Leseprobe Mord in Kurland St. Mary

Kapitel 1

Februar 1816

Kurland St. Mary, England

„Verflucht noch mal!“

Der Ruf einer Schleiereule riss Major Robert Kurland aus seinem unruhigen Halbschlaf. Mit ungleichmäßigem Atem und staubtrockener Kehle starrte er wütend ins Dunkel.

Sobald er wieder auf den eigenen Beinen gehen konnte, würde er mit seinem Gewehr in den Wald ziehen und die Kreaturen der Nacht dafür büßen lassen, dass sie ihm jetzt schon seit Monaten den Schlaf raubten. Auch wenn das Vorhaben vielleicht in erster Linie von egoistischen Motiven getrieben war, so war es doch durchaus verständlich. Denn für ihn war jedes bisschen Schlaf so wertvoll wie Wasser für einen Verdurstenden.

Er setzte sich beschwerlich im Bett auf und lehnte sich gegen die unzähligen Kissen hinter sich. Neben dem vertrauten, ziehenden Schmerz seines gebrochenen Beins war jetzt auch ein neues, hämmerndes Pochen in seinem Kopf aufgeflammt. Unglücklicherweise hatte er seinen Diener angewiesen, die Vorhänge geöffnet zu lassen, sodass sein Zimmer jetzt wie die Landschaft vor den Fenstern von fahlem Mondlicht erhellt wurde. Sein Blick wanderte zu der schwarzen Flasche Laudanum und dem Wasserglas auf dem Nachttisch. Er könnte sich einfach eine Dosis davon gönnen, zurück ins warme Bett sinken und sich vom Schlaf übermannen lassen …

Eine verlockende Aussicht. Doch entgegen dem Rat seines Leibarztes ging Robert sparsam mit dem Opiat um. Die verführerische Flüssigkeit dämpfte seine Sinne und machte ihn vergesslich – zu jemandem, der einfach nicht er selbst war. Entschlossen widmete er sich stattdessen dem akuten Problem: Ohne die Vorhänge zu schließen, würde er niemals wieder einschlafen können. Die alte Uhr auf dem Kaminsims schlug ächzend zwei. Natürlich konnte er auch die Glocke neben dem Bett läuten und schon würde Bookman herbeieilen, aber es erschien Robert falsch, den Schlaf eines anderen Mannes für den eigenen zu stören. Er würde sich selbst des Problems annehmen müssen.

Robert schlug die Bettdecke zurück und inspizierte sein bandagiertes und geschientes linkes Bein. Wäre er ein Pferd gewesen, hätte man ihn für eine solche Verletzung einfach erschossen. Doch bei ihm hatte man in mühevoller Kleinarbeit versucht, die zertrümmerten Knochen wieder zu richten. Manchmal war ihm in den letzten qualvollen Monaten der Gedanke gekommen, dass die andere Lösung vielleicht besser gewesen wäre. Selbst nach all dieser Zeit war sein Bein noch immer recht nutzlos. Mit etwas Kraft aus dem Oberkörper gelang ihm eine halbe Drehung, sodass er beide Füße auf den Boden setzen konnte. Selbst eine so geringe Anstrengung ließ ihn in Schweiß ausbrechen und er stieß einige Flüche aus, die selbst die niedersten Fußsoldaten unter seinem Kommando hätten erröten lassen.

Er stützte sich auf die Kommode neben dem Bett und richtete sich auf. Bei jeder Bewegung musste er sichergehen, dass er nicht zu viel Gewicht auf seine linke Seite verlagerte. Bis zu den Fenstern war es nicht sonderlich weit und es gab auf dem Weg viele Möbel, an denen er sich abstützen konnte. Ein Teil von ihm war angewidert von dem Anblick, den er wohl bei dem Versuch abgeben würde, seinen verwundeten Körper durch den Raum zu schleppen. Doch der restliche Teil von ihm weigerte sich stur aufzugeben. Wenn er einfach tatenlos im Bett lag, befürchtete er, dass er niemals wieder aufstehen würde.

Er wankte von der Kommode zum Ohrensessel neben dem Kamin und ließ sich in das Polster sinken. Hier verweilte er einen Moment, bis er wieder zu Atem kam und seine Entschlossenheit zurückkehrte. Von diesem Platz aus erblickte er durch die Fenster die Umrisse der normannischen Kirche, die sich vor dem schwarzen Nachthimmel abzeichneten. Der klobige Bau stand zwischen seinem Anwesen und dem Dorfzentrum. Seitlich von Kurland Hall führte ein Weg direkt zur Kirche, in der seine Familie seit Generationen zur Sonntagspredigt dieselbe Bank zu besetzen pflegte. Nicht, dass er noch an Gott glaubte, aber es galt, den Anschein zu wahren.

Dass es wichtig war, ein gutes Vorbild abzugeben, hatten ihn zunächst sein Vater und später die Armee gelehrt. Und so würde er – sobald es ihm besser ginge – selbstverständlich seinen angestammten Platz in der ersten Reihe einnehmen.

Sofern es ihm jemals besser gehen würde …

Robert biss die Zähne zusammen und stand wieder auf. Den Blick hielt er auf die Erkerfenster fokussiert. Drei weitere taumelnde Schritte brachten ihn zu einem kleinen Schreibtisch, der unter seinem Gewicht unheilvoll ächzte. Seine Brust hob und senkte sich wie nach einem Wettrennen und sein Herz pochte so laut, dass es die tickende Uhr übertönte. Für einen kurzen Augenblick schob sich ein Schatten vor den Vollmond. Robert erkannte sofort den allzu vertrauten Umriss einer der verhassten Eulen.

Er schätzte die verbleibende Distanz bis zu den schweren, seidenbestickten Vorhängen ab. Konnte er vielleicht schon einen der Vorhänge schließen, wenn er sich ein wenig nach vorn lehnte? Er streckte die Hand aus, verlor jedoch kurz die Balance, sodass er unwillkürlich sein Gewicht nach hinten auf die Fersen verlagerte. Ein stechender Schmerz fuhr durch das linke Bein. Unter Roberts Gewicht waren die Tischbeine kaum stabiler als seine eigenen, sodass das Möbelstück ebenso sehr schwankte wie er. Er stützte sich an der Wand ab, um die Balance wiederzuerlangen. Schweiß rann sein Gesicht hinunter und die Welt verschwamm vor seinen Augen.

Er konzentrierte sich auf den beruhigenden Anblick der vertrauten Kirche, bis sich sein Atem verlangsamt hatte. Er konnte es schaffen. Er musste es schaffen. Die Unfähigkeit, seine eigenen verdammten Vorhänge zu schließen, spiegelte all den Frust wider, der sich in den letzten Monaten angesammelt hatte. Fast genau zwischen den beiden Fenstern stand noch ein Stuhl. Er musste ihn nur erreichen und er wäre am Ziel. Robert machte einen stolpernden Schritt nach vorn, warf sich halb über die Lehne des eleganten Stuhls und klammerte sich mit all seiner Kraft daran fest. Als er sich gefangen hatte und nach draußen blickte, bemerkte er einen Schatten, der sich durch den Park vor dem Fenster bewegte.

Er runzelte die Stirn. Was auch immer da draußen war, es kam nur langsam voran, fast so, als ob es etwas Schweres mit sich schleppte. Robert kniff die Augen zusammen. Erst jetzt erkannte er, dass es kein Tier war, das er beobachtete, sondern ein Mensch. Und dieser schien tatsächlich mit großer Mühe etwas zu tragen – ob in den Armen oder über der Schulter, war in der Dunkelheit nicht zu erkennen. Der Unbekannte folgte dem Weg zur Kirche hinab und warf im Mondlicht einen grotesk verzerrten Schatten an die alte Steinmauer.

„Was zum Teufel geht hier vor?“, murmelte Robert und reckte den Kopf, um das Geschehen besser verfolgen zu können. Der Stuhl geriet ins Wanken und Roberts Hände suchten nach Halt – doch vergeblich. Im Fallen drehte er sich wie ein verwundetes Tier instinktiv auf die rechte Seite, sodass diese zuerst auf die Dielen prallte. Auf dem Rücken kam er zum Liegen, gepackt von einer unbändigen Übelkeit verursacht durch die Wucht des Sturzes. Die weiße Stuckdecke war das Einzige, was er noch sehen konnte. Durch den Lärm, den sein Sturz verursacht haben musste, rechnete Robert damit, dass jeden Moment der halbe Haushalt ins Schlafzimmer gestürmt kommen würde.

Doch außer den spöttischen Rufen der Eulen blieb alles ruhig.

Robert war beinahe zum Lachen zumute. Zwar war er am Ziel angekommen, allerdings konnte er die Vorhänge noch immer nicht schließen. Obendrein sah es so aus, als wäre er dazu verdammt, eine außerordentlich unbequeme Nacht auf dem Fußboden zu verbringen. So viel zum stattlichen Major. Er vergrub sein Gesicht in der Armbeuge. Das letzte Mal hatte er mit sieben geweint, als man ihn ins Internat geschickt hatte. Zur Hölle mit seiner Würde, dann würde er eben zurück ins Bett kriechen!

***

„Vergiss bitte nicht, Major Kurland heute einen Besuch abzustatten, Lucy.“

Lucy Harrington warf ihrem Vater am Kopfende des Tischs einen kurzen Blick zu. Gelassen trank er seinen Tee und aß dazu Schweinebraten. Im Pfarrhaus war das Frühstück immer eine recht lebhafte Angelegenheit und dieser wunderschöne Frühlingsmorgen war keine Ausnahme. Anna und Anthony tauschten sich hitzig über das Wetter aus und die Zwillinge hielten sich damit bei Laune, sich gegenseitig mit Brotkrumen zu bewerfen. Im Sonnenlicht, das durch die hohen Erkerfenster einfiel, glänzte das blonde Haar der beiden jüngsten Pfarrerskinder engelsgleich, beinahe heller als die silberne Kaffeekanne. Das war allerdings auch das Einzige an den Zwillingen, das auch nur entfernt engelsgleich wirkte. Bevor Lucy sich Gedanken über eine passende Antwort für ihren Vater machen konnte, war sie erst einmal damit beschäftigt, den tropfenden Honiglöffel aus dem festen Griff von Michael zu entringen, während sie gleichzeitig versuchte, ihm das klebrige Gesicht abzuwischen.

„Hast du mir zugehört, Lucy?“

„Ja, Vater, habe ich.“ Nachdem sie erfolgreich den Löffel erobert hatte, tätschelte sie den Kopf ihres jüngsten Bruders und schenkte ihm noch etwas Milch nach. „Wirst du den Major heute nicht selbst besuchen können?“

Er sah sie ungehalten über den Rand seiner Brille an. „Ich muss zur Pferdeschau in Saffron Walden. Ich brauche ein neues Jagdpferd.“

Natürlich kam die Begeisterung ihres Vaters für neue Pferde immer vor seinen anderen Verpflichtungen. Lucy nickte den Zwillingen zu, die sofort eilig vom Tisch aufsprangen und durch die Tür verschwanden. Nur einen Augenblick später hörte sie, wie das Kindermädchen nach ihnen rief, gefolgt von zwei Paar Stiefeln, die sich die Hintertreppe hinunterstahlen. Vermutlich hätte Lucy den Zwillingen folgen sollen, um sie aufzuhalten, bevor sie in den Wald entkommen konnten. Doch ihr Vater sah sie an, als ob er noch eine Antwort erwartete.

„Ich glaube nicht, dass Major Kurland sich in meiner Anwesenheit sonderlich wohlfühlt, Vater.“ Sie legte ihr Messer auf dem Teller ab. „Er schätzt die Gespräche mit dir viel mehr.“

„Unfug, meine Liebe.“ Der Pfarrer erhob sich und inspizierte das Schlachtfeld auf dem Frühstückstisch. „Es ist deine Pflicht, den Kranken und Armen zu helfen, auch wenn deine eigenen egoistischen Wünsche anders aussehen mögen.“

Lucy hob entschlossen das Kinn. „Es ist Waschtag. Wer soll die Bediensteten beaufsichtigen, während ich auf Krankenbesuch fort bin?“

„Dir wird schon etwas einfallen, Lucy, so wie immer.“ Der Pfarrer faltete die Zeitung und legte sie auf der Leinentischdecke ab. „In meinem Arbeitszimmer liegen die neuesten Zeitungen aus London. Vielleicht kannst du sie zu Major Kurland mitnehmen und ihn mit den neuesten Skandalen am Hof unterhalten. An das Bett gefesselt zu sein, muss einem Mann der Tat wie unserem verehrten Major unsagbar schwerfallen.“

„Sicher ist es nicht einfach, Vater, aber –“

Der Pfarrer schob seinen Stuhl an den Tisch. „Meine Liebe, ich werde zum Abendessen zurück sein. Richte der Köchin bitte aus, dass mein Magen nicht noch ein weiteres Mal Hammel erträgt.“

„Ich kann mir eine Angel schnappen und unser Abendessen selbst fangen, wenn du möchtest,“ warf Anthony ein und zwinkerte dabei Lucy zu.

Ihr Vater hielt kurz inne, senkte die lange Nase und ließ seinem Sohn einen strengen Blick zuteilwerden, wie ihn nur ein Pfarrer beherrschte. „Du, werter Herr, wirst mit Mr Galton für die Aufnahmeprüfung in Cambridge lernen.“

„Aber nicht den ganzen Tag. Ich werde irgendwann schon Zeit zum Angeln finden. Natürlich nur, wenn Lucy mich nicht die Wäsche machen lässt.“

Lucy schenkte ihrem Bruder ein Lächeln. „Ich würde es nicht wagen, dir kostbare Zeit fürs Lernen zu stehlen.“

Anthony grinste und widmete sich wieder seinem Teller. Wie die meisten jungen Männer besaß er einen unstillbaren Appetit, der sich auch vom Auf und Ab der Emotionen am Tisch des Pfarrhauses nur wenig beeindrucken ließ.

„Nun, solange es kein Hammel ist, könnt ihr mir heute servieren, was euch beliebt.“ Der Pfarrer ließ seine Brille in die Westentasche gleiten. „Ich nehme Harris mit. Ihr braucht seine Dienste heute nicht, richtig?“

„Nein, Vater.“ Lucy begann damit, das Geschirr abzudecken, das die Zwillinge zurückgelassen hatten. „Und ich werde dafür sorgen, dass die Köchin über deine Anforderungen an das Abendessen Bescheid weiß.“

Ihr Vater blieb kurz stehen, um ihr einen Kuss auf die Stirn zu geben, und verließ dann den Speisesaal in Richtung der Stallungen. Durch die Tür hörte sie seinen fröhlichen Ruf nach Harris, mit dem er ihm gebot, sein Pferd nach vorn zu bringen. Lucy stützte das Kinn auf den Händen ab und begutachtete die krümeligen Überreste ihres Marmeladentoasts.

„Es ist schon in Ordnung, Schwesterchen. Ich finde sicher Zeit zum Angeln, egal was Vater sagt.“

Sie sah Anthony an. „Wenn du es einrichten könntest, wäre mir das eine große Hilfe. Unglücklicherweise wird der Rest von uns heute in jedem Fall wieder Hammel essen müssen. Außer natürlich du fängst einen Wal. Die Köchin muss noch eine komplette Hammelhälfte verarbeiten.“

Anthony stöhnte. „Kannst du das nicht den Armen spenden? Ich bin sicher, Major Kurland würde eine Schüssel Hammelsuppe sehr zu schätzen wissen.“

„Er würde sie mir wahrscheinlich an den Kopf werfen.“ Lucy platzierte den Deckel auf der Butterdose. „Ich habe nie einen übellaunigeren Menschen getroffen.“

„Aber Lucy!“ warf ihre Schwester Anna ein. „Er ist im Dienst für König und Vaterland bei Waterloo verwundet worden. Da kannst du kaum erwarten, dass er immerzu manierlich ist.“

„Bei meinem ersten Besuch zusammen mit Vater war der Major noch höflich. Erst seit ich es allein auf mich genommen habe, ihn zu besuchen, scheint er zu glauben, mir keinerlei Höflichkeit schuldig zu sein.“

Anna streckte den Arm aus und drückte Lucys Hand. Mit 20 Jahren war Anna nur fünf Jahre jünger als Lucy und galt gemeinhin als die Schönheit der Familie. Mit ihrem fröhlichen und entgegenkommenden Gemüt sah sie – im Gegensatz zu Lucy – grundsätzlich das Gute in allen Menschen. Wie die Zwillinge hatte sie blondes Haar, während Lucy und ihr Bruder mit ihren dunklen Haaren eher nach ihrem Vater kamen.

„Er kann nichts dafür, dass er anstrengend ist. Hast du einmal versucht, ihn aufzumuntern?“

„Das ist mir natürlich nicht in den Sinn gekommen. Ich sitze dort, weine in mein Taschentuch und bedaure ihn wegen seiner Wunden.“

„Kein Grund, schnippisch zu werden.“ Anna warf Anthony einen Blick zu. „Ich habe mich nur gefragt, ob du vielleicht ein bisschen ‚forsch‘ ihm gegenüber warst.“

„Meinst du so, wie ich mich meiner Familie gegenüber verhalte?“ Lucy hob die Augenbrauen. „Anna, wenn du den Mann an meiner Stelle besuchen willst, bist du herzlich dazu eingeladen.“

Die Bemerkung trieb ein sanftes Rot auf Annas Wangen. „Oh nein, ich bin sicher, mich würde er nicht sehen wollen.“

„Willst du etwa die Lady von Kurland Manor werden, Anna?“, fragte Anthony und stupste seine Schwester in die Seite. „Du hast Major Kurland doch schon angehimmelt, als du noch ein kleines Mädchen warst.“

Lucy lehnte sich zurück und musterte ihre errötende Schwester. „Das stimmt, das hatte ich ganz vergessen. Du bist ihm früher nachgelaufen wie eine Ministrantin.“

Anna nahm einen Schluck Tee und hielt den Blick sittsam gesenkt. „Trotz unseres großen Altersunterschieds war er immer sehr freundlich zu mir.“

Lucy aß den letzten Rest ihres Toasts. „Vielleicht solltest dann wirklich du zu ihm gehen. Ich wette, dich würde er für den bloßen Versuch, ein Gespräch zu führen, nicht ankeifen.“

„Damit sie ihn umschwärmen kann?“, fragte Anthony spöttisch. „Er ist fünfzehn Jahre älter als sie.“

„Na und? Vater war fünfzehn Jahre älter als Mutter. Es ist nicht ungewöhnlich, wenn Männer älter sind als ihre Ehefrauen.“

„Und trotzdem ist sie vor ihm gestorben, weil sie zu viele Kinder hatte.“ Annas Lächeln verblasste. „Das hat ihr mehr abverlangt, als sie aushalten konnte.“

Lucy griff nach Annas Hand. „Das mag stimmen, aber wie Vater dich sicher erinnern würde, ist das die Bestimmung einer jeden Frau.“

Anna riss ihre Hand los. „Das macht es trotzdem nicht besser!“

Lucy konnte ihr nur zustimmen. Der Verlust ihrer Mutter bei der Geburt der Zwillinge vor fast sieben Jahren hatte eine verheerende Wirkung auf die Familie gehabt. Ab diesem Tag war Lucy mit neunzehn Jahren plötzlich verantwortlich für zwei schreiende Kleinkinder gewesen. Während die Erinnerung an ihre Mutter immer weiter verblasste, fühlte Lucy sich zunehmend, als wäre sie die Mutter der Zwillinge. Und natürlich behandelten die beiden sie auch wie ihre Mutter. Lucy würde es sehr mitnehmen, wenn die Zwillinge im Herbst in die Schule kamen.

Lucy erhob sich abrupt. Es brachte nichts, hier zu sitzen und Trübsal zu blasen. Sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass man so gar nichts erreichte. „Anna, wenn du nicht wünschst, Major Kurland zu besuchen, dann wirst du Betty und Mary beaufsichtigen, während sie die Wäsche machen.“ Sie versuchte, nicht allzu hoffnungsvoll dreinzuschauen. Vielleicht konnte sie so Anna doch noch umstimmen und die unliebsamste Pflicht des Tages an sie abtreten. Zu ihrer Enttäuschung nickte ihre Schwester nur zustimmend.

„Natürlich werde ich helfen. Soll ich nach Betty klingeln, damit sie den Tisch abdeckt?“

„Nein, das werde ich selbst erledigen.“ Lucy erblickte durch das Fenster den strahlend blauen Himmel. „Betty zieht gerade schon die Betten ab und ich will sie nicht dabei stören. Fangt am besten jetzt schon mit der Wäsche an, bevor das schöne Wetter umschlägt.“

„Ich werde auch helfen“, bot Anthony an. „Mr Galton wird erst in einer Stunde hier sein.“

„Aber solltest du nicht eigentlich Edward in der Kirche zur Hand gehen?“

Anthonys charmantestes Lächeln blitzte auf, das Lucy verdächtig an das ihres Vaters erinnerte. „Ach was, Edward wird schon zurechtkommen. Er mag es ohnehin nicht, wenn ich ihm helfe. Er sorgt sich wohl, dass Vater mir seinen Posten übertragen könnte.“ Er schnaubte. „Als ob ich ein einfacher Vikar in einem Dorf wie diesem hier sein wollte.“

„Sei still, Anthony!“, ermahnte Lucy ihren Bruder. „Edward kann wohl kaum etwas für seine Umstände. Und ohne ihn würde Vater nicht um all die lästigen Aufgaben herumkommen, die als Pfarrer mehrerer kleiner Gemeinden anfallen.“

„Das Einkommen eines Pfarrers schätzt er dann aber doch.“ Anthony nahm einen letzten Schluck Tee.

„Das geht uns nichts an“, sagte Lucy streng. „Auch wenn Vater vielleicht ein großzügiges Einkommen erhält, muss er damit auch für eine große Familie sorgen. Wie, glaubst du, kann er sich einen Privatlehrer für dich leisten?“

Anthonys Mund verzog sich zu einem Schmollen. „Er gibt mehr für seine Pferde aus als für meine Bildung, und seinem Vikar zahlt er kaum einen Hungerlohn.“

Der Vikar, Edward Calthrope, war ein biederer Mann etwa in Lucys Alter, der mit ihnen im Pfarrhaus wohnte. Er erledigte all die einfachen Aufgaben, die in der Gemeinde Kurland St. Mary und den Nebengemeinden Lower Kurland und Kurland St. Anne anfielen und von einem Pfarrer zwar erwartet, aber lieber gemieden wurden. Lucy wusste nur wenig über Edwards Hintergrund, da er selten über seine Familie sprach. Es war ein Mysterium, wie es ihn nach Kurland verschlagen hatte.

„Du solltest gehen und Edward deine Hilfe anbieten“, ermahnte Lucy ihren Bruder. „Er arbeitet viel zu viel.“

„Und ich etwa nicht?“ Anthony gähnte, streckte die Beine und blickte auf seine Stulpenstiefel herab. „Immerhin lerne ich gerade für Cambridge.“

Lucy nahm einen Tellerstapel und steuerte auf die Tür zu. „Und ich muss Major Kurland einen Besuch abstatten. Wie Vater schon gesagt hat: Wir alle müssen manchmal Dinge tun, die wir lieber nicht tun würden.“ Sie musterte ihren Bruder. „Und du wärst weniger müde, wenn du nachts tatsächlich schlafen würdest. Ich habe heute Morgen nicht überhört, dass du die Treppe hinaufgeschlichen bist.“

„Spionierst du mir etwa nach, Lucy? Das hätte ich nicht von dir erwartet.“

„Ich habe nicht spioniert, ich bin lediglich aufgestanden.“ Sie wartete kurz ab, aber Anthony machte keine Anstalten zu enthüllen, wo er gewesen war – und warum sollte er auch? Als junger Mann war es sein gutes Recht zu verschwinden, wann immer ihm danach war.

Anthony nahm seinen Teller und seine Tasse. „Also gut, liebste Schwester, dann mache ich mich auf den Weg in die Kirche, wo ich Kerzenwachs abkratzen und die Mausefallen wieder aufstellen darf.“

„Danke!“ Lucy blieb kurz stehen, um ihm ein Lächeln zu schenken. Trotz seiner oft anstrengenden Gewohnheiten, die er mit vielen jungen Männern teilte, war er ein ausgesprochen guter Bruder. Auch ihn würde sie verlieren, wenn er die Prüfungen bestehen und in Cambridge aufgenommen werden würde. Das bereitete ihr zwar weniger Sorgen als der Gedanke, die Zwillinge zu verlieren, aber es bedeutete dennoch, dass ihre Familie sich weiterentwickelte, während sie …

„Oh, Miss Lucy!“

Sie drehte sich um und erblickte das Kindermädchen der Zwillinge, wie es die Haupttreppe mit schief sitzender Haube und bis zu den Knien hochgezogenem Kleid heruntergeeilt kam.

„Was gibt es, Jane?“

„Die beiden Bengel sind schon wieder ausgebüxt. Was soll ich nur mit ihnen machen?“

„Lass sie erst einmal laufen. Sie können nicht ewig wie die Wilden herumtoben.“

Jane wischte sich den Schweiß mit der Ecke ihrer Schürze von der Stirn. „Das stimmt natürlich, Miss. Aber es ist mir ein Rätsel, wie sie in der Schule zurechtkommen sollen.“

Unglücklicherweise wusste Lucy aus der Erfahrung mit Anthony, dass das Leben im Internat schon bald jeglichen Eigensinn aus den Köpfen der Zwillinge treiben würde. Sie hasste den Gedanken, aber es gab nichts, was sie dagegen tun konnte. Ihr Vater bestand darauf, dass sie echte englische Gentlemen werden mussten. Und offenbar musste ein Gentleman lernen, alles zu ertragen, was seine Feinde sich für ihn ausdenken mochten, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Zwar hatte ihr Vater Schriften darüber vorgelesen, wie das englische Schulsystem sich an den Eckpfeilern der spartanischen Agoge orientierte, Lucy war aber noch immer nicht überzeugt, dass dies der richtige Weg war, ein Kind zu erziehen.

„Sie kommen spätestens zurück, wenn sie hungrig werden. Wieso hilfst du mir nicht, den Tisch abzudecken, und gehst anschließend mit Miss Anna den Wäschehaufen an?“

Erst viel später fiel Lucy wieder ein, dass sie im Arbeitszimmer ihres Vaters nach den neuesten Londoner Zeitungen schauen sollte, um sie Major Kurland vorlesen zu können. Nicht, dass dieser die Geste zu würdigen wissen würde. Wenn er den neuesten Tratsch aus der Stadt gewollt hätte, hätte er sich zweifelsohne selbst eine Zeitung leisten können. Sein Vater hatte eine reiche Erbin aus dem industriellen Norden geheiratet, und im Gegensatz zu vielen anderen Adelshäusern ging es dem Hause Kurland blendend.

Lucy ermahnte sich selbst für die unchristlichen Gedanken und suchte die Zeitungen wie geheißen zusammen. Das Arbeitszimmer roch nach Brandy, Sattelleder und dem Duftwasser, das der Kammerdiener ihres Vaters nach dessen Rasur aufzutragen pflegte. Sie ließ den Blick an den langen Bücherreihen entlangwandern und stellte sich vor, anstelle von Anthony auf Cambridge vorbereitet zu werden. Ihr Vater sagte immer, dass sie viel zu intelligent sei für ein Mädchen, aber er hatte ihr dennoch stets erlaubt, jedes Buch zu lesen, das sie sich aussuchte – selbst die etwas skandalträchtigeren Werke. Gedankenverloren setzte sie den Stopfen auf das Tintenglas. Sobald die Zwillinge und Anthony aus dem Haus waren, wäre vielleicht die richtige Zeit, um mit Vater über ihre Zukunftspläne zu reden.

Nachdem sie noch einmal sichergegangen war, dass alles, was sie für ihre verschiedenen Pflichten im Dorf benötigte, auch tatsächlich in ihrem Korb war, machte Lucy sich auf den Weg. Dabei behielt sie stets das Wetter im Auge, denn es konnte recht unbeständig sein und innerhalb weniger Augenblicke von Sonnenschein in Wolken umschlagen. Sie band die Schnüre ihrer schlichten Strohhaube fest unter dem Kinn zusammen und knöpfte ihren blauen Wollmantel zu. Vielleicht sah sie damit aus wie die alte Jungfer, zu der sie sicherlich einst werden würde, aber wenigstens würde sie nicht frieren.

Entlang der Auffahrt zum Pfarrhaus reckten bereits einige versprengte Frühblüher ihre Köpfe der strahlenden Sonne entgegen. In ein paar Wochen würde der Rest ihrem Beispiel folgen und die Beete in ein Blumenmeer aus Gelb und Purpur verwandeln. Vor etwa zehn Jahren hatte ihr Vater das Pfarrhaus neu bauen lassen und dabei Steine in einem sanften Gelbton gewählt, der Lucy an die Häuser in Bath erinnerte. Das Bauwerk war symmetrisch als Rechteck angelegt. Die weiße Eingangstür war beidseitig von je vier hohen Fenstern flankiert, ganz im klassischen Stil von Robert Adam, den ihr Vater sehr bewunderte.

Der Pfarrer hatte die Reparaturversuche am zweihundert Jahre alten Haus, das zuvor hier gestanden hatte, aufgegeben und es stattdessen abreißen lassen. Lucy hatte noch immer schöne Erinnerungen an das ältere Pfarrhaus mit seinen Rautenfenstern, Holzbalken, hohen Decken und verschlungenen Wendeltreppen. Als Kind hatte es sich angefühlt, wie in einem Märchenschloss zu leben. Sie dachte aber praktisch genug, um zuzugeben, dass es schwer gewesen wäre, das Gebäude weiter instand zu halten – besonders für einen jungen Mann mit einer stetig wachsenden Familie. Das neue Haus fügte sich immer noch nicht richtig in die Umgebung ein und wirkte daher etwas fehl am Platze. Die Narben des Baus waren noch sichtbar anhand der klar abgetrennten Wegränder und der fehlenden hohen Bäume im direkten Umfeld.

Lucy war froh, dass es nicht länger durch das Dach tropfte und dass die Küche nicht nur einen guten Rauchabzug besaß, sondern auch über einen geschlossenen Herd verfügte. Zuvor hatte hier ein riesiges, offenes Feuer gebrannt, wie es in mittelalterlichen Küchen üblich gewesen war. Vorbei waren die Zeiten, in denen die Flammen Qualm und Ruß über das gekochte Mahl gehustet hatten. Ihre Mutter hatte immer geliebt, wie die hohen, rechteckigen Fenster die Räume erhellten und sie hatte darauf bestanden, dass immer in jedem Kamin des Hauses ein Feuer zu brennen hatte.

Am Fuße der Auffahrt bog Lucy nach rechts ab und folgte der Hauptstraße Richtung Kurland Village. Der Untergrund war feucht und matschig, sodass sie im Nachhinein froh war über ihre Entscheidung, doch lieber ihre stabilen Stiefel anzuziehen. Sie begegnete auf der Straße niemand anderem – aber das war zu dieser Tageszeit auch nicht anders zu erwarten gewesen. Trotz des wärmenden Sonnenscheins konnte sie ihren Atem als kleine, weiße Wolke sehen. Auch ihre Wangen bekamen die Berührung der letzten eisigen Ausläufer des Winters zu spüren.

Lucy erreichte die ersten strohgedeckten Häuser am Wegrand, in denen die Feldarbeiter vom Kurland-Anwesen wohnten. Sie passierte eine Frau, die gerade damit beschäftigt war, die Wäsche aufzuhängen. Mit dem Mund voller Wäscheklammern nickte sie Lucy zur Begrüßung zu. Lucy lächelte und erwiderte die Geste. Eine Windböe drückte den Kittel der Frau eng an den Bauch und enthüllte so, dass sie wohl ein weiteres Kind erwartete. Lucy machte sich einen gedanklichen Vermerk auf ihrer Liste anstehender froher Anlässe. Bald würde sie eine weitere Garnitur Wöchnerinnenkleidung nähen oder stricken müssen.

Die Häuser standen zunehmend eng beieinander, bis Lucy schließlich das Dorfzentrum mit seinem von Gebäuden umringten Park erreichte. Auf dem Ententeich war endlich das Eis getaut und Lucy war froh zu sehen, dass einige der ansässigen Vögel zurückgekehrt waren und ihren angestammten Platz am mit Schilf überwucherten Ufer eingenommen hatten. Etwas Großes, das Lucy nicht ganz erkennen konnte, ragte aus dem Teich wie ein merkwürdig verdrehter Ellenbogen. Sie würde darüber mit Major Kurland reden müssen, denn es war seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass der Teich nicht verkam und überwucherte.

Tatsächlich aber hatte sie kein Bedürfnis, mit Major Kurland über irgendetwas zu sprechen, das seinen Zorn auf sie ziehen könnte. Möglicherweise wäre es besser, sich mit ihren Bedenken an seinen recht unausstehlichen Landverwalter zu wenden. Bei ihm bestand immerhin die Möglichkeit, dass er zuhören würde, auch wenn er am Ende nichts unternahm.

„Miss Harrington?“

Der Ruf riss Lucy aus den Gedanken über den Ententeich. Sie drehte sich um und erblickte Mrs Weeks, die Frau des Bäckers, die ihr aus der Tür ihres Ladens zuwinkte. Der Duft von frischem Brot gemischt mit einem Hauch von Zimt und Zucker drang verführerisch an Lucys Nase. Als Kind hatte sie oft ihre Pennys zusammengespart und sich ins Dorf geschlichen, nur um sich ein glasiertes Teilchen oder einen Eccles Cake von der Bäckerei zu holen.

„Guten Morgen, Mrs Weeks!“ Lucy trat in die Bäckerei und schloss eilig die Tür, um die Kälte auszusperren. „Kann ich etwas für Sie tun?“

Mrs Weeks verschränkte die Arme. „Ich habe mich nur gefragt, ob Sie wünschen, dass ich eine Torte für den Geburtstag unseres Herrn Pfarrers backe.“

„Ich würde sie liebend gern von Ihnen machen lassen, Mrs Weeks. Aber leider gibt es da das kleine Problem, dass Mrs Fielding uns das übel nehmen könnte.“

„Sie regt sich über jede Kleinigkeit auf, aber auch sie kann nicht abstreiten, dass ihre Torten nicht so fluffig sind wie meine.“

Lucy hatte ihr ganzes Leben ähnliche Diskussionen gehört. Die Rivalität zwischen der Bäckerei und der Köchin des Pfarrers hatte noch vor Lucys Geburt ihren Anfang genommen. Damals hatte ihre Mutter die Tradition begründet, anlässlich des Geburtstags ihres Ehemanns extra eine Überraschungstorte in Auftrag zu geben. Sie hatte Mrs Weeks darum gebeten, was ihr Mrs Fielding nie verzeihen konnte. Das Problem war, dass Mrs Weeks weitaus bessere Torten machte, die Lucys Vater viel lieber mochte.

„Bitte backen Sie die Torte, Mrs Weeks“, sagte Lucy und unterbrach damit die lange Aufzählung aller Dinge, die Mrs Fielding zu Mrs Weeks gesagt und was diese darauf erwidert hatte. „Ich bin sicher, sie wird wie immer vorzüglich sein.“

Sie würde Mrs Fielding besänftigen, indem sie sie damit beschäftigt hielt, ein üppiges Abendessen mit allen Lieblingsspeisen des Pfarrers zu kochen. Vielleicht würde sie den zusätzlichen Kuchen dabei gar nicht bemerken. Natürlich würde es ihr irgendwann auffallen, aber dann wäre es bereits viel zu spät, um noch etwas daran zu ändern. Die Strategie hatte in den letzten Jahren recht gut funktioniert und Lucy war überzeugt, dass sie erneut erfolgreich sein konnte – vorausgesetzt, dass Mrs Weeks nicht allzu lautstark nach der Sonntagsmesse mit ihrem Triumph prahlte.

Lucy bemerkte, dass Mrs Weeks noch immer sprach, und schenkte ihr daher wieder ihre Aufmerksamkeit.

„Meine Daisy, Miss Harrington.“

„Entschuldigen Sie, aber was ist mit Ihrer Daisy?“

„Sie hätte gern bald eine neue Stelle. Und ich habe mich gefragt, ob Sie vielleicht im Pfarrhaus ihre Dienste brauchen könnten. Sie ist eine starke, hart arbeitende junge Frau und sie weiß, was sich gehört.“

Lucy versuchte sich Daisy in Erinnerung zu rufen und sah dicke, geflochtene Zöpfe, braune Augen und einen dauerhaft grimmigen Gesichtsausdruck vor ihrem geistigen Auge.

„Möchte sie nicht bei Ihnen im Laden weiterarbeiten?“

„Nicht mehr, Miss. Sie sagt, sie will hoch nach London ziehen und die Magd einer reichen Lady werden.“

„Und Sie sind anderer Meinung?“

„Sie ist meine Jüngste und ich hatte gehofft, sie noch ein paar Jahre bei mir zu haben. Ich glaube nicht, dass sie schon bereit dafür ist, nach London zu ziehen. Sie ist da natürlich anderer Meinung. Wahrscheinlich liegt sie immer noch oben im Bett und schmollt nach unserem letzten Streit.“

„Wie alt ist sie?“

„Achtzehn, Miss.“

Lucy ging die Bediensteten im Pfarrhaus durch. „Wenn mein Bruder nach Cambridge geht und die Zwillinge im Herbst zur Schule kommen, brauche ich vermutlich eher weniger Bedienstete als mehr. Tut mir leid, Mrs Weeks. Aber ich werde mich bei den Nachbarn umhören, ob jemand dort eine Magd braucht.“

„Ist schon gut, Miss. Da kann man nichts machen.“ Mrs Weeks streifte die Hände an der Schürze ab. „Ich bin sicher, sie wird etwas finden – so Gott will. Nun dann, kann ich Ihnen noch etwas anbieten, wo Sie schon hier sind?“

Lucy verließ den Laden mit einem halben Dutzend glasierter Teilchen und ging nebenan zum Gemischtwarenladen, um den Inhalt ihres Nähkästchens aufzustocken. Erst plauderte sie dort mit der Inhaberin, dann unterhielt sie sich eine weitere Viertelstunde mit dem Metzger über die Qualität der Weihnachtsgänse. Dabei ließ sie taktvoll einfließen, dass das Pfarrhaus in nächster Zeit kein weiteres Hammelfleisch benötigen würde. Ihr war klar, dass sie nur Zeit schindete, weil sie den Weg zum Kurland-Anwesen hinauszögern wollte. Doch irgendwann gingen ihr die Themen aus.

Als Kind hatte sie es geliebt, das Anwesen zu besuchen. Die Mutter des Majors war eine charmante und freundliche Gastgeberin gewesen, die den Kindern des Pfarrhauses eingetrichtert hatte, das Anwesen als Erweiterung ihres eigenen Zuhauses zu betrachten. Natürlich hatte Lucys Mutter angedeutet, dass der Grund dafür war, dass Mrs Kurland nicht von adeliger Abstammung war und daher ein wenig überfreundlich auftrat, doch Lucy hatte das nicht gestört. Sie hatte sich darüber gefreut, ab und zu von ihrer Mutter loszukommen und den beiden Kurland-Jungen hinterherzulaufen. Selbst damals hatte sich Robert Kurland recht distanziert gegeben und nichts von ihren Kinderspielen gehalten. Als ältester Sohn und Erbe hatte er nichts von der sorglosen Art seines Bruders gehabt. Er hatte die Kinder des Dorfes kaum beachtet, die sich auf dem weitläufigen Anwesen von Kurland Hall getroffen hatten, um zu schwimmen und zu spielen. Nach seiner Aufnahme in Eton und dem Tod seines Bruders hatte er sich vollends zurückgezogen.

Sie marschierte den Weg zum Familiensitz des Majors mit ähnlich viel Vorfreude hinauf wie eine Kavallerieeinheit, die auf dem Hügel von einer Kanonenstellung erwartet wurde. Der Marsch brachte sie außer Atem. Plötzlich flammte dabei in ihr eine schmerzliche Sehnsucht nach ihrem älteren Bruder Tom auf, der in der Familiengruft bei der Kirche lag und auf das Jüngste Gericht wartete.

Sie zwang sich dazu, an fröhlichere Angelegenheiten zu denken. Insgeheim war sie dankbar, dass Major Kurland nicht dem Beispiel ihres Vaters gefolgt war und das elisabethanische Anwesen durch einen modernen Klotz aus Stuck ersetzt hatte. Das Haus war E-förmig und geprägt von dicken Balken, schmalen Fenstern und fantastisch hohen und schiefen elisabethanischen Schornsteinen im prachtvollen Stil von Hampton Court. Im Ort erzählte man sich, dass viele der Balken im Inneren von den zerstörten Schiffen der Flotte von König Heinrich VIII. stammten. Das würde sowohl ihre ungewöhnliche Dicke als auch die teils unpraktischen Krümmungen erklären.

Generation für Generation hatten die Kurlands an das Haus angebaut – einige erfolgreicher als andere. Heute war es daher ein Durcheinander von Treppen, die ins Nichts führten, von hohen Fenstern, wo einst Schießscharten gewesen waren, und das alles war umringt von einem wunderschönen Park, den der berühmte Landschaftsgärtner Capability Brown angelegt hatte.

Lucy klopfte an die alte Eichentür und blickte in böser Erwartung das geschnitzte Familienwappen der Kurlands an, das auf dem Holz prangte. Eigentlich hätte sie mehr Mitgefühl für Major Kurland empfinden müssen. Er musste im Gegensatz zu ihrem Bruder mit den Schrecken von Waterloo weiterleben.

Foley, der Butler, öffnete ihr die Tür und begrüßte sie mit einem Lächeln.

„Guten Tag, Miss Harrington. Sind Sie hier, um den Major zu besuchen? Er liegt schon wieder im Bett.“

„Dann will ich ihn nicht weiter stören“, sagte Lucy hastig. „Vielleicht können Sie ihm diese Zeitungen geben, wenn er aufwacht?“

„Oh nein, Miss. Er ist wach und wird Sie sicherlich gern sehen wollen.“ Er senkte die Stimme. „Der Doktor war hier. Der Major ist schon den ganzen Morgen über mürrisch wie ein Ochse und beschwert sich, dass er keine anständige Gesellschaft hat.“

Lucy versuchte sich etwas zu überlegen, um ihr Eintreten doch noch zu verhindern, aber irgendwie war es Foley schnell gelungen, sie mit bestimmtem Griff an ihrem Ellenbogen die Treppe hinaufzubugsieren. Für so einen kleinen Mann war er außerordentlich kräftig. Sie ordnete ihren Korb und entledigte sich ihrer Handschuhe. Dies war eine Gelegenheit, christliche Nächstenliebe zu zeigen, und dies sollte sie eigentlich mit Freude tun.

Foley klopfte an die Schlafzimmertür des Majors und stieß sie weit auf. „Miss Harrington ist hier für Sie, Sir. Ich werde den Tee bringen.“

Kapitel 2

„Guten Morgen, Major Kurland. Wie geht es Ihnen heute?“

Lucy setzte ein breites Lächeln auf und trat in das geräumige Schlafzimmer des Majors. Die Vorhänge waren halb zugezogen, ließen aber genug Licht herein, sodass sie nicht Gefahr lief, versehentlich gegen eines der wenig einladend wirkenden Eichenmöbelstücke zu laufen. Major Kurland saß aufrecht in seinem Himmelbett inmitten eines Hügels aus Kissen. Selbst von der Tür aus konnte Lucy sehen, dass der Major recht blass wirkte. Kurz zuckte ein schmerzvoller Ausdruck über sein Gesicht.

„Gut genug, Miss Harrington.“

Lucy zögerte. „Ich kann auch morgen wiederkommen, wenn es gerade unpassend ist.“

„Ich glaube kaum, dass sich bis morgen irgendetwas bessern wird. Sie können genauso gut eintreten.“

„Ich möchte aber keine Umstände machen.“

„Miss Harrington, wenn ich Sie nicht sehen wollte, hätte ich Foley angewiesen, Sie schon an der Tür abzuweisen.“

„Sie wollten mich sehen?

„Umgeben von all diesen Untergangspropheten sind Sie eine willkommene Stimme der Vernunft.“

Aus seinen Worten war eine Spur Ungeduld zu hören, die sie inzwischen nur allzu gut kannte.

„Bin ich das?“

„In der Tat. Ihre optimistische Sicht auf das Leben ist immer äußerst unterhaltsam.“

Lucy hob entschlossen das Kinn. Vielleicht war es an der Zeit, sich gegen den verbitterten Major durchzusetzen. „Wenn Sie gedenken, sich über mich lustig zu machen, werde ich Sie in Frieden lassen.“ Sie wartete auf eine Antwort und hielt dabei den Griff ihres Korbes umklammert. Doch Major Kurland starrte weiter aus dem Fenster.

„Ich mache mich nicht über Sie lustig. Ich habe einen furchtbaren Morgen hinter mir, den ich damit verbracht habe, Dr. Baker an mir herumzerren zu lassen. Und jetzt steht mir der Sinn nach etwas Ablenkung.“

Hinter seinem höflichen Ton war eine Spur Niedergeschlagenheit herauszuhören. Brauchte er wirklich etwas Gesellschaft? In ihrer Brust rührte sich das nur allzu bekannte Gefühl von Schuld. Ihr Vater würde von ihr erwarten, dem armen Mann eine Chance zu geben und zu bleiben, um ihn ein wenig aufzubauen.

Sie nahm die gefalteten Zeitungen aus ihrem Korb und schritt an die Seite des Bettes. „Vater hatte die Eingebung, dass Sie sich vielleicht über Zeitungen aus London freuen würden.“

Erst jetzt drehte er sich zu ihr – und zuckte unwillkürlich zurück, denn sie hielt ihm die Zeitungen direkt unter die Nase, wie um einen tollwütigen Hund kurz vor dem Angriff mit einem saftigen Knochen abzulenken. Sie errötete und stopfte die Zeitungen zurück in den Korb.

„Was ist passiert? Die Prellung in Ihrem Gesicht, meine ich.“

Er winkte ab. „Ich bin gestürzt.“

Ohne nachzudenken, stellte Lucy ihren Korb ab und setzte sich auf die Bettkante, um ihn genauer zu untersuchen. „Was in aller Welt haben Sie nur gemacht?“

Er blickte sie finster an. „Nichts, worüber Sie sich Gedanken machen müssten, Miss Harrington. Sie sind weder meine Krankenschwester noch meine Mutter.

„Gott sei Dank“, murmelte Lucy mehr zu sich selbst.

„Wie war das bitte?“

Unglücklicherweise war sein Gehör besser als erwartet. Ohne mit der Wimper zu zucken, erwiderte sie den düsteren Blick seiner dunkelblauen Augen. „Sie sind ein ungemein schwieriger Patient, Major, und ich bin aufrichtig erleichtert, dass ich nicht länger für Ihre Pflege verantwortlich bin.“

Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. „Ich vermute, ich schulde Ihnen erneut eine Entschuldigung.“ Er räusperte sich. „Ich bin heute Morgen etwas streitlustig. Ich habe mich letzte Nacht ein wenig übernommen. Laut Dr. Baker habe ich meine Genesung um mehrere Wochen zurückgeworfen.“ Die Art und Weise, wie er sprach – niedergeschlagen und trostlos –, ließ Lucy vermuten, dass der Major gerade viel mehr von seinen innersten Gefühlen preisgegeben hatte als beabsichtigt. Instinktiv tätschelte sie seine Hand.

„Dr. Baker ist ein Pessimist, Major. Ich bin mir sicher, Sie werden weit schneller genesen, als er vorhersagt.“ Er gab keine Antwort, stattdessen schien sein Blick fixiert auf den Anblick ihrer Hand auf der seinen. „Ich denke, ich sollte Sie wahrscheinlich in Ruhe die Zeitungen lesen lassen und zurückkehren, wenn Sie sich besser fühlen.“

„Gehen Sie nicht!“ Zu ihrer Bestürzung legte er seine starken Finger um ihr Handgelenk. „Auch wenn Sie das vielleicht nicht glauben, Miss Harrington, aber ich weiß Ihre Besuche sehr zu schätzen.“

„Tatsächlich?“ Lucy versuchte nicht, die Hand zurückzuziehen. Selbst in seinem geschwächten Zustand vermutete sie, dass Major Kurland weit stärker war als sie, und sie hatte nicht vor, sich auf ein unwürdiges Ringen mit dem Major einzulassen. „Ich tue nur meine christliche Pflicht, Sir.“

„Ihre christliche Pflicht“, wiederholte er. „Wo ist Ihr geschätzter Vater heute?“

„Ich bin mir nicht ganz sicher.“ War es falsch, über die Angelegenheiten eines Pfarrers zu lügen, selbst wenn es ihr Vater war? „Ich vermute, er kümmert sich in irgendeiner Form um die Gemeinde.“

„Merkwürdig, denn mein Kammerdiener hat mich darüber informiert, dass es heute eine Pferdeauktion in Saffron Walden geben soll, an der der Pfarrer wohl teilnehmen wollte.“

Lucy setzte einen strengen Blick auf. „Es steht mir nicht zu, die Handlungen meines Vaters zu hinterfragen, Sir. Ich bin hier, weil er mich darum gebeten hat, Ihnen einen Besuch abzustatten.“

„Und Sie sind natürlich ganz die pflichtbewusste Tochter.“

„Offensichtlich.“

„Denn sonst wären Sie nicht gekommen.“

Zwischen ihnen hing eine schwere Stille. Schließlich hob Lucy den Kopf und blickte dem Major herausfordernd in die Augen. „Sie sagten, Sie schätzen meine Besuche. Wenn das der Fall ist, dann bin ich nur allzu froh, Ihnen zu Diensten sein zu können.“

Einer seiner Mundwinkel zuckte kurz nach oben und formte ein überraschendes Lächeln. „Ich glaube, deshalb weiß ich Ihre Besuche so zu schätzen. Trotz Ihrer höflichen Worte vermute ich doch, dass Sie mir nur allzu gern eine Standpauke halten würden. Sie sind die einzige Person, die mich nicht wie einen Invaliden behandelt, der nicht nur die Fähigkeit zu laufen, sondern auch seine geistigen Kräfte verloren hat.“

Was auch immer in der Nacht passiert war, hatte den Major anscheinend dazu veranlasst, offen mit ihr zu sprechen. Lucy entschied, dass sie im Gegenzug ebenfalls ehrlich sein sollte. Das war das Mindeste, was sie tun konnte. Tatsächlich fühlte es sich sogar erleichternd an.

„Ich bedaure zutiefst, dass Sie verletzt worden sind, Sir, aber ich glaube nicht, dass es Ihnen das Recht gibt, sich gegenüber allen wie ein missmutiger Ochse zu verhalten.“

Er gab ihre Hand frei und ließ sich in die Kissen sinken. Auf dem weißen Leinen erschien sein kurzes, dunkles Haar fast pechschwarz. „Ich fühle mich, als ob eine Pferdebrigade durch meinen Kopf galoppiert, mein Bein schmerzt höllisch und seit meinem Sturz zieht sich der Schmerz durch meinen ganzen Körper. Und der Sturz war auch noch meine eigene verdammte Schuld, weil ich mich für schlauer hielt als meinen eigenen Arzt. Ich denke, ich habe jedes Recht, nicht immer die Freundlichkeit in Person zu sein.“

„Ihnen selbst gegenüber vielleicht, aber nicht zu denen, die Ihnen nur helfen wollen. Ihr Benehmen schreit nur nach Selbstmitleid.“

Das hier war die vielleicht unorthodoxeste Unterhaltung ihres Lebens. Was auch immer dem Major in der vorigen Nacht widerfahren war, hatte ihn offenbar an diesen Punkt gebracht. Sicherlich war es jetzt ihre Pflicht, ihn zumindest anzuhören. Also saß sie hier, ohne Aufsicht, auf dem Bett eines Gentlemans, der sich seine Gefühle von der Seele redete. Gefühle, die sie als unverheiratete Frau niemals hören sollte und von denen sie niemals gedacht hätte, dass sie sich unter dem harten Äußeren des Majors verstecken könnten.

Aber er hatte gesagt, dass er ihre Anwesenheit schätzte – dass sie die Einzige war, die ihn nicht bemitleidete.

Seine abrupte Bewegung riss sie aus den Gedanken. „Ich bin mir bewusst, dass ich mich derzeit nicht von meiner besten Seite zeige, Miss Harrington. Deshalb lasse ich nur sehr wenige Leute überhaupt zu mir.“ Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Aber da wir uns nun schon so lange kennen, werde ich – nur für Sie – die Anstrengung wagen, ein Mindestmaß an Höflichkeit aufzubringen.“

Lucy schenkte ihm ein Lächeln, erhob sich vom Bett und zog einen Stuhl heran. „Dann werde ich eine Weile bleiben. Im Pfarrhaus ist Waschtag. Ich habe also tatsächlich kein Bedürfnis, zu früh dorthin zurückzukehren.“

„Danke, Miss Harrington.“ Er rutschte unruhig auf den Kissen herum, als versuche er unter großer Mühe, eine Position zu finden, die nicht schmerzhaft war. „Geht es Ihrer Familie gut?“

„Ja, Major, sehr gut. Ich versuche, die Zwillinge zu zivilisierten Menschen zu erziehen, bevor sie im Herbst in die Schule kommen.“

„Sie sind schon alt genug für die Schule?“

„In der Tat.“ Lucy setzte ein Lächeln auf.

„Ich erinnere mich noch, als meine Mutter mir von ihrer Geburt schrieb … Und von dem Tod Ihrer Mutter. Das muss eine schwere Zeit für Ihren Vater gewesen sein.“

„Ich glaube, das war es auch.“

„Er hatte sehr viel Glück, dass Sie für ihn da waren, um ihn zu unterstützen und den Haushalt so kompetent zu führen.“

„Es war meine Pflicht, Sir.“

„Ah, da ist das Wort schon wieder.“ Seine Finger gruben sich verkrampft in die Laken. „Wir haben alle unsere Pflichten, nicht wahr?“

„Ich schätze, so ist es.“ Lucy versuchte ein anderes Gesprächsthema zu finden. Manchmal fühlten sich die Anforderungen ihrer Familie erdrückend an, aber sie glaubte nicht, dass der Major davon etwas wissen wollte. Er war dem Ruf der Pflicht für König und Vaterland gefolgt und als Belohnung verwundet worden. Ihre armseligen Beschwerden darüber, die Tochter zu sein, die zu Hause bleiben musste, waren nichts dagegen.

„Und wie geht es Ihrem Cousin Paul, Sir?“

Er hob die Augenbrauen. „Ich habe keine Ahnung.“

„Er hat nicht einmal geschrieben, um sich nach Ihrer Gesundheit zu erkundigen?“

„Ich habe Paul das letzte Mal gesehen, als er mich nach einem beträchtlichen Kredit für eine seiner neuen Geschäftsideen bat, Miss Harrington. Da ich ihm keinen Penny gegeben habe, haben wir uns seitdem nicht mehr gesprochen.“

„Oh.“ Am mürrischen Gesichtsausdruck des Majors erkannte Lucy, dass er nicht mehr über seinen ungeratenen Cousin sprechen wollte. „Würden Sie gern Zeitung lesen oder sollen wir vielleicht eine Partie Schach spielen?“

„Ich kann mich auf Schach nicht konzentrieren und ich kann nicht lesen, ohne Kopfschmerzen davon zu bekommen. Vielleicht könnten Sie mir vorlesen?“

Gerade griff Lucy nach den Zeitungen in ihrem Korb, da klopfte es an der Tür und Foley trat mit einem Teetablett ein.

„Bitte sehr, Miss Harrington.“

„Danke, Foley.“ Lucy lächelte dem Butler zu, der das Tablett auf einem kleinen Tisch neben ihr abstellte.

Foley zog sich zurück und Lucy wandte sich wieder Major Kurland zu. „Darf ich Ihnen Tee einschenken?“

„Gibt es auch Kaffee?“

Lucy ließ den Blick über das Tablett schweifen und schüttelte den Kopf. „Nein, es gibt nur Tee und warme Muffins. Haben Sie Hunger?“

„Nein, danke. Ich nehme einfach nur Tee.“

Lucy erkannte, dass er nur aus Höflichkeit zustimmte, aber immerhin bemühte er sich. Sie schenkte ihm eine Tasse des duftenden Gebräus ein und trug es an die Bettseite.

„Brauchen Sie Hilfe, sich hinzusetzen?“

„Nein, das schaffe ich schon.“

Mit Mühe richtete er sich ein Stück weiter auf. Lucy unterdrückte dabei den Impuls, ihm zu helfen. Sie hatte kein Bedürfnis danach, angeschrien zu werden. Männer und ihr Stolz waren manchmal ausgesprochen albern. Sie pustete zur Abkühlung auf den Tee und hielt ihm die Tasse auf dem zierlichen Untertässchen hin.

„Soll ich …”

„Nein.“

Er riss ihr die Tasse aus den Händen, sodass das Porzellan gefährlich wankte und rappelte wie ein zerbrechliches Ruderboot auf hoher See. Sie griff reflexartig nach dem Tee, wusste aber bereits, dass es zu spät war. Eine Welle heißen Tees schwappte auf die Hand des Majors und auf das Bett.

„Teufel, verdammt!“

Sie ignorierte seine haarsträubende Ausdrucksweise und machte Anstalten, das Geschirr wieder an sich zu nehmen und den verschütteten Tee aufzuwischen. Er hielt die Hand an die Brust gedrückt und besudelte damit auch sein weißes Nachtgewand mit Tee. Vorsichtig nahm Lucy seine geballte Faust in die Hand, entfaltete die Finger und untersuchte sie eingehend.

„Ich glaube, es ist nicht allzu schlimm. Lassen Sie mich ein Tuch holen, damit Sie sich abwaschen können.“

Sie ging hinüber zum Nachttisch, wo ein Krug und eine Waschschüssel bereitstanden. Sie füllte etwas kaltes Wasser in die Schüssel und brachte es zusammen mit einem weichen Leinentuch zurück an die Bettseite. Major Kurland sprach kein Wort, als sie erneut seine Hand zu sich zog, auf den nassen Lappen legte und in die Schüssel eintauchte. Sie beugte sich über das Gefäß und studierte seine Finger.

„Tun sie noch weh?“

„Machen Sie sich um mich keine Sorgen.“

Sie zog seine Hand und das Tuch aus dem Wasser, wickelte die gekühlten Finger in das feuchte Tuch und drückte sanft zu.

Er stieß einen halb unterdrückten Fluch aus, der Lucy zusammenzucken ließ. Sie schaute direkt in seine blauen Augen.

„Geht es Ihnen gut, Major?“

„Was glauben Sie? Ich kann nicht einmal eine Tasse Tee ohne Hilfe trinken. Was bin ich überhaupt noch für ein Mann?“

„Es geht Ihnen nicht gut, Sir. In ein paar Wochen werden Sie schon viel stärker sein.“

„Es ist schon Monate her, Miss Harrington, und ich kann kaum stehen.“

Lucy nahm die Wasserschüssel und stellte sie zurück an ihren Platz. Sie schenkte sich eine weitere Tasse Tee ein und brachte sie ans Bett.

Major Kurland winkte ab. „Ich will nicht noch mehr verdammten Tee.“

„Dann werde ich ihn trinken.“

Lucy nahm einen Schluck des heißen Tees und wartete, bis Major Kurland sich wieder etwas entspannter zurückgelehnt hatte. Die verbrühte Hand hielt er weiter an die Brust gedrückt. Er schloss die Augen und ein Schauder schien seinen Körper zu durchlaufen. Lucy vermutete, dass er sich gleich wieder bei ihr entschuldigen würde. Es war nicht leicht, ihren schwierigsten Patienten an seinem Tiefpunkt beobachten zu müssen, und es war außerordentlich schwer, ihn nicht zu bedauern. Aber wie sie ihn kannte, würde es ihn nur wütend machen, wenn sie versuchte, ihr Mitgefühl für seinen Zustand auszudrücken.

„Sie wollten mich heute Morgen sprechen. Hatten Sie dabei ein bestimmtes Anliegen?“ Lucy setzte ihre Tasse auf dem Tablett ab.

Langsam hob er den Kopf, um ihren Blick zu erwidern, und atmete schwer aus.

„Ich habe mich gefragt, ob heute Nacht irgendetwas Ungewöhnliches im Dorf passiert ist.“

„Was meinen Sie mit ‚ungewöhnlich‘?“

„Diebstahl zum Beispiel?“

Lucy runzelte die Stirn. „Nicht dass ich wüsste. Ich war heute schon im Dorf und niemand hat mir gegenüber etwas Derartiges erwähnt. Wieso fragen Sie?“

Er glättete die teedurchtränkten Laken. „Ich habe heute Nacht nicht gut geschlafen. Ich dachte, ich hätte draußen etwas gehört.“ Er blickte zu den Erkerfenstern. „Meine Fenster gehen Richtung Kirche und auf das Dorf hinaus.“

„Sind Sie deshalb aufgestanden?“

„Was hat das damit zu tun?“, fragte er ungeduldig. „Ich habe Sie nur gefragt, ob Sie von ungewöhnlichen Vorkommnissen gehört haben.“

Auch wenn sie froh war, dass er offenbar wieder ganz sein reizbares Selbst war, so missfiel ihr dennoch sein Tonfall.

„Und ich habe Ihnen geantwortet, dass ich davon nichts weiß.“ Sie erwiderte seinen zornigen Blick. „Wünschen Sie, dass ich mich für Sie umhöre?“

„Ich wünschte, dass ich aus diesem verdammten Bett aufstehen und mich selbst umhören könnte, aber das ist unmöglich.“

„Ich weiß, dass Sie nicht in bester Verfassung sind, Major, aber könnten Sie bitte davon absehen, derartige Ausdrücke vor einer Lady in den Mund zu nehmen. Das ist das vierte Mal, dass Sie heute Morgen geflucht haben.“

Er nickte steif. „Dann entschuldige ich mich dafür. Mir war nicht klar, dass Sie mitzählen.“

Da Lucy in der Antwort echtes Bedauern vermisste, fuhr sie fort: „Ich weiß, ich bin die Pfarrerstochter und Sie kennen mich seit Jahren, aber ich bin dennoch immer noch eine Lady.“

Sein fast unmerkliches Lächeln kam überraschend und verunsicherte sie. „Tatsächlich neige ich dazu, das zu vergessen, Miss Harrington. Nicht viele unverheiratete Ladys aus meinem Bekanntenkreis würden sich mitten am Tag mit mir das Bett teilen, ohne sofort einen Heiratsantrag zu erwarten.“

Lucy fühlte, wie das Blut in ihre Wangen strömte. Sie sprang vom Bett auf und setzte sich zurück auf den Stuhl. „Ich bin die Vertreterin meines Vaters in geistlichen Angelegenheiten und stehe daher auch in dieser Sache über derartigen materiellen Belangen.“ Sie nahm einen der gebutterten Muffins und kaute ihn langsam und gründlich.

Erst nach einer Weile wagte sie es wieder, den Major anzublicken. Seine Augen waren geschlossen und er sah beinahe so blass aus wie die Kissen hinter ihm. „Wenn Sie es wirklich wünschen, werde ich für Sie weitere Erkundigungen einholen und Ihnen davon berichten.“

„Das wäre sehr freundlich von Ihnen, Miss Harrington.“

Sie erhob sich und legte vorsichtig die Zeitungen auf dem Bett ab. „Auf Wiedersehen, Major. Ich werde morgen wieder vorbeikommen.“

Als keine Antwort kam, wurde Lucy klar, dass er offenbar im Begriff war einzuschlafen. Sie nahm ihren Korb und schlich auf Zehenspitzen zurück auf den Flur. Dabei stieß sie beinahe mit Foley und dem Kammerdiener Bookman zusammen, die direkt vor der Tür vertieft in eine Konversation standen.

„Geht es dem Major gut, Miss Harrington?“, fragte Foley.

„Er wirkte recht müde. Ich habe ihm die Zeitungen meines Vaters dagelassen, damit er sie später lesen kann.“

Bookman schüttelte den Kopf. „Er ist erschöpft, Miss, so viel ist sicher. Der Doktor war heute Morgen sehr besorgt. Er hat gedroht, das Bein zu amputieren, wenn der Major sich nicht an die Anweisung hält, es zu entlasten.“

Lucy schlug sich vor Schreck die Hand vor den Mund. „Amputation? Ich wusste nicht, dass die Lage so ernst ist. Ist die Wunde noch infiziert?“

„Soweit wir wissen nicht, Miss, aber mit all den gebrochenen Knochen, die zusammenwachsen müssen, muss der Major sich viel Zeit zur Erholung nehmen. Und er ist nicht gerade der geduldigste Mann.“

„Das kann ich mir vorstellen. Was genau ist denn letzte Nacht passiert?“

Bookman zuckte mit den Achseln. „Es scheint so, als habe der Major versucht aufzustehen und sein Wasserglas nachzufüllen, ohne nach mir zu klingeln. Er stürzte und hat es nicht zurück ins Bett geschafft. Ich habe ihn heute Morgen auf dem Boden aufgefunden.“

Lucy fragte sich, warum er seine Vermutung über einen Raub im Dorf nicht mit seinen Bediensteten geteilt hatte. Dachte er, sie würden ihm nicht glauben?

„Oje. Er erzählte, dass er im Moment schlecht schlafe. Kann er nicht etwas einnehmen, das ihm dabei helfen könnte einzuschlafen?“

„Er mag es nicht, Laudanum einzunehmen, Miss. Er sagt, es dämpfe seine Sinne und dass er sich nicht wie er selbst gefühlt habe, als er es noch regelmäßig nehmen musste. Halluzinationen und Albträume und Derartiges.“ Bookman schüttelte den Kopf.

„Auch ich nehme es nur ungern ein“, bemerkte Lucy. „Besteht denn die Möglichkeit, den Major zu tragen, sodass er tagsüber in einem Stuhl am Fenster sitzen kann? Ist er stark genug, um zu sitzen? Ich vermute, er würde sich viel besser fühlen, wenn er wenigstens sehen könnte, was draußen vor sich geht.“

„Das ist eine gute Idee, Miss. Ich werde Dr. Baker bei seinem Besuch morgen fragen, was er davon hält.“ Bookman seufzte. „Ich mag es wirklich nicht, Major Kurland so zu sehen. Wirklich nicht.“

Lucy machte sich auf den Weg die kurze Eichentreppe in die mittelalterliche Halle hinunter. Als Kind war sie immer von den rostigen Ritterrüstungen an den Wänden fasziniert gewesen. Foley schritt ihr voraus und öffnete die Haupttür. Auf seinem Gesicht war deutlich die Sorge um Major Kurland abzulesen.

„Vielen Dank für Ihren Besuch, Miss Harrington. Auch wenn er es vielleicht nicht sagt, weiß der Major Ihre Besuche doch zu schätzen.“

Lucy lächelte. „Ich werde vermutlich morgen erneut vorbeischauen. Ich hoffe, dass er sich bis dahin besser fühlt.“ Sie zögerte auf der untersten Stufe und Foley blickte sie fragend an. „Haben Sie letzte Nacht aus Richtung des Dorfes irgendwelchen Krach gehört, Mr Foley?“

„Letzte Nacht, Miss?“ Foley runzelte die Stirn. „Nicht dass ich wüsste. Ist denn etwas vorgefallen?“

„Ich bin mir noch nicht sicher.“ Lucy blickte schnell zur Seite. Sie war nicht gut darin, ihre Gefühle zu verbergen, besonders wenn sie versuchte zu lügen. „Ich dachte, mein Vater hätte etwas in der Art erwähnt, bevor ich heute Morgen aufbrach. Aber ich muss mich wohl geirrt haben.“

„Nun, lassen Sie mich wissen, wenn es irgendetwas gibt, das ich tun kann, Miss Harrington. Wir alle wollen, dass das Dorf ein sicherer Ort für unsere Familien bleibt.“

Während Lucy über die Auffahrt des Anwesens zurückging, kreisten ihre Gedanken um die Möglichkeit, dass im Dorf etwas vor sich gehen könnte, von dem sie nichts wusste. In einem solch kleinen Ort wussten die meisten Leute viel zu viel über die Angelegenheiten der anderen. War wirklich jemand ausgeraubt worden, wie der Major vermutete, oder hatte er lediglich geträumt? Wenn er tatsächlich in der Nacht Laudanum zu sich genommen hatte, dann litt er vielleicht an Albträumen und hatte sich das Ganze nur eingebildet. Es war eigenartig, dass Foley nichts gehört hatte und dass der Major sich seinen Bediensteten nicht wegen seines Verdachts anvertraut hatte.

Lucy änderte die Richtung und schlug den Pfad ein, der direkt vom Anwesen zur Kirche führte. Es war eine Abkürzung, die es den Bewohnern des alten Hauses ermöglichte, sich den längeren Weg die gesamte Auffahrt hinunter und durch das Dorf bis zur Vorderseite der Kirche zu ersparen. Auf dem Weg wagte sie einen Blick zurück zum Haus und versuchte auszumachen, wo die Schlafzimmerfenster des Majors mit ihren rautenförmigen Segmenten waren. Sie wusste, dass sie am äußeren Ende eines der drei Flügel des Anwesens gelegen waren.

Im Schatten der hohen Kirchenmauer fiel abrupt die Temperatur. Das Tor, das auf den Kirchhof führte, stand offen und der Matsch am Zauntritt war aufgewühlt, als wären mehrere Stiefel hindurchgestapft. Die Zweige am Weißdornbusch auf der anderen Seite des Tores waren abgeknickt. Es sah aus, als hätte sich erst kürzlich jemand einen Weg hindurch gebahnt.

Sie untersuchte das Tor und den Untergrund. Hatte Anthony vielleicht auf dem Spaziergang heute Morgen seine drei Jagdhundwelpen hier hindurchgeführt und vergessen, das Tor zu schließen? Es würde ihm ähnlichsehen, so etwas zu vergessen, wenn er sich um das Wohlbefinden seiner Hunde kümmerte. Oder war jemand mit niederträchtigeren Motiven hier entlanggekommen, um das Dorfzentrum zu umgehen, wie der Major vermutete? Lucy vermied es, in den Matsch zu treten, durchschritt das Tor und vergewisserte sich, dass der Riegel richtig eingerastet war. Sie folgte der Mauer bis zum Friedhof, wo der Seiteneingang zur Kirche lag. In der Kälte gefror ihr Atem zu kleinen Wölkchen.

Direkt vor ihr, gleich auf der anderen Seite der Hauptstraße, lag das Pfarrhaus. Endlich fielen auch wieder die wärmenden Sonnenstrahlen auf sie. Der eigentliche Pfad endete am Seiteneingang, aber Lucy ging noch ein Stück weiter. Sie stützte sich mit der Hand gegen den gewaltigen Eckpfeiler der Kirche. Selbst durch den Handschuh konnte sie die Kälte des Steins fühlen. Lucy zwängte sich geübt durch den schmalen Spalt zwischen Friedhofsmauer und Kirche. Der Pfarrer sah es nicht gern, wenn seine eigenen Kinder die Abkürzung nahmen, aber sie alle taten es dennoch. Es fiel ihr deutlich schwerer, durch den Spalt zu kommen, als noch als Kind, aber es sparte ihr immer noch kostbare Zeit.

Auf dem Weg zum Haus konnte sie bereits den Geruch von Lauge, feuchter Wäsche und Dampf wahrnehmen, der sie innerlich seufzen ließ. Anstatt den Haupteingang zu nutzen, ging sie den Weg über die Küche, wo sie Anna vorfand, die mit hochrotem Gesicht und nasser Schürze die Arbeit koordinierte.

„Ich bin so froh, dass du wieder hier bist, Lucy. Mary ist immer noch nicht heruntergekommen und Betty und ich haben uns die Seele aus dem Leib geschuftet!“

„Wo ist sie denn? Geht es ihr nicht gut?“

Anna wischte die Hand an ihrer Schürze ab und eilte in Lucys Richtung. „Ich habe bisher nicht die Zeit gefunden, das herauszufinden.“

„Ich gehe nach oben und schaue, wo sie bleibt. Hat Betty nichts gesagt?“

„Sie schlafen nicht im gleichen Zimmer. Sie sagt, sie hätte keine Ahnung, was mit Mary los ist.“

Lucy zog die Handschuhe aus, warf sie auf den Tisch und schritt zur Tür. „Ich lege nur kurz meinen Mantel ab, dann komme ich zurück und helfe euch.“

Aber Anna schaute nicht Lucy an, sondern ihre gerade abgelegten Handschuhe. „Meine Güte. Bist du verletzt, Lucy?“

„Wie um alles in der Welt kommst du denn darauf?“

Anna deutete auf die roten Flecken, die die Handschuhe auf dem Küchentisch hinterlassen hatten. „Deine Handschuhe sind blutverschmiert. Igitt – riechst du das etwa nicht?“

Kapitel 3

Lucy ging das Blut an den Handschuhen nicht aus dem Kopf, während sie die zwei Treppen zu Marys Zimmer unter dem Dach erklomm. Sie musste in der Metzgerei im Dorf irgendwann während der Unterhaltung über die Weihnachtsgans und das Hammelfleisch etwas Blutiges berührt haben. Aber wieso hatte Foley das Blut nicht bemerkt, als sie die Handschuhe in Kurland Hall ausgezogen hatte?

Etwas außer Atem blieb Lucy vor der Tür zu Marys Zimmer stehen und klopfte. Nachdem sie keine Antwort bekam, klopfte sie erneut. Vorsichtig drehte sie den Türknauf und spähte hinein. Zu ihrer Überraschung war der Raum lichtdurchflutet. Das kleine Sprossenfenster, von dem aus man die Auffahrt unten sehen konnte, stand offen, sodass die karierten Baumwollvorhänge in der Brise wehten. Lucy schloss das Fenster, wobei sie den Kopf einziehen musste, um nicht gegen die Dachschräge zu stoßen, die bis in die Zimmermitte reichte. Marys Bett war leer und ordentlich gemacht.

Lucy runzelte die Stirn, während sie die blitzsaubere Kammer inspizierte. Das letzte Mal, als sie hier gewesen war, hatte sie Mary darum bitten müssen, ihr Zimmer aufzuräumen. Das Mädchen war einfach eine unordentliche Natur. Jetzt schien das Zimmer nichts mehr von Marys Persönlichkeit widerzuspiegeln und es gab keine Spur von ihren sonst so verstreut herumliegenden Habseligkeiten. Lucy kniete sich vor die Kleidertruhe und öffnete sie.

Sie war leer – abgesehen von einigen handgemachten Säckchen voll Lavendel und Flohkraut, mit denen die Motten ferngehalten werden sollten.

„Mary, wo bist du nur hin?“ Lucys Worte hallten von den Wänden des kleinen Zimmers wider. „Und warum hast du niemandem etwas gesagt?“ Sie schaute unter das Bett, aber auch hier war nichts außer der tönernen Bettpfanne und Wollmäusen. Es schien, als hätte Mary alle ihre Besitztümer mit sich genommen, nur warum?

Lucy ging zurück nach unten in die dunstverhangene Waschküche und zog Anna beiseite in den Korridor.

„Mary ist nicht oben.“

„Was soll das heißen?“ Auf Annas Gesicht war deutlich Unmut abzulesen. „Ist sie mit Mrs Fielding einkaufen gegangen? Warum hat mich niemand gefragt, ob sie ausgehen darf? Nur weil ich nicht so einschüchternd bin wie du, muss ich doch trotzdem zumindest informiert werden.“

„Ganz so einfach ist es nicht. Ihr ganzes Hab und Gut ist mit ihr zusammen verschwunden.“

Anna schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund. „Du meinst, sie ist davongelaufen?“

„So sieht es zumindest aus.“

„Aber wieso? Sie schien doch absolut zufrieden zu sein, oder etwa nicht?“

„Soweit ich weiß, hatte sie sich eingelebt und war zufrieden.“ Lucy nahm ihre Haube ab. „War sie mit einem der anderen Dienstmädchen gut befreundet?“

„Ich bin mir nicht sicher. Betty könnte so etwas wissen.“

„Dann lass sie uns einfach fragen.“ Sie wandte sich ab, um wieder in die Küche zu gehen, doch Anna hielt sie am Arm zurück.

„Aber frag sie nicht jetzt, sonst wird die Wäsche nie fertig!“

Lucy hielt inne. „Da hast du recht. Ich helfe dir und im Anschluss fragen wir sie zusammen aus.“

 

„Ich weiß nicht, wo Mary hin ist, Miss.“ Betty blickte Lucy mit ernster Miene an. „Sie hat sich in den letzten Wochen ein wenig seltsam verhalten, als wäre sie mit den Gedanken nicht ganz bei der Arbeit.“

„Aber du hattest keine Ahnung, dass sie vorhatte, uns zu verlassen?“

„Überhaupt nicht, Miss.“ Betty schüttelte den Kopf so energisch, dass die dunklen Zöpfe vor ihrem Gesicht hin und her schwangen. „Aber sie hat ohnehin ihre Geheimnisse nicht mit mir geteilt.“

„Stand sie einem der anderen Bediensteten nahe?“

Betty biss sich auf die Lippe. „Ich weiß, dass sie einige Zeit mit einem der Dienstmädchen im Haus der Hathaways die Straße hinauf verbracht hat. Aber hier stand sie Jane am nächsten. Ich glaube, Mary wollte irgendwann selbst als Kindermädchen arbeiten.“

„Das hat sie mir gegenüber nie erwähnt. Aber ich denke, sie wusste, dass es in dieser Familie wohl keine Kinder mehr geben wird. Vielleicht hat sie einfach eine neue Stelle gefunden.“

„Ohne eine Empfehlung?“ Anna zog die Schürze aus. „Welche angesehene Familie würde eine neue Bedienstete einstellen, ohne die vorherigen Arbeitgeber anzuschreiben? Besonders bei einem Kindermädchen?“

Lucy zog Annas Blick auf sich und nickte in Bettys Richtung. Manchmal neigte ihre Schwester vor den Bediensteten zur Indiskretion. „Betty, fällt dir irgendetwas ein, was uns weiterhelfen könnte?“

„Im Moment nicht, Miss.“ Betty zupfte an ihrem noch immer nassen Rock. „Nach diesem Wäschehaufen bin ich zu müde, um klar zu denken.“

„In Ordnung. Falls dir doch noch etwas einfällt, zögere bitte nicht, zu mir zu kommen und es mir umgehend mitzuteilen.“ Lucy erhob sich und Betty nickte.

„Ja, Miss.“

„Könntest du noch Jane herunterschicken, falls sie nicht zu beschäftigt ist?“

„Natürlich, Miss. Ich hole sie, bevor ich mich umziehe.“

„Danke, Betty. Tut mir leid, dass du die Wäsche heute ganz allein bewältigen musstest. Ich verspreche dir, dass ich das wiedergutmachen werde.“

Betty machte einen Knicks. „Ist schon in Ordnung, Miss. Aber ich hoffe, wir finden heraus, was mit Mary passiert ist. Ich habe sicherlich ein Wörtchen mit ihr zu reden, wenn ich sie das nächste Mal sehe.“

Nachdem Betty die Küche verlassen hatte, blickte Anna zu Lucy. „Ich frage mich, was passiert ist. Hast du ihr überhaupt schon den Lohn für dieses Quartal gezahlt?“

„Nein, noch nicht. Und sie wirkte auf mich nicht wie jemand, der viel von seinem Lohn spart.“ Lucy runzelte die Stirn beim Anblick der rissigen Haut ihrer Hände, die jetzt stark nach Laugenseife rochen. „Glaubst du, sie hat vielleicht Vaters Geldkassette aufgebrochen und etwas Geld gestohlen?“

„Ach du meine Güte! Ich weiß nicht.“ Mit vor Schreck geweiteten Augen fasste sich Anna besorgt an die Wange. „Hatte sie womöglich einen Komplizen – einen Mann vielleicht, mit dem sie durchbrennen wollte? Oder der ihr das zumindest vorgespielt hat, um uns zu bestehlen?“

„Du hast eine beeindruckend lebhafte Fantasie. Vielleicht solltest du nicht so viele dieser furchtbaren Schauerromane lesen, die Mrs Jenkins dir immer leiht.“

„Du liest sie doch auch, Lucy, und du hast zuerst erwähnt, dass Mary uns vielleicht bestehlen wollte.“

Lucy ignorierte die Bemerkung und fuhr damit fort, laut nachzudenken. „Es ist viel wahrscheinlicher, dass Mary einfach eine neue Stelle gefunden hat und uns daher verlassen hat. Ich vermute, wir werden irgendwann einen Brief per Post von ihr erhalten, in dem sie uns um ihren Lohn bittet.“

„Den du nicht zahlen wirst.“

„Den Vater nicht zahlen wird. Ihm wird die Sache ganz und gar nicht gefallen. Aber mir fällt keine Möglichkeit ein, vor ihm zu verbergen, was passiert ist. Er wird sicher mir die Schuld geben.“

„Es ist wohl kaum deine Schuld, wenn eine der Bediensteten sich dazu entscheidet, den Arbeitgeber zu wechseln, Lucy“, sagte Anna bestimmt. „Du musst einfach für dich eintreten.“

Lucy setzte zu einer Antwort an, überlegte es sich dann aber anders. Für Anna war es leicht, vorzuschlagen, sich gegenüber ihrem Vater mehr durchzusetzen. Sie war ja auch sein Lieblingskind, nicht die älteste Tochter im Haus, der schon in der Wiege ihre Verpflichtungen eingebläut worden waren. Selbst heute, wo sie wusste, dass sich hinter der Autorität ihres Vaters nichts verbarg als sein entsetzlicher Egoismus, gelang es Lucy nur schwer, sich von seinen Erwartungen zu lösen. Was früher unbedingter Gehorsam gewesen war, war jetzt nur noch verbitterte und unausgesprochene Verachtung, die sie verbergen musste, um vor ihm nicht ihre wahren Gefühle ausdrücken zu müssen.

Es klopfte an der Tür und Jane, das Kindermädchen der Zwillinge, trat ein. Ihr hübsches Gesicht war gerötet und die Augen geweitet vor Aufregung.

„Stimmt es, Miss Harrington? Ist Mary fort?“

„So sieht es zumindest aus.“ Lucy bedeutete Jane, sich zu setzen. „Hat sie dir gegenüber erwähnt, dass sie vorhatte, uns zu verlassen?“

„Nun, sie hat sich ein paarmal darüber beschwert, wie hart sie arbeiten muss, aber nicht mehr als die anderen Mädchen, Miss.“

„Hat sie denn irgendetwas Konkreteres gesagt?“ Lucy schenkte Jane ein verständnisvolles Lächeln. „Es widerstrebt mir, dich darum bitten zu müssen, ihre Geheimnisse mit mir zu teilen, aber wir machen uns sehr große Sorgen um sie. Hat sie vielleicht eine neue Arbeitsstelle erwähnt?“

„Ich sagte ihr nur, dass ich ihr helfen würde, ein Kindermädchen zu werden. Aber ich glaube nicht, dass sie sich auf irgendwelche Stellen beworben hat. Ich habe ihr gesagt, dass sie erst mehr Erfahrung braucht und dass sie Sie fragen sollte, ob sie nicht häufiger mit den Kindern aushelfen könnte.“

„Das war ein guter Ratschlag“, stimmte Lucy ihr zu. „Wann hat sie sich denn dazu entschieden, ein Kindermädchen werden zu wollen?“

„Das ist schon einige Zeit her, Miss.“ Jane strich ihre Schürze glatt.

„Ist Mary mit jemandem im Dorf ausgegangen?“, brachte Anna sich trotz Lucys stechendem Blick ins Gespräch ein.

„Das glaube ich nicht, Miss Anna. Es gab da einen Mann, den sie eine Weile lang traf. Er arbeitete damals an den neuen Stallungen, aber er ist jetzt natürlich nicht mehr hier.“ Jane zögerte. „Sie hat von Zeit zu Zeit Briefe erhalten. Laut ihr waren die von ihrer Jugendliebe.“

„Ihr neuer Verehrer war also niemand aus der Gegend?“

„Ich bin mir nicht sicher, Miss.“

„Vielleicht ist er hergekommen, weil er um ihre Hand anhalten wollte.“ Anna klatschte aufgeregt in die Hände. „Das wäre so romantisch, oder?“

„Vermutlich schon, Miss.“ Jane überlegte einen Moment, bevor sie weiterredete. „Aber wieso ist er dann nicht wie jeder gute christliche Gentleman zur Tür hereingekommen und hat um Erlaubnis gebeten, ihr den Hof machen zu dürfen?“

„Das ist ein guter Einwand, Jane. Wirkte Mary in letzter Zeit aufgeregt oder abwesend?“

„Sie wirkte etwas abgelenkt, muss ich sagen. Aber ich hatte keine Ahnung, dass sie vorhatte, davonzulaufen.“ Aus dem Obergeschoss ertönte ein lauter Knall, der Jane zusammenzucken ließ. „Ich habe den beiden Rabauken gesagt, dass sie still sitzen bleiben sollen, während sie darauf warten, dass ich ihnen ihr Abendessen bringe. Wahrscheinlich raufen sie sich wieder. Ich habe noch nie zwei Jungs getroffen, die der Versuchung, bei der kleinsten Gelegenheit einen Boxkampf anzuzetteln, so wenig widerstehen können.“

„Du gehst wahrscheinlich besser nachsehen, Jane.“ Lucy stand auf. „Sag den Jungs, dass sie sich benehmen sollen, andernfalls komme ich nicht mehr hoch, um ihnen gute Nacht zu sagen.“

„Ich werde es ausrichten, Miss. Und wenn mir noch etwas einfällt, was mit Mary helfen könnte, werde ich Ihnen das sofort sagen.“

Lucy fasste sich mit der Hand an die schmerzende Schläfe. „Danke, Jane.“

Anna schloss die Tür hinter dem Kindermädchen. „Ich glaube immer noch, dass es in der Sache um einen Mann geht. Was denkst du?“

„Es ist zumindest eine Möglichkeit.“

„Vielleicht ist Marys Verehrer zuerst zu ihren Eltern gegangen, um ihren Segen für die Heirat zu erhalten. Und dann könnte er hergekommen sein.“

„Ich glaube, sie hat keine Eltern. Wenn ich mich recht erinnere, hat Vater sie in einem Kranken- und Waisenhaus in Cambridge angeworben.“

Anna ging weiter auf dem Teppich auf und ab. „Die Sache ist schon mysteriös, nicht wahr?“

„In der Tat.“ Die Uhr schlug fünf. „Ich muss nachsehen, ob Mrs Fielding schon aus dem Dorf zurück ist und angefangen hat, das Abendessen zuzubereiten.“ Sie öffnete die Tür, hielt dann aber inne. „Ist Anthony eigentlich schon wieder da? Ob er wohl ein paar Fische fangen konnte?“

Anna stampfte auf. „Lucy, warum musst du nur immer so praktisch denken? Was ist mit Mary?“

„Wir können Marys wegen nichts unternehmen, solange Vater nicht hier ist.“ Lucy schluckte kräftig. „Hoffen wir, dass Anthony erfolgreich war und dass ein gutes Abendessen Vaters Gemüt beruhigt, bevor ich ihm die schlechte Nachricht bestellen muss und ihn überprüfen lasse, ob man uns bestohlen hat.“

 

***

 

Robert setzte sich im Bett auf und wartete, während Foley vorsichtig das Tablett mit dem Abendessen auf seinem Schoß platzierte. Bookman hatte den Abend frei, sodass Foley ihn vertrat. Weil sie schon so viele Jahre während des Krieges fern der Heimat verbracht hatten, vergaß Robert manchmal, dass Bookman im Gegensatz zu ihm noch Familie und Freunde in der Gegend hatte.

„Vorsichtig, Sir, wir wollen uns nicht mit heißer Suppe übergießen“, warnte Foley.

Nach dem erniedrigenden Erlebnis mit Miss Harrington heute teilte Robert diese Ansicht aus ganzem Herzen. Er nahm den Löffel auf und inspizierte die klare Brühe einen Moment. „Das lässt sich wohl kaum als Suppe bezeichnen, Foley. Da ist kein Fleisch drin.“

„Die Köchin hat die Anweisungen direkt von Dr. Baker erhalten, Sie müssen mich also gar nicht so finster anschauen. Eine gute Brühe wird Ihnen dabei helfen, Ihren Appetit wiederzufinden.“

„Meinem Appetit geht es blendend.“ Robert legte den Löffel wieder ab. „Könnten Sie mir vielleicht einen schönen Teller Rinderbraten holen gehen? Meine Zähne habe ich schließlich alle noch und ich würde sie gern nutzen, solange ich das noch kann.“

„Sir, das können Sie von mir nicht verlangen. Sie wissen, in was für Schwierigkeiten ich mit Bookman und der Köchin kommen würde, wenn ich den Anweisungen des Doktors nicht Folge leiste.“

„Dann muss ich wohl verhungern.“ Robert nahm einen vorsichtigen Schluck. Die Suppe war wässrig und nur wenig ansprechend. Aber irgendetwas musste er schließlich essen.

„Es gibt auch einen leckeren Vanillepudding, Sir.“

„Wie reizend. Ich fühle mich ganz, als wäre ich wieder im Hospital und würde von meiner Krankenschwester zum Essen überredet.“

Foley reichte ihm eine Serviette. „Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen ein schönes Stück vom frisch gebackenen Brot aus der Küche zusammen mit einem guten Glas Portwein bringe?“

Robert lächelte das erste Mal, seit Miss Harrington ihn am Morgen besucht hatte. „Sie sind ein wahrer Engel, Foley.“

„Aber zuerst müssen Sie Ihre Suppe aufessen.“

Er ergriff die Schüssel und trank den Inhalt in einem Zug aus.

„Ich bin fertig. Und jetzt zu dem Portwein, den Sie versprochen haben.“

„So sollte sich ein Gentleman zu Tisch wohl kaum benehmen, Sir.“

Robert legte den Löffel in die Schüssel und übergab das Tablett an Foley. „Nun, ich sitze nicht am Tisch und ich fühle mich auch nicht wirklich wie ein Gentleman. Gerade Sie sollten wissen, dass die gehobene Gesellschaft meine Ahnenreihe als recht durchwachsen ansieht.“

Foley streckte sein Kinn vor. „Machen Sie mit mir nicht solche Scherze, Sir. Ihre Mutter war hoch angesehen. Sie sind ein geborener Gentleman und das wissen Sie genauso gut wie ich.“

Robert entschied, dass er den treuen Familiendiener für einen Abend genug aufgezogen hatte. „Haben Sie letzte Nacht gut geschlafen, Foley?“

„Das habe ich, Sir. Nach dem Abendessen haben Bookman und ich ein paar Runden Pikett gespielt und uns einen Krug Bier gegönnt. Dann bin ich früh zu Bett gegangen und habe wie ein Kleinkind geschlafen.“

Robert fragte sich, wie viel Bier Foley und Bookman tatsächlich zusammen getrunken hatten, dass sie nicht von dem Lärm geweckt worden waren, den er veranstaltet hatte, als er mit dem Stuhl zu Boden gekracht war.

„Übrigens, Sir: Bookman fühlt sich furchtbar, weil Sie letzte Nacht nicht nach ihm geklingelt haben, damit er Ihnen zurück ins Bett helfen konnte.“

„Damit ich nicht nur meinen, sondern auch seinen Schlaf ruiniere?“, erwiderte Robert. Tatsächlich hatte er später aus Verzweiflung die Glocke geläutet, nur war niemand erschienen. Er wollte es nur nicht erwähnen und viel Aufhebens darum machen. „Ich war kaum ein paar Minuten auf dem Boden, bevor er mich gefunden hat.“

Das war ebenfalls nicht wahr, aber er wollte nicht, dass sich seine treuen Bediensteten schuldig fühlten. Sie fingen bereits damit an, ihn wie einen völligen Invaliden zu behandeln, und er wollte ihnen nicht noch mehr Anlass dazu geben. Hätte er dann auch noch die Geschichte erzählt, dass er etwas Mysteriöses im Dunkeln auf dem Anwesen beobachtet hatte, würde das kaum helfen, sie davon zu überzeugen, dass er auf dem Weg der Besserung war. Wahrscheinlich würde er am Ende in die Nervenheilanstalt nach Bedlam geschickt.

„Ich gehe den Rest Ihrer Mahlzeit holen, Sir.“ Foley verbeugte sich und verließ das Zimmer.

Während er auf Foleys Rückkehr wartete, setzte Robert die Brille auf und las die Zeitungen, die Miss Harrington ihm vorbeigebracht hatte. Während seiner Genesung hatte er vermieden, über die Ereignisse in London und dem Rest des Landes zu lesen. Er fühlte sich losgelöst von der sozialen Ordnung, den Unruhen und der umgehenden Sorge, dass die Revolution aus Frankreich über den Ärmelkanal nach England schwappen könnte. Sein Blick hatte sich nach innen gekehrt und sich auf seinen Schmerz, seinen Verlust und das blanke Überleben fokussiert. Aber wie Foley ihn erinnert hatte: Er war ein Gentleman und irgendwann würde er seinen Platz in der Gesellschaft wieder einnehmen müssen, wenn auch nur hier im Dorf. Seine Familie hielt seit Hunderten von Jahren das meiste Land in der Gegend und hatte das Amt des örtlichen Magistrats inne. Und so sollte es auch bleiben.

Er hatte kaum die ersten Seiten über den neuesten Friedensvertrag überflogen, als die Kopfschmerzen zurückkehrten. Er legte die Zeitung beiseite und nahm die Brille von der Nase. Beim nächsten Besuch von Miss Harrington würde er sie darum bitten, ihm vorzulesen. Sie würde es vermutlich genießen, ein guter Engel für ihn zu sein. Der Gedanke daran trieb ihm ein Lächeln aufs Gesicht. Obwohl sie sanftmütig aussah, war sie durchaus eigensinnig und würde es sich nicht gefallen lassen, von ihm herumkommandiert zu werden. Eine willkommene Abwechslung.

„Bitte sehr, Sir. Ein schönes Glas Portwein.“ Auf dem Weg zum Bett sprach Foley weiter: „Ich habe Ihnen auch die Post heraufgebracht.“

„Danke. Irgendetwas Interessantes dabei?“

„Ein Brief von Ihrer Tante Rose, einer ohne Absender, für den wir zahlen mussten, und ein offiziell aussehender von Ihrem Regiment.“

Robert ging die Schreiben kurz durch, widmete sich dann aber dem exzellenten Portwein. Ihm war nicht danach, die krakelige Schrift seiner Tante Rose zu entziffern, und die Armee konnte warten, bis er seinen letzten Atemzug tat.

Der unfrankierte Brief vom unbekannten Absender war vermutlich von seinem Cousin und Erben Paul und auch hiernach stand ihm nicht der Sinn. Er legte die Briefe beiseite.

„Miss Harrington hatte erwähnt, dass letzte Nacht im Dorf etwas vorgefallen sein soll. Haben Sie irgendetwas gehört?“ Foley reichte Robert einen Teller voll Brot, dick bestrichen mit cremiger, gelber Butter.

Robert spannte sich an. „Was soll denn vorgefallen sein?“

„Sie war sich nicht sicher, Sir. Sie sagte, ihr Vater habe morgens so etwas erwähnt, bevor er das Haus verließ.“ Foley schenkte Robert noch etwas Wein nach.

Aus irgendeinem Grund war Robert froh, dass Miss Harrington nicht erwähnt hatte, dass er es war, der sich nach einem möglichen Ereignis erkundigt hatte. Andernfalls hätte er Foley erklären müssen, wie weit er sich tatsächlich aus dem Bett vorgewagt hatte. Foley hätte es wiederum Dr. Baker erzählt, der vermutlich seine pessimistische Schätzung, wie lange es dauern würde, bis Robert wieder gehen könnte, verdoppelt hätte.

„Ich nehme an, Sie haben ihr gesagt, dass wir die Augen nach allem Verdächtigen offen halten.“

„Das habe ich, Sir.“ Foley setzte gekonnt den Stopfen auf die Karaffe und stellte sie außer Reichweite von Robert. „Hoffen wir einfach, der Pfarrer hat sich geirrt. Obwohl ich Gerüchte gehört habe, laut denen sich Banden von entlassenen Soldaten auf dem Land herumtreiben und ehrliche Menschen bestehlen.“

„Was sollen sie sonst tun, wenn die Regierung ihnen keine Vergütung für ihren Dienst am Vaterland zahlt?“

„Das sagen Sie so einfach. Bis Sie in Ihrem eigenen Bett ermordet werden.“ Foley stellte alles, was er mitgebracht hatte, auf das Tablett. „Ich sage den Bediensteten, sie sollen sichergehen, dass ihre Türen heute Nacht verschlossen sind.“

„Glauben Sie mir, Foley, eine verschlossene Tür wird eine entschlossene Bande nicht aufhalten.“

„Soll ich Ihnen dann lieber Ihre Pistolen bringen, Sir? Bookman hat sie gut in Schuss gehalten.“

Er sah Foley mit seinem bedrohlichsten Blick an. „Ich will keine Pistolen, und ich will auch nicht, dass Sie die Bediensteten wegen einer möglichen Gefahr warnen, die es vielleicht gar nicht gibt. Haben wir uns verstanden?“

„Ja, Sir, aber …”

“Foley …” Robert streckte die Hand aus. „Geben Sie mir den Portwein, dann brauche ich Sie für heute nicht mehr.“

Mit bestürztem Blick übergab Foley die Glaskaraffe und schritt zur Tür.

„Ich werde Bookman anweisen, später noch einmal nach Ihnen zu sehen, Sir.“

„Das müssen Sie nicht, ich –“ Robert bemerkte, dass er nur noch zu sich selbst sprach, da sich sein treuer Butler geschickt außer Hörweite gebracht hatte. Er atmete tief aus. Es nutzte nichts, sich aufzuregen. Nach dem Debakel letzte Nacht vermutete er, dass Bookman auf jeden Fall nach ihm sehen würde, sobald er zurückkam, egal was Robert auch anordnen mochte.

Er lehnte sich gegen die Kissen und füllte das Glas nach. Waren Foleys Ausführungen über marodierende Soldaten wahr oder nur Gerüchte? Ihm gefiel der Gedanke nicht, dass die Soldaten unter seinem Kommando heute womöglich um Essen und Arbeit betteln mussten. Es erschien ihm falsch, denn immerhin hatten sie geholfen, Napoleon zu besiegen. Aber was sollte er als Landbesitzer tun? Er konnte sie nicht alle versorgen, sonst wäre seine Familie innerhalb einer Woche bankrott.

Er nahm einen kleinen Schluck Wein. Was, wenn die Gestalt letzte Nacht einer dieser obdachlosen Soldaten gewesen war, der es darauf abgesehen hatte, die Dorfbewohner auszurauben? Hätte er Foley vielleicht sogar dazu ermuntern sollen, seine Dienerschaft und die Nachbarn zu warnen? Ein pochender Schmerz regte sich in seinen Schläfen. Unwillkürlich begann er, die schmerzenden Stellen zu massieren. Was auch immer passieren mochte, in seinem jetzigen Zustand würde er ohnehin nichts unternehmen können, um auch nur eine Person zu retten. Nicht einmal sich selbst. Er schluckte die bittere Vorstellung hinunter und spielte mit dem Gedanken, die gesamte Weinkaraffe auszutrinken. Vielleicht hätte er Foley doch darum bitten sollen, ihm die Pistolen zu bringen. Nicht zur Verteidigung, sondern um seinem miserablen Leben ein für alle Mal ein Ende zu setzen.