Leseprobe Mord ohne Ende

Kapitel 1

Der Briefträger bemerkte es als Erster. Während er Llanfairs einzige Straße hinunterraste, sein Motorrad kaum unter Kontrolle, blickte er auf die kleine Ladenzeile zu seiner Linken. Das Dorf hatte drei Läden und eine Tankstelle vorzuweisen. Der erste Laden in der Reihe war eine Metzgerei: G. EVANS, GUGGYD, das walisische Wort für „Metzgerei“ prangte in großen Lettern an der Front; etwas kleiner stand auf Englisch daneben: LIEFERANT FEINSTEN FLEISCHES. Es folgte R. EVANS, MILCH UND MILCHERZEUGNISSE. Die beiden Ladenbesitzer waren den Einheimischen als Fleischer-Evans und Milchmann-Evans bekannt. Nur der letzte Laden in der Reihe verhinderte das Evans-Monopol: T. HARRIS, GEMISCHTWAREN UND POSTNEBENSTELLE. Aber T. Harris war schon lange tot und seine Witwe hatte es schließlich doch aufgegeben, mit dem nahen Supermarkt zu konkurrieren und war zu ihrem Sohn in die Nähe von London gezogen. Wie sie sich nur dazu hatte entschließen können, ihre letzten Jahre unter Fremden zu verbringen, war im Dorf ein Thema für hitzige Debatten gewesen.

So hatte der Laden am Ende der Reihe schon seit einer Weile leer gestanden. Der Briefträger, ein weiterer Evans, der entsprechend Briefträger-Evans genannt wurde, war auch nicht von der Modernisierung verschont geblieben, die in Nordwales um sich griff. Er trug seine Briefe jetzt mit einem Motorrad aus, wodurch er die Dörfer Llanfair und Nant Peris sowie die abgelegenen Bauernhöfe erreichen konnte. Er war jetzt schon seit mindestens einem Jahr mit dem Motorrad unterwegs, war aber der Beherrschung dieser Maschine noch keinen Schritt näher gekommen. Er hatte die gleichen schreckgeweiteten Augen wie die Fußgänger, die ihm ausweichen mussten. In diesem Augenblick sprang auch jemand zur Seite, weil Briefträger-Evans auf seine jüngste Entdeckung starrte, dabei die Kontrolle verlor und beinahe auf dem Bürgersteig landete. Es war Mrs. Powell-Jones, die Frau des Pastors.

„Idiot! Dummkopf!“, schrie Mrs. Powell-Jones, während sie versuchte, nach dem Sprung ihre Würde zurückzuerlangen. „Ich werde Sie beim Postmeister melden! Sie bringen eines Tages noch jemanden um.“

Doch Briefträger-Evans war längst an ihr vorbei und außer Hörweite. Schließlich bekam er sein Motorrad wieder unter Kontrolle, hielt an, holte einen Brief aus seinem Postsack und schritt auf die Tür eines weiß getünchten Cottages auf der anderen Straßenseite zu. Doch anstatt den Brief durch den Briefschlitz zu schieben, klopfte er an die Tür und wartete, bis man ihm öffnete.

„Ein Brief für Sie, Mrs. Williams“, sagte er. „Von ihrer Enkelin ... die, die in London studiert. Der Pullover, den Sie ihr gestrickt haben, ist sehr gut angekommen. Genauso wie Ihr bara brith.“

Die rundliche, ältere Frau lächelte freundlich. „Vielen Dank, Mr. Evans. Aber Sie werden eines Tages noch Ärger bekommen, weil Sie die Briefe andere Leute lesen. Irgendwann lesen Sie etwas, das Ihnen nicht gut tun wird.“

„Ich tue doch niemandem was“, murmelte der Mann verlegen.

„Das weiß ich doch. Dann los, fahren Sie schon, sonst kommen Sie zu spät in der Poststelle an und bekommen Ärger mit dem neuen Postmeister.“

Briefträger-Evans wandte sich zum Gehen, dann schluckte er schwer, was seinen hervorstechenden Adamsapfel auf und ab hüpfen ließ. „Irgendjemand zieht in den alten Gemischtwarenladen ein“, stieß er hervor. „Ich habe es gerade gesehen.“

„Nein! Escob Annwyl! Sind Sie sicher, dass es nicht bloß der Makler war?“

„Nein, es zieht wirklich jemand ein. Ich habe gesehen, dass getischlert und der Laden hergerichtet wurde.“

„Nein, sowas. Ich frage mich, wer den Laden nach all der Zeit übernehmen will. Ich hoffe, dass sie dort nicht irgendein heidnisches Geschäft eröffnen. In Blaenau Ffestiniog hat man eine der Kapellen in ein Wettbüro umgewandelt. Und erinnern Sie sich noch an diese Französin, die eine Kapelle zu einem Restaurant umgebaut hat? Es wundert mich nicht, dass der Herr den Laden niedergebrannt hat.“

„Ein Café wäre nicht schlecht“, sagte Briefträger-Evans. „Besonders, wenn sie dort Fish-and-Chips servierten. Bis auf den Pub können wir im Dorf nirgends essen gehen.“

„Anständige, gottesfürchtige Menschen sollten in den eigenen vier Wänden essen“, sagte Mrs. Williams und verschränkte die Arme vor ihrem üppigen Busen. „Ich halte nichts davon, in Restaurants ausgefallenen Fraß zu essen. Das ist nicht gesund. Es heißt, dass Übergewicht eine echte Epidemie ist, und ich glaube, das kommt davon, dass zu viel auswärts gegessen wird.“ Da man Mrs. Williams nicht gerade als dünn bezeichnen konnte, hätte jeder andere bei dieser Aussage grinsen müssen, aber Briefträger-Evans nickte ernst.

Mrs. Williams lehnte sich aus ihrer Haustür und blickte die Straße hinauf. Ein Transporter parkte vor der Ladenreihe. Sie nickte.

„Ich mache heute vielleicht eine Vanillesoße“, sagte sie nachdenklich. „Ich gehe schnell zu Milchmann-Evans und hole mir zur Sicherheit noch eine Flasche.“

Mit diesen Worten schlüpfte sie in ihren Mantel, hängte sich ihren Korb über den Arm und lief die Straße hinauf. Sie war noch nicht weit gekommen, als sie Mair Hopkins begegnete, die sich auf einen ähnlichen Ausflug begeben hatte.

„Ich habe Charlie auf Diät gesetzt“, berichtete Mair, „deshalb könnte ich noch etwas Hüttenkäse gebrauchen.“

Sie liefen schweigend weiter, bis sie die Ladenreihe erreichten. Sie kannten beide die wahre Intention der anderen, waren aber beide zu höflich, um etwas dazu zu sagen. Die drei Läden lagen etwas zurückgesetzt an einem breiten Stück des Bürgersteigs. Hammerschläge drangen aus dem ehemaligen Gemischtwarenladen. Mair Hopkins’ Gesichtsausdruck erhellte sich.

„Dann ist es also wahr. Der dritte Laden hat neue Pächter. Gott sei Dank. Ich habe es satt, immer mit dem Bus runter nach Llanberis zu fahren, oder Charlie im Transporter loszuschicken, wenn mir etwas fehlt.“

„Wir können uns nicht sicher sein, dass es ein neuer Gemischtwarenladen wird“, sagte Mrs. Williams. „Ich bete nur, dass es kein Wettbüro wird, wie die alte Kapelle in Blaenau.“

„Ein Schönheitssalon wäre nicht schlecht“, sagte Mair. „Charlie sagte mir, dass ich häufiger mein Haar machen solle.“

„Also ich fände es schön, wenn der Postschalter wieder aufmachen würde. Sie sollten mal die Schlange bei der Post in Llanberis sehen, wenn ich dort meine Rente abhole.“
„Ich weiß. Es ist einfach schrecklich.“ Mair Hopkins schüttelte den Kopf.

Die beiden Frauen wollten gerade die Straße überqueren, um zu den Läden zu gelangen, als Mrs. Powell-Jones wie aus dem Nichts auftauchte und mit wehender, erbsengrüner Strickjacke auf sie zugestürmt kam.

„Haben Sie es schon gesehen?“, fragte sie. „Da sind neue Leute im Laden. Ich bin hineingegangen, um sie im Dorf willkommen zu heißen und sie für den Sonntag in die Kapelle einzuladen, wie man es von einer Pfarrersfrau erwartet, aber sie werden es nicht glauben ...“

„Was?“ Die beiden Frauen beugten sich vor.

„Heiden. Fremde.“ Mrs. Powell-Jones spuckte diese Worte beinahe aus.

„Sie meinen, noch mehr Engländer?“, fragte Mrs. Williams. „Anglikanische Kirche, statt Kapelle?“

„Schlimmer“, flüsterte Mrs. Powell-Jones. „Sehen Sie selbst.“

Ein Mann war gerade aus dem Laden gekommen. Er öffnete die hintere Tür des Transporters und holte ein langes Brett heraus. „Ist das die richtige Größe, Daddy?“, rief er.

„Nein, das andere, das dickere“, rief eine andere Stimme zurück und ein älterer Mann kam zu ihm auf die Straße.

Escob Annwyl“, murmelte Mrs. Williams und legte sich eine Hand aufs Herz. Die Männer hatten dunkle Haut und der jüngere trug Bart, ein langes, weißes, fließendes Hemd und Leggings.

An diesem Abend fuhr Detective Constable Evans gerade von der Arbeit nach Hause, als er Licht bemerkte, das in dem ehemals leerstehenden Geschäft brannte. Obwohl er nicht mehr der Dorfpolizist war, der in Llanfair den Frieden wahren sollte, gewann seine Neugier. Er parkte den Wagen und öffnete die Ladentür. Zwei dunkelhäutige Männer beugten sich über ein Stück Papier. Am Boden lagen Hobelspäne und Sägemehl schwebte in der Luft.

„Guten Abend“, sagte Evan. „Sie renovieren hier?“

Die beiden Männer blickten beim Klang der Stimme auf.

„Genau“, sagte der ältere.

„Wir versuchen, hier alles schnell fertig zu machen“, sagte der jüngere mit einem Dialekt, der eher auf Yorkshire als auf den Nahen Osten schließen ließ. „Deshalb schlage ich vor, dass Sie uns in Ruhe lassen.“

„Ich gehe nur meiner Arbeit nach, Sir“, sagte Evan freundlich. „Ich bin Polizist und lebe hier im Dorf, also wollte ich natürlich sicher gehen, dass nicht irgendjemand mutwillig ein leerstehendes Gebäude beschädigt.“

„Ein Polizist?“ Der jüngere Mann sah ihn noch immer verächtlich an. „Kann sich die Polizei in Nordwales nicht mal Uniformen leisten?“

„Ich bin Zivilfahnder“, sagte Evan.

„Dann ist es eigentlich nicht Ihre Aufgabe, nach uns zu sehen, oder? Sie sind bloß neugierig, so wie all die anderen auch. Den ganzen Tag lang steckt immer wieder jemand aus irgendeinem Grund seine Nase zur Tür herein.“

„Es reicht, Rashid“, sagte der ältere Mann. Er wischte sich die Hände an der Schürze ab, die er über seiner Alltagskleidung trug und streckte Evan eine Hand entgegen, während er auf ihn zukam. „Sehr erfreut, Officer. Ich bin Azeem Khan. Ich habe diesen Laden gerade gekauft.“

„Sehr erfreut, Mr. Khan. Willkommen in Llanfair.“ Evan schüttelte die angebotene Hand.

Azeem Khan nickte seinem Sohn zu, damit er es ihm gleichtat, doch der Junge studierte die Gebäudezeichnung, als würden sie gar nicht existieren.

„Bitte entschuldigen Sie das Verhalten meines Sohns. Er macht gerade eine militante Phase durch. Das passiert den meisten von uns im Studentenalter, nicht wahr?“ Anders als bei seinem Sohn konnte man bei ihm noch den pakistanischen Akzent seiner Vorfahren hören. Er war glattrasiert, trug gewöhnliche, europäische Kleidung und sein dunkles Haar, das schon von grauen Strähnen durchzogen wurde, war kurz geschnitten und ordentlich gescheitelt. „Rashid, hör bitte auf mit diesem Verhalten und benimm dich wie ein zivilisierter Mensch.“

Rashid Khan warf Evan einen kalten, herausfordernden Blick zu. „Ich bin schon oft genug mit der Polizei aneinandergeraten, um zu wissen, dass sie uns nicht mögen. Und wir mögen sie auch nicht“, sagte er.

„Wir sind nicht mehr in der Großstadt, Rashid“, sagte sein Vater. „Wir sind in einem kleinen Dorf, und es ist wichtig, dass wir uns gut mit den Leuten verstehen, sonst werden wir keine Kunden haben.“

Evan lächelte den Jungen an. „Ich sollte Sie wohl warnen, dass die Leute hier sehr argwöhnisch gegenüber Fremden sind. Das hat nichts mit Ihrer Hautfarbe oder so etwas zu tun. Jeder Engländer wird hier als Ausländer betrachtet. Also nehmen Sie es nicht persönlich. Aber eins kann ich Ihnen sagen, wenn Sie einen neuen Gemischtwarenladen eröffnen, werden alle sehr froh sein. Die älteren Frauen im Dorf können nicht Auto fahren und es ist ein langer Weg mit dem Bus bis runter zum Supermarkt.“

„Genau das dachten wir auch, als wir diesen Laden zum ersten Mal sahen“, sagte Mr. Khan begeistert. „Eine großartige Gelegenheit, sagte ich zu meiner Frau.“

„Haben Sie schon mal einen Laden geführt, ehe Sie herkamen?“

„Eine Weile lang, ja, aber mit unserem Viertel ging es so stark bergab, dass ich Angst hatte, meine Tochter aus dem Haus zu lassen. Und da mein Sohn jetzt hier in Wales zur Universität geht, sagte ich zu meiner Frau: ‚Warum versuchen wir es nicht? Gute, saubere Luft und eine friedliche Umgebung.‘ Es geht ihr nicht besonders gut, müssen Sie wissen. Ihr Herz ist schwach.“

Evan wandte sich wieder zu Rashid. „Dann sind Sie an der Universität in Bangor? Wie gefällt es Ihnen dort?“

„Bislang ganz in Ordnung. Ich habe andere muslimische Jungs kennengelernt, also habe ich Leute, mit denen ich abhängen kann.“

„Sehr gut. Nun, ich lasse Sie mal weiterarbeiten.“ Evan wandte sich zur Tür. „Ich lebe hier im Dorf, falls sie mich jemals brauchen sollten. Na ja, nicht mehr im Dorf ... aber direkt oberhalb des Dorfes. Das kleine Cottage über dem Pub.“

Mr. Khan strahlte. „Ich habe das Haus gesehen, als ich zum ersten Mal den Laden besichtigte und sagte zu meiner Frau: ‚Was man von dort aus für eine tolle Aussicht haben muss.‘ Und sie sagte natürlich, dass sie sich nicht vorstellen könne, dass jemand am Ende so eines steilen Weges leben wollte.“

„Sie hat natürlich recht. Der Weg ist an regnerischen Tagen unpassierbar. Ein einziges Meer aus Schlamm, aber wir gewöhnen uns daran.“

„Dann sind sie auch gerade erst eingezogen?“

„Vor einem Monat. Ich habe geheiratet und wir haben das Cottage gerade rechtzeitig zur Hochzeit wiederaufgebaut. Aber ich lebe schon seit mehreren Jahren im Dorf. Und meine Frau auch. Sie war Lehrerin an der Dorfschule, bis sie geschlossen wurde. Jetzt muss sie mit dem Bus in die neue Schule unten im Tal fahren.“

Der alte Mr. Khan nickte. „So ist das mit dem Fortschritt, nicht wahr? Alles verändert sich und nicht immer zum Besseren.“

„Fängst du jetzt wieder damit an, Dad?“, fragte Rashid. „Ich muss noch eine Hausarbeit schreiben.“

„Schon gut, schon gut.“ Mr. Khan lächelte Evan entschuldigend an und wandte sich wieder dem Entwurf zu.

Kapitel 2

Evan hatte gerade den Wagen zur Nacht abgestellt und wollte sich an den Aufstieg machen, als er beschloss, dass es Bronwen nichts ausmachen würde, wenn er zuerst im Pub vorbeischaute. Er wollte wissen, wie viel die Einwohner von Llanfair am ersten Tag über die Neuankömmlinge herausgefunden hatten. Der Buschfunk von Llanfair war so effizient, dass selbst die CIA dagegen verblasste.

Er überquerte die Straße dort, wo das Schild des Red Dragon quietschend in der abendlichen Brise schwang. Er duckte sich, um durch die niedrige Eingangstür zu treten und stellte fest, dass an der Bar Hochbetrieb herrschte. Stimmen hatten sich zu angeregten Unterhaltungen erhoben. Durch den Rauchschleier entdeckte Evan die übliche Männergruppe, die sich an den meisten Abenden hier versammelte.

„Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal erleben würde“, rief Charlie Hopkins laut. „Als meine Mair mir sagte, dass einer von ihnen so eine seltsame Robe trägt, mit Bart, Sandalen und allem Drum und Dran ...“

„Wir wollen sie hier nicht“, knurrte eine Stimme aus einer dunklen Ecke. „Warum gehen sie nicht dahin zurück, wo sie hergekommen sind?“

„Leeds, meinst du?“, fragte jemand herausfordernd.

„Pakistan meine ich, verdammt noch mal. Wenn Gott gewollt hätte, dass dunkelhäutige Menschen in Wales leben, hätte er dafür gesorgt, dass hier gelegentlich die Sonne scheint.“

Ein Kichern ging durch den Pub.

„Na ja, vielleicht ist auch was Gutes dran“, entgegnete Fleischer-Evans.

Evan hielt auf dem Weg zur Bar inne und lauschte verblüfft. Von allen Dorfbewohnern hätte er Fleischer-Evans als den militantesten und ausländerfeindlichsten Waliser mit den meistens Vorurteilen eingestuft.

„Ich glaube, wir werden gut miteinander auskommen“, fuhr Gareth Evans fort. „Immerhin haben Pakistan und Wales etwas gemeinsam, nicht wahr?“

„Ähnliche Akzente beim Versuch Englisch zu sprechen?“, mutmaßte jemand.

„Ich meine es ernst, Junge. Wir wissen in beiden Ländern wie es ist, von einer Kolonialmacht beherrscht zu werden, nicht wahr? Wir waren beide von den verdammten Engländern besetzt.“

„Es ist dir also lieber, dass Pakistanis den Gemischtwarenladen führen als Engländer?“, fragte Eimer-Barry, der örtliche Planierraupen-Fahrer.

„Absolut“, bestätigte Fleischer-Evans.

„Also dem kann ich gar nicht zustimmen.“ Betsy die Bardame lehnte sich über die Bar, um mitzureden. „Ich war schon in nahöstlichen Gemischtwarenläden und da stinkt alles nach Curry. Wenn man auf der Suche nach Baked Beans da reingeht, kommt man wahrscheinlich mit Linsen wieder raus, wartets nur ab. Eigentlich ...“ Sie brach ab, als sie Evan entdeckte, der geduldig hinter den Männern an der Bar wartete. „Na schau mal an, wen wir da haben. Was für ein Anblick für meine müden Augen. Bekommst du das Übliche?“

„Ja bitte, Betsy fach“, sagte Evan. „Ein Pint Guinness würde mir jetzt guttun. Ich habe den ganzen Tag mit Besprechungen im Hauptquartier verbracht und bin am Verdursten.“

„Oh, armer Junge, er sieht dieser Tage ganz ausgehungert aus. Man munkelt, dass seine Frau ihm kein vernünftiges Essen vorsetzt.“ Charlie kicherte und grub seinen Ellenbogen in Evans gut gepolsterte Seite.

„Ich bin überrascht, dass sie Sie so bald nach der Hochzeit schon wieder rauslässt“, sagte der Metzger. „Sie müssen ihr schnell gezeigt haben, wer die Hosen anhat, wenn sie Sie jetzt schon die Abende im Pub verbringen lässt.“

„Oh, kommen Sie schon, Gareth.“ Evan kicherte. „Ich verbringe meine Abende nicht im Pub und ich bin auch nicht darauf aus Bronwen zu zeigen, wer die Hosen anhat. Ich wollte nur für ein paar Minuten vorbeischauen, um zu erfahren, was ihr alle über die Leute gehört habt, die den Laden gemietet haben.“

„Das sind Pakistanis“, sagte Charlie Hopkins, während Betsy ein schäumendes Glas Guinness vor Evan auf den Tresen stellte.

„Ich weiß. Ich war gerade drüben. Ein Vater, der mit seinem Sohn selbst die Schreinerarbeiten macht.“

„Das wird Ärger geben, wenn ihr mich fragt“, kommentierte Eimer-Barry zwischen zwei Schlucken aus seinem Glas. „Ihr habt gesehen, wie der Jüngere sich anzieht – wie diese muslimischen Geistlichen, die man im Fernsehen sieht. Ich wäre nicht überrascht, wenn das eine Terrorzelle ist, die sich hier draußen versteckt. Sie sollten die Leute im Auge behalten, Evan.“

„Halten Sie mal die Luft an, Barry“, sagte Evan. „Das ist bestimmt eine ganz normale Familie. Es ist doch ihnen überlassen, wie sie sich kleiden. Sie haben ihre Religion und wir unsere. Das macht sie noch nicht gefährlich. Ich schlage vor, dass wir uns alle Mühe geben, damit sie sich in diesem Dorf willkommen fühlen.“

„Wenn sie hier willkommen geheißen werden wollen, sollten sie sich verdammt noch mal freundlicher verhalten, als sie es heute getan haben“, sagte Charlie Hopkins. „Meine Mair hat vorbeigeschaut, um ein freundliches Wort mit den Neuankömmlingen zu wechseln, und sie haben sie wie Luft behandelt. Der Jüngere wollte nicht ein Wort mit ihr wechseln.“

„Na ja, sie sind Muslime und Mair ist eine Frau“, sagte Barry. „Frauen sind ihrem Glauben nach nichts wert. Wahrscheinlich werden sie verlangen, dass alle Frauen aus dem Dorf Schleier tragen, wenn sie den Laden betreten.“

Evan lachte mit Unbehagen. „Komm schon, Barry. Sie sind so britisch wie Sie oder ich. Geben Sie ihnen eine Chance, in Ordnung?“

„Ich möchte gerne sehen, wie sie versuchen, mich zu einem Schleier zu zwingen“, sagte Betsy. „Ich habe einen tollen Körper und es macht mir nichts aus, ihn ein bisschen zur Schau zu stellen.“

Sie zog ihr T-Shirt glatt, wodurch ihr ohnehin schon tiefer Ausschnitt noch tiefer wurde und jeder Mann im Pub von seinem Glas aufsah.

„Mach dich wieder ans Bierzapfen“, sagte Berry streng. Er und Betsy waren seit einer Weile ein Paar. „Du hast dich für einen Abend genug zur Schau gestellt.“

„Allerdings“, Betsy warf ihm ein neckendes Lächeln zu, „wäre so ein hauchdünner, durchsichtiger Schleier unglaublich sexy. So wie bei Salomes Schleiertanz.“ Sie schwang die Hüften und brachte die Männer zum Lachen.

Evan leerte sein Glas und stellte es wieder auf die Bar. „Danke, Betsy fach. Ich mache mich besser auf den Weg. Ich will Bronwen nicht warten lassen und ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir.“

„Arbeiten Sie an einem großen Fall?“, fragte Charlie Hopkins.

„Nein, viel schlimmer. Eine große Besprechung. Der neue Chief Constable bringt die ganze Polizeitruppe durcheinander. Wollen Sie das Neuste hören? Neue Uniformen. Die armen Jungs sollen auf Streife schwarze Cargohosen und schwarze Rollkragenpullover tragen, statt wie bisher Hemd und Krawatte.“

„Was? Cargohosen und Pullover? Sie werden wie ein Haufen Verbrecher aussehen. Wo liegt denn darin die Autorität? Polizisten sollten auch wie Polizisten aussehen. Man respektiert die Messingknöpfe und die ordentliche Krawatte.“ Charlie Hopkins schüttelte angewidert den Kopf.

„Ich stimme Ihnen zu, Charlie“, sagte Evan. „Aber der neue Chief Constable meint, dass Krawatten bei einem Handgemenge im Weg sind, obwohl es nur Ansteckkrawatten sind, die sich leicht lösen. Und er meint, dass die Hemden zerknittern, wenn man schusssichere Westen darüber trägt.“

„Schusssichere Westen?“ Barry brach in Gelächter aus. „Wann mussten Sie je eine schusssichere Weste tragen?“

„Ich persönlich nie, aber manche Leute in der Truppe tragen sie gelegentlich.“

Jetzt lachten auch die übrigen Männer.

„Es ist ja nicht so, als würdet ihr tagtäglich Bandenkriege beenden oder internationale Terrorzellen ausheben, oder?“ Fleischer-Evans kicherte.

„Ich kann nichts dagegen tun, Gareth“, sagte Evan. „Ich stehe ganz unten in der Hackordnung. Meine Meinung hat nicht viel Gewicht. Ich habe das ungute Gefühl, dass die neuen Uniformen nur die Spitze des Eisbergs sind. In den nächsten Wochen finden für die Zivilfahnder spezielle Besprechungen statt und er hat ein Sensitivitätstraining für uns anberaumt.“

„Warum das?“, fragte Barry.

„Wir sollen lernen, wie man in der Öffentlichkeit freundlich auftritt, damit man uns nicht feindselig begegnet.“

Er verstummte, als die Männer um ihn herum loslachten.

„Wenn ihr einen Verbrecher schnappt, müsst ihr ihn Zukunft sagen: ‚Nein, böser Junge. Bitte schlag der alten Dame nicht den Kopf ein, um ihre Handtasche zu klauen. Das ist nicht nett.‘“, sagte Fleischer-Evans mit verstellter Stimme.

„Sie finden das vielleicht witzig, aber genau so wird es kommen“, sagte Evan niedergeschlagen. „Wie auch immer, ich kann nicht viel dagegen unternehmen. Ich gehe jetzt besser nach Hause, bevor Bronwen sich Sorgen macht.“

Evan nickte seinen Freunden zu und trat in die frische Abendbrise hinaus. Der Weg hinauf zum Cottage war ein ordentlicher Anstieg. Bei trockenem Wetter und mit Tageslicht bis nach neun Uhr war es recht leicht gewesen. Jetzt, Anfang Oktober, ging die Sonne früher unter und das Tal war schon um sieben in Dunkelheit getaucht. Evan stolperte und schlitterte bergauf und wünschte sich ein Auto, mit dem er diese Steigung bewältigen könnte. Aber er fuhr noch immer seine alte Klapperkiste und bei diesem Wetter brauchte man für die Strecke Allradantrieb.

Licht fiel aus den Fenstern des Cottages und hieß ihn wie ein Leuchtturm willkommen. Als er sich der Haustür näherte, hielt Evan inne, um einen Moment der Genugtuung zu genießen – sein eigenes Haus, das er beinahe vollständig mit eigenen Händen aufgebaut hatte, und darin wartete seine Frau am Esstisch auf ihn. Was konnte ein Mann vom Leben mehr erwarten?

Er öffnete die Haustür. „Bron?“, rief er. „Ich hoffe, ich habe dich nicht zu lange mit dem Abendessen warten lassen, aber ich musste kurz in den Pub ...“

„Ach ja?“ Bronwen kam aus der Küche und zog sich die Schürze aus, die sie über Jeans und Pullover trug. „Du musstest kurz im Pub vorbeischauen, ja?“

„Ich war nur für ein paar Minuten dort“, sagte Evan, „weil ich herausfinden wollte, was die Jungs über den alten Laden der Familie Harris wissen. Wusstest du, dass er verkauft wurde und eine pakistanische Familie jetzt dort einzieht? Sie sind gerade im Laden und richten Regale und Theken her.“

„Ich weiß alles darüber“, sagte Bronwen, „und musste dafür nicht einmal in den Pub gehen. Rein zufällig haben wir Besuch.“

„Was?“ Evan sah sich zum ersten Mal im Raum um. Auf der Kante eines Küchenstuhls hockte ein junges Mädchen in einer marineblauen und weißen Schuluniform. Sie sah aus, als wäre sie um die fünfzehn Jahre alt, hatte hellbraune Haut und trug einen langen Zopf aus üppigem Haar. Sie stand unbeholfen auf und lächelte schüchtern. „Oh, hallo“, sagte Evan. „Tut mir leid, ich habe dich gar nicht gesehen.“

„Evan“, Bronwen fasste ihn am Arm, „ich möchte dir Jamila vorstellen. Sie ist die Tochter der neuen Besitzer des Gemischtwarenladens. Wir haben uns auf dem Heimweg von der Schule im Bus kennengelernt und sie war so freundlich, mir ihre Hilfe anzubieten, um meine Einkäufe den Berg hinaufzutragen. Deshalb dachte ich, dass ich sie zumindest zum Abendessen einladen könnte. Unser erster Gast.“

„Schön dich kennenzulernen, Jamila. Ist das für deine Familie in Ordnung?“

„Oh ja. Ich habe Mummy gefragt und sie sagte, es wäre in Ordnung, bei Mrs. Evans zu bleiben und ihr zu helfen, besonders als sie herausfand, dass Mrs. Evans Lehrerin ist. Im Laden wäre ich sowieso nur im Weg, während Daddy und Rashid arbeiten.“

„Ist deine Familie schon hergezogen?“

„Wir sind gerade mitten im Umzug. Wir haben heute mit dem Transporter einige Dinge hergebracht, der Rest ist morgen dran. Daddy sagt, dass er den Laden am Samstag eröffnen möchte.“ Wie ihr Bruder sprach sie mit einem leichten Yorkshire-Akzent.

„Wo wohnt ihr dann im Augenblick?“, fragte Evan.

„Wir haben in Bangor ein paar Zimmer gemietet, damit Rashid und ich das Schuljahr hier beginnen können. Aber jetzt werden wir in der Wohnung über dem Laden leben. Es wird recht eng, aber wir werden schon zurechtkommen. Rashid will in ein Studentenwohnheim der Universität ziehen, sobald er einen angemessenen Platz findet.“

„Das sollte nicht allzu lange dauern, oder? Ich dachte, die Universität würde Zimmer für ihre Studenten organisieren.“

„Na ja, es gibt viele Plätze in den Wohnheimen, aber sie entsprechen nicht dem, was Rashid sucht. Er möchte nur mit anderen muslimischen Studenten zusammenleben, deshalb suchen sie ein Haus, das sie zusammen mieten können – und sie können sich bestimmt vorstellen, dass nicht jeder scharf darauf ist, an eine Gruppe pakistanischer Jungs zu vermieten.“

„Das ist doch illegal, oder?“, fragte Bronwen wütend.

„Ich denke schon“, stimmte Evan zu, „aber du bist nicht wirklich überrascht, dass eine alte, walisische Vermieterin Ausreden findet, um ihre Zimmer nicht an jemanden zu vermieten, der so andersartig aussieht, oder? Es ist schwer zu beweisen, dass es sich dabei um Diskriminierung handelt. Aber die Universität wird sich gewiss etwas einfallen lassen müssen, wenn dein Bruder hartnäckig bleibt.“

„Oh, glauben Sie mir, er ist gut darin, seinen Willen durchzusetzen.“ Jamila lächelte. „Rashid ist ein großer Kämpfer für seine Rechte.“

„Steh da nicht so herum, Evan“, sagte Bronwen. „Das Abendessen ist fertig und du bist sicher wie üblich am Verhungern.“ Sie legte Jamila eine Hand auf die Schulter. „Ich hoffe, es macht dir nichts aus, in der Küche zu essen, Jamila. Wir sind der Meinung, dass es im Wohnzimmer zu eng für einen Esstisch ist.“

„Nein, gar nicht, ich finde es toll, wie Sie sich hier eingerichtet haben“, sagte sie. „So warm und freundlich, wie aus dem Bilderbuch.“

„Das war der Plan“, sagte Bronwen. „Setzt euch, ihr zwei. Heute Abend gibt es Hähnchenauflauf. Du hast keine Essensvorschriften bezüglich Hähnchen, oder, Jamila?“

„Ich bin nicht wie mein Bruder, Mrs. Evans.“ Jamila rollte mit den Augen. „Ich bin nicht besonders religiös. Ich esse kein Schwein, weil meine Familie nie Schwein macht, aber ich habe bei Freundinnen schon Wurst gegessen. Ich meine, es hatte seinen Zweck, kein Schwein zu essen, als die Leute in der Wüste lebten und keine Möglichkeit hatten, rohes Fleisch zu kühlen, aber heutzutage ist Schwein so sicher wie jedes andere Fleisch, nicht wahr?“

„Da kann ich nur zustimmen“, sagte Bronwen, löffelte eine großzügige Portion Auflauf auf Jamilas Teller und stellte ihn vor ihr ab, „aber viele Menschen nehmen das sehr ernst, oder? Es wurde schon wegen weniger Krieg geführt.“

„Ich weiß. Meine Eltern waren auch nie besonders religiös. Mein Vater war immer ein frommer Muslim – geht in die Moschee, betet, all diese Dinge – aber er war nie ein Fanatiker. Aber mein Bruder stürzt sich richtig in die Sache. Er verlangt seit Jahren von mir, einen Hidschab zu tragen – Sie wissen schon, ein Kopftuch. Aber ich weigere mich. Ich meine, ich lebe in Großbritannien, oder? Und ich finde es beleidigend von Frauen zu verlangen sich zu verstecken. Wenn es nach Rashid ginge, würde er Mummy und mich unter Burkas verstecken und nie rausgehen lassen.“ Sie blickte in ihre Gesichter und lachte. „Ich meine das ernst. Er redet ständig auf meinen Vater ein, dass er mich ohne männliche Begleitung aus der Familie nicht auf Partys gehen lassen soll, oder an irgendeinen anderen Ort abseits der Schule. Das ist verrückt, oder?“

„Bleib deiner Sache treu, Jamila“, sagte Bronwen.

Jamila strahlte. „Oh, vielen Dank, Mrs. Evans. Sie wissen gar nicht, wie ermutigend es ist, das zu hören. Zum Glück habe ich in der Schule schon einige gute Freundinnen gefunden, die auch eine tolle Unterstützung sind. Ich bemühe mich, schnell Walisisch zu lernen; dann kann ich mit meinen Freundinnen telefonieren, ohne dass Rashid versteht, was ich sage.“
„Du kannst gerne herkommen und mit uns üben“, sagte Evan. „Ich bin Polizist und muss häufig Überstunden machen. Bronwen würde sich bestimmt über die Gesellschaft freuen, nicht wahr, Liebling?“

„Das wäre toll“, sagte Bronwen. „Ich helfe dir, Walisisch zu lernen, wenn du möchtest. Und da ich eine alte, verheiratete Lehrerin bin, dürfte selbst dein Bruder nichts dagegen haben, oder?“

Jamila schenkte ihnen beiden ein glückliches Lächeln.