Leseprobe Mord in der Pell Street

Eins

Westchester County, New York, September 1903

„Ich glaube, ich habe ein Problem“, sagte ich.

Mrs. Sullivan sah mit scharfem Blick von ihrer Näharbeit auf. Eine rasche Abfolge von Gefühlen huschte über ihr Gesicht – Schreck, Bestürzung, Abscheu –, dann sagte sie schließlich: „Nun, ich schätze, solche Dinge passieren. Zum Glück haben Sie das Hochzeitsdatum schon festgesetzt. Es wäre nicht das erste erstaunlich frühe Kind.“

„Was?“ Es dauerte einen Moment, bis der Groschen fiel, dann lachte ich. „Nein, nichts dergleichen. Ich meinte nur, dass ich dieses Mieder womöglich verkehrtherum zusammengenäht habe.“ Ich hob das fragwürde Machwerk in die Höhe.

Sie nahm es mir ab, begutachtete es und seufzte. „Du liebe Güte, Kind. Wie haben Sie es nur geschafft, aufzuwachsen, ohne grundlegende Nähkenntnisse zu erwerben? Hat Ihre Mutter Ihnen denn gar nichts beigebracht?“

„Falls Sie es vergessen haben, meine Mutter starb, als ich zehn Jahre alt war“, sagte ich. „Danach musste ich zwar regelmäßig flicken und stopfen, doch das war auch schon alles. Ich habe auf jeden Fall noch nie solch feine Stoffe genäht.“

„Dann haben wir wohl Glück, dass wir nicht auch noch die Brautjungfernkleider machen müssen, oder nicht?“, murmelte sie ohne aufzusehen, während sie sich daran machte, meine Naht aufzutrennen. „Wobei es schade ist, dass wir kein kleines Blumenmädchen haben. Ich finde, das verleiht einer Hochzeit immer einen besonderen Charme. Ich habe vorgeschlagen, die Enkelin der Van Kempers’ zu bitten ...“

„Ich kenne die Enkelin der Van Kempers’ nicht“, sagte ich. „Es würde sich befremdlich anfühlen, eine Fremde in meine Hochzeitszeremonie einzubinden. Es gab nur ein junges Mädchen, das ich gernhatte – die kleine Bridie. Ich glaube, ich habe Ihnen von dem Kind erzählt, das ich aus Irland mitnahm und das eine Weile bei mir lebte. Ich habe ihrer Familie eine Einladung geschickt, aber keine Antwort bekommen, also nehme ich an, dass sie nicht mehr an mich denken.“ Ich seufzte. Oder sie glaubten, eine Hochzeit in Westchester County wäre zu hochtrabend für einfache, irische Bauern wie sie.

Mrs. Sullivan nickte und sah mich ausnahmsweise mal mit aufrichtigem Mitgefühl an. „Wirklich schade, dass Sie bei der Hochzeit kaum eigene Gäste haben werden, und überhaupt keine Familie – nicht mal diese beiden Brüder. Sie sind auf der Flucht vor dem Gesetz, sagten Sie?“

„Sie sind bei den irisch-republikanischen Freiheitskämpfern“, korrigierte ich, obwohl ich vermutete, dass sie sich noch gut genug daran erinnerte, was ich ihr erzählt hatte. „Ich weiß nicht einmal mehr, wo sie sind.“ Ich starrte über den taubedeckten Rasen hinweg. Eine Spottdrossel sang sich im Pflaumenbaum die Seele aus dem Leib. Hier war es so friedlich und sicher, während meine Brüder irgendwo unterwegs waren und noch immer für die irisch-republikanische Sache kämpften.

Ich saß mit Daniels Mutter auf ihrer Hollywoodschaukel, wo wir die sanfte Morgenluft genossen, eh der Tag zu heiß wurde, und an meiner Aussteuer arbeiteten. Immerhin hatte sie einen Großteil der Näharbeit übernommen, während ich hauptsächlich mit Auftrennen beschäftigt war. Jede entfernte Naht hinterließ eine Spur aus kleinen Löchern in der cremeweißen Seide.

Das Ganze war nicht meine Idee gewesen, glauben Sie mir. Ich hatte bereits um meine mangelhaften Fähigkeiten im Umgang mit der Nadel gewusst und hätte mein Hochzeitskleid liebend gern einem Schneider in Manhattan überlassen. Es war Daniels Idee gewesen. Er hielt es für eine gute Möglichkeit, um meine zukünftige Schwiegermutter besser kennenzulernen und gleichzeitig einige Hausfrauenfertigkeiten von ihr zu erlernen. Eigentlich kannte ich den wahren Grund: Er wollte mich an einem sicheren Ort außerhalb der Stadt wissen, damit ich nicht versucht wäre, noch irgendeinen Detektivauftrag anzunehmen.

In der Theorie hatte ich nichts dagegen, einige Wochen in der angenehm grünen Atmosphäre von Westchester County zu verbringen, während die Stadt in der schwülen Augusthitze brutzelte. Und ich hatte mich darauf gefreut, mich um nichts anderes kümmern zu müssen, als meine Aussteuer rechtzeitig zur Hochzeit im September fertigzustellen. Ich hatte genug Gefahr erlebt und war bereit zuzugeben, dass, wenn ich eine Katze gewesen wäre, ich mindestens acht meiner neun Leben aufgebraucht hätte. Doch die Realität meiner aktuellen Situation war nicht so angenehm, wie ich sie mir ausgemalt hatte. Während Daniels Mutter mich zwar um seinetwillen höflich empfangen hatte, hatte sie auch klargemacht, dass ich nicht ihren Erwartungen an die Ehefrau ihres einzigen Sohns entsprach. Sie und Daniels jüngst verstorbener Vater hatten sich Daniels gute Bildung vom Munde abgespart. Sie waren nach Westchester County gezogen, damit er Umgang mit den besten Familien hätte. Er hatte ihre Träume erfüllt, indem er der jüngste Police Captain von New York geworden war. Er hatte sich mit der Tochter einer dieser reichen Familien verlobt, hatte diese Verlobung dann aber gelöst, um mich heiraten zu können – Molly Murphy, die vor nicht allzu langer Zeit aus einem Bauerncottage in Irland hergekommen war, ohne Geld und ohne Abstammung.

Die Tatsache, dass Daniels Eltern aus ähnlichen Verhältnissen stammten, kam nie zur Sprache. So wie sie redeten, hätte man vermutet, dass sie mit dem sprichwörtlichen Silberlöffel im Mund zur Welt gekommen waren. Ich hatte ihre unterschwellige Kritik mit einer Geduld ertragen, die an Frömmigkeit grenzte, sodass diejenigen, die mein sonst hitziges Gemüt kannten, beeindruckt gewesen wären, weil ich um Daniels willen den Frieden wahren und sogar die Zuneigung meiner Schwiegermutter erringen wollte. Doch nach zehn Tagen war meine Geduld aufs Äußerste strapaziert.

Sie nahm mir die restliche Seide ab. „Sie lassen mich das lieber fertigmachen und halten sich an die Unterbekleidung“, sagte sie. „In meiner Jugend hieß es immer, dass die Kinder einer Frau, die nicht mit der Nadel umzugehen weiß, in Lumpen aus dem Haus gehen würden.“

„Dann habe ich wohl Glück, in New York zu leben, wo es viele Läden gibt, die fertige Kleidung verkaufen, nicht wahr?“, gab ich süßlich zurück.

Sie schürzte die Lippen. „Kleider von der Stange? Sie werden meinem Sohn eine jämmerliche Frau sein, wenn Sie mit solchen Vorstellungen ins Eheleben starten.“

„Tatsächlich weiß ich, wie man eine Nähmaschine benutzt, falls mir jemand eine zur Hochzeit schenken möchte“, sagte ich. „Ich habe mal in einer Kleiderfabrik gearbeitet.“

„Eine Kleiderfabrik? Ist das so?“ Erneut dieser missbilligende Blick, als sei ich gerade wieder ein wenig in ihrem Ansehen gesunken. „Das hat Daniel nie erwähnt.“

Ich vermutete, dass Daniel einige der Sachen nicht erwähnt hatte, die ich während meiner Arbeit als Detektivin getan hatte. Mein Beruf war ihm seit jeher ein Dorn im Auge gewesen. Aber ich wollte auch nicht, dass meine zukünftige Schwiegermutter glaubte, ich hätte hauptberuflich in einem Ausbeuterbetrieb gearbeitet. „Es war eine verdeckte Ermittlung, um herauszufinden, wer dort die Entwürfe für neue Kleider stiehlt. Es war schrecklich. Sie hätten sehen müssen, unter welchen Bedingungen die armen jungen Frauen dort arbeiten müssen.“

„Ich hörte davon“, sagte sie. „Nun, Sie sind sicher froh, dass Sie nicht länger solch unangenehme Dinge tun müssen. Eine Detektivin. Das ist nicht natürlich für eine Frau.“

„Ich musste Geld verdienen, sonst wäre ich verhungert“, sagte ich. „Ich stelle mir vor, dass Ihre Familie auf ganz ähnliche Weise überleben musste, als sie während der Hungersnot aus Irland herkam.“ Ich verstummte, um wirken zu lassen, dass ich sehr wohl wusste, wie mittellos ihre Familie bei der Ankunft in Amerika gewesen war. „Ich hatte die Wahl zwischen der Detektei oder dem Fischausnehmen auf dem Fulton Street Market; oder Prostitution.“ Ich hatte versucht, einen Witz zu machen, doch sie schürzte immer noch die Lippen, also fügte ich hinzu: „Um ehrlich zu sein, habe ich es genossen, mein eigenes Geschäft zu führen, und die Aufregung auch.“

„Daniel hat sich Sorgen um Sie gemacht, müssen Sie wissen. Er redet nicht viel, aber eine Mutter weiß so etwas.“

„Ich weiß. Aber das war unnötig. Ich habe gelernt, gut auf mich aufzupassen.“

Das war nicht ganz die Wahrheit. Es hatte Situationen gegeben, die ich nur mit Glück lebend überstanden hatte. Momente, in denen ich mich nach der friedlichen Sicherheit gesehnt hatte, die ich jetzt erlebte. Da ich nun zehn Tage davon hinter mir hatte, war ich bereit, in meine Welt der Aufregung und Gefahr zurückzukehren. Doch ich konnte jetzt nicht mehr umkehren, oder? Meine Gedanken wandten sich Daniel und der bevorstehenden Hochzeit zu, und die kalten Füße kehrten zurück. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich wollte ihn heiraten. Ich liebte ihn. Ich hatte nur Angst davor, eine Ehefrau zu werden und auf das Leben einer anständigen Ehefrau beschränkt zu sein: Teepartys, Nähen und belangloser Tratsch; und bald auch Kinder, so wie Daniel und ich uns liebten.

„Zu schade, dass er nun doch nicht zum Labor Day zu uns stoßen kann“, sagte ich. „Sie haben sich sicher genauso wie ich darauf gefreut, ihn zu sehen.“

Mrs. Sullivan seufzte. „Sie werden bald lernen, dass das Leben als Frau eines Polizisten nicht einfach ist: Mahlzeiten zu den unterschiedlichsten Zeiten, Einsätze mitten in der Nacht, und manchmal bekommen Sie Ihren Ehemann tagelang kaum zu Gesicht. Und dann die ständige Sorge, wenn er nicht pünktlich nach Hause kommt. Ich hoffe, dass Daniel bald die Truppe verlässt und sich der Politik zuwendet. Er hat die nötigen Verbindungen und ich zweifle nicht daran, dass Tammany Hall hinter ihm stehen würde. Die würden nur zu gern wieder einen Iren in Washington sehen.“

„Aber er liebt seine Arbeit“, sagte ich. „Er ist gut. Ich würde nicht wollen, dass er das aufgibt, nur weil ich mir Sorgen mache.“

Als ich das sagte, kam mir der Gedanke, dass er aus exakt diesem Grund verlangte, dass ich meine Arbeit aufgab. Oder war es nur, dass es nicht gut bei den Kollegen ankäme, wenn ich Detektivin bliebe – ihm gar ihren Spott einbrächte?

„Hat er Ihnen erzählt, welcher wichtige Fall ihn in der Stadt hält?“, fragte Mrs. Sullivan.

„Wir haben eine Vereinbarung getroffen“, sagte ich. „Er spricht mit mir nicht über seine Fälle und ich nicht über meine.“

Mrs. Sullivan knurrte mir wieder ihr Missfallen entgegen. Ich starrte über den Rasen hinweg zu der Reihe hoher Bäume, die das Grundstück von dem der Nachbarn trennte. Im anderen Garten mähte jemand. Ich hörte das Klappern eines Rasenmähers und der süße Duft frisch gemähten Grases wehte zu mir herüber. Am Zaun blühten Rosen und das Summen der Bienen vermischte sich mit den Geräuschen des Mähers. Es war wirklich entzückend hier. Ich sollte die Kritik meiner zukünftigen Schwiegermutter einfach an mir abperlen lassen und das Beste aus der Zeit hier machen.

„Ich kann Daniel nicht vorwerfen, dass er uns nicht besuchen kommt“, sagte sie. „Er hat keinen Grund, die lange, unbequeme Reise anzutreten, jetzt da er die Möbel nicht mehr abholen muss.“

„Welche Möbel?“

„Ich habe ihm einige ausgewählte Stücke unseres Mobiliars für Ihr neues Haus angeboten“, sagte sie. „Aber da Sie Ihr Eheleben jetzt offenbar in Ihrem winzigen Haus beginnen werden, ist anscheinend kein Platz für zusätzliche Möbel.“

Meine fromme Geduld bröckelte. „Es ist ein schönes kleines Haus. Ich mag es sehr. Und es steht in einer ruhigen Nebenstraße.“ Ich wollte hinzufügen, dass ihr Haus zwar schön, aber auch kein Anwesen war. Tatsächlich war es nicht viel größer als meines.
„Aber die Gegend“, sagte sie. „Ich weiß, dass Daniel Ihr Eheleben in einem besseren Teil der Stadt beginnen wollte, weiter im Norden.“

„Mit der Gegend ist alles in Ordnung.“ Ich hörte, dass ich die Stimme erhoben hatte.

„Greenwich Village? Meine Liebe, dort wimmelt es von Einwanderern und Künstlern. Nicht der Umgang, den Sie sich für Ihr Kind wünschen.“

„Mrs. Sullivan“, sagte ich und atmete tief durch, um mich zu beruhigen, „erzählen Sie mir nicht, dass Ihre Familie direkt vom Schiff in ein Anwesen auf der Upper East Side gezogen wäre. Sie hatten am Anfang gar nichts und lebten in den Armenvierteln. Daniel hat mir davon erzählt. Und dennoch ist ein guter Mann aus ihm geworden, würde ich sagen. Falls Sie es vergessen haben – ich bin ebenfalls Einwanderin. Ich will nicht vorgeben, etwas zu sein, das ich nicht bin.“

Es entstand eine lange, frostige Pause, während der nur der Rasenmäher weiter vor sich hin klapperte. Dann sagte sie ruhig: „Wir machen uns lieber wieder an die Arbeit, wenn wir diese Sachen rechtzeitig fertig haben wollen. Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass wir zum Mittagessen bei den Misses Tompkins erwartet werden, nicht wahr? Und ich habe Clara Bertram versprochen, dass Sie danach zum Krocket zu ihr kommen würden. Sie ist ebenfalls eine von Daniels alten Freundinnen und möchte Sie gern kennenlernen.“

Jede Wette, dachte ich. Damit sie das Material meiner Kleidung begutachten und für nicht gut genug befinden kann. Ich hatte während dieses Aufenthalts bereits mehrere von Daniels alten Freundinnen kennengelernt. Ich hatte die Überraschung erlebt, weil Daniel eine wie mich heiratete, während er Arabella Norton und mit ihr ein ordentliches Vermögen hätte haben können.

Ich nahm mir den halbfertigen Unterrock und wollte gerade die Nadel ansetzen, als sich die Tür zur Veranda öffnete und Colleen herauskam, das Hausmädchen. „Die Post ist eingetroffen, Madam“, sagte sie und reichte Mrs. Sullivan mehrere Briefe. Mrs. Sullivan überflog die Umschläge.

„Das werden Antworten auf die Hochzeitseinladungen sein. Die Van der Meers“, sagte sie und wirkte erfreut. „Oh, und Stadtrat Harrison. Und hier ist einer für Sie, Molly. Das ist nicht Daniels Handschrift.“

Sie reichte mir den Brief. Ich erkannte die Handschrift sofort. „Der ist von meiner Nachbarin im Patchin Place“, sagte ich und konnte mir nicht verkneifen hinzuzufügen: „Augusta Walcott, von den Bostoner Walcotts.“

Mrs. Sullivan wirkte angemessen überrascht. „Die Walcotts, in Greenwich Village?“

„Sie ist eine aufstrebende Malerin. Würden Sie mich entschuldigen, während ich den Brief lese?“ Ich wartete nicht auf die Antwort, sondern lief die Stufen hinab und über den Rasen, bis ich ihm Schatten einer Ulme stand, außer Sichtweite von Mrs. Sullivan und der Hollywoodschaukel. Ich las in Gus’ geschulter, fließender Handschrift:

Meine liebe Molly,

Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr wir uns nach dir verzehren. Das Leben wirkt ohne dich völlig langweilig. Und New York ist tierisch heiß und unangenehm. Aber Sid besteht darauf, hier zu bleiben, weil sie einen Artikel über die Suffragettenbewegung schreibt. Wir stellen uns vor, dass du im Schatten der Blätter sitzt, eisgekühlte Limonade trinkst und es dir gutgehen lässt. Wir waren versucht, uns in den nächsten Zug zu schwingen und dich zu besuchen, aber Sid wies darauf hin, dass deine Schwiegermutter uns nicht akzeptieren würde, und möchte nichts tun, was deine Beziehung zu ihr überschatten könnte. Sid ist immer so umsichtig, nicht wahr?

Aber dann hatte sie eine ausgezeichnete Idee. „Warum geben wir nicht eine kleine Party für Molly?“, schlug sie vor. Mit all den Freunden, die nicht zur Hochzeit eingeladen sind. Natürlich haben wir uns sofort an die Planung gemacht. Soll sie im japanischen Stil oder in dem des antiken Griechenlands gefeiert werden? Sid schlug ein Unterwasserthema vor und wollte, dass wir uns alle als Meerjungfrauen verkleiden, aber das wäre wirklich unpraktikabel, da wir mit den Flossen nicht tanzen können. Wir debattieren also noch über das Motto, aber wir dachten, dass es irgendwann am Labor-Day-Wochenende gut passen würde, falls du nichts vorhast. Lass uns so bald wie möglich wissen, ob dir das zusagt, dann heißt es volle Kraft voraus für unsere Planung.

Wir sehen ab und zu deinen Verlobten, wobei ich nicht behaupten kann, dass er sich Zeit für Geselligkeit genommen hätte. Wie du weißt, lässt er dein Haus völlig neu einrichten. Neulich kam er mit einer ganzen Ladung Möbel her, vermutlich für seine Zimmer, da alles sehr verdrießlich und maskulin wirkte. Wir haben ein paarmal einen Blick riskiert und ich muss sagen, dass alles wunderbar neu aussieht – und die Tapete ist erstaunlich geschmackvoll. Ich glaube, es wird dir gefallen.

Wir hoffen, dass du am Labor Day herkommen kannst. Sid schickt liebste Grüße.

Deine Freundinnen Sid und Gus

P.S. Ich hätte es fast vergessen. Gestern stand ein Mann vor deiner Tür und als niemand öffnete, klopfte er bei uns und wollte wissen, wo du bist. Er sagte, er würde einen wichtigen Mann mit einem dringenden Auftrag für dich vertreten, und hat uns seine Karte dagelassen. Er hat verlangt, dass du ihn schnellstmöglich kontaktierst. Wir sagten ihm, dass du im Moment wohl keine Aufträge annehmen würdest, aber er meinte, diesen würdest du mit Sicherheit annehmen. Er war sehr beharrlich. Vielleicht solltest du schon einen Tag vor der Party in die Stadt zurückkommen, nur für den Fall, dass da ein saftiger Auftrag auf dich wartet. Natürlich haben wir Daniel nichts davon erzählt.

Ich las den Brief noch einmal, dann faltete ich ihn zusammen. Ein dringender Auftrag von einem wichtigen Mann. Ich hatte Daniel versprochen, meine Detektei aufzugeben, wenn ich verheiratet wäre, aber ich war noch nicht verheiratet, oder? Und wenn es ein einfacher, unkomplizierter Auftrag war, würde er mir eine hübsche Summe einbringen – sodass ich zumindest ohne schlechtes Gewissen in einem Kaufhaus einen fertigen Unterrock würde kaufen können.

Daniels Mutter hob den Blick, als ich die Stufen zur Veranda heraufkam. „Gute Neuigkeiten, hoffe ich.“
„Wundervolle Neuigkeiten, danke. Meine Freundinnen in der Stadt planen, vor der Hochzeit eine Feier für mich zu geben. Sie soll am kommenden Wochenende stattfinden. Ich hoffe, Sie werden mir verzeihen, wenn ich für ein paar Tage in die Stadt zurückkehre. Ich fürchte, beim Nähen bin ich Ihnen ohnehin mehr Hindernis als Hilfe.“

Ich hatte das Gefühl, sie würde erleichtert wirken, doch sie sagte steif: „Diese Feier erfordert es, dass Sie länger als einen Tag fortbleiben, ja?“

„Ich kenne diese Freundinnen“, sagte ich. „Ihre Feiern sind stets kunstvolle Kostümpartys, also werde ich irgendwie ein passendes Kostüm zusammenstellen müssen.“

„Eine Kostümparty – das scheint mir befremdliche für eine Hochzeitsparty.“

„Es ist Greenwich Village“, rief ich ihr ins Gedächtnis. „Und viele unserer Bekannten sind Künstler und Schriftstellerinnen. Sie genießen es, ihre Kreativität in Festlichkeiten einfließen zu lassen.“

Sie wandte sich wieder ihrer Näharbeit zu; ein akkurater Stich neben dem anderen.

„Bei Ihren Nähkünsten sollten wir hoffen, dass eine römische Toga ausreicht“, sagte sie schließlich.

Ich lachte pflichtbewusst, obwohl ich mir nicht sicher war, ob sie tatsächlich einen Witz machen wollte.

„Ich werde rechtzeitig zurück sein, um Ihnen bei den Hochzeitsvorbereitungen zu helfen und die letzten Anpassungen an meinem Kleid vorzunehmen“, sagte ich.

„Und ich gehe davon aus, dass Sie heute noch für unser Mittagessen bei den Misses Tompkins und das Krocketspiel mit Clara Bertram bleiben?“

„Natürlich“, sagte ich. „Ich denke nicht im Traum daran, das Mittagessen bei den Misses Tompkins zu verpassen.“

Jetzt sah sie mich an und versuchte herauszufinden, ob ich scherzte.

Zwei

Als der Zug auf dem Weg nach Süden durch die Wälder von Westchester County Fahrt aufnahm, fühlte ich mich, als hätte man mir eine Zwangsjacke abgenommen (und glauben Sie mir, ich habe mal in einer gesteckt – kein Erlebnis, das ich allzu bald wiederholen möchte). Ich stellte fest, dass ich mein Spiegelbild im Fenster anlächelte. Ich würde bald heiraten; eine Braut sein. Endlich freute ich mich auf meine Hochzeit. Es stimmte, dass ich kaum eigene Gäste haben würde, wie Mrs. Sullivan mir ins Gedächtnis gerufen hatte, aber das machte nichts. Die wenigen, die kommen würden, waren mir sehr wichtig: die alte Miss Van Woekem, für die ich mal gearbeitet hatte, Mrs. Goodwin, der weibliche Police Detective, zusammen mit ihrem jungen Schützling, den ich gerettet hatte. Sid und Gus natürlich. Da musste ich mich durchsetzen. Ohne Sid und Gus keine Hochzeit. Doch ich spürte, dass mich eine Welle der Traurigkeit überkam, weil ich nichts von Seamus und seiner kleinen Familie gehört hatte. Sie waren mal ein wichtiger Teil meines Lebens gewesen, aber seit sie Bridies Gesundheit zuliebe nach Connecticut gezogen waren, hatte ich nur noch sporadisch Kontakt zu ihnen. Sie hätte das perfekte Blumenmädchen abgegeben, dachte ich wehmütig. Viel besser als die Enkelin der Van Kempers’. Ich lächelte mich wieder selbst an.

Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie gut ich mich fühlte, als der Zug über die Brücke über den Harlem River und in die nördlichen Ausläufer New Yorks rollte. Keine Mittagsgesellschaften oder Krocketpartys mehr, bei denen ich auf meine Worte und mein Benehmen achten und versteckte Kritik über mich ergehen lassen musste. Vielleicht war ich zu empfindlich, aber ... vielleicht auch nicht. Und wer mich kennt, kann Ihnen bestätigen, dass ich es definitiv nicht gewohnt bin, die züchtige Miss zu geben. Es war anstrengend gewesen. Und jetzt würde ich wieder unter Freunden sein und hatte zudem die Aussicht auf einen lukrativen Auftrag. Und ich hätte vielleicht sogar die Gelegenheit, Daniel zu sehen – mir kam ein erschütternder Gedanke: Daniel würde nicht erfreut darüber sein, dass ich seine Mutter verlassen hatte. Und natürlich durfte er es nicht erfahren, falls ich den Fall annahm. Mir fiel ein genialer Plan ein. Es wäre vermutlich nicht schlau, in meinem eigenen Haus zu wohnen, während es neu gestrichen und verputzt wurde. Außerdem wäre es wohl kaum gerecht, das Haus vor der Hochzeit allein zu belegen. Sids und Gus’ Gästezimmer wäre eine sehr viel bessere Idee, dachte ich, als der Zug gerade in den Tunnel einfuhr, nach dem er den Grand Central Terminal erreichen würde.

Bevor ich nach Westchester County gefahren war, hatte sich die Stadt unerträglich heiß und stickig angefühlt, und ich hatte mich nach der Flucht aufs Land gesehnt. Es war natürlich immer noch heiß, doch ich hatte nur Augen für das lebhafte Treiben auf den Straßen – eine Stadt mit pulsierendem Leben. Der Patchin Place war im Vergleich eine stille Seitenstraße, während das Stadtleben sich rund um das Gebäude des Jefferson Market und auf der Greenwich Avenue abspielte. Ich stand auf den Pflastersteinen und spürte, wie mir die Hitze von den rötlichen Backsteinbauten zu beiden Seiten entgegenströmte. Ich dachte daran, wie dankbar ich war, weil Daniel nachgegeben hatte und wir unser Eheleben hier beginnen würden. Ich wusste, dass er damit ein Opfer brachte. Ich wusste, dass er an einer angesehenen Adresse wohnen wollte. Ich wusste, dass er befürchtete, ich würde mich unter dem schädlichen Einfluss von Sid und Gus ungebührlich verhalten. Aber er hatte verstanden, wie viel mir das Haus bedeutete und wie sehr ich meine Freundinnen schätzte, und hatte eingewilligt, es zu versuchen. Ich hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, dass das Haus vermutlich zu klein sein würde, wenn nach ein oder zwei Jahren Kinder dazukämen, und dass wir einen Bediensteten brauchen würden. Er hatte mir schon jetzt einen Bediensteten anstellen wollen, aber das war wirklich nicht nötig, solange ich noch den ganzen Tag zu Hause war und nichts tat. Und ganz ehrlich, ich wollte keinen Eindringling in meinem frischen Eheleben – ganz besonders keinen, der das freie Zimmer bewohnen würde.

Ich wuchtete meine Reisetasche hoch und lief über die Pflastersteine auf mein Haus zu, begierig, einen Blick auf Daniels Renovierungen zu werfen. Ich wollte gerade den Schlüssel in Schloss stecken, als ich noch einmal darüber nachdachte. Ich sollte erst herausfinden, ob jemand drinnen war. Ich wollte nicht, dass die Handwerker Daniel davon berichteten, dass ich unangekündigt aufgetaucht war. Ich konnte durch die Gardinen nichts erkennen, also beschloss ich, zuerst auf die andere Straßenseite zu Sid und Gus zu gehen. Sie schienen immer verblüffend gut zu wissen, was vor sich ging, und konnten mir sicher sagen, ob irgendwelche Handwerker oder Maler im Haus waren.

Ich klopfte an ihre leuchtend rote Haustür und bei dem Gedanken an ein Wiedersehen überkam mich große Freude. Nach einer Weile hörte ich Schritte und die Haustür wurde von einer überaus seltsamen Erscheinung geöffnet. Es war Gus, doch sie trug einen Morgenrock und darunter ein schwarzes Spitzenkorsett mit Strumpfhaltern, an denen Netzstrümpfe befestigt waren. Da Gus die sittsamere meiner beiden Nachbarinnen war, war das an sich schon schockierend, aber die Tatsache, dass das Outfit vom Helm eines Police Constables gekrönt wurde, machte das Ganze noch verblüffender.

„Molly!“ Gus’ Gesicht erhellte sich, als sie mich erkannte. „Wir haben dich nicht so früh erwartet. Ich freue mich, dich zu sehen.“

„Geht mir genauso. Aber willst du es dir zur Gewohnheit werden lassen, so die Haustür zu öffnen?“

„Oh je“, sagte sie und zog mit nur einem Hauch von Verlegenheit den Morgenrock zu. „Ich habe nicht gemerkt, dass sich der Gürtel gelöst hat. Zum Glück warst du es und nicht irgendein Mann.“

„Die meisten jungen Frauen mit deiner Kinderstube wären längst in tiefste Ohnmacht gefallen“, sagte ich.

„Die meisten jungen Frauen mit meiner Kinderstube spielen zurzeit die brave Ehefrau und verbringen den Sommer in Newport oder Cape Cod. In ihren Augen bin ich längst ein hoffnungsloser Fall. Wie unhöflich von mir, dich in dieser schrecklichen Hitze stehenzulassen. Komm nur herein. Sid wird begeistert sein.“

Sie führte mich in ihren kühlen, dunklen Flur und rief dann die Treppe hinauf: „Sid, leg sofort den Stift weg. Wir haben Besuch.“

Auf der Treppe waren Schritte zu hören, dann tauchte Sid in Pluderhose und offenem, weißen Hemd auf. „Molly“, rief sie. „Wie wundervoll, dich zu sehen. Ist es nicht wundervoll, Gus?“ Dann bemerkte sie, was Gus trug. „Meine Herzallerliebste, hast du tatsächlich in diesem außergewöhnlichen Outfit die Haustür geöffnet?“

„Ich habe es gerade anprobiert“, sagte Gus. „Ich dachte, mein Morgenrock wäre fest verschlossen.“

„Und der Polizeihelm?“

„Oh, ja.“ Gus führte eine Hand zu ihrem Kopf. „Den hatte ich vergessen. Weißt du, Molly, wir versuchen, uns für ein Thema für deine Party zu entscheiden. Wir dachten, ein Ball von Prostituierten und Polizisten könnte witzig sein ... Daniel zu Ehren. Deshalb versuche ich gerade herauszufinden, ob ich Polizistin oder Prostituierte sein will.“

Ich lachte wieder. „Meine zukünftige Schwiegermutter war so beeindruckt davon, dass ich zur Party einer der Bostoner Walcotts gehen würde“, sagte ich. „Wenn sie dich nur so sehen könnte!“

Beide stimmten in mein Gelächter ein. „Ist sie so spießig, wie du befürchtet hast?“, fragte Sid, während sie uns in die Küche führte und einen Krug Limonade aus dem Eisschrank holte.

„Schlimmer“, sagte ich. „Meine Nähkenntnisse sind unterirdisch. Ich musste zum Mittagessen oder zum Tee mit etlichen ihrer Freundinnen zusammensitzen und mir immer wieder Andeutungen anhören, dass Daniel es weitaus besser hätte treffen können. Ihr wärt sehr stolz auf mich gewesen – ich bin die ganze Zeit ruhig und sittsam geblieben. Mir kam kein voreiliges Wort über die Lippen. Geradezu fromm, würde ich sagen. Aber ich hätte es nicht viel länger ausgehalten. Ich stand kurz davor, schreiend irgendjemanden mit einem Krocketschläger zu erschlagen. Euer Brief war also ein Geschenk des Himmels.“

Sie lächelten mich immer noch an, als wäre ich ein geliebtes Kind, das in den Schoß der Familie zurückgekehrt war. Sid führte uns in den Wintergarten jenseits der Küche und bedeutete uns, im Schatten großer Topfpalmen Platz zu nehmen, die den Ort wie einen Dschungel wirken ließen. Sie brachte ein Tablett mit Limonade und Gläsern mit.

„Dann bist du also bei der ersten Gelegenheit geflohen“, sagte Sid.

Ich nickte. „Es war die Ausrede, auf die ich die ganze Zeit gewartet hatte. Ganz ehrlich, ich bin nicht für vornehmen Müßiggang geschaffen. Ich weiß nicht, was ich mit mir anfangen soll, wenn ich verheiratet bin und nichts zu tun habe, als für Daniel zu kochen und das Haus sauber zu halten.“

„Dann wirst du dein Versprechen halten?“

„Ich habe kaum eine Wahl. Daniels Karriere steht an erster Stelle.“

„Warum?“, fragte Sid.

„Weil ... weil er der Mann ist und den Lebensunterhalt verdient, und weil er bereits eine erfolgreiche Karriere hat“, sagte ich zögerlich.

„Ich schätze, das stimmt“, räumte Sid seufzend ein. „Dann wirst du dich nicht für die Visitenkarte interessieren, die Gus in ihrem Brief erwähnt hat. Wir sollten sie einfach wegwerfen, oder?“

Sie blickten mich erwartungsvoll an. Ich sah ein Lächeln über Sids Lippen zucken.

„Noch bin ich nicht verheiratet“, sagte ich. „Ich kann noch meine eigenen Entscheidungen treffen. Und wenn es sich um einen lukrativen Auftrag handelt ... Nun, ich denke, es wäre gut, wenn eine Braut mit etwas eigenem Geld in die Ehe startet, oder?“

Sid schüttelte den Kopf, lächelte, ging wieder ins Haus und kehrte mit der Visitenkarte zurück.
„Frederick Lee.“ Ich betrachtete die Karte und sah dann auf. „Ist das die Karte des wichtigen Mannes oder seines Boten?“

„Die des Boten“, sagte Gus. „Er wollte den Namen seines Arbeitgebers nicht nennen. War sogar geradezu verschlossen, was das anging.“

„Und keine Andeutungen darüber, um welche Art Auftrag es sich handelt?“

„Nicht die geringste. Er gefiel mir nicht, falls du es wissen willst – irgendetwas an seiner Art schien zu vermitteln, dass du dich geehrt fühlen müsstest, ausgewählt worden zu sein, und es ausgeschlossen wäre, dass du den Auftrag ablehnst.“

„Dann vermutlich eine Scheidung“, sagte ich. „Ein reicher Mann, der seine Identität nicht preisgeben möchte. In dem Fall werde ich nicht annehmen. Mir ist egal, wie viel er mir bietet. Es ist mir zu schäbig, herumzuschleichen und zu versuchen, Menschen in kompromittierenden Situationen zu erwischen.“

„Bravo!“, sagte Sid. „Unsere Gesetze sind so antiquiert. Wenn ein Paar nicht mehr verheiratet sein möchte, sollten die beiden sich die Hand geben und einvernehmlich getrennter Wege gehen können, ohne List. Ich weiß, dass Gus und ich es sehr gesittet handhaben würden, wenn wir uns je entscheiden würden, uns zu trennen. Nicht wahr, Gus?“

„Ich möchte gar nicht darüber nachdenken.“ Gus wandte sich ab.

„Nicht dass wir das je tun würden“, sagte Sid eilig.

Ich drehte Mr. Lees Karte um. „Sein Büro ist in der Bowery“, sagte ich. „Schwerlich eine der besten Adressen. Ich frage mich, was sein Arbeitgeber beruflich tut.“

„Du hast recht, es ist nicht die 5th Avenue, aber im oberen Teil rund um die Cooper Union ist die Bowery ganz respektabel. Vielleicht ist der Arbeitgeber ein Anwalt“, bot Gus an. „Ich weiß, dass ich in der Gegend Kanzleien gesehen habe ... Wirst du ihm einen Besuch abstatten?“

Ich hob den Blick von der Karte. „Warum nicht? Was habe ich zu verlieren? Solange Daniel es nicht herausfindet.“

„Unsere Lippen sind wie immer versiegelt“, sagte Sid.

„Jetzt musst du dir von Sid ihre wundervollen Artikel zeigen lassen“, sagte Gus. „Die Geschichte der Suffragettenbewegung. Sehr erbaulich und aufschlussreich. Bring Molly nach oben und zeig ihr den, an dem du gerade schreibst, Sid.“

„Den Artikel habe ich noch nicht überarbeitet“, sagte Sid. „Der Stil ist noch recht roh. Aber sie kann den lesen, der diese Woche veröffentlicht wurde.“

„Das war ihr bester bisher“, sagte Gus und setzte sich neben mich, während Sid nach oben ging.

Ich war zwei Wochen lang das Ebenbild der Ruhe gewesen. Jetzt traten meine natürliche Ungeduld und Neugier an die Oberfläche und drohten sogar überzukochen. Ich brannte darauf, zu sehen, was Daniel mit meinem Haus angestellt hatte, und wollte mehr über den mysteriösen Mr. Lee und seinen lukrativen Auftrag erfahren. Sid und Gus waren mir enge Freundinnen. Sie waren sehr gut zu mir gewesen, aber sie hatten keinerlei Verständnis für Dringlichkeit. Für sie war das Leben ein ausgedehntes Spiel, das genossen und ausgekostet werden wollte. Ich nahm die Zeitschrift, die Sid mir brachte, und las. Tatsächlich war es unglaublich interessant, von den Staaten zu lesen, die bereits Gesetze erlassen hatte, um Frauen im vollen Umfang an der Regierungsbildung teilhaben zu lassen. Leider gehörte New York nicht dazu.

„Das zeigt auf jeden Fall, wie weit wir schon gekommen sind“, sagte ich, und gab ihr die Zeitschrift zurück.

„Nein“, sagte sie. „Es zeigt, wie viel wir noch vor uns haben. Für jeden Staat, der Frauen als rationale Wesen anerkennt, die die politische Willensbildung nur verbessern können, gibt es vier oder fünf, die uns nur dafür geeignet halten, den Boden zu schrubben, Kinder zu gebären und Teepartys zu geben.“

Ich nickte.

„Wir sind heute Abend Gastgeber für eines unserer Treffen“, sagte Gus, „also wirst du unsere furchtlosen Kriegerinnen persönlich kennenlernen. Falls du hier bist, natürlich, und der wichtige Mr. X dich nicht zum Essen ins Delmonico’s einlädt.“

„Oh, das halte ich für unwahrscheinlich“, sagte ich. „Aber ich muss gestehen, dass ich es kaum erwarten kann, mehr zu erfahren. Und ich möchte unbedingt sehen, was Daniel aus meinem Haus gemacht hat. Hattet ihr schon die Gelegenheit, einen Blick hineinzuwerfen?“

„Nein, wir wurden nicht eingeladen und durch die Gardinen kann man nahezu nichts erkennen.“

„Ich weiß“, sagte ich. „Ich habe selbst versucht, reinzuschauen. Ich habe mich nicht getraut, hineinzugehen, falls jemand im oberen Stockwerk arbeitet.“

„Ich glaube, sie sind fertig“, sagte Sid. „Wir haben in den letzten Tagen niemanden mehr gesehen, nicht wahr, Gus?“

„Grabesstille“, sagte Gus. „Und wir müssen gestehen, dass wir ähnlich neugierig sind. Wir wollen dringend herausfinden, ob uns Daniels Stil gefällt.“

„Dann schauen wir uns doch mal um, oder?“

Ich musste sie kein zweites Mal bitten, und sie folgten mir auf die andere Straßenseite. Ich öffnete vorsichtig die Haustür und lauschte nach irgendwelchen Anzeichen von Aktivität. Der Geruch frischer Farbe brannte mir in der Nase, aber es war kein Geräusch zu hören. Ich trat in den Flur, dicht gefolgt von Sid und Gus. Wie Gus vorausgesagt hatte, sah das Haus brandneu aus. Der Flur war in einem hellen Gelb gestrichen, das Wohnzimmer, das zuvor nur einen recht schäbigen Sessel zu bieten gehabt hatte, präsentierte sich jetzt mit einem neuen Sofa und hübschen, gestreiften Tapeten.

Sid grunzte überrascht. „Der Mann hat einen erstaunlich kultivierten Geschmack, für einen Polizisten“, sagte sie.

„Und schau mal, Molly. Du hast jetzt tatsächlich ein Esszimmer“, sagte Gus, während sie an der nächsten Tür vorbeispähte.

„Scheint so.“ Das Esszimmer enthielt ein komplette Esszimmergarnitur mit einer beeindruckenden Anrichte, verziert mit geschnitzten Weinblättern. Ich hatte keine Ahnung, woher sie gekommen war. Sie war definitiv nicht Teil von Daniels Einrichtung gewesen.

„Heilige Mutter Gottes“, rief ich. „Ich werde die Herrin eines eleganten Haushalts sein.“

Wir gingen nach oben, und das Erste, was ich durch eine offene Tür erblickte, war ein großes, neues Himmelbett.

„Du liebe Güte, was für ein hübsches Teil“, kommentierte Sid. „Es ist offensichtlich, was seine Gedanken dominiert, nicht wahr? Und deine auch, nehme ich an.“ Und sie kicherte.

Zu meinem Ärger merkte ich, dass ich errötete. Die jungen Damen, mit denen ich Krocket gespielt hatte, wären bei einer solchen Bemerkung schwach geworden und hätten nach ihrem Riechsalz gegriffen. Sid und Gus schienen es für völlig normal zu halten, über solche Themen zu sprechen, wie auch die gesamte Künstlergemeinde, nahm ich an.

„Nun, ich würde sagen, Daniel macht dir alle Ehre, Molly“, sagte Gus in einem Versuch, meine Gefühle zu schonen. „Die Renovierung und die Möbel sind großartig. Aber du planst doch nicht etwa, vor der Hochzeit hier zu schlafen, oder?“

„Ich denke, das sollte ich vermeiden“, sagte ich. „Das wäre Daniel gegenüber nicht fair, da er mich bestimmt damit überraschen will. Ich hatte gehofft, bis zur Party bei euch wohnen zu können.“

„Natürlich. So muss Daniel nicht einmal erfahren, dass du in der Stadt bist“, sagte Sid. „Na dann komm. Wir sollten hier verschwinden, für den Fall, dass der Bräutigam unerwartet auftaucht.“

Ich warf noch einmal einen Blick auf das Bett, während die beiden die Treppe hinunterstiegen. Es war wirklich beeindruckend – so hoch und groß, dass ich mir gar nicht vorstellen konnte, wie die Umzugshelfer es die schmale Treppe heraufgebracht hatten. Für einem Augenblick stellte ich mir Daniel und mich vor ... doch rasch zügelte ich diesen Gedanken. Ich hatte Daniel zu lange auf Abstand gehalten, da ich wusste, wie schnell das Feuer zwischen uns auflodern konnte. Und jetzt war die Wartezeit beinahe vorüber. Es ziemte sich bestimmt nicht für eine junge Dame, sich auf den Liebesakt mit ihrem Ehemann zu freuen. Mrs. Sullivan hatte versucht, subtil auf den Appetit der Männer hinzuweisen, und anzudeuten, dass wir Frauen ihn um der Männer willen hinnehmen mussten. Immerhin hatte ich es geschafft, nicht zu lächeln.

Drei

Als wir zum Haus von Sid und Gus zurückkehrten, brannte ich darauf, den mysteriösen Mr. Lee aufzusuchen, musste meine Ungeduld aber noch eine Weile überspielen, während die beiden mich zu meinem Zimmer hinaufbrachten, großen Wirbel machten, um sicherzugehen, dass ich mit Kissen versorgt war und in der Kommode ausreichend Platz hatte, und dann nach unten eilten, um das Mittagessen vorzubereiten. In Wahrheit genoss ich es, bei ihnen zu essen, besonders, da es knuspriges Baguette und Sids Vier-Zutaten-Mahlzeit gab: Pastete, Port Salut, Birnen und Pfirsiche. Nach Mrs. Sullivans schwer verdaulichen und stopfenden Mahlzeiten war das angenehm zwanglos, aber diese Visitenkarte brannte ein Loch in meine Tasche. Zum Glück wollte Sid dringend ihren Artikel fertigstellen, als das Essen vorüber war, sodass ich die Gelegenheit zur Flucht ergriff, und mich nach Süden zu dem Büro in der Bowery begab.

Die Hausnummer ließ darauf schließen, dass sich das Gebäude im unteren Teil der Straße befand, wo sie auf den Chatham Square stieß, und doch nicht am gehobeneren, nördlichen Ende. Damit wuchs meine Neugier nur noch mehr. Welcher wichtige Mann hatte wohl Büros in der widerwärtigen Gegend südlich der Canal Street?

Der Tag war mittlerweile unangenehm warm und feucht geworden und für den Nachmittag kündigte sich ein Gewitter an. Ich wollte keinen Schritt zu viel laufen und überlegte, ob es besser wäre, mit der Straßenbahn den Broadway hinunterzufahren und dann die Canal Street zu nehmen, oder von meinem Haus aus zur 3rd-Avenue-Hochbahnstation zu gehen, um am Ende der Strecke weniger weit laufen zu müssen. Ich entschied mich für Letzteres und lief die 8th Street entlang, vorbei am Astor Place und dem Gebäude der Cooper Union, bis zur nächsten Hochbahnstation. Ich bereute diese Entscheidung, da der Zug schon beim Eintreffen brechend voll war, und ich zwischen einer dicken nach Knoblauch stinkenden Italienerin und einem ebenso dicken Arbeiter stehen musste, der roch, als hätte er seit Wochen kein Bad genommen. Ich klammerte mich an den Gedanken, dass die Strecke jetzt elektrifiziert war, da sonst auch noch Rauch durchs offene Fenster hereingeweht wäre und sich mit den unangenehmen Gerüchen vermischt hätte.

Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich war, als ich mich am Chatham Square zur Waggontür durchkämpfte. Ich stieg die eiserne Treppe hinunter und in die Menschenmassen der unteren Bowery hinab. Straßenbahnen schlichen in der Mitte der Straße vorwärts und ungeduldige Glocken ertönten, um Lieferwagen, Hansom-Taxen und die gelegentliche Kutsche aus dem Weg zu scheuchen. An der Ecke stand ein Constable und schwang seinen Knüppel auf, wie er wohl hoffte, bedrohlich Weise, da Verbrechen hier überhandnahmen.

Ich kannte diese Gegend bereits und unerwartete Erinnerungen traten an die Oberfläche. Ich war in der nahen Cherry Street in einer Mietskaserne untergekommen, als ich damals von Ellis Island aus zum ersten Mal die Stadt betreten hatte. Dieser erste Kontakt mit der Stadt war kein sehr angenehmes Erlebnis gewesen – besonders, da ich damals des Mordes verdächtigt worden war und ums nackte Überleben gekämpft hatte. Später hatte ich als verdeckte Ermittlerin in einem Ausbeuterbetrieb in der Canal Street gearbeitet. Und als ich darum gekämpft hatte, nach Daniels Verhaftung wegen erfundener Bestechungsvorwürfe seine Unschuld zu beweisen, war ich an Monk Eastman und seine Gang geraten, die diesen Teil der Stadt beherrschten. Während die verstörenden Erinnerungen zu mir zurückkehrten, warnte mich eine Stimme in meinem Kopf, dass es unklug sein könnte, diese gefährliche Welt erneut zu betreten. Aber ich drängte die Bilder zurück, da das alles jetzt hinter mir lag. Daniel war wieder bei der Polizei. Eine schöne Zukunft mit ihm lag vor mir und ich brauchte mir keine Sorgen zu machen. Und wenn mir der Auftrag nicht gefiel, den Mr. Lee mir anzubieten hatte, würde ich ihn einfach nicht annehmen.

Da ich das nun mit mir geklärt hatte, schritt ich zuversichtlich voran. Selbst bei Tageslicht war das hier keine sehr ansprechende Straße. Die Hochbahn fuhr durch sie hindurch, sodass sämtliche Geschäfte auf der einen Seite permanent im Schatten lagen. Die Art dieser Läden reichte von Metzgereien und Gemüsehändlern über schäbige Absteigen (Betten waren pro Woche ausgeschrieben – Alkohol strengstens verboten) bis hin zu Friseursalons mit ihren gestreiften Stangen (die für zehn Cents einen Haarschnitt mit heißer Rasur anboten). Und natürlich gab es Kneipen im Überfluss, ganz zu schweigen von den Freudenhäusern. Leicht bekleidete Mädchen standen in Hauseingängen und suchten die Menge nach möglichen Kunden ab. Ihre Blicke glitten über mich hinweg, als wäre ich unsichtbar.

Die Kneipen hatten regen Zulauf, obwohl es erst früher Nachmittag war. Betrunkene Männer – viele von ihnen Iren, muss ich zugeben – stolperten heraus und blinzelten in das helle Sonnenlicht, als könnten sie nicht glauben, wo sie waren. Gelegentlich wurde ein Mann gewaltsam hinausgeworfen, stürzte heraus und landete mit von sich gestreckten Gliedern auf dem Bürgersteig. Frauen auf dem Weg zum Einkaufen rafften die Röcke, nahmen ihre Kinder an der Hand und gingen vorüber, als wäre nichts passiert. Ich erinnerte mich auch an solche Kneipen. Ich hatte sie einige Male betreten müssen und war nur knapp dem Rauswurf entgangen, da Frauen der Zutritt untersagt war. Das schien alles so lange her zu sein. In jüngerer Zeit waren meine Fälle respektabler gewesen und dieser Teil der Stadt fühlte sich jetzt gefährlich und fremd an.

Ich blickte zu den Hausnummern hinauf. Mr. Lees Anschrift musste hier irgendwo sein. Endlich entdeckte ich das Haus neben einer baptistischen Mission, aus der Kindergesang erklang. Offensichtlich versuchten die Baptisten nicht nur sonntags, Seelen zu retten. Ich stieg eine schmale, dunkle Treppe hinauf und stand vor einer Tür, auf der eine einfache Messingplatte befestigt war: GOLDEN DRAGON ENTERPRISES. Ich öffnete die Tür und ging hinein. Im Vorzimmer war im Licht der kraftlosen Gaslampe niemand zu sehen, doch als ich eintrat, kam ein junger Mann aus einem Hinterzimmer. Er war kaum größer als ich, schlank, feingliedrig, glattrasiert und hatte schwarzes Haar. Und seine Bewegungen strahlten Eleganz aus. Seine dunklen Augen wurden schmal, während er mich abwägend musterte.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er.

„Ich bin hier, um Mr. Frederick Lee zu treffen“, sagte ich und hielt ihm die Visitenkarte hin. „Ich bin Molly Murphy. Wenn ich recht verstehe, hat er einen geschäftlichen Auftrag für mich.“

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, doch er deutete eine Verbeugung an. „Ich bin Mr. Lee. Dann sind Sie als doch in die Stadt zurückgekehrt. Ihre Nachbarinnen schienen zu glauben, dass Sie nicht zur Verfügung stehen würden, um meinem Arbeitgeber zu helfen.“

„Ich habe mich draußen in Westchester County aufgehalten“, sagte ich. „Zum Glück kam ich zurück, um einer Feier beizuwohnen, sodass meine Nachbarinnen mir von Ihrem Besuch erzählen konnten. Sie schienen es für eine höchst dringliche Angelegenheit zu halten.“

„So ist es“, sagte er. „Es ehrt uns, dass Sie Ihre wertvolle Zeit opfern, um uns zu helfen. Bitte folgen Sie mir in mein Büro, Miss Murphy.“

Er führte mich hinein und holte mir einen Stuhl heran. „Bitte setzen Sie sich. Ich hoffe, Sie haben mich ohne Umstände gefunden.“ Er nahm hinter dem Schreibtisch Platz. Seine blumige Höflichkeit störte mich, besonders weil ich merkte, dass er sich von meiner Anwesenheit ganz und gar nicht geehrt fühlte. „Es war kein Problem“, sagte ich kühl. „Ich habe in diesem Teil der Stadt bereits an Fällen gearbeitet.“

„Ah. Das wird bei dieser Angelegenheit von Nutzen sein.“

Ich sah mich in dem Zimmer um. Abgesehen von dem Schreibtisch und den Stühlen, war es spärlich möbliert: ein großer Mahagonischrank an einer Wand und Regale voller Aktenordner hinter dem Schreibtisch. Plötzlich rumpelte es und das gesamte Gebäude bebte. Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass die Hochbahn direkt vor dem Fenster vorbeifuhr. Kaum ein Ort, an dem ein reicher Klient arbeitet oder auch nur ein Büro unterhält.

„Ich hörte, dass Sie einen einflussreichen Gentleman repräsentieren“, sagte ich. „Sind Sie sein Anwalt?“

„Oh, nein. Bloß sein Sekretär.“

„Dürfte ich dann die Art dieses Auftrages erfahren?“, fragte ich.

„Was das angeht, möchte er Ihnen persönlich davon berichten.“

„Dann geleiten Sie mich bitte zu ihm.“ Es gab nur die Tür, durch die ich hereingekommen war, und ich kam zu dem Schluss, dass dies der Außenposten eines Imperiums war und Mr. Frederick Lee lediglich zu den unteren Rängen der Angestellten gehörte. „Ich gehe davon aus, dass er sich nicht in diesem Gebäude aufhält.“

„Durchaus nicht.“ Frederick Lee stand auf. „Es wird mir eine Ehre sein, Sie zu ihm zu geleiten. Er wird erfreut sein, zu hören, dass Sie ihm in dieser kleinen Angelegenheit assistieren werden.“

„Ich habe noch nichts entschieden“, sagte ich. „Ich werde erst hören müssen, um welche Art Fall es sich handelt und welches Honorar er anbietet, ehe ich das tue.“

„Mein Arbeitgeber lässt sich ein ‚Nein‘ als Antwort nicht ohne Weiteres gefallen“, sagte Mr. Lee. „Er ist es gewohnt, dass seine Wünsche erfüllt und seine Anweisungen befolgt werden.“

„Dann sollte ich vielleicht gleich wieder gehen“, sagte ich, „da ich es mir nicht gefallen lasse, schikaniert oder herumkommandiert zu werden. Ich leite mein eigenes Geschäft und bin niemandes Lakai, Mr. Lee.“ Ich erhob mich. „Einen schönen Tag noch.“

Er sprang auf, um mir den Weg zur Tür zu versperren. „Es tut mir leid. Ich habe voreilig gesprochen, Miss Murphy. Bitte vergeben Sie mir. Natürlich weiß mein Arbeitgeber Ihre Expertise und Ihre Stellung zu würdigen, sonst hätte er mich nicht zu Ihnen geschickt. Es handelt sich um eine höchst delikate Angelegenheit und er braucht eine Detektivin mit Ihrem Geschick und Ihrer Raffinesse. Bitte lassen Sie sich von mir zu ihm bringen und hören Sie sich an, was er zu sagen hat. Er ist ein reicher Mann, und seine Großzügigkeit gegenüber denen, die ihm helfen, kennt keine Grenzen. Ich kann Ihnen versichern, dass Sie nicht enttäuscht sein werden.“

Ich öffnete den Mund, um darauf hinzuweisen, dass seine Großzügigkeit gegenüber seinen Angestellten durchaus ihre Grenzen hatte, wenn man nach diesem Büro ging, doch ich schluckte die die Worte im letzten Moment herunter. Ich muss gestehen, dass ich neugierig war und mich herausgefordert fühlte. Ich konnte diesen Mann wenigstens treffen, und falls mir nicht gefiel, was ich zu sehen bekam, stände es mir frei zu gehen.

„Nun gut“, sagte ich. „Bringen Sie mich zu ihm.“

Er nahm seine Melone von einem Kleiderständer im Vorraum. „Hier entlang, bitte. Es ist nur ein kurzer Spaziergang. Ich hoffe, die Hitze ist nicht zu erdrückend, aber es hat wenig Sinn, für so eine kurze Strecke eine Droschke zu nehmen.“ Er führte mich die Treppe hinunter. Ein weiterer Zug rumpelte über uns hinweg, als wir auf die Straße hinaustraten.

„Hier entlang. Passen Sie bitte auf, wo Sie hintreten. Die Straße ist nicht die sauberste, fürchte ich.“ Er nahm meinen Arm, packte mich fest oberhalb des Ellenbogens und führte mich über die Straße, zwischen einem Straßenbahnwaggon und dem Karren eines Messerschleifers hindurch. Als wir wohlbehalten den Bordstein erreicht hatten, ließ er mich los. „Es ist immer ein Abenteuer, die Bowery zu überqueren, nicht wahr?“, fragte er. „Aber wir werden bald aus dem Tohuwabohu heraus sein.“

Ich war neugierig und hätte gern gewusst, wohin es ging. Es gab keinen Ort in Laufweite der Bowery, den ich mir als respektable Residenz eines reichen Mannes vorstellen konnte, also vermutete ich, dass wir zu einem weiteren Büro gingen. Vielleicht würden wir nach Süden zur Wall Street gehen und mein Klient war ein wohlhabender Banker. Oder vielleicht besaß er Frachtschiffe, doch wir entfernten uns von den Docks.

„Hier herein“, sagte er, und führte mich in eine Seitenstraße. Ich blickte nach oben und las den Straßennamen: Mott Street. Mit fiel zudem auf, dass die Straße nach dem Trubel der Bowery ungewöhnlich ruhig und leer war. Und sie sah irgendwie anders aus. Bunte Balkone schmückten die Gebäude, die in kunstvoll geschwungenen Giebeldächern endeten. Manche der Balkone waren vergoldet und mit Schnitzereien versehen, die mystische Kreaturen darzustellen schienen, und mit Laternen und Vogelkäfigen behängt. Dann fielen mir die Namen über den Läden und Restaurants auf: Yee Hing Co., Precious Jade Chop Suey House, On Leong Merchants’ Association. Zudem waren die Aushänge an Leitungsmasten und die Werbetafeln mit chinesischen Schriftzeichen beschrieben. Ich war an einen Ort geführt worden, von dem ich bislang nur gehört hatte: Chinatown.