Leseprobe Mord in Nizza

Burning Bridges

17. März 1921

Am 17. März vor vier Jahren erreichte mich die Nachricht, die ich seit Ausbruch des Krieges befürchtet hatte: Per Telegramm teilte mir ein Lieutenant-Colonel Merriweather zu seinem tiefsten Bedauern mit, mein Ehemann Captain Thomas Daniel Davies sei auf dem Schlachtfeld in Frankreich gefallen.

Ich stand in der Haustür, vor mir der Postbote, der etwas von Gott, Vaterland und Ehre murmelte, als ob das irgendetwas besser machte. Und wie all die anderen, die diese Nachricht erhielten, wusste ich auf seine Frage, ob er warten solle, nichts Besseres zu entgegnen als: »Keine Antwort, vielen Dank.« Was sollte ich dem Lieutenant-Colonel auch erwidern?

Ich erinnere mich gut, wie ich die Türe leise schloss und George, den alten Butler der Davies’, bat, Tee für meine Schwiegereltern aufzubrühen und im Salon zu servieren.

Ich wartete in der Halle, bis er zurückkam; ohne ihn und das nachmittägliche Ritual von Earl Grey, scones und clotted cream hätte ich kein Wort herausgebracht. Erst als ich vor Frederick und Lavinia stand, begriff ich, dass Thomas niemals wieder mit mir sprechen, lachen und tanzen, mich niemals wieder in die Arme nehmen und küssen würde. Das war unerträglich und doch gelang es mir, seinen Eltern das Unvermeidliche beizubringen, ohne vor Kummer zusammenzubrechen. Meine Sorge um Frederick verhinderte das. Ihn liebte ich, wie ich meinen eigenen Vater geliebt hatte, und er sah in mir vom Augenblick unserer ersten Begegnung an die Frau, die seinen Sohn glücklich machte. Wir verstanden uns. Meist reichte ein Blick, ein kleines Wort, und schon zwinkerten wir uns zu und lachten über Dinge, die nicht einmal Thomas verstand.

Und auch jetzt begriff Frederick, weshalb ich so ruhig blieb. Er nickte, stand auf, nahm mich in den Arm und verließ das Zimmer, schleppend, mit gebeugtem Rücken. Bis zum Abend blieb er in seinem Büro, wo er Stunde um Stunde Fotografien seines Sohnes betrachtete und in dessen alten Schulheften blätterte. Gelegentlich hörte ich ihn auflachen, öfter vernahm ich sein Schluchzen. Als er endlich herauskam, setzte er sich ins Wohnzimmer und bat seine Frau und mich zu sich. Wir sprachen über Thomas und die Dinge, die er geliebt hatte. Bittersüß war das und ich hielt tapfer an mich. Wäre ich in Tränen ausgebrochen, Frederick hätte diesen Tag kaum überstanden. Mein Schwiegervater und ich waren uns Halt und Trost.

Lavinia aber verzieh mir meine scheinbare Ruhe nicht, obwohl sie mich doch in den Jahren zuvor bei jeder Gelegenheit kritisiert hatte für meine mangelnde Zurückhaltung. Von Anfang an fand sie mich zu laut, zu wild, zu wenig damenhaft. Sie hatte sich für ihren einzigen Sohn mehr erhofft; wenigstens einen Adelstitel hätte ich mitbringen müssen, wenn ich schon nicht reich und schön war. Sie scheute sich nicht, Thomas einmal im Beisein meiner Großmutter vorzuschlagen, er solle sich von mir trennen. Thomas war so wütend, er wäre in derselben Nacht noch mit mir davongegangen, hätte ich ihm nicht weisgemacht, mir bedeute die Missachtung seiner Mutter nichts, solange ich nur seine und Fredericks Liebe hätte. Dass Lavinia sein Verbleiben nur mir zu verdanken hatte, hat sie nie begriffen.

Wir blieben also, doch zogen wir zwei Straßen weiter in unser eigenes Häuschen. Was natürlich meine Schuld war, davon war Lavinia nicht abzubringen. Überall erzählte sie, es sei meine Habgier, die nach einem eigenen Haushalt verlangte, obwohl die Geschäfte der Familie nicht mehr so gut liefen. Ihr Zorn auf mich ging so weit, dass sie zugab, weniger Geld zu haben als noch vor einigen Jahren – wer Lavinia kannte, staunte. Und wer Thomas und mich kannte, schüttelte still den Kopf und ging seiner Wege. Allein die Vorstellung, Thomas nähme mehr von seinem Vater als das Gehalt, das er als Leiter der Brauerei verdiente, war absurd. Vater wie Sohn waren bescheiden in ihren Ansprüchen und alles erarbeiteten sie sich hart; nichts wollten sie sich schenken lassen.

 

Frederick Thomas Davies hatte aus einem nicht eben üppigen Erbe genügend erwirtschaftet, um sich und seiner Familie ein bequemes Leben in Penzance zu ermöglichen; er hatte investiert in die Eisenbahn ebenso wie in die umliegenden Kupfer- und Zinnminen und er hatte eine Brauerei gegründet, die schon im Sommer 1910, da Thomas und ich heirateten, als einzige Einnahmequelle verblieben war. Eine Quelle, die nur noch schwach tröpfelte, nachdem der Krieg ins zweite Jahr ging. Was Frederick nicht daran hinderte, Geld für Lazarette zu spenden und einen Verein für Kriegswaisen zu gründen, den er großzügig unterstützte. Lavinia sonnte sich in der Anerkennung, die er dafür erhielt, warf ihm aber dennoch Tag für Tag vor, er würde sie der Armut überantworten. So lange klagte und schimpfte sie, dass ich meinen Mann während seines vorletzten Fronturlaubs vor vollendete Tatsachen stellte: Ich hatte das Häuschen gekündigt und war zurückgezogen in die Davies’sche Villa, was für uns alle billiger kam. Was Lavinia wieder nicht recht war – nun behauptete sie, ich sei mir zu fein gewesen, um mit nur einer Küchenhilfe meinen kinderlosen Haushalt zu führen.

Wie ich es auch versuchte, es gelang mir in elf Jahren nicht, von meiner Schwiegermutter nur ein einziges Lob zu erhalten. Das Leben mit ihr war eine Qual.

 

Weshalb ich nun – am 17. März 1921 – am Bahnsteig stand und auf den morgendlichen Cornish Riviera Express wartete, der mich in sieben Stunden nach London bringen würde. Ich hielt es keinen Tag länger unter Lavinias Dach aus, obwohl ich kaum wusste, wie ich mich durchbringen sollte. Widerwillig hatte sie mir gestattet, meinen Schmuck behalten zu dürfen. Schmuck, der mehr sentimentalen denn finanziellen Wert hatte. Meine beiden Koffer hatte sie in ihrem Misstrauen mehrfach kontrolliert, zuletzt heute Morgen, als Mr Jones bereits mit seinem Brauereikarren auf mich wartete. Ich denke, sie war maßlos enttäuscht, nichts darin zu finden, was nicht mir gehörte. Wortlos hatte sie sich umgedreht.

In meiner Börse ruhte all mein Geld in Höhe von fünf Pfund Sterling, zwei Shilling und einem Penny. Geld, das bei äußerster Sparsamkeit und billigster Unterkunft vier Wochen hinreichen würde. Dazu besaß ich neben meinem Schmuck ein Frisierset aus Perlmutt, zwei Abendkleider, fünf Paar Schuhe, zwei Mäntel, vier Tageskleider, vier Blusen, zwei Röcke und eine Sammlung Wäsche und Strümpfe; alles hoffnungslos veraltet und ein wenig abgetragen. Das war mein gesamter Besitz und der sollte mich nach Nizza bringen. Ich hätte vor Sorge vergehen müssen und doch hatte ich mich lange nicht so frei und zuversichtlich gefühlt. Fort von Penzance zu kommen, war mir vieles wert.

Was sollte mich hier auch halten? Als Frederick vor vier Wochen endlich von seinem Leid erlöst worden war, hatte Lavinia mir in aller Deutlichkeit klargemacht, welche Belastung mein Anblick für sie sei. Eine Stelle solle ich mir suchen, sie könne mich keinesfalls länger unterhalten. Und ich versuchte mein Glück überall, bot mich als Lehrerin an, als Verkaufskraft oder Sekretärin. Aber den einen war ich zu jung, den anderen zu alt und allen zu unerfahren. Ich war kurz davor, das einzige Angebot anzunehmen, das ich erhalten hatte, und mich als Haushälterin bei einem Vikar in St. Ives für kaum mehr als Kost und Logis zu verdingen, als ein Brief aus Frankreich eintraf. Meine frühere Pensionatskameradin Florence schrieb mir aus Nizza und bat mich, sie zu besuchen. Ich sei die Einzige, der sie vertrauen könne, und unbedingt bedürfe sie einer Gefährtin wie mir.

 

Florence Ward, verheiratete Smith-Babington, glaubte Anlass zu haben, an der Treue ihres Mannes Albert zweifeln zu müssen. Sehr ausführlich beschrieb sie ihre Lebensumstände und besonders detailliert ging sie auf die Peinlichkeit ein, die sie würde durchleben müssen, sollte sie wahrhaftig eine betrogene Ehefrau sein. Aus diesen Zeilen sprach weniger enttäuschte Liebe als verletzter Stolz.

Ich staunte, dass sie ausgerechnet mich angeschrieben hatte, denn wir waren niemals enge Freundinnen gewesen. Flossie war als junges Mädchen eine recht anstrengende Person, die mit übertriebener Munterkeit von ihrem mangelnden Interesse an anderen Menschen ablenkte. Mit ihr ließ sich hervorragend feiern, aber dann sehnte man sich nach guten Gesprächen und Stille, die in Flossies Nähe nicht zu erwarten waren. Unter anderen Umständen hätte ich diesen Brief mit einigen tröstenden Floskeln beantwortet, beiseitegelegt und vergessen. So jedoch, Lavinias ständigen Vorwürfen ausgesetzt, erschien mir die Aussicht auf einen Aufenthalt an der Riviera verführerisch. Flossies Angebot, Anreise und Hotel zu bezahlen, tat alles Weitere. Ich schrieb noch am selben Tag, ich würde mich auf den Weg machen, sobald ich die Zugtickets in Händen hielte, und wahrhaftig trafen diese per Kurier schon fünf Tage später bei mir ein. Flossie hatte sich nicht lumpen lassen: Sie hatte mich auf den Calais-Mediterranée Express gebucht, und das Erster Klasse.

 

Mit lautem Tuten und Schnaufen fuhr der Cornish Riviera ein und mich packte ein längst vergessenes Reisefieber. Als meine Eltern noch lebten, hatte ich einiges gesehen von der Welt; ich hatte es geliebt, mit Mama und Papa Meere, Berge und Städte zu entdecken.

Später malten Thomas und ich uns aus, wie wir all diese Plätze gemeinsam aufsuchen würden, wenn seine Arbeit nur endlich die Zeit dafür ließe. Nach Paris wollten wir, nach Venedig, wir wollten Florenz besuchen und Wien und Madrid, von einer Schifffahrt auf dem Rhein träumten wir und von den griechischen Inseln, Troja und den Pyramiden. Doch nie hatten wir es weiter geschafft als bis nach London und Edinburgh. Immerhin das.

Als ich in meinem Abteil saß und die Landschaft an mir vorbeiraste, nahm ich mir vor, einen Weg zu finden, all diese Orte zu besuchen. Das hätte Thomas gefreut. Vielleicht hatte ich Glück und fand eine von diesen überkandidelten Amerikanerinnen, die glaubten, sie müssten eine Gesellschaftsdame bei sich haben, um in Europa angemessen auftreten zu können. Oder eine reiche Familie, die eine Chaperone für ihre halbwüchsige Tochter suchte. In Nizza tummelten sich längst wieder all jene, denen Krieg und Wirtschaftsnot nichts hatten anhaben können. Oder die dank dieser Katastrophen überhaupt erst ihr Vermögen gemacht hatten. Unter diesen Menschen musste irgendwer sein, der die Dienste einer äußerst respektablen Witwe von dreißig Jahren benötigte, zumal diese Witwe gesegnet war mit umfassenden Kenntnissen in Kunst, Literatur und Sprachen und, wenn auch verarmt, wusste, wie man sich in der guten Gesellschaft zu benehmen hatte.

Ich ahnte nicht, auf was ich mich einließ.

 

Unter strömendem Regen erreichte der Cornish Riviera Express pünktlich um vier Uhr zehn den Bahnhof London Paddington. Es wimmelte von Geschäftsleuten, Bankiers, Kirchenmännern und Arbeitern; es drängten sich vornehme Damen neben Stenotypistinnen und abgehetzte Hausfrauen beäugten muntere Chormädchen. Dazwischen sorgten Bahnwärter und Gepäckträger dafür, dass alle und alles an den richtigen Ort kamen, was sie mit deutlicheren Worten taten, als es unser Bahnhofsvorsteher in Penzance für angemessen hielte. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich mich freute, hier zu sein. Sicher, ich war müde nach der Reise und die beiden Sandwiches, die ich eingepackt hatte, hatten meinen Hunger kaum gestillt, aber in diesem Trubel spürte ich endlich wieder, was es hieß, zu leben. In dieser Stadt mochte alles Mögliche geschehen!

Und es geschah. Leider. Der liebenswürdige Gepäckträger, der meinen Koffer aus dem Waggon hob, stellte sich keine drei Sekunden später als gemeiner Ganove heraus, der ohne ein weiteres Wort umdrehte und davonraste. Mit meinem Koffer! Ich kam mir albern vor, wie ich wahrhaftig die banalsten Worte hinter ihm herrief, die mir in den Sinn kamen: »Haltet den Dieb! Haltet ihn!«

Es drehten sich zwar einige Menschen nach mir um und ein junger Herr unternahm sogar den Versuch, dem Räuber mein Gepäck abzujagen, aber der ließ sich nicht beirren, rannte eine beleibte Dame um und verschwand in der Menge. Vermutlich wäre ich in Tränen ausgebrochen, hätte ich nicht bemerkt, welchen meiner Koffer der Dieb erwischt hatte. Es verdutzte den an meine Seite geeilten Bahnhofsangestellten sehr, mich lachen zu hören; er befürchtete, er habe es mit einer Wahnsinnigen zu tun. »Madam, ich bitte Sie, nehmen Sie sich diesen Vorfall nicht zu Herzen. Ein Schlückchen Sherry sollte Ihnen guttun, wenn Sie mit mir kommen wollen?«

»Wie überaus freundlich von Ihnen, vielen Dank. Aber es besteht kein Grund zur Sorge.«

Misstrauisch musterte er mich von oben bis unten. »Ein Schock, Madam, kann –«

»Nun, einen solchen dürfte den Dieb erwarten. Was meinen Sie: Wird er wohl meine Strümpfe stopfen und seiner Freundin schenken?« Wirklich fand ich die Vorstellung erheiternd, wie der Ganove meine Vorkriegsabendkleider und ein löchriges Hemdchen aus dem Koffer ziehen mochte.

Damit drückte ich mein verbliebenes Gepäck an mich und gab es nicht mehr aus der Hand, bis ich gute zehn Minuten später an der Rezeption des Great Western Royal Hotels nach dem Zimmer fragte, das Flossie für mich gebucht hatte. Wieder erwies sich meine Schulfreundin als großzügig, denn sie hatte nicht nur ein Zimmer reserviert, sondern auch gleich Dinner und Frühstück geordert und dazu eine Nachricht für mich hinterlegt, in der sie mich aufforderte, es mir so gut gehen zu lassen, wie ich nur wolle; sie ahne ja, dass ich in zumindest unsicheren finanziellen Verhältnissen lebe.

Damit verblüffte sie mich ein weiteres Mal: Ausgerechnet Flossie machte sich Gedanken um einen anderen Menschen als sich selbst? Und woher wusste sie von meinen Schwierigkeiten? Oder glaubte sie nur deshalb an finanzielle Schwierigkeiten, weil sie im Hinblick auf Vermögen und Status die bessere Partie gemacht hatte? Die Smith-Babingtons hatten ihre Finger seit Jahrzehnten in allem, was Geld brachte, und wenn der alte Smith-Babington auch nicht mehr als ein Baronet war, so war das doch immerhin ein Titel, den niemand in der Familie Davies hatte erringen können. Flossies Albert war ein ziemlicher Trottel und alles andere als eine Schönheit, aber gewiss hielt sie ihn für bedeutender, als sie es meinem Thomas zugestanden hätte – ein stiller, kluger Mann mit freundlichen Augen und einem drolligen Gesicht zählte nicht viel, wenn er kein Vermögen mitbrachte; da mochte er noch so warmherzig, witzig und wohlgesinnt sein.

Aber da war noch etwas anderes: Vielleicht war ich überempfindlich, aber in Flossies Zeilen glaubte ich nicht nur die lässige Großzügigkeit einer Frau zu lesen, die mehr Geld hatte, als sie ausgeben konnte. Klang da nicht auch die Erwartung heraus, ich sei mit Annahme dieser Geschenke der Geberin verpflichtet? Ging es hier wirklich nur um Kameradschaft? War ihr ein Gespräch unter vier Augen so viel wert? Oder war ich durch Lavinias jahrelange Nörgelei zu sehr daran gewöhnt, keine Freundlichkeit zu erwarten?

Mein Essen ließ ich mir auf dem Zimmer servieren und gegen neun Uhr schon löschte ich das Licht. Das Rattern der Nachtzüge schlich sich in meine Träume von Reisen und Abenteuern. Bester Laune schwang ich mich am nächsten Morgen aus dem Bett. Mein Zug sollte um drei Uhr vom Bahnhof Charing Cross abfahren und so brach ich früh genug auf, um mein Gepäck dort abzuladen und die National Gallery zu besuchen; eine Gelegenheit, die ich mir nicht entgehen lassen wollte, hing dort doch ein Gemälde meines Vaters.

 

Die Fahrt nach Dover war dank des Erste-Klasse-Abteils um ein Vielfaches bequemer, als es die Fahrt nach London gewesen war. Spät am Abend legte die Fähre ab und auch die Überfahrt nach Frankreich verlief ohne jegliche Unannehmlichkeit; Seekrankheit kannte ich nicht und so schlief ich auch in dieser Nacht tief und fest. So fest, dass ich nicht einmal mitbekam, wie wir im Morgengrauen anlegten.

Von Calais aus ging es in einem eleganten Salonwagen weiter nach Paris, wo wir gegen elf Uhr nachts eintrafen. Bis hierher hatte ich mich von Mitreisenden ferngehalten; ich wollte ungestört genießen, was ich sah und hörte, aß und trank. Es war kaum zu glauben, dass wir alle vor weniger als drei Jahren noch einen schrecklichen Krieg erlebt hatten, dem die meisten von uns bittere Opfer hatten bringen müssen. Die Damen und Herren in diesem Kompartiment waren teuer gekleidet und tranken Champagner, sie lachten und scherzten und unterhielten sich über Nichtigkeiten. Nur gelegentlich fiel einmal der Vorname eines Mannes, eine Stimme bebte, jemand seufzte und eine Sekunde lang herrschte Stille zwischen denen, die so sehr versuchten, ihr Leben neu einzurichten. Und ich saß äußerlich unbewegt auf meinem Platz und hoffte, es würde niemals vergessen werden, wie viel Unglück ein Krieg in unseren modernen Zeiten mit sich bringen würde. Das sei der Krieg gewesen, der alle Kriege beenden würde, so hieß es immer. Unsere Liebsten seien nicht umsonst gestorben, nie wieder würde die Welt es zulassen, so auseinandergerissen zu werden. Daran wollte ich mit aller Kraft glauben.

Hinter mir saß ein junges Paar in seinen Flitterwochen; er Franzose, sie Deutsche. Wenn das möglich war, wenn zwei Menschen glücklich werden konnten, obwohl sie aus so lange miteinander verfeindeten Nationen kamen, dann musste der ewige Frieden wohl gelingen. Ich wandte mich ab und las bis Paris in der Zeitschrift, die ich mir am Bahnhof hatte holen lassen.

 

In Paris hatte ich eine halbe Stunde, um in den Calais-Mediterranée umzusteigen; ein Schlafabteil von unbeschreiblichem Luxus wies mir der sehr charmante Zugbegleiter zu. »Et voilà, Mademoiselle, ich hoffe von ganzem Herzen, Sie werden eine so angenehme Nacht verbringen, wie sie einer Schwester der Aphrodite zusteht. Oder vielleicht einer Jüngerin der Musengöttin?«

Reichlich perplex starrte ich ihn an.

»Mademoiselle befinden sich gewiss auf dem Weg zu einem Engagement? Oder in den wohl verdienten Urlaub?« Er zwinkerte mir zu. »Auf der Flucht vor allzu aufdringlichen Verehrern? Das ist das Schicksal aller schönen Frauen, die über das Je ne sais pas quoi verfügen. Aber seien Sie versichert, ich passe gut auf Sie auf. Oder erwarten Mademoiselle den Besuch eines Bekannten?«

Ich weiß nicht, wie die französischen Männer es machen, aber hätte mir ein englischer Schaffner ähnliche Komplimente gemacht, ich wäre alles andere als geschmeichelt gewesen. Die Aufmerksamkeit seines französischen Kollegen hingegen bewirkte etwas Erstaunliches: Ich spürte zum ersten Mal seit Thomas’ Tod, dass ich eine Frau war und dazu noch nicht zu alt, um auf Bewunderung oder sogar Liebe hoffen zu dürfen. Nicht, dass ich mich noch einmal verheiraten wollte, aber ein kleiner Flirt würde mir gefallen.

In dieser Nacht träumte ich von all dem, was ich seit vier Jahren vermisste: von Tanz und Liebe. Es waren schöne Träume und doch waren sie mir am nächsten Morgen peinlich; es kam mir so vor, als verriete ich Thomas. Vielleicht saß ich aus dieser Verlegenheit heraus mit gesenktem Kopf im Speisesalon und sah nicht links und nicht rechts, als befürchte ich, man sähe mir meine Sehnsucht an. Albern, natürlich.

Nun, ich saß also beim Frühstück, blätterte in der Zeitschrift und blickte gelegentlich hinaus in das trübe Grau, das mehr an London erinnerte denn an Südfrankreich. Das allerdings noch Stunden entfernt lag; durch Lyon fuhren wir. Was ich sah, gefiel mir. Vermutlich hätte mir alles gefallen, was nicht Penzance war. Obwohl Penzance eine sehr hübsche Stadt ist. Ich hätte mit ziemlicher Sicherheit kein gutes Haar an Paris gelassen, hätte ich dort mit Lavinia leben müssen. Leise lachte ich auf. Ich war wirklich und wahrhaftig fortgegangen. Ich war frei!

»Sie haben ein reizendes Lachen, Mademoiselle. Absolument ravissante

Ich schrak zusammen. Da saß ein Herr an meinem Tisch und ich hatte ihn nicht bemerkt, bis er mich ansprach. Ich glaube, ich machte ein sehr britisches Gesicht, denn er erhob sich ein wenig, zückte einen unsichtbaren Hut und amüsierte sich sichtlich über meine Verwirrung. »Wenn ich mich vorstellen darf, Mademoiselle? Perrier, Gaston Perrier.«

»Enchantée, Monsieur Perrier. Mrs Thomas Daniel Davies mein Name.«

Er setzte sich. Lachte. »Engländerin, das dachte ich mir gleich.«

»Cornish, nicht englisch.«

»Sagen wir, Sie sind Britin. Es ist so typisch, dass Sie sich mit dem Namen Ihres Gemahls vorstellen. Eine Französin täte das nur, wenn sie kein Interesse daran hätte, meine Komplimente entgegenzunehmen.«

Er flirtete mit mir! Nahm ich an, sicher war ich nicht, mir fehlte die Erfahrung. Aber er sah mir unverwandt in die Augen, lächelte und wartete auf Antwort. Sehr französisch sah er aus, ganz wie die Zeichnungen in den Modeblättern für den eleganten Herrn: ein kleines schmales Bärtchen über der Oberlippe, das dunkle Haar sorgfältig gescheitelt, die Kleidung tadellos und dennoch nicht steif.

War er attraktiv? Die Frage wagte ich mir nicht zu beantworten. War er von sich überzeugt? Zu sehr, fand ich. Und fragte daher, ob er sich nicht vorstellen könne, dass auch ich keinerlei Interesse an seinen Galanterien habe.

»Das kann ich mir in der Tat nicht denken. Ich bin ein Mann, den die Damen mögen.« Er biss sich auf die Oberlippe. »Sie finden mich gewiss arrogant? Aber wäre Ihnen ein dummer Mann lieber, der nicht weiß, was man von ihm hält? Ich bin amüsant und ein hervorragender Gesprächspartner. Über kurz oder lang werden Sie feststellen, wie reizend auch Sie mich finden, und dann ist es womöglich zu spät.«

»Zu spät?«

»Wir haben noch gute zwölf Stunden Fahrt vor uns. Die können wir damit zubringen, uns zu langweilen, oder aber wir nutzen die Zeit, uns besser kennenzulernen.«

Das Verrückte war, ich fand ihn sympathisch, obwohl ich Arroganz nicht ausstehen kann. Und es war doch arrogant, sich selbst als Liebling der Frauen zu bezeichnen? Als amüsant und guten Gesprächspartner? Ein solches Lob überließ man besser anderen. Ich räusperte mich und nippte an meinem Kaffee.

»Madame, ich sehe es genau, Sie sind schon überzeugt. Lassen Sie Ihren Blick durch diesen Waggon schweifen und sagen Sie mir, ob es auch nur eine andere Person gibt, mit der Sie lieber zusammensitzen wollten.«

Unwillkürlich sah ich mich um und hätte ehrlicherweise zugeben müssen, dass er recht hatte. Ein englisches Paar mittleren Alters saß schräg auf der anderen Seite des Abteils, starrte stumm aus dem Fenster und zuckte schmerzlich zusammen, wann immer eines der Kinder der französischen Familie am Nebentisch sprach. Hinter mir hatten zwei Herren aus Spanien Platz genommen, die sich leise über ihre Geschäfte unterhielten, und gerade eben hatte eine bekannte Opernsängerin samt ihrer Entourage den Speisewagen verlassen.

Mein Gegenüber beobachtete mich, lächelte und hob die Hände, wie es nur die Franzosen können. »Ah, ich habe nicht gesagt, die Konkurrenz sei groß. Erzählen Sie mir, Mrs Thomas Daniel Davies, wo ist Mr Thomas Daniel Davies?«

Ich hatte nicht erwartet, über meinen Verlust zu sprechen, und ich weiß nicht, weshalb ich es tat; es hätte ein knapper Hinweis auf meine Witwenschaft gereicht. Doch ich hatte noch nie mit irgendjemandem darüber gesprochen, was Thomas’ Tod für mich bedeutete. Sicher, ich hatte mit meinem Schwiegervater über seinen Sohn geredet. Aber er sprach über dessen Kindheit und Jugend, seine Streiche und die Erfolge in Schule und Sport. Ich hörte meistens zu, lachte oder weinte und bestätigte, welch ein wunderbarer Mensch Thomas gewesen sei. Über meine Ehe und meine Einsamkeit sprach ich nicht, das war nichts für einen auch noch so geliebten Schwiegervater. Und die zwei Freundinnen, die ich hatte – nun, vielleicht hatte ich kein Talent für enge Freundschaften oder vielleicht war ich zu speziell, um in einer so kleinen Stadt wie Penzance die Frauen zu finden, die zu mir passten. Wir trafen uns alle Wochen zum Tee, wir strickten und nähten gemeinsam, wir lachten über den neuesten Tratsch und behielten eine jede für sich, was sie belastete.

Monsieur Perrier war in der Tat ein hervorragender Gesprächspartner. Er hörte aufmerksam zu und auch der kleinste Funken Spott war aus seiner Miene verschwunden. Recht bald schob er mir ein Taschentuch über den Tisch und bestellte eine heiße Schokolade mit Rum – meinen Einwand, es sei noch nicht einmal Mittag, ließ er nicht gelten und obwohl ich mit Alkohol nicht allzu viel anfangen kann, spürte ich doch, wie wohl er mir tat, als ich hemmungslos ausbreitete, was sich in den letzten vier Jahren angestaut hatte. Monsieur Perrier sagte nicht viel dazu und gab mir dennoch zu verstehen, ich müsse mich für nichts schämen.

Eine gute Stunde lang sprach ich und fühlte mich mit jeder Minute mehr von einer unerträglichen Last befreit. Ich erzählte von dem Abend, an dem ich Thomas kennenlernte und mich augenblicklich in ihn verliebte, von seinem Antrag, unserer Hochzeit und unserem Alltag, wie wir gemeinsam Rätsel lösten, uns aus unseren Lieblingsbüchern vorlasen und von unseren Spaziergängen, ja, sogar von unserem ersten Kuss und wie sehr ich es vermisste, ihn neben mir zu wissen, wenn ich einschlief.

Als Monsieur Perrier fragte, ob Thomas ein guter Liebhaber gewesen sei, war ich nicht empört, so selbstverständlich hatte sich diese Frage ergeben und so behutsam wurde sie gestellt.

»Ich denke schon«, antwortete ich nach kurzem Zögern.

»Sie wissen es nicht?«

Ich blieb still. Nicht, weil es mir peinlich war, über diese Dinge mit einem fremden Herrn zu reden – und es hätte mir peinlich sein sollen! –, sondern weil ich die Antwort nicht wusste. Wenn wir uns liebten, fühlte ich mich wohl, das unbedingt, aber mehr noch genoss ich die Augenblicke danach, wenn ich mich auf die Seite rollte und Thomas minutenlang meinen Rücken streichelte. Dann sprachen wir über unsere Träume für die Zukunft. Und auch das erzählte ich Monsieur Perrier. Er war ein Fremder, der mir guttat und den ich niemals wiedersehen würde, was machte es also aus?

Was er allerdings entgegnete, das stach: »Ihr Thomas war ein guter Mann und sein Tod ist ein Verlust für uns alle; es braucht solche Männer wie ihn, die wissen, was gut und richtig ist. Aber weshalb sprachen Sie nur von der Zukunft und lebten nicht die Gegenwart? Auf was wollten Sie warten? Wollten Sie die Pyramiden besuchen, wenn Sie kaum noch die Kraft haben würden, die Reise durchzustehen?«

»Seine Arbeit –«

»Nein, das ist eine Ausrede. Ihr Schwiegervater hätte seinem Sohn alles möglich gemacht, was er wollte, davon bin ich überzeugt. Und Sie wären lieber gestern als heute aufgebrochen. Das stimmt doch?«

Was Monsieur Perrier sagte, war genau das, was ich mir seit zehn Jahren nicht eingestehen wollte. Ich dachte zurück: Wir waren frisch verheiratet und Frederick hatte Thomas angeboten, ihn für ein halbes Jahr freizustellen, damit wir auf Reisen gehen könnten, bevor wir nichts als Arbeit und Familie kannten. Doch Thomas war der Meinung, es sei der falsche Zeitpunkt; die Brauerei brauche gerade seine Aufmerksamkeit. Und so war es weitergegangen, immer war etwas zu erledigen gewesen, immer drängte ein Konkurrent auf den Markt, musste eine Anlage erneuert, ein Rezept verbessert oder ein Arbeiter ersetzt werden. Schon die Fahrten nach London und Schottland hatte Thomas nur mühsam unterbringen können und kamen wir zurück nach Penzance, so nickte er jedes Mal zufrieden und meinte, daheim sei es eben doch am schönsten.

Sachte legte sich Monsieur Perriers Hand auf meine und ernsthaft entschuldigte er sich, wenn er mir Kummer gemacht haben sollte mit seiner Bemerkung. »Aber sehen Sie, Madame, ich denke, Sie sind eine Frau, die mehr vom Leben braucht als Kreuzworträtsel und Kameradschaft. Sie brauchen Leben und Liebe. Und beides sollte aufregend und kraftvoll sein.«

Das war zu viel. Das war unverschämt, das war anmaßend, das war zu persönlich! Ich stand auf. Gemessen und beherrscht. »Ich danke Ihnen, Monsieur Perrier, für die Mühe, mich zu unterhalten. Ich –«

»Gehen Sie nicht, Madame. Wenn Sie es für nötig erachten, entschuldige ich mich. Aber ich werde Sie nicht in Ihr Abteil gehen lassen, wenn ich weiß, Sie werden weinen und sich mit der Vergangenheit quälen.«

»Sie halten eine Entschuldigung also nicht für nötig?«

»Ich halte es für nötig, dass Sie nach vorne sehen und werden, wer Sie sind.«

»Sie kennen mich nicht. Weder wissen Sie, was gut für mich ist, noch sind Sie für mein Wohlergehen verantwortlich.« Ich weiß nicht, weshalb ich mich wieder setzte, da ich doch nichts lieber wollte, als in mein Abteil zu gehen. Um dort genau das zu tun, was er gesagt hatte: weinen und mich mit der Vergangenheit quälen, die ich nicht länger in gänzlich rosigen Tönen sehen konnte.

»Madame, ich entschuldige mich nicht für das, was ich denke, aber ich hätte es nicht jetzt schon sagen sollen. Dafür bitte ich um Verzeihung.«

»Sie liegen völlig falsch. Sie scheinen zu glauben, ich hätte weder Leben noch Liebe gehabt. Das stimmt nicht.« Obwohl es mir sonst leichtfiel, ruhig zu bleiben, hatte ich jetzt Mühe, nicht laut zu werden.

»Sie hatten es nicht in dem Maße, wie Sie es brauchen. Ich glaube, dass Ihr Schwiegervater Sie wie seine Tochter geliebt hat, und ich glaube, dass auch Ihr Gemahl Sie mit all der Leidenschaft geliebt hat, der er fähig war. Aber Sie …« Er brach ab. Lächelte. »Nein, ich sollte das nicht fortführen. Ich möchte Sie lachen sehen, lassen Sie uns über etwas anderes sprechen, oui?«

Ich nahm die Menükarte auf; es ging auf Mittag zu und trotz des reichhaltigen Frühstücks verspürte ich unbändigen Hunger. Ich ließ mir Zeit, die Karte zu studieren. Zeit, die ich vor allem brauchte, um meine widerstrebenden Gefühle zu verstehen. Was Monsieur Perrier gesagt hatte, schmerzte. Weshalb ich fortwollte von ihm. Aber dann wieder spürte ich, wie ich nun vielleicht die Chance hatte, von vorne zu beginnen, wenn ich mir nur eingestehen würde, was ich tief in mir lange schon ahnte: Dass es vor allem tiefe Freundschaft war, die ich für den besten Menschen in meinem Leben empfunden hatte. Natürlich hatte ich Thomas geliebt, ich tat es noch, aber es war nie das gewesen, was ich mir unter Leidenschaft vorgestellt hatte. Nicht, dass ich das erwartet hätte, kaum eine junge Frau aus guter Familie hatte mehr von ihrer Ehe erwartet als Respekt, Zuneigung und eine sichere Versorgung. Von Liebe träumte man, man erhoffte sie und las mit Staunen über ihre mitunter fatalen Auswirkungen. Es waren andere Zeiten gewesen, völlig andere Zeiten, die weiter entfernt waren, als die zehn Jahre Unterschied uns weismachen wollten. So viel hatte ich sogar in Penzance mitbekommen, dass etwas im Gange war, dass Frauen heute anders dachten und handelten, da dieser Krieg uns all unserer Ideale und Traditionen beraubt hatte. Ideale und Traditionen, die nicht sonderlich bewahrenswert gewesen waren, sah man einmal genauer hin.

»Worüber denken Sie nach, Mrs Davies?«

Ich hatte die Karte sinken lassen und Monsieur Perrier war offenbar in der Lage, meiner Miene so manches abzulesen. Aufrichtig interessiert sah er aus und ich glaubte, etwas wie Mitleid in seiner Stimme zu hören. Aber Mitleid wollte ich nicht, das hatte ich nie gewollt. »Ich dachte darüber nach, wie anders Frauen nun leben werden.«

Er lachte, nahm die Speisekarte auf und winkte dem garçon. »Madame und ich nehmen das Gratin und einen Bordeaux. Das Zitronensorbet bitte als Erstes, ein wenig Käse zum Abschluss.«

Ich widersprach nicht; in der Tat hatte ich mich für dasselbe entschieden.

»Alors, wie werden Frauen in diesem neuen Jahrzehnt leben? Lassen Sie mich überlegen … Ich denke –«

»Wir werden es miterleben. Was wollten Sie eben sagen?«

»Das Gratin in diesem Zug ist hervorragend und –«

»Sie sagten, mein Mann habe mich geliebt. Ich aber tat was?«

»Ich möchte Sie nicht noch einmal verärgern. Noch immer haben wir zehn Stunden vor uns und –«

»Woher wissen Sie, dass ich nicht in Marseille aussteige? Oder in Cannes?«

»Alle Engländer fahren nach Nizza.«

»Ich bin nicht alle Engländer.«

»Ich sah Sie gestern Nacht, als Sie mit dem Zugbegleiter sprachen. Ihr Abteil ist bis Nizza gebucht.« Er wartete, bis der Kellner das Sorbet abgestellt und sich entfernt hatte. »Ich beschloss, mir die Reisezeit mit Ihnen zu vertreiben.«

»Weil ich so unwiderstehlich bin.«

»Weil Sie ein Rätsel sind. Sie sind eine hübsche Frau, die traurig und selbstbewusst zugleich wirkt, das machte mich neugierig. Sie besteigen einen der mondänsten Züge und tragen Kleidung, die augenscheinlich von einer Schneiderin ohne modischen Ehrgeiz gefertigt wurde. Sie haben einen einzigen Koffer, Ihre Schuhe sind ein wenig abgetragen und doch bewegen Sie sich, als wären Sie mit dieser Art zu reisen vertraut, um dann wieder staunend in die Landschaft zu schauen, als erlebten Sie ein Wunder. Ich konnte in der Tat nicht widerstehen und ich bereue nicht, mich Ihnen aufgedrängt zu haben.« Er probierte vom Sorbet, nickte zufrieden. »Ich bedauere nur, Sie verärgert zu haben. Es hat mich mitgerissen. Das Sorbet ist vorzüglich, finden Sie nicht auch?«

»Das ist es. Was also hatten Sie sagen wollen?«

»Sie möchten es wirklich hören?«

Ich nickte. Und hörte, was ich selbst vor wenigen Minuten erst erkannt hatte: Monsieur Perrier war überzeugt, ich hätte aufrichtige Freundschaft mit der Liebe verwechselt, die Frau und Mann zusammenführt. »Oder zusammenführen sollte. Vielleicht ist es ein englisches Problem? Eine gewisse Kühle, eine seltsame Zurückhaltung auf beiden Seiten?«

Doch nun, da ich mich bestätigt sah, hatte ich keine Lust mehr auf eine Unterhaltung, die meine Ehe zum Gegenstand hatte. »Monsieur Perrier, Sie haben von sich behauptet, amüsant zu sein. Beweisen Sie es.«

Er lachte und zurück war der leise Spott in seinen Augen, um seine Mundwinkel. Er strahlte. »Ich laufe zu Bestform auf vor einem kritischen Publikum.«

Das tat er wahrhaftig. Er war mokant, spitzfindig, gebildet und interessiert an allem, was die Welt zu bieten hatte. Er ging auf jede meiner Anmerkungen ein, war abwechselnd ernst, melancholisch gar, um dann alles von der heiteren Seite her zu betrachten. Über was genau wir uns unterhielten, kann ich nicht mehr sagen, auf alle Fälle lachten wir herzlich über Lavinia, die mit jeder Meile, die ich mich von ihr entfernte, unbedeutender und alberner zu werden schien. Es verging mir die Zeit so angenehm wie lange nicht mehr. Er hatte nicht zu viel versprochen und ich fragte mich, ob ich ebenso empfunden hätte, hätte er sich nicht zuvor so gnadenlos offen über meine Ehe geäußert.