Leseprobe Mordseegrab

1. Willkommen zu Hause

„Sie sind nicht von hier, oder?“ Die blonde Frau blinzelt ihn an und lächelt.

„Nein, ich …“ Waldauf weiß nicht, was er antworten soll. Die Sonne strahlt durch die zerrissene Wolkendecke, und der kühle Westwind bringt Feuchtigkeit und den Salzgeschmack des Meeres mit sich.

„Tourist?“ Die Frau neigt den Kopf.

Waldaufs Blick fällt auf ihre Füße. Sie trägt keine Schuhe, und der Schlamm an ihren Knöcheln beginnt allmählich zu trocknen. „Nein, tatsächlich …“ Waldauf dreht sich zu dem Gebäude um. Das Dach hat vermutlich schon bessere Tage gesehen, und die hölzernen Fensterläden sind farblos und spröde. Die Büsche in dem verwilderten Garten blühen in den unterschiedlichsten Schattierungen von Rosa und Weiß. Eine der Scheunen ist beinahe vollständig mit Efeu überwuchert.

„Tatsächlich wohne ich hier.“

Die wasserblauen Augen der Frau leuchten in ihrem Gesicht, das erste Fältchen zieren. Sie mustert den Bauernhof, Waldauf, seine Koffer und Umzugskisten.

„Über den Sommer?“, fragt sie.

„Nein … für längere Zeit.“ Waldauf reibt sich den Nacken. „Ich habe den Hof gekauft. Bin gerade erst eingezogen.“

„Na dann“, sagt sie und grinst noch breiter. „Willkommen zu Hause.“

Zu Hause. Waldauf ist erstaunt. So hat er noch nie darüber gedacht. Auszeit. Ruhe. Zuflucht. Das sind Begriffe, mit denen sein Gehirn arbeitet. Zu Hause ist ihm fremd. Ein Konzept wie eine Erinnerung aus frühen Kindheitstagen. Etwas, das man mit dem Erwachsenwerden ablegt, wie das Fahren mit Stützrädern oder die Sorge um unreine Haut.

Er ist gerade damit beschäftigt gewesen, die ersten Kisten ins Haus zu tragen, hat Fenster und Türen geöffnet, um den staubigen und abgestandenen Geruch aus den alten Gemäuern zu vertreiben. Er stemmt die Hände in die Hüften und fühlt die Schweißperlen auf seiner Stirn. Die Frau steht da und wartet. Vermutlich sollte er etwas antworten.

„Ja, danke.“ Er deutet auf ihre Füße. „Sie waren im Watt?“

Sie blickt an sich herab. „Ne, ich lauf immer so rum.“

Waldauf weiß nicht, ob sie ihn veralbert oder nicht, blickt nach links und rechts die Straße entlang.

„Noch etwa zwei Kilometer in diese Richtung.“ Sie deutet nach Osten. Sie spricht weiter, bevor Waldauf nachfragen kann: „Dort wohne ich. Wir sind praktisch Nachbarn.“ Sie wendet sich zum Gehen und schaut ihn nochmals an. „Ich heiße übrigens Anke.“

„Sehr erfreut. Waldauf“, sagt Waldauf, der sich an die Verwendung seines Vornamens erst noch gewöhnen muss. „Ähm, Lukas.“

Sie rümpft die Nase ein wenig, während sie nachdenkt. Waldauf findet, es lässt sie kokett aussehen.

„Ja, dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag, Herr Nachbar.“

„Danke“, entgegnet Waldauf, während er in Gedanken hinzufügt: Das ist er bereits.

Er sieht ihr zu, wie sie davongeht und ihre leuchtend gelbe Regenjacke in immer weitere Ferne rückt. Waldauf schüttelt den Kopf, als seine Erstarrung von ihm ablässt. „Nein“, sagt er zu sich selbst. „Nein, nein, nein.“

Dann wirft er doch noch einmal einen Blick die Straße entlang. Er packt eine Umzugskiste – die schwerste, die er finden kann –, stemmt sie hoch und bringt sie ins Haus. Den restlichen Vormittag verbringt er damit, zu schuften und zu schwitzen – und es fühlt sich gut an, obwohl ihn die Atemnot immer wieder zu einer Pause zwingt und die Schmerzen in seiner Schulter hämmern. Er holt sich ein Glas Wasser aus der Küche – seiner Küche – und setzt sich auf die Stufen, die auf die Veranda führen. Mit seiner Hand betastet er den kühlen Stein, über dem eine dünne Schicht Staub liegt.

Der Hof ist nicht günstig gewesen, dennoch wird er jede Menge Arbeit hineinstecken müssen, um wieder alles in Schuss zu bringen. Aber er hat ja Zeit, nicht wahr? Wenn er etwas hat, dann Zeit.

 

Bis es Abend ist, hat Waldauf alles ins Haus gebracht und macht sich daran, den neu gekauften Bettrahmen zusammenzuschrauben. Die wesentlichsten und dringendsten Dinge hat er geschafft. Es gibt einen funktionierenden Kühlschrank, Herd, Klopapier. Selbst die Dusche funktioniert. Nachdem er geduscht hat, setzt er sich wieder auf die Veranda. Es ist Mai und abends immer noch sehr kühl. Aus irgendeinem Grund findet er es angenehmer, das Licht nicht anzuschalten. So sitzt er in der Dunkelheit, und bis auf das Rauschen des Meeres und die gelegentlichen Rufe einiger Silbermöwen herrscht Stille. Waldauf ist mit sich und seinen Gedanken allein. Eine Situation, die er zutiefst herbeigesehnt und zugleich gefürchtet hat. Aber nur so funktioniert Heilung, nicht wahr? Er schließt die Augen und verharrt, bis die Kälte in seinen Fingern ihn dazu zwingt, ins Haus zu gehen.

Dort liegt nun die neue Matratze auf dem neuen Bettgestell. Waldauf kramt ein Buch aus einer der Kisten und beschließt, am nächsten Vormittag den Schuppen in Augenschein zu nehmen. Nicht weil es das Wichtigste am ganzen Bauernhof wäre, eher im Gegenteil, weil es nicht dringend und nicht wichtig ist. Er kann es in seinem eigenen Tempo tun oder auch gänzlich lassen, und niemand wäre ihm böse. Der Schuppen ist der letzte und vermutlich unwichtigste Teil des gesamten Hofes. Aber gerade deswegen gibt es dort vielleicht die spannendsten Dinge zu entdecken, während der Großteil seiner Kisten unausgepackt im Haus lagert.

Der Abend ist hier so völlig anders als in der Stadt, denkt Waldauf und lauscht in die Stille hinein. Draußen gibt es keine Straßenbeleuchtung. Er schaltet nun doch eine kleine Nachttischleuchte ein, die mangels vorhandener Möbel direkt auf dem Fußboden steht, und beginnt in seinem neu erworbenen Buch zu blättern. Einem Reiseführer über die Nordsee und die Besonderheiten des Wattenmeers. Waldauf muss lachen.

 

Die Morgensonne flutet das Zimmer mit strahlendem Orange. Waldaufs Nacken schmerzt, und er hat das Gefühl, kaum geschlafen zu haben. So geht es ihm immer, wenn er in einem fremden Bett schläft, wobei dieses Bett nun sein eigenes ist.

Er setzt sich auf und wartet, bis das taube Gefühl in seiner Schulter nachlässt. Er erhebt sich, stakst zu den Umzugskisten, öffnet jene, die mit dem Wort „Küche“ beschriftet ist, und hebt die Kaffeemaschine heraus. Eine alte Filtermaschine, nichts, was seine Ex-Kollegen jemals mit dem Begriff Kaffee in Verbindung gebracht hätten. Dennoch, Waldauf ist Filterkaffee immer der liebste gewesen. Vermutlich ein Tick aus seiner Kindheit, denkt er. Wenn sich seine Mutter und seine Großmutter zusammengesetzt haben, um zu plaudern, haben sie Filterkaffee getrunken. Das ist immer so gewesen. Heutzutage kaufen sich alle diese neumodischen High-Tech-Geräte mit WLAN-Anbindung, eigener Handy-App und 117 programmierbaren und speicherbaren Funktionen. Und all das zum läppischen Preis eines Gebrauchtwagens. Waldaufs Maschine hat eine Taste. Ein. Aus. Einschalten, und sie macht Kaffee, so einfach ist das.

Als der Duft nach frischem Kaffee den großen Wohnraum erfüllt, gießt er sich eine Tasse ein und fragt sich, wie spät es wohl ist. Dann entscheidet er, dass es egal ist, schlüpft in seine Schuhe, schnappt sich Tasse und Reiseführer und setzt sich erneut auf die Treppen seiner Terrasse. Schon jetzt weiß er, dass dies sein liebster Platz auf dem ganzen Hof sein wird.

Waldauf sitzt, trinkt Kaffee, liest und genießt die wärmenden Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht. An den bunt blühenden Rhododendronsträuchern herrscht ein reges Kommen und Gehen, während sich Bienen, Hummeln und Schmetterlinge zum gemeinschaftlichen Frühstück einfinden. Waldauf ist fasziniert von der Vielfalt unterschiedlicher Farben und Formen. Dinge, die es in der Stadt so nicht gibt oder die er vielleicht nur nie wahrgenommen hat. Er weiß es nicht. Möglicherweise ist er zu beschäftigt gewesen, immer viel zu beschäftigt. Während er die Insekten beobachtet und grübelt, nähern sich Schritte von der Straße her. Nackte, tastende Schritte.

„Guten Morgen, Nachbar“, sagt Anke, die wieder dieselbe gelbe Jacke trägt. „Und? Haben Sie gut geschlafen?“

Waldauf schüttelt den Kopf und antwortet: „Guten Morgen, Nachbarin.“

Sie lacht kurz auf, und er ergänzt mit einem Fingerzeig auf ihre Füße: „Sie laufen ja wirklich immer so rum.“

„Sag ich ja.“

„Tasse Kaffee?“

„Nein, danke.“ Anke betrachtet ebenfalls die Sträucher. „Ich bin eher die Teetrinkerin. Schön haben Sie’s hier.“

Waldauf sieht sich um, wie um sich selbst nochmals zu vergewissern. „Ja, nicht? Bin mal gespannt, ob das Dach hält, wenn der erste Regen kommt.“

Ankes Beine stecken in knappen Shorts, darüber trägt sie ihre Regenjacke. Die Hände ruhen in den Jackentaschen. „Ach, Sie werden’s schon rausfinden“, sagt sie und grinst. „Sind Sie handwerklich begabt?“

Waldauf hält die Hände so, dass beide Daumen nach rechts zeigen.

„Geht so.“

Anke lacht wieder – ein kurzes, markantes „Haha“ –, und Waldauf erkennt, dass er aufpassen muss, sonst würde dieses Lachen sein Untergang sein. Er hat sich geschworen, sein Leben nicht wieder kompliziert werden zu lassen. Nicht umsonst hat er sich den abgeschiedensten Ort ausgesucht, den er hat finden können.

„Machen Sie das jeden Tag?“, fragt er nach einiger Zeit. „Wandern?“

„Ne, nur wenn ich Lust hab. Und wenn das Wetter stimmt.“ Sie hebt noch einmal den Kopf, wie um ihr Umfeld in sich aufzusaugen. „Na dann, bis morgen“, sagt sie beinahe so, als wäre es bereits beschlossene Sache.

„Ja“, erwidert Waldauf, während er ihr beim Davongehen zusieht. „Bis morgen.“ Er bemerkt ein Zucken um seine Mundwinkel, es fühlt sich merkwürdig und ungewohnt an. Seine Ex-Kollegen hätten ihn vermutlich auf der Stelle erschossen, ausgestopft und in ein Museum verfrachtet, um diesen seltensten aller Augenblicke für die Ewigkeit festzuhalten. Waldauf lächelt. Gestattet er sich tatsächlich, glücklich zu sein? Wie kann er? Waldaufs Mundwinkel fallen nach unten.

Tja, die Scheune, denkt er, und es fällt ihm schwer, Freude dabei zu empfinden. Er leert die Tasse, erhebt sich und klopft sich den Staub vom Hosenboden. „Heute ist Scheunentag.“

2. Danis Teeladen

Die folgenden Tage verbringt Waldauf damit, sich weiter einzurichten. Er hat den Schuppen erkundet, in dem viele alte Möbel, rostiges Werkzeug und Dinge lagern, die er noch nicht zuordnen kann, darunter ein hölzerner Wagen, dem die Räder fehlen und der früher Gott weiß wozu gedient hat. Anke ist am nächsten Morgen wiedergekommen. Sie hat ihm eine große Muschel geschenkt, die sie beim Wandern gefunden hat. Eine Sandklaffmuschel, deren Schalen beinahe so groß waren wie ihre Handfläche.

„Große sind selten“, hat sie gesagt. „Vielleicht bringt sie Glück.“

„Danke“, hat Waldauf geantwortet.

Jetzt liegt die Muschel auf seinem Fensterbrett, das von der Küchenspüle aus den hinteren Teil des Gartens überblickt. Der sonnigste Platz im Haus.

Dann ist Anke drei Tage lang nicht vorbeigekommen, und Waldauf treibt es nach draußen. Er hat ohnehin einige Erledigungen zu machen. Die wenigen Lebensmittel, die er bei seinem Einzug mitgebracht hat, sind ihm ausgegangen, und er hat noch keine Waschmaschine. Es ist Montag, und Waldauf hat sich vorgenommen, ebenfalls ein wenig zu wandern. Ja, er wird langsamer gehen müssen, aber bis nach Neuharlingersiel wird er es wohl irgendwie schaffen. Der kleine Ort direkt an der Nordseeküste ist keine fünf Kilometer entfernt, und irgendeine Art von Bäckerei oder Lebensmittelladen wird er auf dem Weg dorthin bestimmt finden. Dann kann er sich auch gleich erkundigen, wie er zum nächsten Elektronikladen kommt.

Waldauf wandert den schmalen Weg entlang. Auf einer nahen Wiese grasen Schafe und würdigen ihn keines Blickes. Im Norden erstreckt sich das Watt. Eine schlammige, weite Ebene, die ihn schon immer fasziniert hat. Er fixiert einen Punkt am Horizont zwischen den flachen Inseln hindurch, die einige Kilometer vor der Küste liegen. Wenn ich bis dorthin laufen würde, denkt er, was wäre dann? Und dann, ein paar Kilometer weiter, was wäre dort? Was würde ich sehen?

Eine endlose Weite, die einmal Meer ist und einmal nicht, je nach Laune der Gezeiten. Waldauf stellt fest, dass er nicht weiß, wie es sich anfühlt, dieses Watt. Er verlässt den Weg, wandert ein Stück nach unten, bis sich die letzten Grashalme im Schlamm verlieren. Die schmatzenden Laute seiner Schritte auf dem weicher werdenden Untergrund amüsieren ihn. Mahlzeit, denkt er, als sich plötzlich einer seiner Schuhe – es sind seine gewöhnlichen Straßenschuhe aus Leder, die er immer trägt – im Schlamm festfrisst. Waldauf strauchelt, sein Bein will nicht freikommen, und dann, mit einem Ruck, gelingt es doch, und Waldauf kippt rücklings in den Matsch. Zumindest befürchtet er das. Er lehnt sich gefährlich nach hinten und lässt sich dann zur Sicherheit nach vorn fallen und landet auf den Knien. Was folgt, ist blankes Grauen. Die eiskalte, schleimige Masse heftet sich an seine Beine, sickert durch das Gewebe seiner Kleidung, bis sie, sozusagen Haut auf Haut, an ihm klebt. Sie umarmt ihn, zieht ihn nach unten. Waldauf windet sich und macht es dadurch nur noch schlimmer. Wenn er sein Gewicht verlagert, kann er vielleicht ein Bein freibekommen. Er zieht. Der Matsch protestiert. Der Kompromiss, auf den sie sich einigen: Waldauf bekommt sein Bein, ein nackter Fuß kommt zum Vorschein, das Watt behält den Schuh. Waldauf geht erneut auf die Knie. Er schnauft, blinzelt Schweißtropfen weg und fasst bis zum Ellenbogen in das Loch hinein, das seinen Schuh beherbergt.

Minuten später steht er wieder auf festem Boden. Er hat sich zu dem Weg zurückgerettet, und seine Lunge fühlt sich an, als hätte sie sich auf die Größe eines Golfballs zusammengezogen. Er bekommt kaum Luft. Sterne tanzen vor seinen Augen. Waldauf hält die Schuhe in der Hand, blickt auf seine nackten, lichtscheuen Füße hinab. Blasse, höhlenbewohnende Organismen, die sich allein mithilfe ihres Tastsinns orientieren. Sie sind in dieser fremden Umgebung völlig fehl am Platz. Er schlägt die beschmutzten Hosenbeine hoch, aber seine matschverschmierten Hände und Schuhe lassen sich nicht verbergen. Er marschiert weiter, und das Watt scheint einen Teil seiner magischen Faszination fürs Erste verloren zu haben.

 

Waldauf schafft es schließlich bis Neuharlingersiel, der beschaulichen Tausendseelengemeinschaft, die sich hier vor Hunderten von Jahren niedergelassen hat und immer noch siedelt. Auch wenn sie sich mittlerweile mehr vom Tourismus als von der Landwirtschaft und dem Fischfang erhält, ist die Aura des Ortes geprägt von dem kleinen Fischereihafen. Es riecht nach Fisch und frisch gebackenem Brot. Waldauf bekommt Hunger, obwohl es noch nicht einmal zehn Uhr vormittags ist. Er kauft sich ein Fischbrötchen an einem Stand direkt am Hafen, isst und verschnauft. Er beobachtet die Menschen, den Hafen und die Seevögel, die auf Holzpfählen sitzen. Auf jedem Pfahl genau ein Vogel, so als ob man sie im Baumarkt ausschließlich im attraktiven Kombiangebot bekäme. Sie benötigen einen Pfahl für Ihren Hafen? Hier, nehmen Sie diese praktische Möwe gleich mit dazu. Kostet praktisch nichts.

Waldauf überlegt, was er alles einkaufen will, und sein Blick fällt auf das Schild eines der kleinen Läden, die sich in einem Bogen um das Hafenbecken reihen. „Danis Teeladen” steht darauf zu lesen. Waldauf hadert. Er verabschiedet sich von dem Betreiber der Fischbude und beschließt, einmal einen Blick zu riskieren. Was kann schon schiefgehen? Über 150 Sorten Tee, verkündet ein Schild vor dem Laden. Waldauf ist eingeschüchtert. Tee ist für ihn immer nur Tee gewesen. So wie Kaffee einfach Kaffee ist. Gut, es gibt schwarzen Tee und Kamille, überlegt Waldauf. Aber was sind die restlichen 148 Sorten? Er verlagert das Gewicht von einem Bein aufs andere.

Themenwechsel, sagt er sich und wendet sich zum Gehen. Die Bäckerei ist ganz in der Nähe. Das weiß Waldauf, weil er auf dem Weg zum Hafen an ihr vorbeigelaufen ist. Und es gibt einen kleinen Kaufladen ein Stück weit die Straße hinunter. Aber so weit kommt er nicht.

„Hallo, Fremder“, sagt jemand. Sie hat die Hände in den Taschen ihrer Regenjacke vergraben. „Na, laufen Sie immer so rum?“

Waldauf wirft einen Blick auf seine hochgerollten Hosenbeine. „Nein, eigentlich nicht“, antwortet er.

„Haben Sie Lust auf einen Kaffee?“, fragt Anke, deren blondes, schulterlanges Haar der Wind zerzaust.

„Nein, ich …“, Waldaufs Hände beginnen zu schwitzen. Er wischt die letzten Reste verräterischen Fischbrötchensafts mit einer Serviette aus seinem Mundwinkel. „Ich war gerade … muss noch ein paar Dinge einkaufen. Aber …“ Er sieht den Blick in ihren Augen, der kein bisschen vorwurfsvoll oder enttäuscht wirkt. „Ein andermal sehr gerne.“

Anke lächelt, wirft noch einmal einen Blick auf den Teeladen, vor dem sie stehen.

„Gerne“, sagt sie. „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“

„Ja, danke. Ihnen auch.“

Dann geht sie weiter in Richtung Hafen. Waldauf ertappt sich dabei, wie er sich fragt, ob sie mit jemandem verabredet ist, einer Freundin vielleicht. Er stellt sich vor, wie sie in einem kleinen Café sitzen, Brötchen essen, aufs Meer hinausblicken und sich über die neuesten Ereignisse in der Nachbarschaft unterhalten. Oder vielleicht sitzt sie allein, trinkt eine Tasse Tee, liest in einem Buch. Waldauf hat ein schlechtes Gewissen. Dann schüttelt er sich und macht sich auf den Weg zur Bäckerei. Er kauft Brot, denkt an seine imaginäre Einkaufsliste und marschiert weiter zu dem Kaufladen. Dort fühlt er sich etwas wohler, das Umfeld ist ein wenig vertrauter, städtischer. Er kauft seine Sachen, stockt wieder kurz vor dem Teeregal und studiert die Packung einer Kräuterteemischung. Er hat Ankes Angebot zu einer Tasse Kaffee ausgeschlagen, nicht, weil ihm ihre Gesellschaft unangenehm gewesen wäre, ganz im Gegenteil. Eben weil sie ihm angenehm wäre, viel zu angenehm. Soll er jetzt ihretwegen eine Packung Tee kaufen? Er will aber auch nicht unhöflich sein. Bei ihrem nächsten Besuch würde sie sich vielleicht freuen, wenn er Tee im Haus hätte. Waldauf schimpft sich selbst einen Hornochsen, schnappt sich die Packung und lässt sie in die Leinentasche fallen, die er mitgebracht hat.

„Ist der aus dem Teeladen?“, fragt Anke in seiner Fantasie.

„Nein, leider“, sagt Waldauf. „Aus dem Kaufladen. Ich hoffe, er ist in Ordnung?“

„Doch, der ist gut“, sagt sie und hält die große, bauchige Tasse in beiden Händen. Sie zieht ihre nackten Beine an, schlüpft damit unter den großen Strickpulli, den sie trägt.

Die Dame an der Kasse wünscht ihm einen guten Morgen.

Waldauf ist immer noch in Gedanken. „Dazu bitte noch zwei Schachteln …“

„Ja, bitte?“ Sie hält die Hand vor das Regal mit den Zigaretten.

„Nein … nichts“, sagt Waldauf. „Nur das hier.“

Auf dem Weg nach draußen besinnt er sich.

„Sagen Sie, wo finde ich den nächsten Elektronikladen?“

 

Die Packung Tee liegt im Küchenschrank und wartet auf ihren großen Moment, während Waldauf die kommenden Tage damit verbringt, eine Waschmaschine zu kaufen und Schränke einzuräumen. Einige der Fensterläden nimmt er ab, schleift und repariert sie. Noch grübelt er, welche Farbe er kaufen soll. Er tendiert zu Hellblau. Vielleicht fragt er Anke, wenn er sie das nächste Mal sieht. Nein, sagt er sich. Das geht nicht. Er hat sich bewusst für diesen Schritt in die Einsamkeit entschieden, und dabei möchte er es auch belassen. Bis er wieder mit sich selbst und allem, was vorgefallen ist, klarkommt, falls ihm das jemals gelingen sollte.

3. Weil sie es ist

Lukas Waldauf ist Polizist, Kriminaloberkommissar bei der Hamburger Kripo, Chefermittler. Zumindest war er das – bis zu jenem Tag, an dem er gestorben ist. Klinisch tot, haben es die Ärzte genannt. Seine Lunge ist kollabiert, aufgrund zweier Einschüsse. Die Kugeln wurden entfernt, ebenso jene aus seiner Schulter. Dann ist sein System zusammengebrochen. Herzstillstand. Aber irgendwie ist es den Ärzten gelungen, ihn zurückzuholen. Und nach zwei Wochen auf der Intensivstation und im künstlichen Tiefschlaf ist Waldauf wieder aufgewacht. Hat er es verdient? Zu sterben, vermutlich, ja. Wiedergeboren zu werden, während seine Hauptzeugin tot blieb, nein.

 

Nein. Waldauf kniet im Regen. Die junge Frau, die er in den Armen hält, hat das Gesicht – dieses blasse, wächserne Gesicht – zum Himmel gewandt. Regentropfen fallen auf ihre weit aufgerissenen, starrenden Augen, und sie blinzelt nicht. Ihre Atmung ist so schwach, dass Waldauf sie kaum wahrnimmt. Er sieht das hellrote, schäumende Blut auf ihren Lippen und weiß, was es bedeutet. Er ruft. Ruft ihren Namen und kann seine eigene Stimme nicht hören. Alles, was er hört, ist das Pfeifen, das dem Donner der Pistolenschüsse gefolgt ist.

Sarah, das ist der Name der jungen Prostituierten, und Waldauf ruft ihn immer wieder. Er ruft, sie solle bei ihm bleiben, dass die Rettung bereits auf dem Weg sei. Er lügt. Sein Mobiltelefon liegt irgendwo auf der Straße. Er konnte niemanden alarmieren, aber jemand, irgendjemand muss die Schüsse gehört haben. Dieser unsichtbare Jemand hat bestimmt schon die Rettungskräfte informiert. Sie werden kommen. Waldauf weiß es. Sie müssen, denn es ist seine Schuld, dass sie nun hier sind, in dieser Situation. Es ist seine Schuld und es darf so nicht enden. Doch für Sarah endet es genau so.

***

Waldauf schreckt hoch. Sein Blick fliegt zu der fremden Decke, die von massiven Holzbalken getragen wird. Er versucht, sich aufzusetzen, hat das Gefühl, nicht atmen zu können. Panikattacke haben es die Ärzte genannt, besonders gefährlich bei reduzierter Lungenkapazität. Waldauf ist es egal, wie sie es nennen, er kriegt keine Luft.

Als er endlich aufrecht sitzt, bemerkt er, dass er, wenn er es flach und vorsichtig tut, doch irgendwie atmen kann. Aber es geht langsam, viel zu langsam, und es kostet ihn unendlich viel Kraft, die nötige Geduld aufzubringen. Tränen laufen seine Wangen hinab. Sein Herzschlag hämmert in seiner Brust und seinen Schläfen. Das weiße Unterhemd klebt an seinem Körper. Waldauf schiebt sich aus dem Bett, bis seine Füße den alten Holzboden berühren. Er ballt die Zehen, lässt los, ballt sie erneut und lässt wieder los. Wie oft er das macht, weiß er nicht. Es dauert so unendlich lange. Dann kommt die Luft endlich wieder, und Waldauf keucht.

 

Waldauf versucht, seiner neuen Routine zu folgen. Er macht Kaffee, isst Müsli zum Frühstück. Frühstücken, noch so eine Sache, die er zu seiner aktiven Zeit niemals getan hätte, zu viel Zeit für zu wenig Nutzen. Er tapst aus dem Haus in Richtung seines Briefkastens, doch da kommt ihm bereits jemand entgegen. Anke hält seine Zeitung und einen Brief in der Hand. Sie kommt auf ihn zu, und Waldauf stellt fest, dass er nur mit Unterhemd und Unterhose bekleidet ist. Zu spät. Anke stellt sich vor ihn hin und überreicht ihm seine Post.

„Guten Morgen“, sagt sie.

„Guten Morgen“, spricht Waldauf ihr nach. Zu gerne hätte er sie gefragt, ob sie mit ihm frühstücken möchte, er hat sogar Tee. Aber je größer diese Versuchung wird, desto stärker wird auch der Impuls in ihm, sich zurückzuziehen.

„Danke“, sagt er hölzern. Als er die Zeitung entgegennimmt, fällt Ankes Blick auf den Brief, dessen Kopf das Wappen des Landeskriminalamts Hamburg ziert.

„Haben Sie was verbrochen?“, scherzt sie.

Waldauf ist durch die Frage wie vor den Kopf gestoßen. „Ja“, antwortet er. „Bitte verzeihen Sie, ich fühle mich heute nicht so gut.“

Anke übergibt Waldauf auch den Brief und sagt: „Das macht nichts.“

Er nickt, versucht sich an einem Lächeln und hasst sich dafür, weil er sich wie ein Heuchler vorkommt.

***

„Willst du, dass ich dir einen blase?“

Die Frage irritiert Waldauf. Er liegt auf der viel zu weichen Matratze eines Hotelbetts auf dem Rücken, Sarah an seiner Seite. Ihr schmaler, zerbrechlicher Körper plötzlich eng an seinen gepresst. In dem Fernsehgerät an der gegenüberliegenden Wand plappert die viel zu laute Stimme eines TV-Moderators. Ein aufgetakelter, übertriebener Weihnachtsbaum. Lacht zu laut, seine Zähne strahlen zu weiß, und seine Mimik wirkt wie die eines Darstellers in einer alten Schwarz-Weiß-Komödie. Genauso gut könnte er aus Plastik sein, denkt Waldauf.

„Nein“, sagt er. „Ich … will einfach nur, dass es dir gut geht.“

Sie blickt zu ihm hoch. Es ist derselbe Blick, der ihn dazu gebracht hat, sich näher mit ihr als möglicher Hauptzeugin zu befassen. Lange bevor er sie angesprochen hat. Der ihn dazu gebracht hat, ihr ein Versprechen zu geben, das er nicht wird halten können, aber davon weiß Waldauf noch nichts. Er wird sich um sie kümmern, hat er versprochen. Ihr Schutz bieten, ein neues Leben, wenn sie nur aussagt. Einen Neuanfang.

Wie kann jemand in ihrem Gewerbe nur so unschuldig aussehen, fragt er sich jetzt, als sie neben ihm liegt, in dem billigen Hotelzimmer, das sie gemietet haben, um so lange unterzutauchen, bis der Prozess beginnen kann. Ganz einfach, denkt er, weil sie es ist.

„Warum?“, fragt sie.

„Weil es mir wichtig ist.“

Die Antwort scheint ihr zu genügen. Sie legt den Kopf an seine Schulter, und gemeinsam starren sie weiter in das TV-Gerät, in dem eine beleibte ältere Dame gerade ein „E“ gekauft hat.

***

„Willst du das tatsächlich tun?“, fragt Bruno ihn Wochen später. Sein Kollege – baldiger Ex-Kollege – über so viele Jahre.

„Was meinst du?“

„Hab gehört, du hörst auf.“

Waldauf starrt in seine Tasse und sagt nichts.

„Hab außerdem gehört, du ziehst weg, verlässt die Stadt.“ Als Waldauf abermals nicht antwortet, sagt Bruno, was er offenbar gehofft hat, nicht sagen zu müssen. „Du denkst doch nicht etwa, dass sie das wieder lebendig macht, oder?“

Waldauf hebt den Blick, schaut ihm direkt in die Augen, und seine Kiefer mahlen. Bruno schluckt, aber spricht weiter. „Und davonlaufen kannst du auch nicht. Was geschehen ist, ist geschehen. Und es hätte verdammt noch mal jedem von uns passieren können …“

„Es ist aber nicht jedem passiert!“ Waldauf schlägt mit der Faust auf den Tisch, und seine Tasse macht einen Sprung. „Es ist mir passiert, Bruno! Mir ganz allein!“

Bevor sich das Schweigen wie eine aufgewirbelte Staubschicht wieder herabsenken kann, sagt Bruno: „Aber das bedeutet nicht, dass du allein damit klarkommen musst.“

„Doch.“ Waldauf erhebt sich. Er ist stocknüchtern. Seit dem Vorfall hat er nicht gewagt, auch nur einen Tropfen Alkohol zu trinken, hat keine Zigarette geraucht. Er braucht die Klarheit, fürchtet den Rausch wie ein unsichtbares Wesen, das aus den Tiefen seiner Seele emporkriechen könnte, um seinen Verstand zu fressen. Es beobachtet ihn, lauert, hofft auf seinen Fehltritt.

„Genau das bedeutet es, Bruno.“

Waldauf trägt seine Tasse zur Spüle, kippt den Inhalt hinein und sieht der trüben, hellbraunen Flüssigkeit dabei zu, wie sie im Abfluss verschwindet.

„Sarah ist tot. Und es gibt nichts, was ich dagegen tun kann …“

Waldauf wendet sich zum Gehen. Bruno streckt eine Hand nach ihm aus.

„Lass es“, sagt Waldauf, und seine kalte Stimme ängstigt Bruno mehr, als jeder Schrei es gekonnt hätte.

 

An jenem Nachmittag betritt Waldauf das Zimmer seines Vorgesetzten, legt Marke und Dienstwaffe wortlos auf dessen Tisch und verlässt das Bürogebäude des Landeskriminalamts Hamburg, in dem er seit über fünfundzwanzig Jahren gearbeitet hat. Er spricht kein Wort, lässt seinen Arbeitsplatz so zurück, wie er ihn an jenem Morgen vorgefunden hat. Die Blumen und Glückwunschkarten, die ihn zurück im Dienst willkommen heißen sollten, das Foto seiner Schwester und ihrer Familie … Es ist der erste Tag nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus und sein letzter als Polizist.

 

Zwei Minuten dreißig tot.

Vierzehn Tage Tiefschlaf.

Ein Leben lang Schuld.

 

Waldauf wird nie wieder zurückkehren.