Leseprobe Mordsmäßig verkorkst

Kapitel 1

„Keinen Schritt weiter, sonst stirbst du!“

Ich hielt ruckartig inne und mein Herz sprang mir in den Hals. „Können wir nicht darüber reden?“, fragte ich sanft und hob langsam die Hände.

„Nein! Ich hab genug geredet. Du bist es, die nicht zuhört.“

„Ich höre zu. Aber … was du sagst, ergibt keinen Sinn. Wenn ich also einfach …“

Ich hob langsam den Fuß.

„Nein!“

„Bitte …“

Nein! Gott, Lou, ich schwöre dir, wenn du noch an einer einzigen weiteren Blume riechst, bringe ich dich um!“ Emily richtete warnend den Finger auf mich. „Du hast dann immer Pollen an der Nase und siehst aus, als hättest du Chipskrümel geschnupft.“

Hm. Hatten Chips wohl weniger Kalorien, wenn man sie durch die Nase zu sich nahm? Nein, vermutlich nicht. Es hörte sich auch etwas schmerzhaft an. Egal!

„Du bist absolut albern“, unterrichtete ich meine Schwester und verdrehte die Augen. „Ich darf riechen, an was ich will!“

„Ich finde, Emily hat recht“, gab Trudi ihren Senf dazu. Sie war meine ehemalige Ü-70-Angestellte, die den Körper eines Schlauchboots hatte, dem die Luft ausgegangen war, aber den Geist einer Kindergartentruppe ohne Aufsicht. „Louisa: Du bist Blumenverkäuferin …“

„Blumenladeninhaberin!“

„… du kannst den lieben langen Tag an Pflanzen schnüffeln. Also gönne deinem Riechkolben mal eine Pause. Ach und übrigens, du darfst nicht riechen, woran du willst.“ Neunmalklug sah sie mich an. „Ich zum Beispiel wurde letztens darauf aufmerksam gemacht, dass es sich nicht ziemen würde, am Hintern eines fremden Hundes zu schnüffeln. Auch wenn ich finde, dass es nur fair war, da er dasselbe ja bei mir gemacht hat.“
Ich seufzte und trat vom Blumenbeet zurück. Dagegen konnte und wollte ich nicht argumentieren, also gab ich einfach auf. Damit fuhr man bei den beiden ohnehin besser.

„Ist ja schon gut!“ Ich hob kapitulierend die Hände. „Ich rieche nicht mehr an Blumen.“ Auch wenn das ein hervorragender Zeitvertreib war und wir sicher noch zehn Minuten totschlagen mussten, bevor mein Neu-Verlobter Josh hier auftauchte. Der hatte mir nämlich vor ein paar Minuten eine liebevolle Drei-Wort-Nachricht geschickt.

Verspäte mich. Warte!

Dahinter hing ein ernst aussehender Smiley mit grimmigem Mund.

Ich war ein unfassbar ungeduldiger Mensch und verbrannte mir regelmäßig beim Essen die Zunge, weil ich aß, bevor es kalt geworden war. Warten war also wirklich nicht meine Stärke. Aber Josh benutzte sonst nie so „albernen Emoji-Mist“ (seine Worte, nicht meine. Meiner Meinung nach verhielt es sich mit Emojis nämlich wie mit Schokolade: Je mehr, desto besser!), deswegen musste es ihm ernst sein.

Also standen wir noch immer in dieser pompösen, mit rotem Klinkerstein gepflasterten Einfahrt direkt vor dem großen Banner, das zwischen zwei Bäume über ein eisernes Tor gespannt war und auf dem zu lesen war: Der Weinkönig: Wein, aber fein – tretet doch ein!

Über die Reimkunst des ansässigen Weinguts konnte man streiten. Über seine Schönheit nicht. Das große Fachwerkhaus, das hinter dem Tor in den Himmel ragte, war übersät mit saftig grünen Weinranken. Ein glänzender Traktor stand vor einer angrenzenden alten Scheune, deren riesiges Eichenportal in den berühmten Weinkeller führen musste, der laut Google „Ein Schmaus für Augen wie auch Geschmacksknospen“ war.

Links unter dem Banner, neben einer überdimensionalen Weinflasche, stand ein großes Schild, das in kunstvoller Schreibschrift eine Weinprobe für den folgenden Nachmittag ankündigte. Zu unserer Rechten, direkt anliegend an das Eisentor, befand sich ein etwas mitgenommen aussehender Schuppen mit kleinem runden Türmchen obenauf, der bei dem kleinsten Windhauch knarzte und ächzte, als würde er jede seiner fehlenden Latten spüren. Er klang ein bisschen wie Trudi, wenn sie das Gewicht auf ihrer kaputten Hüfte verlagerte. Nur eine Spur gesünder.

Der Rest des Anwesens war mit einem massiven metallenen Zaun umgeben, sodass man nur durch das Tor hineinkam. Doch ich hätte allein in der Einfahrt Stunden verbringen können. Denn rings um uns herum blühten Dutzende Blumen in runden Beeten, die mein Floristinnenherz höherschlagen ließen. Narzissen, Hyazinthen, Tulpen … Ein Meer aus Frühblühern, das bald sterben würde, da wir schon Mitte Mai hatten. Es war ein Verbrechen, nicht an jeder Einzelnen zu riechen, aber wenn meine Schwester sich diese Last aufs Gewissen laden wollte, dann nur zu.

Ich hatte das Weingut im Internet gefunden, als ich die Suchmaschine mit Hochzeitslocations Köln gefüttert hatte. Josh und mir war klar, dass wir spät dran waren, denn eigentlich wollten wir schon im Herbst heiraten. Allerdings hatte ich zwar unfassbar lang auf einen Antrag von Joshua Rispo gewartet, doch irgendwie nie darüber nachgedacht, dass auf eine Verlobung ja auch eine Hochzeit folgte … die jemand organisieren musste. Traditionellerweise das Brautpaar. Also wir. Der Mann, der sich seiner Halbautomatik näher fühlte als seinen Emotionen, beruflich Mördern nachjagte und das Romantikgefühl einer erloschenen Kerze besaß. Und ich, die Frau, die nicht-beruflich und völlig illegalerweise Mördern nachjagte und das Schlagwort Romantik noch vor drei Tagen bei Google eingegeben hatte. Allerdings hatte das Internet mir nur Bilder von Caspar David Friedrich sowie Artikel mit dem Titel 10 Tipps für Sex mit mehr Leidenschaft ausgespuckt. Ersteres hatte ich bereits in der Schule durchgekaut und als langweilig befunden, Letzteres war keine der vielen Problemstellen in meinem Leben. Wirklich geholfen hatte es mir also nicht. Was schade war, denn ich hätte die Hilfe wirklich gebrauchen können. Ich las zwar gern Liebesromane, die unrealistische Erwartungen an Männer in mir weckten, aber noch kein Buch hatte bei mir realistische Erwartungen an eine Hochzeit geweckt. Ich war keine dieser Frauen, die, seit sie ein kleines Mädchen waren, von ihrer Hochzeit träumten und den besonderen Tag seit Jahrzehnten bis zu den eierschalenfarbenen Tischläufern planten. Nein, ich war die Art von Frau, die sich über das Wort eierschalenfarben aufregte, denn eine Eierschale kam in hunderttausend Farben, die Definition ließ also zu wünschen übrig. Überhaupt: Weiß war Weiß und wer brauchte Tischläufer? Die würde ich ohnehin nur bekleckern und somit den Zorn meiner Mutter auf mich ziehen.

Nein. Ich wusste nur, welchen Mann ich heiraten wollte, doch der ganze Rest? Keinen Schimmer. Deswegen hatte ich mir weibliche Unterstützung in Form von meiner besten Freundin Ariane suchen wollen. Leider musste sie jedoch arbeiten, weshalb ich gezwungenermaßen Trudi und meine Schwester Emily mitgenommen hatte, die zwar nicht immer sonderlich konstruktive Hilfe anboten, aber ein ehrwürdiger Ersatz waren.

„Lou, könntest du dich mal aus dem Wind stellen, du stinkst“, stellte meine Schwester fest.

Vielleicht auch nicht ganz so ehrwürdig.

„Entschuldige?“, erwiderte ich gereizt.

„Du müffelst“, meinte sie betont langsam und deutlich, als sei ich schwer von Begriff. „Seit ich schwanger bin, rieche ich unfassbar gut. Finn meint, ich bin ein richtiger Bluthund geworden – weil ich immer rieche, wenn er Blutwurst in seinen Taschen hat.“

Irritiert blinzelte ich sie an. „Warum hat Finn Blutwurst in seinen Taschen?“

„Sie waren im Angebot, Tragetüten aber nicht“, erklärte sie ungeduldig. „Der Punkt ist, ich kann krass gut riechen und du müffelst, also, Lou: Würdest du dich bitte nicht in den Wind stellen? Oder zumindest den Wind in eine andere Richtung leiten? Damit er mich nicht im Gesicht trifft?“

„Du überschätzt meine Macht über die Luft“, entgegnete ich säuerlich. „Und ich stinke überhaupt nicht! Ich hab erst vor zwei Stunden geduscht.“

„Mhm.“ Emily rümpfte die Nase und trat so nah an mich heran, dass ein katholischer Pastor schockiert die Luft eingesogen hätte. „Ich glaube, das ist das Problem.“

„Das Problem ist, dass ich mich gewaschen habe?“

„Ja, du hast dein Shampoo gewechselt, oder?“ Stirnrunzelnd schnüffelte sie an meinen Haaren. „Ernsthaft, Lou? Hibiskusblüte? Du bist doch kein Hippie! Was war falsch an Grüner Apfel?“

Ungläubig weitete ich die Augen. „Ich … ich wollte mal was anderes probieren“, erwiderte ich perplex.

„Nun, es ist grässlich, also lass es.“

„Das kannst du riechen?“

„Ich hab doch gesagt, ich bin ein Bluthund!“

Ja, aber ich hatte ihr nicht geglaubt. „Wow, das ist beeindruckend“, gab ich zu. „Aber ich verschwende kein frisch gekauftes Shampoo. Damit musst du jetzt leben.“

Kopfschüttelnd und mit einer gehörigen Portion Verachtung sah Emily mich an. „Familie wird bei dir auch mit kleinem f geschrieben, oder? Erst lädst du mich auf ein Weingut ein, obwohl du weißt, dass ich nicht trinken darf, und jetzt willst du für deine einzige Schwester, die gerade Leben erschafft, dein Shampoo nicht wechseln?“

„Du wolltest unbedingt mitkommen“, erinnerte ich sie.

„Ja, weil Finn heute arbeiten muss. Aber es macht keinen Spaß, ein Weingut zu besuchen, wenn man nicht trinken kann.“

„Wir haben alle noch nichts getrunken.“

„Und wessen Schuld ist das?“, meinte Trudi spitz. „Ich wollte Champagner trinken.“

Nein, Trudi hatte eine Champagnerdusche nehmen wollen, während ich sie dabei filmte, wie sie sinnlich ihre stahlgrauen Locken schwenkte und sich in der Sonne räkelte. Für Manfred, ihren frischangetrauten Ehemann. Das war ein Unterschied.

Ich hatte schon eine Menge mitgemacht. Unter anderem hatte ich an einem illegalen Autorennen teilgenommen, war in einem Badezimmerfenster stecken geblieben und hatte mich für meine Nichten als Pu der Bär verkleidet. Aber selbst ich hatte meine Grenzen. Auch wenn sie dehnbar waren. Und trotzdem sahen meine beiden Begleiterinnen mich jetzt an, als hätte ich soeben ein Gesetz erlassen, das Spaß verbot.

Oh Mann. Ich hatte wirklich geglaubt, dass ich als baldige Braut eine Sonderbehandlung von ihnen bekommen würde. Doch dieses ungeschriebene Gesetz trat wohl nur am Hochzeitstag in Kraft. Wo zur Hölle war Josh? Ich brauchte Unterstützung bei meiner Unterstützung.

Wo steckst du?

schrieb ich ihm hastig.

Bin sofort da

kam die prompte Antwort.
Ich verdrehte die Augen und tippte zurück:

Schlag sofort mal im Lexikon nach! Und du sollst nicht tippen und fahren.

Dann hör auf, mich im Fünf-Minuten-Takt zu fragen, wo ich bin.

Dann sei du vor dem nächsten Fünf-Minuten-Takt hier.

Darauf antwortete er nicht mehr. Wahrscheinlich, weil er Polizist war und wirklich nicht am Steuer auf sein Handy sehen sollte. Oder weil er genervt von mir war.
Ersteres. Ganz sicher Ersteres!

Ich steckte das Handy weg und legte den Kopf in den Nacken. Die Maisonne schien in unsere Gesichter – oder in Trudis Fall auf einen monumentalen Sonnenhut mit breiter Krempe, der selbst den verrückten Hutmacher eingeschüchtert hätte – und einen Moment lang genoss ich einfach nur die Wärme und die Gewissheit, dass ich einen Mann hatte, der mich liebte und mich heiraten wollte. Obwohl Kekse mein Hauptnahrungsmittel waren. Obwohl wir uns manchmal nervten. Obwohl Streiten unsere Religion war.

Und dann wurde ich von einem großen quadratischen Beet direkt neben dem Schuppen abgelenkt.

„Uh, das ist ja cool. Sie haben ein Sukkulenten-Beet!“, sagte ich begeistert und lief hastig zu den grauen Steinen, die das Beet von der Einfahrt abtrennten. „Das müssen sie frisch gepflanzt haben, den Winter hätten die hier draußen nicht überlebt.“ Neugierig beugte ich mich vor und betrachtete die Reihen an kleinen Kakteen, die so angeordnet waren, dass sie ein stacheliges Herz ergaben. Sie erinnerten mich irgendwie an Josh.

„Oh Mann. Dein Kopf ist gefüllt mit Pflanzen, oder?“, bemerkte Emmi griesgrämig, schlenderte jedoch in meine Richtung.

„Deiner auch – mit Marihuana“, gab ich zurück.

„Ey, das stimmt gar nicht mehr! Seit ich schwanger bin, habe ich nicht einen einzigen Joint geraucht.“ Stolz reckte sie ihre Brust.

„Ich wollte ja schon immer mal einen rauchen“, verkündete Trudi, während sie meine andere Seite flankierte, und überraschte damit niemanden. Trudi strebte ein Leben „voller Gefahren und Abenteuer“ an (ihre eigenen Worte) und Drogen entweder zu kaufen oder – noch besser – sie zu dealen, stand noch auf ihrer „Dinge, die ich tun will, bevor ich achtzig werde“-Liste.

„Ich würde dir davon abraten.“ Selbst wenn Trudi stocknüchtern war, hielten die meisten Menschen sie ja schon für eine Halluzination.

„Ja, das ist nichts für dich. Dein Blutdruck würde wahrscheinlich abstürzen“, stimmte mir Emmi zu. „Der Kaktus da ist hübsch“, bemerkte sie dann und deutete auf den größten Kaktus in der Mitte des Herzens. Er warf Falten, ganz ähnlich wie Trudis Gesicht, sodass es aussah, als habe man ein paar stachelige grüne Chips gestapelt und dann aufgefächert.

„Oh, das ist ein Pachycereus marginatus cristata“, stellte ich überrascht fest. „Der ist sogar ziemlich selten. Ist ein Zaunkaktus. Kommt vor allem in Mexiko vor und ist außerdem der Kaktus des Jahres 2020.“

Emily schnaubte und verdrehte die Augen. „Du schläfst mit einem Pflanzenbuch unterm Kissen, oder?“

Nein, meistens lag es daneben, bis Josh es seufzend aus dem Bett warf.

„Er ist faszinierend, okay?“, wehrte ich sofort ab. „Er …“

Doch die anderen beiden würden niemals erfahren, was so faszinierend am Pachycereus marginatus cristata war. Denn in diesem Augenblick erklang ein ohrenbetäubendes Reißen. Dachziegel flogen vom Schuppen auf das Beet … und dann folgte etwas sehr viel Größeres. Ein schwarz-weißer Schemen rutschte vom Dach, segelte durch die Luft und landete mit einem fiesen Platschen und Knirschen auf den hübschen, jetzt zerquetschten Kakteen.

Keuchend schlug ich die Hände vor den Mund, während Emmi japsend einen Satz nach hinten machte und Trudi ein hohes „Oh“ ausstieß. Dann gab keiner von uns einen Ton von sich. Wir waren zu sehr damit beschäftigt, das anzustarren, was gerade vom Himmel gefallen war.

Denn es war ein Mann. In schwarzer Hose und weißem Hemd. Und ich war mir ziemlich sicher, dass er nicht mehr lebte. Was einerseits daran lag, dass er in ein Meer aus Kakteen gefallen war und keinen Schmerzenslaut von sich gegeben hatte – andererseits daran, dass ihm ein riesiger Korkenzieher im blutüberströmten Hals steckte.

„Ach du scheiße“, rutschte es mir heraus, während mein eigenes Blut mir in den Ohren rauschte. Wo zur Hölle war der Kerl hergekommen?!

Meine Hände fingen an zu zittern, während mein Blick zum Dach des Schuppens glitt, dem einige Schindeln fehlten.

„Hm. Das hat der Wetterbericht aber nicht angesagt“, bemerkte Trudi langsam.

„Ja“, antwortete ich mit unnormal hoher Stimme. „Auf den ist einfach kein Verlass.“

Emmi stieß einen hysterischen Lacher aus, der mir aus der Seele sprach. Sie hatte die Hände in den Haaren vergraben und starrte mit offenem Mund den Toten an. „Verbrannte Scheibe, das riecht übel!“ Emily würgte mehrfach, bevor sie hastig an die Dutzend Schritte zurückmachte.

„Verbrannte Scheibe?“, echote ich verwirrt.

Mir war klar, dass ich meine Lebensprioritäten noch einmal überdenken sollte. Denn toter Mann im Kaktusfeld kam definitiv vor den merkwürdigen Flüchen meiner Schwester, aber … verbrannte Scheibe? Emily hatte mehr anstößige Beleidigungen erfunden, als Johannes Gutenberg Bücher gedruckt. Also wiederholte ich: „Warum verbrannte Scheibe?“

„Lou, das Baby hat jetzt Ohren!“, erwiderte Emily ungläubig. „Wir müssen aufpassen, was wir sagen. Es soll erst im gehobenen Alter fluchen lernen. Mit sieben. So wie ich.“

„Die Leiche ist nicht echt, oder?“, schnitt Trudi ein. Die Einzige, die sich hier aufs Wesentliche zu konzentrieren schien.

Unglücklich sah ich sie an, die Lippen zusammengepresst. „Erfahrungsgemäß würde ich sagen: doch. Denn die meisten Leichen, die mir vor die Füße fallen, sind es leider.“
„Hm, da hast du auch wieder recht. Aber das Blut sieht nicht real aus. Das auf seinem Hemd, meine ich. Das an seinem Hals schon.“

Ich verengte die Augen und musste ihr recht geben. Viele Leute wären schreiend weggerannt, wäre ein toter Mann vor ihnen von einem Dach gefallen. Vor ein paar Jahren war ich auch noch viele Leute gewesen. Doch ein halbes Dutzend Tote später stand ich noch immer vor dem Kakteenbeet und beugte mich nun vorsichtig über den leblosen Körper. Dabei hielt ich den Atem an, denn Emilys Einschätzung von vorhin war ganz richtig: Die Leiche roch übel. Nicht nach Tod, sondern nach … Alkohol?

Stirnrunzelnd betrachtete ich das weiße Hemd des Toten, bevor ich zu seinem Hals und dann in sein Gesicht sah. Ich schätzte ihn auf Mitte vierzig. Er hatte eine Halbglatze und die Haare, die ihm noch nicht ausgefallen waren, hatten einen dunklen Braunton. Ja, sein Hals war übel zugerichtet, und auch wenn ich keine Expertin war, würde ich Korkenzieher in Halsschlagader als Todesursache bestimmen. Das Merkwürdige war nur, dass sein rotdurchtränkter Schulterbereich nicht zu der Farbe seines Blutes passte. Zusammen mit dem Alkoholgeruch bekam ich den Eindruck, dass sein Shirt nicht mit Blut, sondern mit Rotwein befleckt war. Überhaupt gab es erstaunlich wenig Blut. Die Wunde war sehr sauber. Nur ein paar verkrustete Striemen rannen den Hals hinab. Ein Mord mit einem so brutalen Gegenstand war normalerweise dreckiger. Gerade wenn die Halsschlagader involviert war.

Überrascht stellte ich fest, dass ich schon sehr viel schlimmere Leichen gesehen hatte! Die hier war geradezu harmlos. Ich wüsste nicht …

„Lou“, unterbrach Emily mit hoher, dünner Stimme meine Gedanken. „Sag mal … fehlen dem Kerl die Finger?“

„Was?“ Ich blinzelte hektisch, bevor mein Blick zu den Händen des Toten huschten.

Oh Gott. Meine Kehle zog sich enger. Ich nahm alles zurück. Denn Emmi hatte recht. Der Kerl hatte keine Finger mehr! Keinen einzigen. Und jetzt kam die Übelkeit doch. Ich wusste auch nicht, warum, aber abgetrennte Gliedmaßen trafen mich jedes Mal direkt in den Magen.

„Er wird nie wieder ein High Five geben können! Das ist mies vom Mörder“, entrüstete sich Trudi.

„Trudi, er ist tot!“, rief ich leicht hysterisch. „Er wird überhaupt gar nichts mehr tun können, außer dort zu liegen!“

„Na ja, klar, aber es erscheint mir schon unnötig brutal.“

Damit zumindest lag sie richtig. Die Hand auf die Lippen gepresst trat ich zurück und atmete gezielt durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus. Einen Krankenwagen zu rufen, kam mir äußerst unnötig vor. Aber zumindest die Polizei wäre doch mal was. Mit zitternden Fingern zog ich mein Handy aus der Tasche, doch bevor ich die Nummer wählen konnte, hörte ich Schritte.

„Hey, ich bin da!“, wehte eine atemlose Stimme über unsere Schultern. Josh. „Sorry für die Verspätung, ich …“ Er brach ab. Ich hatte eine Vermutung, warum.

Einige endlose Sekunden lang herrschte absolute Stille, in der ich mich zu Josh umwandte und ihn hilflos ansah.

Schließlich seufzte er schwer und presste die Lippen zusammen. „Du konntest einfach nicht auf mich warten, oder?“, murmelte er angespannt. „Du musstest allein mit der Kraft deiner Gedanken eine Leiche heraufbeschwören, um der Langeweile zu entkommen.“

Ich lächelte gequält. „Nun, wir haben wohl wortwörtlich die Zeit totgeschlagen … Heißt das jetzt, wir werden das Weingut nicht besichtigen?“

Kapitel 2

Ja, das hieß es.

Es dauerte keine halbe Stunde, da wimmelte es auf dem Hof von Uniformierten und kurz darauf folgten die ersten Schaulustigen vom Weingut. Es grenzte an ein Wunder, dass die Leute erst jetzt, da das Blaulicht zu sehen war, aus dem Fachwerkhaus strömten, um nachzusehen, was draußen vor sich ging. Denn Emily quiekte seit zwanzig Minuten mit hoher Stimme: „Oh Gott, mein Baby hat eine Leiche gesehen, mein Baby hat eine Leiche gesehen!“

Ich fand es irgendwie rührend, dass sie versuchte, ihrem ungeborenen Kind ein gutes Leben ohne Leichen und Schimpfwörter zu bieten. Vor allem wenn man bedachte, dass meine Schwester sonst eher zur unbekümmert rücksichtslosen Sorte Mensch gehörte. Doch es hatte einen Grund, dass meine Mutter unser Singstar-Spiel nach nur zwei Wochen aus Versehen im Restmüll verloren hatte. Denn Emmis Stimme bescherte mir eine Gänsehaut, wie keine Leiche es bisher hinbekommen hatte.

Trudi hingegen versuchte, sich an den Polizisten vorbei zurück zum Toten zu stehlen, weil sie so schlechte Augen habe und somit die doppelte Leichenzeit wie wir bekommen sollte.

Ich stand neben der singenden Emily, beide Hände auf meinen rumorenden Magen gepresst, und konzentrierte mich einfach nur aufs Atmen. Denn die Finger … die abgetrennten Finger …

„Du hyperventilierst mir hier gleich aber nicht, oder?“, fragte Josh besorgt, der die letzten dreißig Minuten beim Absperren geholfen und sich Notizen in den kleinen Block gemacht hatte, den er überall mit sich herumtrug.

Ich schüttelte den Kopf.

„Und dir ist auch nicht übel?“

Wieder schüttelte ich den Kopf.

„Gut. Denn du weißt, was ich von Erbrochenem an meinem Tatort halte.“

Ich nickte.

„Oh Mann“, flüsterte er, bevor er die Arme um mich legte und mich kurz an sich zog. „Es macht mir Angst, wenn du so still bist. Ich dachte, du wärst mittlerweile abgehärtet, was Leichen angeht?“

„Die Finger, Josh …“, wisperte ich und presste mein Gesicht in seine Halsbeuge. „Die Hände sind nur zwei blutige Stümpfe! Wer ist so eiskalt, nicht nur einen, sondern alle Finger abzutrennen? Und warum? Ich möchte nur wissen, warum!“

Sofort spürte ich, wie Joshs Körper sich anspannte. „Ich werde herausfinden, warum“, sagte er mit Nachdruck. „Ich kann es dir dann am Ende erzählen.“

„Mhm“, machte ich nur.

Er stöhnte. „Mir gefällt nicht, wohin diese Konversation führen wird, also beende ich sie“, beschloss er, küsste mich auf den Schopf, löste sich von mir … und zog die Augenbrauen zusammen. „Deine Haare riechen komisch“, stellte er fest.

Ungläubig sah ich ihn an. „Nicht du auch noch.“

„Ha!“, machte Emily, die ihr gequietschtes Mantra sofort abgebrochen hatte, und deutete mit ihrem Finger auf mich. „Hab ich doch gesagt. Sie hat Hibiskusblüten-Shampoo ausprobiert, Josh. Ich glaube, nur um uns zu quälen.“

„Hibiskusblüte?“, sagte er irritiert. „Was war falsch an Grüner Apfel?“

Emily grinste. „Meine Worte.“

Stöhnend legte ich mir eine Hand über die Augen. „Hallo, da vorn liegt ein Toter! Habt ihr nichts Besseres zu bereden?“

„Ah, doch. Jetzt, da du es sagst“, meinte Josh gedehnt und sah sich unzufrieden auf dem Platz um, der sich langsam, aber sicher mit neugierigen Sensationsgaffern füllte. Allerdings hatte noch keiner schockiert aufgeschrien. Also kannten sie den Toten entweder nicht oder hatten ihm den Tod gewünscht.

Josh räusperte sich vernehmlich, bevor er laut rief: „Okay, alle, die nicht diesem Weingut angehören oder eine Uniform tragen, gehen jetzt. Und wer zur Hölle trägt hier die Verantwortung?“

„Ich wette auf sie dort“, flüsterte ich und deutete auf eine groß gewachsene Frau mit grauem Bob und schwarz-weißem Businesskostüm, deren herrische Stimme sich jetzt zu dem Gewisper der Umherstehenden gesellte.

„Was in Gottes Namen ist hier los? Warum steht ihr hier alle herum? Emil, warum bist du nicht bei der Arbeit?“

„Alle sind nach draußen geströmt und die Polizei ist da, Frau König“, antwortete ein junger Mann mit Mäusegesicht, der unter dem Banner stand und den Hals reckte, um über die Schultern der Polizisten zu sehen, die den Tatort umringten.

„Polizei?“, echote sie.

„Mein Einsatz“, murmelte Josh, bevor er sich durch die Menge in ihre Richtung drängte. Leider sprach er mit gesenkter Stimme, als er sie erreichte, sodass ich nicht hören konnte, was er sagte.

Doch die Frau wurde sichtlich blass und ihr Mitarbeiter starrte Josh mit offenem Mund an. Er trug ein weißes Hemd und eine schwarze Anzughose … die gleiche Montur wie das Opfer.

War der tote Mitarbeiter hier gewesen?

„Je länger ich darüber nachdenke, Lou, desto mehr komme ich zu dem Schluss, dass wir gerade noch glimpflich davongekommen sind“, quatschte mich Trudi aufgeregt von der Seite an.

„Wovon redest du?“, fragte ich abwesend, noch immer auf das Gesicht von Frau König konzentriert, die jetzt zu den Polizisten hinübersah, die den Tatort absperrten und die Spurensicherung durchließen. Sie kannte den Toten, oder?

„Na ja, der blöde Tote hätte auf uns drauf fallen und uns ebenfalls umbringen können!“, ergänzte Trudi.

Ich seufzte leise. „Ich bin mir sicher, dass er nicht absichtlich gefallen ist, Trudi“, bemerkte ich. Ebenso wie ich mir sicher war, dass auch der oder die Mörderin nicht gewollt hatte, dass die Leiche von uns gefunden wurde.

Denn sie war versteckt gewesen. Hinter dem Türmchen auf dem Dach des Schuppens. Wir hätten sie übersehen, wenn sie uns nicht direkt vor unsere Füße gefallen wäre. Und ich konnte mir nicht vorstellen, dass der Täter es darauf angelegt hatte, einen Gast des Weinguts zu erschrecken. Nein, viel eher wirkte es, als habe er sie dort nur aufbewahrt. Bevor er … was mit ihr tat?

Ich spürte ein vertrautes Kribbeln in meiner Brust, das manche mit Verliebtsein verglichen hätten oder auch dem Gefühl, das mit dem Release einer neuen Staffel ihrer Lieblingsserie einherging. Doch ich wusste es besser. Das Gefühl hatte nichts mit Josh oder Netflix zu tun. Das Gefühl bestand aus Adrenalin und Vorfreude. Pure, aufgeregte Erwartung. Weil sich ein neues Geheimnis vor mir auftat, das nur darauf wartete, gelüftet zu werden. Und es war definitiv besser als die beklemmende Enge, die ich spürte, wenn ich daran dachte, eine Hochzeit planen zu müssen.

Oje. Ich würde wieder versuchen, einen Mörder zu fangen. Und Josh würde wieder einen halben Herzinfarkt erleiden. Aber hey, er wusste, auf was er sich mit mir einließ!

„Ach, schon schade, dass wir nicht einmal das Innere des Weinguts gesehen haben“, fuhr Trudi fort, so als führe sie Small Talk auf einer Geburtstagsparty, nicht an einem Tatort. „Ich wette, die Räumlichkeiten sind richtig hübsch. Die Bilder vom Weinkeller, die Herr Google mir gezeigt hat, waren beeindruckend!“

Ich nickte langsam und blickte zu dem Schild unter dem Banner, auf dem für morgen Nachmittag eine Weinprobe angekündigt wurde. „Na ja, nur weil wir die Räumlichkeiten heute nicht sehen, heißt das ja nicht, dass wir es nie tun werden“, sagte ich vage und wippte auf meine Hacken zurück. „Ich meine: Die Location ist toll. Definitiv noch im Rennen für die Hochzeit.“

„Obwohl jemand hier umgebracht wurde?“, fragte Trudi nachdenklich.

„Ach, wenn ich keinen Platz mehr besuchen würde, an dem ich eine Leiche gefunden habe, könnte ich in Köln ja bald nirgendwo mehr hingehen“, meinte ich leichthin und winkte ab.

„Auch wieder wahr.“ Verständnisvoll nickte Trudi, sodass ihr Sonnenhut auf ihrem Kopf wippte.

Ich stimmte in ihr Nicken mit ein, während ich Josh weiterhin auf der anderen Seite des Rondells beobachtete. Weitere Personen waren zu ihrer kleinen Gruppe hinzugestoßen. Ein etwas rundlicher Mann um die sechzig mit beeindruckendem schwarz-grauen Weihnachtsmannbart, der jetzt einen Arm um die kalkweiße Frau König legte. Dann ein geleckt aussehender junger Kerl im Anzug, der die Haare zurückgegelt hatte und im Lexikon sicherlich unter Klischee-BWLer abgebildet war. Und schließlich eine junge Frau Mitte zwanzig in hübschem Blumenkleid, die irritiert zwischen allen hin und her sah … und dann in Tränen ausbrach.

Okay, jetzt stand außer Frage, dass sie den Toten gekannt hatten.

Leider war ich zu schlecht im Lippenlesen, um erkennen zu können, was sie sagten. Die junge Blumenkleid-Frau schluchzte mittlerweile hinter vorgehaltener Hand, der BWLer und Frau König hatten einen stoischen Gesichtsausdruck aufgesetzt, während der Weihnachtsmann panisch zwischen Rispo und Frau König hin- und hersah. Mäusegesicht, der so gekleidet war wie das Opfer, war so bleich, dass ich Angst hatte, er könne in Ohnmacht fallen. Aber was erzählten sie Rispo da? Konnten sie nicht ein wenig lauter sprechen?

Gott, das war frustrierend. Wenn ich sie in meinem Kopf weiter nur mit Spitznamen ansprach, baute ich mir bald noch mein eigenes Cluedo-Spiel.

Der Kellner ermordet im Kakteenbeet mit einem Korkenzieher von Frau Blumenkleid.

Ein paar Namen wären doch ganz nett, oder? Vielleicht konnte ich mich ja etwas näher heranschleichen?

Ich wollte mich gerade in Bewegung setzen, als Josh in Richtung des Hauses gestikulierte, die Gruppe nickte und dann den gewundenen Kiesweg zum Fachwerkgebäude hinauf verschwand.

Oh, Mist, sie sprachen drinnen weiter. Das war schlecht. Josh würde mich nicht beim Gespräch dabei sein lassen und allein mit ihnen sprechen konnte ich auch nicht ohne Vorwand.

Aber du hast einen Vorwand, flüsterte eine kleine, unschuldige Stimme in meinem Kopf, die mich an Emilys erinnerte. Morgen Nachmittag. Die Weinprobe.

Da hatte mein Unterbewusstsein natürlich recht! Und als Josh auf mich zukam, statt den anderen ins Haus zu folgen, setzte ich meine freundlichste, überhaupt nicht neugierige Miene auf.

„Was ist mit deinem Gesicht los?“, wollte Josh skeptisch wissen. „Ist dir doch noch übel geworden?“

Okay, den Ausdruck musste ich zu Hause noch mal vorm Spiegel üben. „Nichts“, sagte ich hastig und hob die Schultern. „Ich habe mich gerade nur gefragt … Was sagst du zur Location?“

„Du meinst bis auf den Toten, der das Panorama zerstört?“, wollte er trocken wissen.

Ich nickte. „Na, der wird ja hoffentlich entfernt. Und ich weiß, es ist jetzt wahrscheinlich nicht der richtige Zeitpunkt, aber wir sind ja eigentlich hier, um einen Ort zu finden, an dem unserer Hochzeit stattfinden kann … und ich finde es hier echt hübsch. Ich hab gehört, sie machen die Trauung sogar hier draußen, wenn man will. Oder in ihrem Gewächshaus.“

Josh verengte die Augen und sah mich misstrauisch an. „Warum redest du über unsere Hochzeit, obwohl ich genau weiß, dass du mich am liebsten mit Fragen zum Fall löchern würdest?“

Ach, scheiße. Manchmal vergaß ich, wie gut der fesche Kommissar Joshua Rispo mich kannte. „Na ja, ich ordne meine Prioritäten eben neu“, meinte ich abwehrend.

Er schnaubte. „Deine erste Priorität ist es immer, deine Nase in fremde Angelegenheiten zu stecken. Dann kommt Schokolade, dann deine Familie und ich … und dann, ganz weit hinten, kurz vor Fußball und Dart, kommen Hochzeitdetails.“

Das hatte er akkurat zusammengefasst. „Blödsinn. Ich möchte, dass wir eine schöne Feier haben, und das Gewächshaus, das sie hier haben …“

„Wir werden nicht in einem Gewächshaus heiraten!“, unterbrach er mich sofort. „Dann können wir ja gleich unser Wohnzimmer nehmen.“

Ich runzelte die Stirn. „Hm …“

„Nein, Lou!“

„Aber das wäre günstig! Und wir könnten mehr Geld für den Kuchen ausgeben.“

Josh schnaubte und ein Lächeln zog an seinen Mundwinkeln. „Du hast den Sinn von Romantik eines Wackelpuddings. Und das kommt von mir! Dem Kerl, der dir zum Valentinstag ein High Five geschenkt hat.“
Ich grinste. „Das hat mir viel bedeutet. Du schlägst sonst mit niemandem außer deiner Hantel ein.“

Er nickte und verengte wieder die Augen.

„Was ist?“, wollte ich wissen.

„Ich warte.“

„Worauf?“

„Darauf, dass du mir erklärst, dass du in diesem Mordfall recherchieren willst.“

Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen stieg. „Na ja … also, man muss jetzt kein Kriminalkommissar sein, um zu wissen, dass ich natürlich im Korkenzieher-Mord ermitteln werde.“

„Och, scheiße, Lou, du hast schon einen Titel für den Mord?“, sagte er genervt und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augen.

„Josh, der Tote ist mir wortwörtlich vor die Füße gefallen! Er hat mich quasi angebettelt, seinen Fall zu übernehmen.“

„Der Tote konnte überhaupt nichts von sich geben – denn er ist tot!“

„Es war mehr seine Körpersprache.“

„Louisa …“

„Ich bin wirklich gestresst, Josh. Dieses ganze Hochzeitszeug macht mich supernervös. Da wäre so eine Leiche eine nette Ablenkung.“

„Die Hochzeitsvorbereitungen sind stressiger als das Leben eines Mordopfers zu durchwühlen?“, rief er ungläubig.

„Na ja …“ Ich zuckte schuldbewusst die Achseln. „Irgendwie ist da was falsch verknüpft in meinem Kopf … Das machen Leichen wohl mit dem Gehirn, wenn sie im halben Dutzend kommen.“

„Oh, komm schon, Lou.“ Joshs Stimme wurde gefährlich leise. „Du magst den Nervenkitzel! Deswegen willst du wieder recherchieren.“

Jaja, das auch. „Josh, weißt du, ich müsste ja nicht einmal allein ermitteln. Du könntest mir helfen.“

Angesäuert sah er mich an. „Du meinst, ich kann dabei helfen, meinen Mordfall aufzuklären? Das ist aber großzügig von dir.“

„Ich weiß“, sagte ich rasch und lächelte. „Also, da vorne ist ein Schild, das zur Weinprobe einlädt. Wir könnten uns als verlobtes Pärchen ausgeben, das sich die Räumlichkeiten mal ansehen will, weil wir sie für unsere Hochzeit in Betracht ziehen.“

„Lou“, knurrte Josh. „Wir sind ein verlobtes Pärchen, das eine Location sucht.“

„Oh, stimmt.“ Begeistert sah ich ihn an. „Dann ist das ja noch besser.“

„Nein, ist es nicht! Denn du bist –“

„Keine Polizistin, jaja. Weißt du, manchmal habe ich das Gefühl, unsere Gespräche wiederholen sich.“

„Du hast nicht nur das Gefühl“, bemerkte er düster. „Also, pass auf, auf die Gefahr hin, mich auf ein Neues zu wiederholen: Es gibt ein Wir, wenn es um alles außer einen Mord geht. Aber sobald ein toter Mensch im Spiel ist, gibt es ein rationales Ich, das dir sagt, du solltest es lieber lassen, und ein durchgeknalltes Du, das mich ignoriert.“

„Na, dann ist ja wenigstens unsere Rollenverteilung klar.“

Er stöhnte leise. „Dir macht es ein bisschen Spaß, mich zur Weißglut zu bringen, oder?“

„Manchmal mehr als ein bisschen“, gab ich zu und nahm seine Hand. Das besänftigte ihn beizeiten.

Er seufzte schwer, verflocht seine Finger jedoch mit meinen. „Gut, wir haben einen Deal. Du erinnerst dich?“

Oh ja. Wenn ich ermittelte, musste ich ihm Bescheid geben und ihn auf dem Laufenden halten.

„Okay, dann gebe ich dir jetzt Bescheid, dass ich vielleicht ein bisschen herumfragen werde.“

„Wunderbar“, sagte er, seine Stimme so trocken wie das Blut am Hals des Opfers.

„Was die Sache mit der Weinprobe angeht …“, fing ich an.

„Nein“, sagte er hart. „Du wirst hier nicht abends allein mit einer Horde potenzieller Mörder herumhängen und deine überhaupt nicht subtilen, entnervenden Fragen stellen! Nicht ohne polizeiliche Aufsicht.“

„Die Weinprobe ist nachmittags – und du willst nicht meine polizeiliche Aufsicht sein?“, fragte ich unschuldig.

„Nein! Ich möchte überhaupt keine Aufsicht sein müssen. Außerdem wissen hier alle, dass ich Polizist bin, sie werden mir nicht mehr erzählen, nur weil ich ihren Wein probiere.“

Mhm, da war was Wahres dran. Überhaupt erzählten Leute Rispo nur ungern mehr als sie mussten, da seine Ausstrahlung eher Ich bin auch ein Korkenziehermörder! anstelle von Ich bin ein freundlicher Kummerkasten schrie.

Aber ich wollte zu dieser Weinprobe! Mich verbanden die Leute nicht mit der Polizei, mir erzählten sie gerne etwas. Weil ich eines dieser Gesichter hatte, das niemand als bedrohlich einstufte. Wie nannte meine Mutter es immer? Ach ja: durchschnittlich.

Die Wahrheit war simpel: Da lag eine Leiche. Sie war vom Leichengott für mich vorherbestimmt. Ich war gestresst und wollte etwas Besseres zu tun haben, als mir über Farbmuster und Blumenmädchenkleider Gedanken zu machen, mit denen meine Mutter mich seit Wochen nervte. Es war, als hätte der Himmel die Leiche geschickt. Und mir war die Ironie dessen bewusst, ja. Aber ich hatte es einfach im Gefühl, dass das hier mein Fall werden sollte. Ebenso wie ich im Gefühl hatte, dass mir die Weinprobe morgen dabei helfen könnte, mehr über den Toten und seinen Mord herauszufinden.

Aber Josh und ich hatten diese Abmachung und ich hatte ihm versprochen, nicht an Orten zu recherchieren, an denen er mir einen Riegel vorschob …

Moment. Eigentlich hatte er gar keinen Riegel vorgeschoben. Viel eher hatte er die Tür nur angelehnt.

Polizeiliche Aufsicht. Ich durfte nicht ohne polizeiliche Aufsicht zur Weinprobe. Oh, Gott segne die Hintertürchen der deutschen Sprache!

„Schön“, sagte ich freundlich. „Dann werden wir beide hier morgen eben nicht ermitteln. Ich glaube, dann fahre ich jetzt.“

„Du kannst nicht fahren, wir brauchen deine Aussage“, meinte er kopfschüttelnd. „Es ist, als wärst du noch nie in einen Tatort gestolpert.“

Ich seufzte und strich mir die Haare aus der Stirn. „Ach ja. Ich vergaß. Okay. Wenn mich wer braucht, ich stehe da hinten.“ Ich deutete auf den Parkplatz, auf dem mein dunkelgrüner Passat deutlich zu erkennen war. Es war das einzige Auto, das eine rote Motorhaube besaß, die absolut nicht zum Rest des Wagens passte.

„Gut. Ich bin drinnen, Leute befragen.“
„In Ordnung.“ Ich drückte seine Finger. „Ich bleibe da stehen, warte auf einen Uniformierten, der meine Aussage aufnimmt, und mache nichts.“

„Du warst noch nie so sexy“, wisperte er ernst an meinem Ohr und küsste mich sacht dahinter, bevor er mich losließ und über die Einfahrt in Richtung des Hauses schritt.

Ich sah ihm einige Augenblicke lang nach, bevor ich zum Passat schlenderte und mich gegen die Motorhaube lehnte, um nachzudenken. Ich hatte die Wahrheit gesagt. Eigentlich tat ich nichts … außer mir Worte zurechtzulegen. Denn ich hatte einen Plan. Ich würde mir eine polizeiliche Aufsichtsperson zulegen – und ich kannte auch schon genau den richtigen Kandidaten …