieb stumm. Kein Anruf, keine SMS, nichts. Schnell spielte sie eine Option durch, die sie möglicherweise retten könnte. Wenn es ihr gelänge, Nexx zu einem Exklusivinterview zu überreden, ergäbe sich vielleicht noch eine Chance, die Sache zu drehen. Wäre da nicht ein Hindernis, das bislang noch kein Reporter überwunden hatte: Gabriel Nexx gab keine Interviews. Niemand wusste etwas über sein Leben abseits der Bühne. Es schien, als materialisierte er sich vor jedem Auftritt und löste sich danach wieder auf wie ein Spuk.

Neugierig blickte Valerie sich um. Der Konkurrenzsender von Network-TV hatte für die Show eine Location in einem Kongresszentrum westlich von Köln angemietet. Der historische Ballsaal bot einen würdigen Rahmen und war bis zum Platzen gefüllt. Kameras und Journalisten anderer Sender waren nicht zugelassen. Die beiden Eintrittskarten für Henning und Valerie, die auf falsche Namen ausgestellt waren, hatten die Redaktion ein kleines Vermögen gekostet.

Auf einem Stuhl zwei Sitzreihen hinter ihr sah sie Max Schäfer sitzen, den verzweifelten Witwer der Frau, die Nexx mit seiner sündhaft teuren esoterischen Lebensberatung in den Ruin getrieben hatte. Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, dass er heute ebenfalls anwesend war, doch das war sein Preis gewesen. Dafür hatte er Valerie den Abschiedsbrief seiner Frau ausgehändigt, in dem sie gestand, sich aus Scham und Schuldgefühlen das Leben nehmen zu wollen – was sie dann auch getan hatte. Nexx kam in dem Brief nicht gut weg. Geschickt hatte er Ulla Schäfer in eine psychische Abhängigkeit getrieben. Ohne seine Vorhersagen und Empfehlungen hatte sie zuletzt keinen Schritt mehr getan. Als ihr Erspartes nicht mehr ausgereicht hatte, um Nexx’ obskure Dienste zu bezahlen, hatte sie heimlich mehrere Kredite aufgenommen, die irgendwann geplatzt waren. Die Sucht, die Sterne zu befragen, hatte ihre Ehe zerstört und schließlich auch ihr Leben. Wenn Valerie den Hellseher öffentlich mit dem Abschiedsbrief konfrontierte, würde eine mediale Bombe platzen.

„Hoffentlich fliegt dir die Sache nicht wirklich um die Ohren”, brummte Henning.

Überrascht sah sie ihn an. „Hat Nexx dir beigebracht, wie man Gedanken liest?“ Sie schüttelte lachend den Kopf. „Mach dir keine Sorgen, ich habe alles im Griff.”

„Das sagst du jedes Mal. Ich hab wirklich ein mieses Gefühl.“

Sie betrachtete ihn nachdenklich. Henning war ein Schwarzseher, besaß aber ein Talent, das ihm mehr als einmal das Leben gerettet hatte. Wenn es brenzlig wurde, konnte er auf eine Art und Weise mit dem Hintergrund verschmelzen, die ihn für Angreifer unsichtbar machte. Sie hatte ihn gefragt, wie er das anstellte, aber er konnte es ihr nicht erklären. Er verwandelte sich in einen Leitpfosten am Straßenrand, in eine verdreckte Hauswand mit einem Dutzend Einschusslöchern oder in einen vorbeifahrenden Güterzug. Henning beherrschte den Kniff, wie man in Krisengebieten überlebte. Er war sechsundvierzig und arbeitete seit zwanzig Jahren als Kameramann.

„Für jemanden, der mehr Leben hat als eine Katze, bist du ganz schön pessimistisch”, sagte sie. „Entspann dich. Das hier ist weder Kabul noch Jerusalem.”

„Darum habe ich dein Jobangebot auch angenommen.”

„Na also. Worüber machst du dir Sorgen?”

„Jeden alten Kater erwischt es mal.”

Sie verdrehte die Augen und konzentrierte sich auf Nexx, der mit seiner Ansprache bereits begonnen hatte.

„… heute Abend unter Beweis stellen”, hörte sie ihn sagen. Die Menge klatschte sich die Hände wund. Valerie ärgerte sich, weil sie den Anfang seiner Rede verpasst hatte.

„Ich habe Sie eingeladen, weil ich ein Versprechen einzulösen gedenke”, fuhr Nexx fort. „Obwohl ich in den vergangenen Monaten immer wieder bewiesen habe, dass ich die Gabe besitze, den Menschen die Zukunft zu offenbaren, sind meine Kritiker nicht verstummt. Nun, ich bin überzeugt, diesmal auch den skeptischsten unter ihnen umstimmen zu können.”

„Von wegen alles live”, murmelte Henning.

Valerie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war kurz nach 13:00 Uhr. Die Sendung wurde aufgezeichnet und als Livemitschnitt im Abendprogramm verkauft. Eine Vorsichtsmaßnahme, falls Nexx wider Erwarten danebenlag?

Zunächst zog er seine Standardshow ab. Mit konzentrierter Miene beschrieb er Bilder und Karten mit einfachen Symbolen, die Zuschauer ausgewählt hatten. Nach einer Musikeinlage traf er verblüffende Aussagen über Anrufer, die sich an einem telefonischen Gewinnspiel beteiligten.

„Fehlt nur noch, dass er Löffel verbiegt und eine schrottreife Uhr zum Laufen bringt”, sagte Henning.

Valeries Handy blieb stumm. Sie begann, sich ernsthafte Sorgen um Tommy zu machen. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Mitarbeiter ihres Teams in Schwierigkeiten geriet. Wenn man so tief im Schmutz wühlte wie Die Aufdecker, legte man sich unweigerlich mit gefährlichen Leuten an. Sie biss sich auf die Unterlippe. Wenn ihm etwas zugestoßen war, trug sie die Verantwortung. Schließlich hatte sie ihn auf Nexx angesetzt.

Henning boxte sie spielerisch in die Rippen.

„Jetzt geht es richtig los”, sagte er.

Die Beleuchter dämmten das Licht im Saal. Unter den dramatischen Klängen einer Fanfare ging Nexx zu einem kleinen Edelstahltisch. Auf der darüber drapierten samtschwarzen Decke lagen drei Briefumschläge. Er schloss die Augen und strich mit einer theatralischen Geste über die Kuverts, die mit leuchtenden, blutroten Wachssiegeln verschlossen waren.

„Wie Sie wissen, wurden diese Umschläge vor drei Monaten unter notarieller Aufsicht versiegelt”, begann er. „In ihnen stecken Karten, auf denen ich zwei Ereignisse angekündigt habe, die inzwischen stattgefunden haben. Dazu ein drittes, das in Kürze eintreten wird.”

Valerie kehrte in Gedanken zu dem besagten Tag vor einem Vierteljahr zurück. Sie war dabei gewesen, als die Umschläge versiegelt worden waren. Ein Betrug war ausgeschlossen. Nexx hatte weder Kosten noch Mühen gescheut, um alle Zweifel an der Echtheit seiner Gabe zu zerstreuen. Neben zwei Notaren hatte er auch den Bühnenmagier James Randi zu der Zeremonie eingeladen. Randi hatte eine Million Dollar für denjenigen ausgelobt, der als Erster ein paranormales Phänomen wie Hellsehen oder Telekinese nachwies. Er war der Experte, wenn es darum ging, selbsternannte Wunderheiler und Wünschelrutengänger als Scharlatane zu entlarven. Dass Nexx ihn freiwillig hinzugezogen hatte, verlieh seiner Show enorme Glaubwürdigkeit. Valerie drehte sich um. Der alte Mann mit dem beeindruckenden weißen Bart saß drei Reihen hinter ihr und wirkte gelassen und entspannt. Offenbar war er davon überzeugt, dass sich sein Gastgeber blamieren würde.

„Gabriel, erklären Sie uns, warum Sie Ihre Voraussagen nicht öffentlich gemacht haben”, bat Rheinhardt.

„Ich habe mich dazu entschlossen, weil ich eine gegenseitige Beeinflussung verhindern wollte. Niemand soll behaupten können, dass wir es hier mit einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung zu tun haben.”

„Erläutern Sie uns Nichteingeweihten, was das ist?”

„Natürlich. Wenn Sie zu mir kommen, um etwas über Ihre Zukunft zu erfahren, besteht die Gefahr, dass das, was ich Ihnen weissage, nur eintritt, weil Sie daran glauben, und es durch Ihr Verhalten unwissentlich herbeiführen. Nehmen wir an, ich rate Ihnen zur Vorsicht im Straßenverkehr, weil ich sehe, dass Sie morgen um diese Uhrzeit in einen Unfall verwickelt werden.”

„Sie meinen, ich verursache das Ereignis, nur weil ich es erwarte?”

„Exakt. Darum wurden die Umschläge unter notarieller Aufsicht versiegelt. Außer mir weiß niemand, welche Prophezeiungen sich in ihnen verbergen.”

Sein Blick begegnete dem von Valerie. Seine unterschiedlich farbigen Augen tasteten sie ab wie Laserscanner. Sie befiel das unheimliche Gefühl, dass Nexx genau wusste, wer sie war und welchen Zweck ihre Anwesenheit erfüllte.

Und wenn er nun wirklich über die Gabe des Hellsehens verfügte? Konnte er wissen, was sich in der Innentasche ihres Blazers befand? Kannte er den Inhalt des Briefes, den sie bei sich trug? Wusste er, was sie gestern getan hatte und was morgen sein würde? Etwas unterschied ihn von all den anderen Fernsehwahrsagern und Glaskugellesern: Seine Trefferquote lag bei annähernd hundert Prozent. Er hatte mehrere bedeutende Ereignisse zielsicher vorausgesehen: So etwa den Ausbruch einer Choleraepidemie in Griechenland und einen Börsencrash in China. Niemand hatte eine Erklärung dafür. Angst kroch in ihr Herz. Einen Augenblick lang ahnte sie, dass die unbestimmte Furcht erst der Anfang weit größerer Schrecken war.

„Uns alle vereint eine Urangst, der wir uns jeden Tag neu stellen müssen”, sagte er, „eine Angst, die jeden von uns zuweilen erfasst und lähmt. Oft genug treffen wir deshalb falsche Entscheidungen, die eine Kaskade der Furcht und Ungewissheit erzeugen. Niemand von uns weiß, was im nächsten Augenblick geschehen wird, in einer Stunde oder in einem Tag. Aber es gibt Hoffnung: Menschen, die mit einer Gabe gesegnet sind, die über Ihre Vorstellungskraft hinausgeht.” Bei seinen letzten Worten wies er ins Publikum, dann machte er eine wirkungsvolle Pause. Durch einen einfachen Trick erzeugte der Beleuchter in Nexx’ heterochromen Augen ein geheimnisvolles, überirdisches Funkeln.

„Ich gehöre nicht zu den Unwissenden, die angstvoll in die Zukunft blicken. Denn ich weiß, was geschehen wird”, fuhr Nexx fort.

Ein Raunen ging durch den Saal, vereinzelte Pfiffe und ungläubiges Gemurmel wurden laut. Valerie wandte sich um. Randis Lächeln wurde breiter. Er beugte sich zu seiner Begleiterin hinüber und sagte etwas zu ihr, worauf sie den Kopf schüttelte.

Björn Reinhardt, der sich bisher im Hintergrund aufgehalten hatte, trat nun zu Nexx in das harte Weiß des Spotlights.

„Gabriel, Sie behaupten, die Zukunft zu kennen, und wollen das heute Abend erneut eindrucksvoll unter Beweis stellen. Aber zu wissen, was kommen wird, ist nur die eine Seite der Medaille. Eine Frage interessiert mich – und ich bin sicher, unsere Zuschauer ebenfalls – brennend. Können wir unserem Schicksal entgehen? Liegt es in unserer Macht, den Verlauf der Ereignisse zu beeinflussen?”

„Ja, durchaus. Das Morgen steht noch nicht fest. Ich sehe Möglichkeiten, Wahrscheinlichkeiten. Unser Handeln bestimmt, was geschehen wird. Auch wenn der Wetterbericht Regen vorhersagt, kann ich einen Schirm mitnehmen, um nicht nass zu werden.”

„Und kann jeder von uns lernen, einen Blick in die Zukunft zu werfen?”

„Ich fürchte, nein. Das ist eine Gabe, keine Fähigkeit, die auf Übung beruht.”

„Nun, wir wollen heute Abend Zeuge dieser Gabe werden. Meine Damen und Herren – Gabriel Nexx!”

Applaus brandete durch den Saal. Hennings Hand verschwand in der Brusttasche seines Sakkos. Geschickt schob er die winzige Kamera über den Saum, richtete sie auf Nexx und neigte sich nach links, um zwischen zwei Zuschauern hindurch filmen zu können. Die Sendung, die die Fernsehzuschauer am Abend zu sehen bekamen, würde geschnitten sein. Sie hoffte auf Pannen, die Henning live aufzeichnen sollte.

Nexx wartete, bis es still im Saal geworden war. Dann nahm er den Umschlag mit der Nummer eins in die Hand und erbrach das Siegel. Seine Show hatte etwas Biblisches, Apokalyptisches. Die Zuschauer hielten den Atem an.

Er faltete ein einzelnes Blatt Papier auseinander und begann zu sprechen.

„Im Oktober vor vier Jahren verschwand die junge Studentin Sarah Wiehlfeld. Obwohl ihre Leiche nie gefunden wurde, ging die Polizei von einem Kapitalverbrechen aus. Ich schätze, Sie alle haben die traurige Nachricht gelesen, die die Medien heute Morgen verbreiteten. Sarahs sterbliche Überreste wurden in der vergangenen Nacht in einem alten Luftschutzbunker in der Nähe von Hannover entdeckt.”

Nexx drehte den Zettel mit seiner Schrift in die Kamera. Unter einer Bleistiftskizze, die einer chaotischen Landkarte ähnelte, waren folgende Worte gekritzelt:

Sarah Wiehlfeld taucht auf. Luftschutzbunker Hannover.

8. September 2021

 

Es war das Datum von heute.

„Da ist was faul”, murmelte Henning.

„Aber was? Er kann vor drei Monaten doch unmöglich den Stand der Ermittlungen gekannt oder davon gewusst haben, dass man die Leiche heute findet.”

„Vielleicht hat er das Mädchen umgebracht und die Leiche dort versteckt.”

„Um sich jetzt selbst ans Messer zu liefern?“, fragte Valerie. „Ich wette mit dir um eins deiner neun Leben, dass er ein Alibi für die Tatzeit hat.”

„… die kein Mensch kennt.”

Das Gemurmel der Zuschauer wollte nicht verstummen, offenbar stellten viele ähnliche Mutmaßungen an. Valerie blickte in erstaunte, argwöhnische und verblüffte Gesichter. Nur James Randi lächelte noch immer.

„Es gibt tausend Möglichkeiten, wie Sie das Versteck der Leiche in Erfahrung gebracht haben können!“, rief sie. „Worte auf einem Zettel sind noch lange kein Beweis für übersinnliche Fähigkeiten.“

Nexx suchte ihren Blick. Wieder überkam sie eine Ahnung von kommendem Unheil und Furcht, so als hätte sie einen Tiger in seinem Käfig geärgert und nicht bemerkt, dass die Tür einen Spalt offen stand.

„Ich habe nicht den genauen Leichenfundort angekündigt, sondern der Polizei lediglich Hinweise gegeben, um das Gebiet einzugrenzen, in dem sie suchen muss. Ich sprach also von Wahrscheinlichkeiten“, antwortete Nexx. „Lediglich das Datum der Auffindung wurde mir offenbart. Und dieser Tag ist heute.”

Er griff nach dem zweiten Umschlag, es wurde wieder still im Saal. Nexx brach das Siegel, faltete das im Kuvert enthaltene Papier auseinander und hielt es in die Kamera.

8. September 2021

Alitalia Flug Nr. AZ-156, zweihundertdreiundzwanzig Menschen an Bord.

Keine Überlebenden

 

Im Saal brach die Hölle los. Viele Zuschauer sprangen von ihren Sitzen auf. Bleiche Gestalten pressten Handys an ihre Ohren und rannten in Panik aus dem Saal. Nexx beobachtete das Chaos so ungerührt, als hätte er drei Tage Sonnenschein vorhergesagt.

Auch Valerie war aufgestanden. „Halten Sie das für einen makabren Scherz?”, rief sie.

„Nichts liegt mir ferner. Es ziemt sich nicht, mit dem Unglück anderer Scherze zu treiben”, antwortete Nexx.

„Sie sind ein Scharlatan und haben sich soeben selbst entlarvt. Es hat keine Katastrophe stattgefunden.”

„Der Tag ist noch nicht zu Ende, Frau de Crécy.”

Reinhardt wechselte leise ein paar Worte mit Nexx. Er wirkte verstört und hob beschwichtigend die Hände. „Bitte, meine Damen und Herren, nehmen Sie wieder Platz. Gabriel wird uns eine Erklärung liefern. Gabriel?”

Er weiß, wer ich bin, dachte Valerie. Trotzdem hat er nicht verhindert, dass ich unter falschem Namen den Saal betreten habe. Er muss sich seiner Sache sehr sicher sein.

„Ich hab dir gleich gesagt, dass die Perücke eine miese Verkleidung ist”, sagte Henning.

Nexx streckte die Hand aus. „Frau de Crécy, darf ich Sie auf die Bühne bitten? Wer könnte besser geeignet sein als eine unbestechliche Reporterin, mir bei der Öffnung des letzten Umschlags zu assistieren? Meine Damen und Herren, begrüßen Sie mit mir die bezaubernde Valerie de Crécy!”

Die Erregung im Saal legte sich und wich gespannter Erwartung. Vereinzelt erklang Beifall.

Ihr blieb keine andere Wahl. Wenn sie jetzt kniff, hätte sie verloren. Sie stand auf und stieg auf die Bühne.

Aus der Nähe wirkten seine Augen noch hypnotischer. Sie vermied es, ihn anzusehen. Ihr war leicht schwindelig. Bei ihren Reportagen handelte es sich stets um Aufzeichnungen. Ging bei der Aufnahme etwas schief, wurde sie wiederholt. Liveauftritte war sie nicht gewohnt. Selbstsicher vor einem großen Publikum zu agieren, war nicht gerade ihre Stärke.

„Wenn Sie die Macht haben, ein Unglück zu verhindern, warum tun Sie es dann nicht?”, fragte sie.

„Ein guter Einwand, Valerie. Ich habe die Alitalia über den zu erwartenden Unfall informiert. Leider schenkte man mir keinen Glauben. Daher muss ich sagen: ,Ich hoffe, ich irre mich‘.”

„Und ich bin sicher, dass gar nichts geschehen wird. Alles andere wäre ein unglaublicher Zufall.”

„So etwas wie Zufall existiert nicht”, erwiderte Nexx. „Alles ist mit allem verbunden. Aus Ursache wird Wirkung, die wiederum zu einer neuen Ursache wird, die eine Fülle von Wahrscheinlichkeiten nach sich zieht. Sie sind nicht zufällig hier, auch wenn Sie das glauben mögen. Wollen wir uns nun anschauen, was in dem dritten Umschlag steckt?”

Nexx griff nach dem Kuvert, zögerte dann aber und reichte es Valerie.

„Ich bitte Sie, diese wichtige Aufgabe zu übernehmen, denn schließlich wird diese Vorhersage Ihr Leben entscheidend verändern.”

Eine eisige Klammer presste ihr Herz zusammen. War die Ankündigung nur ein Trick, um sie nervös zu machen, oder steckte mehr dahinter? Nein, das war Unsinn, er spielte lediglich mit ihr und benutzte ihre Ängste, um sie zu verunsichern. Nexx hatte sie ganz einfach reingelegt. Es war nicht schwer zu erraten gewesen, dass sie einen Weg finden würde, sich in seine Show einzuschleichen. Wahrscheinlich hatte er ihren unfreiwilligen Auftritt sogar geplant. Nachdem sie ihn in ihren letzten beiden Sendungen scharf angegriffen hatte, holte er jetzt zum Gegenschlag aus, um sie in der Öffentlichkeit zu blamieren. Wenn sie nur wüsste, was er vorhatte.

Der Umschlag in ihrer Hand wog so schwer wie ein Mühlstein um ihren Hals. Sie spürte das Verlangen, ihn zu verbrennen. Gleichzeitig wollte sie wissen, was für eine Vorhersage sich in ihm verbarg. Eine diffuse Urangst kroch in ihr Herz. Die Furcht vor dem Monster unter dem Bett, von dem man wusste, dass es nur in der eigenen Fantasie existierte. Nexx benutzte die natürliche Angst vor dem Unbekannten und spielte mit den Zweifeln, die jeden im Angesicht der Dunkelheit überfielen, das war sein Trick. Nicht besonders originell, aber wirksam.

Okay, Nexx, du hast den ersten Zug gemacht. Wir werden sehen, wer das Spiel gewinnt, dachte sie.

„Nun, Valerie, wollen Sie das Kuvert jetzt für uns öffnen?”, fragte Reinhardt, nachdem wieder Ruhe eingekehrt war.

Sie wandte sich an Nexx. „Sagen Sie uns, was drinsteht.”

„Etwas über das Leben. Und den Tod.”

Valeries Hand zitterte, als sie den Umschlag mit dem Fingernagel aufschlitzte. Ihr Herz pochte so heftig gegen ihre Rippen, dass sie befürchtete, jeder im Saal könnte es hören.

Bevor sie den Zettel herausnehmen konnte, fetzte ein lauter Knall durch den Saal. Etwas zupfte an ihrem Hals und surrte an ihrem Ohr vorbei. Sie tastete nach ihrer Kehle, spürte warmes Blut auf ihren Fingerkuppen. Reinhardt stand am hinteren Bühnenrand und fasste sich mit einem überraschten Gesichtsausdruck an die Brust. Auf seinem blütenweißen Hemd breitete sich ein roter Fleck aus. Kraftlos ließ er das Mikrofon fallen und fiel vornüber auf den Boden.

Zwei Reihen hinter Henning hatte sich Max Schäfer erhoben. Der alte Mann hielt eine Pistole in der Hand und zielte auf Nexx.

Jemand kreischte, ein zweiter Schuss löste sich. Valerie wich erschrocken zurück und stolperte über ein Mikrofonkabel. Der Sturz rettete ihr das Leben. Sie prallte im Fallen gegen den Hellseher und riss ihn mit sich zu Boden. Dicht neben ihr krachte ein Scheinwerfer auf den Boden, heiße Glassplitter bohrten sich in ihren Handrücken. Dann brach die Hölle los. Menschen schrien durcheinander und suchten Schutz. Schäfer gab zwei weitere Schüsse ab, die als Querschläger durch den Saal sirrten. Ein dicker Journalist glitt getroffen von seinem Stuhl. Er war tot, noch bevor er den Boden erreichte.

Die Pistole in Schäfers Hand klickte trocken. Er zuckte zusammen, als ihn zwei Kugeln aus der Waffe eines Bodyguards in die Brust trafen, und brach in die Knie.

Nexx war aufgestanden, drei Leibwächter schirmten ihn ab. Er lächelte zufrieden, so, als hätte er gerade das gigantischste Geschäft seines Lebens abgeschlossen. Das Blutbad rings um ihn herum schien ihn völlig kaltzulassen. Die Bodyguards drängten ihn von der Bühne und brachten ihn in Sicherheit. Valerie blickte ihm fassungslos hinterher. Wie konnte er angesichts des Chaos nur so gelassen bleiben?

Vor ihr auf dem Boden lag der dritte, noch ungeöffnete Briefumschlag. Das Siegel war unversehrt. Sie streckte den Arm danach aus, riss das Kuvert auf und entnahm ihm ein einzelnes Blatt Papier.

18. September 2021, Valerie de Crécy wird sterben.

„Valerie? Valerie, bist du verletzt?” Henning beugte sich mit besorgter Miene über sie.

„Bist du okay?”, fragte sie benommen.

„Ja. Gerade kam eine Meldung über die dpa rein. Über dem Nordatlantik ist eine Alitalia-Maschine abgestürzt. Wie es aussieht, hat niemand überlebt.“

2

„Du bist auf allen Kanälen!“

Henning Lehner griff nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein, der an der Wand gegenüber dem Krankenhausbett hing.

„Dank des beherzten Eingreifens der Fernsehjournalistin Valerie de Crécy entging der bekannte Hellseher Gabriel Nexx knapp einem Attentat“, berichtete ein atemloser Reporter.

Szenen der mittäglichen Aufzeichnung flimmerten über den Bildschirm. Valerie konnte sehen, wie sie selbst Nexx zu Boden riss. Es sah tatsächlich so aus, als hätte sie ihm mit ihrer schnellen Reaktion das Leben gerettet.

Erschöpft ließ sie den Kopf wieder auf das Kissen sinken. Auf diese Art von Reklame hätte sie liebend gerne verzichtet. Wenn ein Klatschreporter tief genug im Dreck wühlte, würde er schnell herausfinden, dass sie es gewesen war, die Schäfer den Zutritt zum Saal ermöglicht hatte. Ohne ihre Hilfe hätte es kein Attentat gegeben.

„Ich habe Schäfers Verbitterung unterschätzt“, sagte sie kopfschüttelnd. „Woher hatte er nur die verdammte Pistole?“

„Die Polizei hat herausgefunden, dass die Waffe von seinem Großvater stammt – eine alte Luger aus Wehrmachtsbeständen.“

„Na großartig.“

„He, du hast nur deinen Job gemacht. Keiner konnte wissen, dass er vorhatte, auf Nexx zu schießen.“

Valerie fühlte sich schuldig an dem, was passiert war. Wie immer in der Hoffnung auf eine knallige Enthüllungsstory, hatte sie sich zu sehr auf den Suizid der Frau konzentriert. Dabei hatte sie übersehen, wie sehr deren Mann unter ihrem Freitod gelitten und wie viel Zorn sich in ihm aufgestaut hatte.

„Man hat auf Schäfers Computer eine Erklärung gefunden, die er über das Internet verbreiten wollte“, sagte Henning.

„Hat er überlebt?“

„Nein, er war sofort tot. Zwei Schüsse ins Herz.“

Valerie blickte auf das Display ihres Smartphones. Es war kurz nach 17:00 Uhr. Der Anschlag im Ballsaal lag erst vier Stunden zurück. Die Nachricht hatte sich wie ein Buschbrand in den Medien verbreitet. Henning schaltete auf einen anderen Kanal. Wieder riss Valerie Nexx zu Boden und bewahrte ihn vor Schäfers Rache.

„Mach das aus“, sagte sie.

„Freust du dich denn gar nicht über die kostenlose Publicity?“

„Nein. Ich habe nicht vorsätzlich eingegriffen, sondern bin gestolpert, weil ich entsetzliche Angst hatte. Schäfer zielte zunächst auf mich und schoss dann auf Nexx.“

Henning grinste. „Na und? Von mir erfährt es niemand. Du bist eine Heldin, Val. Die Aufdecker werden weitermachen. Jacobi kann dich jetzt unmöglich feuern. Du bist so beliebt wie das Christkind, weil du das Attentat verhindert hast.“

Auch das noch. Sie hatte Nexx auseinandernehmen wollen, stattdessen hatte sie ihm das Leben gerettet.

„Wie viele Opfer hat es gegeben?“

„Drei. Björn Reinhard und den dicken Journalisten, der hinter mir saß, hat’s erwischt. Und natürlich Schäfer. Es grenzt an ein Wunder, dass Nexx keinen Kratzer abbekommen hat. Er scheint wirklich mit dem Teufel im Bund zu stehen.“ Henning wurde ernst. „Wie geht’s dir?“

Sie tastete nach dem Pflaster an ihrem Hals. „Die Ärzte sagen, ich hätte großes Glück gehabt. Die Kugel hat meinen Hals nur gestreift und die Halsschlagader knapp verfehlt. Es wird nur eine kleine Narbe zurückbleiben.“

„Gönn dir ein paar Tage Ruhe.“

„Den Teufel werde ich tun. Ich will hier raus, so schnell wie möglich.“

„Du stehst unter Schock.“

„Ach was.“

„Du musst ja wissen, was du tust.“ Henning schaltete den Fernseher aus. „Sag mal, was stand eigentlich in dem dritten Umschlag?“

„Irgend so ein krudes Zeug, ich hab’s vergessen. Es sollte wohl eine Retourkutsche auf unsere Reportage über ihn sein.“

Es sollte belanglos klingen, doch es verging keine Sekunde, in der sie sich nicht mit der geheimnisvollen Prophezeiung beschäftigte. Nexx hatte sich noch nie geirrt. Bis zum 18. September waren es noch zehn Tage. Würde sie wirklich bald sterben?

„Immerhin hat Nexx mit seinen ersten beiden Vorhersagen richtiggelegen. Wie konnte er nur von dem bevorstehenden Flugzeugabsturz wissen?“ Henning schüttelte den Kopf. „Das ist unheimlich.“

„Wir werden schon noch hinter seinen Trick kommen.“

„Und wenn es kein Trick ist? Wenn er wirklich das zweite Gesicht hat?“

Ärgerlich schlug Valerie die Bettdecke zurück. „Fängst du jetzt auch noch mit diesem Hokuspokus an?“ Sie sprang auf die Füße und spürte sofort, wie sehr ihr der Schock in den Knochen steckte. Das Zimmer drehte sich um sie herum. Sie biss die Zähne zusammen und widerstand der Versuchung, sich wieder hinzulegen.

„Auf alle Fälle hat Nexx Nerven wie Drahtseile. Er blieb völlig cool in dem Chaos“, sagte Henning.

„Kein Wunder. Er wusste, was geschehen würde.“

„Sag ich doch.“

„Hör schon mit diesem übersinnlichen Quatsch auf. Ich bin überzeugt, dass er den Anschlag auf sich selbst geplant hat.“

„Wie denn? Und warum sollte er sich absichtlich in Gefahr begeben?“

Valerie zuckte mit den Schultern, was einen neuen Schwindelanfall auslöste. „Geltungsdrang? Aufmerksamkeitsbedürfnis? Vielleicht hat er nicht geglaubt, dass es wirklich gefährlich werden könnte. Doch dann ist die Sache aus dem Ruder gelaufen.“

„Na, du wirst ihn fragen können.“

„Wie meinst du das?“

„Das Beste weißt du noch gar nicht. Nexx will sich persönlich bei dir bedanken. Ich musste ihm deine Handynummer geben.“

Kaum war Henning die Neuigkeit losgeworden, klingelte auch schon ihr Smartphone auf dem Nachttisch neben dem Bett.

„Okay, ich mach mich dann mal unsichtbar“, sagte Henning.

Valerie wischte über das Display und meldete sich.

„Hier spricht Gabriel Nexx. Guten Tag, Frau de Crécy. Ich hoffe, ich störe nicht.“

„Nein, nein … das ist schon okay.“ Valerie ließ sich auf das Bett zurücksinken. Sie fühlte sich ausgepumpt und überrumpelt.

„Wie geht es Ihnen? Ich hörte, Sie sind verletzt worden.“

Seine Stimme klang warm und freundlich. Ganz anders als in der Show. War sein Auftreten dort nur Maskerade? Eine Rolle, die er in der Öffentlichkeit spielte? Vielleicht lernte sie nun den wahren Gabriel Nexx kennen. Zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass er vielleicht Kontaktlinsen trug, um die unterschiedliche Farbe seiner Augen zu erzeugen. Nichts weiter als ein Bühneneffekt.

„Es geht mir gut.“

„Das freut mich zu hören. Immerhin verdanke ich Ihnen mein Leben. Wer weiß, was geschehen wäre, hätten Sie nicht so schnell reagiert.“

„Ich hatte nicht geplant, die Heldin zu spielen. Es war nicht mehr als ein unbewusster Abwehrreflex.“

„Sie sind zu bescheiden. Ich stehe in Ihrer Schuld. Leider hatte ich noch keine Gelegenheit, Ihnen zu danken.“

Dann wollen wir mal schauen, was wir daraus machen können, dachte sie.

„Wenn es Ihnen an irgendetwas mangelt, lassen Sie es mich wissen. Darf ich fragen, wann Sie die Klinik verlassen werden?“

„Noch heute. Außer einer Gehirnerschütterung und einem Kratzer habe ich nichts abbekommen. Ich packe gerade meine Sachen.“

„Wie kann ich mich erkenntlich zeigen?“

„Verraten Sie mir, woher Sie wussten, dass das Flugzeug abstürzen würde.“

„In wenigen Worten kann ich das am Telefon nicht erklären. Es ist kompliziert.“

„Dann geben Sie mir ein Interview. Ich biete Ihnen eine Exklusivstory an.“

„In Ihrer Sendung kam ich bisher nicht gerade gut weg.“

„Das lässt sich ändern. Ich garantiere Ihnen eine faire Reportage. Ich gebe zu, Sie haben mich … beeindruckt.“

„Sie haben den dritten Umschlag geöffnet.“

„Ja. Ein ziemlich mieser Scherz, absolut unter Ihrem Niveau. Finden Sie nicht auch?“

„Ein Scherz?“ Er lachte leise. „Eine interessante Vorstellung.“

Valerie widersprach ihm nicht. Wenn sie ihn jetzt vergraulte, brächte sie sich um eine einmalige Chance. „Also?“

„Passt Ihnen heute Abend?“

Sie kämpfte gegen einen neuen Schwindelanfall an.

„Ausgezeichnet. Ich muss nur noch meinen Kameramann informieren.“

„Den lassen Sie besser zu Hause.“

„Ich brauche ihn. Schließlich kann ich nicht gleichzeitig Fragen stellen und filmen.“

„Keine Kamera. Nur wir beide. Sie und ich. Hört sich das nicht nach einem romantischen Abend an?“

Valerie biss sich auf die Unterlippe. Sie würde wohl zum Schein nachgeben und nach seinen Regeln spielen müssen. Henning musste sich etwas einfallen lassen.

„In Ordnung.“

„Ich lasse Sie um 19:00 Uhr abholen. Mein Fahrer bringt Sie nach Marienburg, in mein bescheidenes Domizil im Kölner Süden.“ Er legte auf.

Valerie fuhr sich mit der Hand über die Augen. Trotz der Schmerzmittel hatte sie leichte Kopfschmerzen. Sie fühlte sich zittrig und unkonzentriert. Nicht gerade ideale Voraussetzungen für ein wichtiges Interview. Doch sie musste die Sache irgendwie durchstehen, eine solche Gelegenheit kam so schnell nicht wieder. Außerdem war Nexx ihr eine Erklärung schuldig. Wenn er wirklich so gut war, wie er behauptete, musste er wissen, was am 18. September geschehen würde.

Die gruselige Todesprophezeiung war also kein Scherz von ihm gewesen. Vielleicht war sie nichts weiter als ein Köder. Nun, er sollte sich täuschen. So leicht würde sie nicht anbeißen.

Es war jetzt 17:20 Uhr. Es blieb ihr noch Zeit genug, um nach Hause zu fahren, sich frisch zu machen und einen Schlachtplan auszuarbeiten. Und dabei würde ihr Henning helfen. Sein Talent, sich unsichtbar zu machen, war genau das, was sie jetzt brauchte. Wenn sie nur im Besitz der Informationen wäre, die Tommy ihr versprochen hatte. Noch einmal versuchte sie, ihn zu erreichen, aber er blieb wie vom Erdboden verschluckt.

Valerie ging auf wackeligen Beinen zum Kleiderschrank und warf ihre Sachen auf das Bett. Ihre Gedanken kreisten um das bevorstehende Interview. Sie würde Nexx mit dem Abschiedsbrief konfrontieren und nicht lockerlassen, bis sie eine Antwort bekam, die sie zufriedenstellte. Sie suchte in den Taschen ihres Blazers nach dem Brief, fand ihn aber nicht. Rasch durchwühlte sie ihre Handtasche und die anderen Kleidungsstücke. Der Abschiedsbrief blieb verschwunden.

3

„Das gefällt mir nicht.“ Henning lief unruhig auf und ab.

„Henning, ich bin keine Zeitungsreporterin, sondern moderiere eine investigative Fernsehsendung. Ein Interview ohne Bild und Ton nützt mir nichts. Bleib in der Nähe, und versuche, etwas aufzuschnappen. Network-TV stellt dir eine bessere Ausrüstung zur Verfügung als die NSA ihren Agenten. Ich werde Nexx nach draußen locken. Dann wird es für dich einfacher, ihn vor die Kamera zu bekommen.“

Henning fingerte nervös an einem Objektiv herum. „Du musst ja wissen, was du tust.“

„Das weiß ich auch. Was ist eigentlich los mit dir? Wir machen so etwas doch nicht zum ersten Mal.“

Ungeduldig blickte Valerie durch die zimmerhohe Glasfront ihres Lofts im Kölner Norden. Ein schwarzer Jaguar kroch die Straße entlang und hielt vor dem Haus. Nexx hatte nicht zu viel versprochen. Ein schneidiger Chauffeur stieg aus dem Wagen und ging auf die Eingangstür zu. Er trug eine elegante Fantasieuniform und hielt sich so gerade, als hätte er einen Stock verschluckt. Auf die Sekunde pünktlich, dachte Valerie amüsiert.

„Mit Nexx stimmt etwas nicht. Er ist böse“, beharrte Henning.

„Buh-uh!“, machte sie. „Er sperrt kleine Mädchen in seinem Keller ein und saugt ihnen das Blut aus den Adern. Und wenn er satt ist, schläft er in einem Sarg bis zum Sonnenuntergang.“

„Mach dich ruhig über mich lustig. Aber es gibt Gerüchte über ihn. Wenn er nicht bekommt, was er will, soll er brutal und niederträchtig reagieren.“

„Na und? Das ist ein Wesenszug vieler erfolgreicher Männer. Einer Studie zufolge sind zwanzig Prozent der Topmanager Psychopathen. Außerdem ist das alles nur Gerede. Niemand weiß wirklich etwas über sein Privatleben, und genau deshalb will ich dieses Interview machen.“

„Schon gut“, seufzte Henning. „Pass auf dich auf, Valerie.“

„Fahr uns hinterher, aber halte Abstand.“ Sie schnappte sich ihre Handtasche, überprüfte noch einmal den Ladezustand ihres Handy-Akkus und schob Henning aus der Wohnung. „Und hör mit deiner Unkerei auf.“

Eine Viertelstunde später rollte der Jaguar durch eine Allee im Kölner Villenviertel Marienburg. Ein privater Sicherheitsdienst kontrollierte das Viertel, das zum Stadtbezirk Rodenkirchen gehörte. Nirgendwo sonst in der Domstadt war mehr Reichtum konzentriert als in dieser Gegend. Häuser aus der Gründerzeit und Villen mit parkähnlichen Gartenanlagen säumten die Straßen. Valerie stellte beeindruckt fest, dass Gabriel Nexx mit seiner angeblichen Gabe, die Zukunft vorhersagen zu können, ein Vermögen angehäuft haben musste.

Der Wagen stoppte vor einem schmiedeeisernen Gittertor. Sie erhaschte einen Blick auf eine wuchtige alte Villa aus roten und gelben Ziegeln. Das Haus war sorgfältig renoviert worden und erstrahlte in seiner ursprünglichen Farbenpracht.

Der Chauffeur tippte einen Code in ein Bedienfeld des Armaturenbretts ein. Das Tor schwang auf, und der Jaguar setzte sich behäbig in Bewegung. Sie durchquerten einen Park, der inmitten der hektischen Großstadt wie ein verwunschener Garten wirkte. Ausladende Ulmen und Kastanien umgrenzten eine Rasenfläche mit Teichen, Wasserspielen und verwitterten Marmorstatuen. Exotische Pflanzen mit üppigen Blüten wuchsen in ausgedehnten Rabatten. Der Wagen hielt vor einer Freitreppe, die zum Haus hinaufführte.

Nachdem der Chauffeur Valerie galant die Tür geöffnet hatte, entfernte er sich er mit seiner Luxuskarosse fast geräuschlos.

Nexx erwartete sie am oberen Ende der Steintreppe. Zwei große schwarze Dobermänner flankierten ihn wie Statuen aus schwarzem Glas. Valerie fühlte sich in ein früheres Zeitalter zurückversetzt, in dem sich niemand über Magie und Seher wunderte, oder über Dämonen, die in Hundekörper schlüpften.

Immerhin musste sie zugeben, dass Nexx Stil besaß, auch wenn er seinen Reichtum nach ihrem Geschmack eine Spur zu protzig zur Schau stellte. In seinem anthrazitfarbenen Businessanzug und dem blütenweißen Hemd sah er umwerfend aus. Blass und unterkühlt wie ein britischer Lord, aber zugleich geheimnisumwittert und interessant. Wenn das Drama, das sich heute abgespielt hatte, Spuren bei ihm hinterlassen hatte, ließ er es sich nach außen hin jedenfalls nichts anmerken.

„Kommen Sie nur herauf. Isis und Anubis freuen sich, Ihre Bekanntschaft zu machen.“

Als sie vor ihm stand, neigte er sich unmerklich nach vorn und deutete einen Handkuss an. Die Hunde rührten sich nicht vom Fleck, nur ihre Blicke verfolgten wachsam jede ihrer Bewegungen. Auf ein Zeichen von Nexx hin erwachten sie zum Leben. Mit unterdrückter Neugierde näherten sie sich ihr und warteten unterwürfig auf Zuwendung. Valerie streichelte sie vorsichtig.

Der Septemberabend war ungewöhnlich warm. Nexx führte sie zu einem Sitzplatz auf der weitläufigen Terrasse, wo ein Baldachin Tisch und Stühle aus rotem Tropenholz überspannte. Von hier oben genoss man einen traumhaften Blick auf den Park. Der Lärm der hektischen Großstadt sank zu einem leisen Flüstern herab. Es kam ihr vor, als schirme eine gläserne Glocke die Terrasse und den Garten vom Rest der Welt ab.

Nexx erwies sich als charmanter Gastgeber. Zwei geschäftige Kellner flitzten zwischen Haus und Terrasse hin und her und lasen ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Zwischen Hummercremesuppe, gegrilltem Lammfilet und einem luftigen Zitronensorbet fragte sie sich, ob sie sich vielleicht ein völlig falsches Bild von ihm gemacht hatte – ein Bild, das die Medien allein anhand seiner Auftritte gezeichnet hatten, ohne ihn überhaupt zu kennen.

„Ich danke Ihnen für die Einladung und das vorzügliche Essen“, sagte sie.

Er neigte leicht den Kopf. „Ich war es Ihnen schuldig. Ich schätze, es steht auch noch die Erfüllung Ihres Herzenswunsches aus.“

„Sie stehen also zu Ihrem Wort?“

„Sie können mich fragen, was Sie möchten. Ich werde mich bemühen, Ihnen so umfassend wie möglich zu antworten.“

Valerie legte ihr Smartphone auf den Tisch. „Stört es Sie, wenn ich das Gespräch aufzeichne?“

„Nein. Benutzen Sie Ihr Spielzeug ruhig.“

„Nexx … ist das Ihr Künstlername? Wenn ja, hat er eine verborgene Bedeutung, oder ist er nur ein Wortspiel?“

Er lächelte geheimnisvoll, antwortete aber nicht.

„Okay, nächste Frage. Werden Sie mir verraten, wie Sie das gemacht haben?“

„Ich verstehe nicht ganz.“

„Woher wussten Sie, wo die Polizei die Leiche des Mädchens finden würde? Wie konnten Sie auf den Tag genau ein Flugzeugunglück vorhersehen?“

„Nun, ich deutete bereits an, dass ich über eine Gabe verfüge, die …“

„Ich kann verstehen, dass Sie Ihre Tricks nicht in die Welt hinausposaunen wollen, aber ich werde mich nicht mit dem Gerede von einer geheimnisvollen Gabe zufriedengeben. Es ist Ihr Beruf, den Leuten etwas vorzumachen. Meiner ist es, ihnen die Wahrheit zu sagen.“

„Das ist mir durchaus klar.“

Sie lehnte sich zurück. „Verraten Sie mir, wie Sie es angestellt haben. Ich verspreche Ihnen, es nicht weiterzuerzählen.“

Sein Mundwinkel zuckte amüsiert. „Eine engagierte Journalistin, die schweigen kann?“

Sie schaltete demonstrativ ihr Handy aus. „Die soll es geben. Sie haben mein Wort.“

Er ließ seinen Blick über den Park schweifen. Die Sonne war untergegangen, jenseits der Rasenfläche herrschte samtschwarze Finsternis. Valerie kam es so vor, als ob Nexx Hennings Versteck auf der Mauerkrone eine Spur zu lange ins Auge fasste. Er hatte für seinen Beobachtungsposten eine Stelle ausgesucht, die von den Zweigen einer großen Platane gut geschützt war. Die Aufnahmefunktion ihres Smartphones auszuschalten, war nur ein Trick gewesen, um Nexx in Sicherheit zu wiegen. Hennings elektronische Augen und Ohren würden jede Silbe ihrer Unterhaltung aufzeichnen. Manchmal war dieses Geschäft verdammt schmutzig, aber so lief es nun einmal. Schon vor ein paar Jahren war Valerie zu einer Art Berufspragmatismus übergegangen. Sie hatte über erschütternde menschliche Schicksale berichtet und sich dabei viel zu oft wie ein Arzt gefühlt, der einem Todkranken nicht mehr helfen konnte. Im Lauf der Jahre hatte sie auf die harte Tour lernen müssen, Beruf und Gefühle voneinander zu trennen, um nicht kaputtzugehen.

„Es ist das Feld“, sagte Nexx.

„Was meinen Sie?“, fragte Valerie irritiert.

„Ich nenne es so. Es ist die passende Beschreibung dafür. Wenn es sich im Einklang mit dem Lauf der Welt befindet, heben sich die Schwingungen gegenseitig auf und ich spüre es nicht. Aber wenn Dissonanzen auftreten, Störungen und Missklänge, kann ich sie fühlen. Man sagt, Krankheit sei die Abwesenheit von Gesundheit. Seinen gesunden Körper nimmt ein Mensch nicht wahr. Erst wenn sich Schmerzen oder Unwohlsein bemerkbar machen, spürt er, dass etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist.“

„Sie wollen mir ernsthaft erklären, Sie hätten eine geistige Verbindung zu einer Art … kosmischem Energiefeld?“

„Es ist nur eine vage Beschreibung. Ich kann es Ihnen nicht besser vermitteln und Ihnen auch keine andere Antwort geben. Welche Erkenntnis hatten Sie sich denn erhofft? Dass ich ein Betrüger bin? Wie hätte ich wissen können, dass heute zweihundertdreiundzwanzig Menschen ums Leben kommen?“

„Ich weiß es nicht. Sicher nicht, indem Sie sich in Trance versetzen und Ihr Gehirn mit dem Kosmos verbinden.“

Nexx lachte leise. „Ein guter Vergleich. Er kommt der Wahrheit ziemlich nahe.“

„Seit wann besitzen Sie denn diese fantastische Gabe?“

„Ich hatte als Kind ein sehr einschneidendes Erlebnis. Nach einem Unfall war ich fast zwanzig Minuten klinisch tot. Ich habe sozusagen die andere Seite betreten. Nach meiner Rückkehr war ich nicht mehr derselbe Mensch.“

Valerie begann sich zu ärgern. Glaubte Nexx wirklich, sie mit seinem esoterischen Gequatsche beeindrucken zu können? Es wurde Zeit, ihn ein bisschen zu provozieren.

„Vielleicht wussten Sie ja, wo die Leiche des Mädchens zu finden war, weil Sie sie selbst dort versteckt haben“, sagte sie.

„Und dann stoße ich die Polizei durch meine Vorhersage mit der Nase auf ein Verbrechen, das ich selbst begangen habe? Das hört sich nicht sehr logisch an.“

„Es klingt überzeugender als der Unsinn, den Sie mir auftischen. Die meisten Mörder werden von ihren Taten so stark belastet, dass sie sich früher oder später stellen. Vielleicht drängte Ihr Unterbewusstsein Sie dazu.“

Nexx schüttelte lachend den Kopf. „Sie haben eine blühende Fantasie, Valerie. Sie sollten Romane schreiben. Aber das tun Sie ja bereits, nicht wahr?“

Sie schwieg verblüfft. Wie konnte er davon wissen? Das Schreiben von Kinderbüchern war eine Leidenschaft, von der niemand etwas ahnte. Bisher hatte sie noch nicht den Mut gefunden, eines ihrer Manuskripte bei einem Verlag einzureichen. Sie blickte Nexx prüfend an. Natürlich! Er benutzte die gleichen Techniken wie andere Wahrsager auch. Vermutlich hatte sie ihm, ohne es zu wissen, durch ihr Verhalten und ihre Antworten den Schlüssel zu ihrer Psyche in die Hand gegeben. Solche Typen waren darin geübt, die richtigen Fragen zu stellen. Er hatte eins und eins zusammengezählt und einen zufälligen Treffer gelandet. Sie rieb sich die Schläfe, ein dumpfer Schmerz pochte in ihrem Schädel, die Wunde an ihrem Hals brannte. Henning hatte recht gehabt, es war falsch gewesen, die Einladung anzunehmen. Um einen gerissenen Betrüger wie Nexx zu entlarven, brauchte es Scharfsinn und Konzentration. Nach den Ereignissen am Nachmittag war sie dazu einfach nicht in der Lage. Ihr Ehrgeiz hatte ihr eine Falle gestellt.

Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Ein netter kleiner Trick, der mir allerdings nicht unbekannt ist. Ich habe dem Barnum-Effekt vor einem halben Jahr eine Sendung gewidmet. Menschen neigen in bestimmten Situationen dazu, vage und allgemeingültige Aussagen auf sich selbst zu beziehen.“

„Fanden Sie meine Aussage vage? Sie brauchen sich nicht zu verstellen, Valerie. Sie wissen doch, dass ich recht habe, nicht wahr?“

„Nein, haben Sie nicht“, log sie, „und wenn, würde ich es Ihnen nicht verraten.“

Nexx legte die Fingerspitzen aneinander und fuhr unbeirrt fort. „Manchmal begegne ich Menschen, die aus irgendeinem Grund eine besondere Bedeutung für das Feld zu haben scheinen. Es ist, als ob ich träume. Das Feld zeigt mir Bilderfetzen und unzusammenhängende Informationen und überlässt es mir, aus dieser Collage die Schicksale einzelner Menschen herauszulesen. Ich kann es nicht steuern. Jedenfalls nicht in jedem Fall. Glauben Sie mir, diese Gabe ist nicht nur ein Segen, sondern auch ein Fluch.“

„Und was erzählt Ihnen das Feld über mich? Dass ich am 18. September sterben werde?“

Valeries Ärger wuchs. Nexx machte sie unsicher und gab ihr das Gefühl, dass sie nichts vor ihm verbergen konnte – was vermutlich genau seine Absicht war. Sie war gekommen, um die Wahrheit zu erfahren, stattdessen langweilte sie dieser aufgeblasene Schwindler mit eitlem Geschwätz. Sie glaubte keine Sekunde an die Existenz dieses ominösen Felds. Es war nichts weiter als eine Geschichte, um sie zu beeindrucken. Genauso gut hätte er ihr etwas von der Stimme Jesu oder von Außerirdischen erzählen können, die ihn vor dem Untergang der Menschheit warnten. Trotzdem erwartete sie seine Antwort mit unterschwelliger Furcht. Kein Mensch konnte sich ganz von Aberglauben und Ahnungen befreien.

„Das Feld offenbart mir viele Informationen über Ihre Seele, über Ihr ganzes Selbst. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie müssen verstehen, dass nicht ich es bin, der Sie ausgewählt hat. Nennen Sie es Vorsehung, wenn Sie so wollen. Manchmal ist ein Tod, den ich voraussehe, auch symbolischer Natur, und es kommt zu einem Neuanfang, nachdem der Betreffende eine seelische Metamorphose durchlaufen hat. Aber in einigen Fällen stirbt die betroffene Person tatsächlich.“

„Wenn Sie behaupten, Sie könnten die Zukunft sehen, dann können Sie den Lauf der Dinge auch ändern.“

„Ich versuche es, denn ich kann mich nicht damit abfinden, dass unser Schicksal unabänderlich sein soll. Oftmals entscheidet jedoch nur ein einzelner Augenblick über Leben und Tod. Wir wissen nicht, welcher Aspekt die Weichen stellt. Ich habe die Fluggesellschaft vor dem Unglück gewarnt, aber es war zu erwarten, dass die Verantwortlichen einem Hellseher keinen Glauben schenken. Vielleicht hätte ich anders vorgehen müssen. Allerdings weiß ich nicht wie.“

Valerie lehnte sich zurück und studierte seine ungewöhnlichen, heterochromen Augen.

„Mit Ihrer Ankündigung meines vermeintlichen Todeszeitpunkts wollen Sie doch nur meine Angst schüren, bis ich kopflos vor einen Bus laufe. Anschließend können Sie behaupten, dass Sie es haben kommen sehen. Ein ausgesprochen billiger Trick.“

„Denken Sie daran, aus welchem Grund ich die drei Prophezeiungen nicht öffentlich verkündet habe: gerade weil ich eine gegenseitige Einflussnahme verhindern wollte. Außerdem würde ich mir niemals erlauben, mit Ihrem Leben zu spielen, Valerie. Dazu schätze ich Sie zu sehr.“

„Okay. Dann werde ich den 18. September im Bett verbringen und warten, bis der Tag vorüber ist.“

„Ich weiß nicht, ob das eine kluge Entscheidung ist. Aber vielleicht ist es die richtige.“

Sie schüttelte ungläubig den Kopf. „Sie meinen das wirklich ernst.“

„Mit dem Tod treibt man keine Scherze.“

„Okay. Ich muss meinen Zuschauern eine abgefahrene Geschichte präsentieren, denn das lieben die Leute. Aber das krude Zeug mit dem Feld kann ich nicht bringen. Mein Boss wird mich für verrückt erklären und mich mit der Empfehlung rauswerfen, mein Glück bei einem Esoterikkanal zu versuchen. Also schlage ich vor, Sie verraten mir wenigstens einige Häppchen davon, wie Sie wirklich arbeiten.“

„Ich dachte, das hätte ich bereits deutlich gemacht.“

Valerie seufzte. „So läuft das nicht. Wenn Sie mir nichts Brauchbares erzählen, muss ich mir irgendeinen Blödsinn aus den Fingern saugen. Und das wird für uns beide nicht sehr angenehm werden.“

„Dann werde ich Sie wohl überzeugen müssen.“

„Na endlich. Das sehe ich auch so.“

Ein Windstoß fuhr durch die Blätter der Bäume im Park. Bis auf die indirekte Beleuchtung eines kunstvoll angelegten Springbrunnens und vereinzelter Solarleuchten im Boden war es dunkel. Nach der ungewöhnlichen Hitze des Tages war der Abend noch immer schwülwarm und drückend. Über den Horizont im Westen flackerte ein Wetterleuchten.

„Es wird ein Gewitter geben. Wir sollten unsere Unterhaltung besser im Salon fortsetzen“, sagte Nexx.

„Wollen Sie dort eine private Show für mich abziehen?“

„Es liegt mir viel daran, Sie zu überzeugen, Valerie. Ich würde es bedauern, an Ihrem Grab stehen zu müssen.“

„Werden Sie nicht theatralisch.“

Er stand auf. „Kommen Sie mit ins Haus. Doch vorher rufen Sie besser Ihren Kameramann an und bitten ihn, im Wagen zu warten. Die Umgrenzungsmauer des Parks ist brüchig und mit schlüpfrigen Moosen überwuchert. Wenn es zu regnen beginnt, könnte er herabfallen und sich den Hals brechen.“

Valerie folgte ihm wütend in die Eingangshalle. „Sie wussten die ganze Zeit, dass er auf der Lauer liegt.“

„Aber natürlich.“

„Wie haben Sie das herausgefunden?“

Nexx lachte. „Dazu bedurfte es keiner übernatürlichen Kräfte. Mein Leibwächter hat mich darüber informiert. Ich bat ihn, nichts zu unternehmen. Sie wollen eine Story und setzen dafür alle Mittel ein, die Ihnen zur Verfügung stehen. Das ist verständlich. Mir ist das außergewöhnliche Talent Ihres Kameramannes, sich unsichtbar zu machen, bekannt. Diesmal hat es allerdings nicht funktioniert. Ich werde meinen Butler anweisen, ihm einen heißen Tee zu bringen. Oder zählt er zu den Kaffeeliebhabern? Was meinen Sie?“

Er führte sie in ein Zimmer im Erdgeschoss. Die Dobermänner folgten ihm wie nachtschwarze Schatten. Getäfelte Wände, Bücherregale aus dunkelrotem Holz und ein wuchtiger antiker Schreibtisch beherrschten den Raum. Nexx schaltete eine Tiffanylampe auf der Tischplatte an. Die alten Möbel leuchteten in warmen Brauntönen. In der Ferne rumpelte ein erstes Donnergrollen über den Horizont.

Er deutete auf eine Sitzgruppe aus schwarzem Leder. „Nehmen Sie doch Platz. Ich bin sofort bei Ihnen.“

Ein Kellner erschien lautlos und stellte ein Tablett mit zwei Gläsern auf dem Beistelltischchen vor Valerie ab, in denen eine rubinrote Flüssigkeit schimmerte.

Nexx kehrte zurück. „Entspannen Sie sich, Valerie. Kosten Sie den Wein. Er ist vorzüglich.“

Beiläufig klappte er einen Laptop zu, der auf dem Schreibtisch stand, und setzte sich ihr gegenüber in einen Sessel.

„Ich brauche einen persönlichen Gegenstand von Ihnen; etwas, mit dem intensive Erinnerungen und Erfahrungen verbunden sind.“

„Wie ich schon sagte, ich glaube nicht an diesen Hokuspokus.“

„Geben Sie mir eine Chance.“

„Wenn Sie sich unbedingt blamieren wollen.“ Sie überlegte einen Augenblick und entschied sich dann für das Medaillon, das sie seit vielen Jahren trug. Es enthielt das Bruchstück einer Muschel, die sie am Strand in der Bretagne gefunden hatte, wo sie die glücklichste Zeit ihres Lebens verbracht hatte.

Nexx ließ das Medaillon in seiner Faust verschwinden und schloss die Augen. Sie beobachtete ihn konzentriert. Sollte er einen Trick anwenden, würde sie ihn vermutlich nicht erkennen. Nicht einmal James Randi war bisher hinter seine Arbeitsweise gekommen.

Seine Atemfrequenz beschleunigte sich. Valerie hielt seine Reaktion für reine Show und trank einen Schluck Wein. Nexx hatte nicht zu viel versprochen. Er war ausgesprochen gut.

„Was erzählt Ihnen das Feld denn über mich?“, fragte sie spöttisch. „Fragen Sie es doch mal nach den Lottozahlen von nächster Woche. Die würden mich brennend interessieren.“

Er öffnete die Augen und verzog die Lippen zu einem feinen Lächeln. „Ich unterhalte mich gerade mit Mr Smoothie. Er weiß eine Menge über Sie zu berichten.“

Valerie stieß einen leisen Schrei aus. Das halb volle Glas entglitt ihren Fingern und zerbrach auf dem Holzparkett. Der Rotwein ergoss sich über die Dielen wie Blut.

„Woher …?“ Der Rest ihrer Frage blieb ihr in der Kehle stecken.

„Er hat lange nichts von Ihnen gehört. Er möchte wissen, ob Sie einen neuen Beschützer gefunden haben.“

Valerie war von der Couch aufgesprungen und wich vor ihm zurück. „Das … das ist unmöglich. Niemand weiß von Mr Smoothie.“

„Richtig. Außer Ihnen.“

Bilder tauchten auf, lange vergessen und verdrängt – die düsteren Gänge des Schlosses in der Bretagne, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte … Jérôme, der Butler mit den kalten Händen.

„Mr Smoothie fragt, ob Sie sich an Jérôme erinnern.“

„Okay, das reicht. Ich weiß nicht, wie Sie an diese Informationen gelangt sind, aber mein Privatleben geht Sie nicht das Geringste an.“

Bislang hatten die Dobermänner still und nahezu unsichtbar in einer Ecke neben dem Schreibtisch gelegen. Nun setzten sie sich auf die Hinterbeine und beobachteten die Szene wachsam.

„Sie baten mich darum, Ihnen einen Beweis meiner Fähigkeiten zu liefern“, sagte Nexx.

„Ich habe Sie um gar nichts gebeten. Geben Sie mir das Medaillon zurück.“

Er öffnete seine Faust. Sie schnappte so hastig nach dem Schmuckstück, dass sie es von seiner Handfläche wischte. Es fiel zu Boden, Nexx bückte sich danach und reichte es ihr.

„Vielleicht kann Mr Smoothie den Verlauf des 18. September ändern, Valerie. Er ist eine interessante Persönlichkeit.“

„Halten Sie den Mund! Sie wissen überhaupt nichts.“

„Sie brauchen sich nicht zu schämen. Viele Kinder haben imaginäre Freunde. Wachsen sie heran, verabschieden sich die nützlichen Geister und verschwinden. Die Erwachsenen wollen nicht mehr an sie erinnert werden. Aber das heißt nicht, dass Ihr unsichtbarer Mr Smoothie nicht mehr existiert.“

„Was glauben Sie, damit zu erreichen? Sie können mich nicht manipulieren und abhängig von Ihrem Geschwätz machen wie Ulla Schäfer.“

In der Täfelung öffnete sich eine Schiebetür. Einer der Diener, der ihnen das Essen serviert hatte, wartete darauf, dass Nexx ihm seine Aufmerksamkeit widmete.

„Ja?“

„Es ist 22:00 Uhr.“

„Ich komme.“ Nexx wandte sich wieder Valerie zu. „Entschuldigen Sie mich. Eine Angelegenheit von großer Dringlichkeit, die sich leider nicht aufschieben lässt. Ich muss eine Entscheidung treffen. Es dauert nur eine Sekunde.“

Er verschwand durch die Schiebetür. Seine ergebenen Hunde folgten ihm lautlos. Der Diener zog die Tür hinter ihnen zu.

Valerie blieb allein zurück. Nexx hatte sie manipuliert und dazu gebracht, mehr von sich preiszugeben, als ihr bewusst war. Es gab keine andere Erklärung. Es war verblüffend, mit welch einfachen Methoden man Menschen beeinflussen konnte. Zugegeben, er war ein Meister seines Fachs, aber dennoch nichts weiter als ein Schwindler und Betrüger. Ein allwissendes Feld, das Auserwählte wie er anzapfen konnten, existierte nicht. Aber wie zum Teufel hatte er von Mr Smoothie erfahren?

Auf der Suche nach einer Antwort näherte sie sich neugierig dem Schreibtisch. Der massive Tisch aus dunkel gebeiztem Holz schien mit dem Haus verwachsen zu sein. Im krassen Gegensatz zu seinem Alter befand sich eine Ansammlung modernster Technik auf ihm: ein Laptop, eine Telefonanlage und zwei Tablet-PCs.

Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, klappte den Computer auf und drückte die Leertaste. Der Bildschirm leuchtete auf und bot eine Reihe von Menüs an. Nexx musste noch kurz vor ihrem Eintreffen gearbeitet und sich nicht mehr die Mühe gemacht haben, den Computer auszuschalten. Ohne ein Passwort eingeben zu müssen, stöberte sie in seinen Mails und den zuletzt geöffneten Dateien. Dabei stieß sie auf mehrere Protokolle, die ihr Rätsel aufgaben. Die Tabellen wiesen jeweils eine Zeitschiene auf, die über vierundzwanzig Stunden reichte. Daneben gab es einen Reiter für Aktivitäten, für die entsprechende Intervalle angezeigt wurden. Eine angehängte Datei enthielt eine Fülle von Informationen, die in unterschiedliche Kategorien eingeteilt waren. Es gab Spalten mit Überschriften wie „Soziologische und biometrische Daten“, „Psychoanalyse“ und „Wahrscheinlichkeit“. Jedes Protokoll war mit einem Namen und weiteren Angaben versehen. Sie fand Dutzende von diesen Protokollen, und alle wiesen eine sonderbare Gemeinsamkeit auf: Sie waren in die Zukunft datiert, einige um wenige Stunden, andere um mehrere Tage oder gar Wochen.

Valerie lauschte mit angehaltenem Atem. Das Echo von Nexx’ Stimme hallte durch die Eingangshalle, er telefonierte noch immer. Rasch überflog sie die Icons auf dem Desktop. Nexx benutzte das handelsübliche Programm Outlook, um seine Mails zu verschicken. Sie öffnete es, hängte ausgewählte Dateien an und schickte die Daten an ihr Smartphone. Danach löschte sie die versendete Nachricht.

Zufrieden blickte sie sich in dem getäfelten Raum um, der wohl als Arbeitszimmer und Bibliothek diente. Der Abend hatte sich doch noch gelohnt.

Durch eine doppelflügelige Tür gelangte sie in ein Zimmer mit einem gemauerten Kamin. Breite Fenstertüren gingen auf die Terrasse hinaus. Die Zimmertür zum Korridor stand offen. Valerie ging umher und strich mit den Fingern über den steinernen Sims des Kamins. Was sie dann erblickte, hielt sie zunächst für ein Trugbild, hervorgerufen von ihrer Gehirnerschütterung und den starken Schmerzmitteln. Auf dem Sims standen mehrere gerahmte Fotografien – Gabriel Nexx an Bord einer Segeljacht und bei einem offiziellen Empfang oder Fest. Ein weiteres Bild zeigte ihn vor einem steinernen Torbogen, der von üppig blühenden Rosen überwuchert war. Neben ihm stand eine Frau mit kastanienbraunem Haar und meergrünen Augen. Sie trug ein schneeweißes Hochzeitskleid und hielt einen Brautstrauß in den Händen. In den vergoldeten Bilderrahmen war ein Datum eingraviert, das in der Zukunft lag: der 20. März 2022.

Auch auf den anderen Fotografien war Nexx mit derselben Frau zu sehen. Die Frau war sie selbst. Valerie de Crécy.