Leseprobe Mord im Sinn

Kapitel 1

„Llanfair.“ Der Fahrer las das ramponierte Schild am Rande der Straße laut vor. „Ich fand, an diesem Ort könnten wir anfangen.“ Er schaltete runter und der Jaguar bremste unter missmutigem Brummen. Ein Dorf kam in Sicht – kaum mehr als eine Ansammlung von Cottages, die sich an die steilen, grünen Wände des Gebirgspasses schmiegten.

Die Frau auf dem Beifahrersitz lehnte sich vor, um durch die Windschutzscheibe zu blicken. Es war nicht leicht, ihr genaues Alter abzuschätzen – das lange, glatte Haar und das fehlende Make-up ließen sie zusammen mit der Jeans und dem T-Shirt wie eine Teenagerin aussehen. Aber bei näherer Betrachtung musste sie schon über dreißig sein. Sie beobachtete die grauen Stein-Cottages, die Schafe auf den hohen Hängen, den Gebirgsbach, der über Felsen tanzte und unter der alten Steinbrücke hindurchfloss. „Es ist einen Versuch wert“, sagte sie. „Ist auf jeden Fall abgelegen genug. Kein Supermarkt, kein Videoverleih und keine Satellitenschüsseln auf den Dächern. Und es gibt einen echten Dorfpub, in dem sich die fröhlichen Einheimischen treffen.“

Der Jaguar wurde noch langsamer und schlich auf das quadratische, schwarz-weiße Fachwerkhaus zu. Ein pendelndes Schild an der Fassade verkündete, dass es sich um den Red Dragon handelte. „Ich sehe nicht allzu viele fröhliche Einheimische“, sagte er. „Dieser Ort wirkt verlassen. Wo sind denn alle?“

„Vielleicht ist das hier die walisische Version von Brigadoon. Sie kommen nur alle hundert Jahre raus.“ Sie lachte. „Oh, Moment mal. Da ist jemand.“ Eine junge Frau mit wilden, blonden Locken war aus dem Pub getreten. Sie machte sich hoffnungsvoll daran, die Tische im Freien abzuwischen, obwohl der Himmel bedeckt war und Regen versprach. Ein lauter Ruf von der anderen Straßenseite ließ sie aufschauen. Dort gab es eine Ladenreihe direkt gegenüber des Pubs. G. Evans, Cyggyd (das Wort „Metzger“ stand in sehr kleinen Lettern darunter), R. Evans, Milchprodukte, und dann, um das Evans-Monopol zu verhindern, T. Harris, Gemischtwarenladen (und Postnebenstelle).

Ein dicker Mann mit rotem Gesicht und blutbespritzter Schürze war aus der Metzgerei getreten und rief jetzt etwas, wobei er ein Fleischerbeil schwang. Die beiden Insassen des Wagens sahen sich verunsichert an, während er weiter mit dem Fleischerbeil wedelte und schrie.

„Fröhliche Einheimische?“ Er kicherte nervös.

Die junge Frau schien diese Tirade nicht zu beeindrucken. Sie warf ihre blonde Mähne zurück, rief ebenfalls etwas und der Metzer brach in lautes Gelächter aus. Er winkte ihr gutgelaunt mit dem Fleischerbeil und ging in seinen Laden zurück. Die junge Frau blickte zu dem Jaguar, dann wischte sie halbherzig den letzten Tisch ab und kehrte in den Pub zurück.

„Was zur Hölle hatte das zu bedeuten?“, fragte die Frau in dem Wagen. „War das Walisisch?“

„Ich glaube nicht, dass es Russisch war, Schatz. Wir sind mitten in Wales.“

„Aber mir war nicht klar, dass die Leute tatsächlich Walisisch sprechen! Ich dachte, das wäre eine dieser alten Sprachen, die man in Berkeley studiert. Du hättest mich warnen können. Dann hätte ich einen Intensivkurs belegen können. Das macht alles nur noch komplizierter.“

Er streckte die Hand aus und tätschelte ihr Knie. „Es wird alles gut. Sie alle sprechen auch Englisch, weißt du? Warum springst du nicht aus dem Auto und erkundest mal die Lage?“

„Willst du, dass ich mit einem Fleischerbeil zerhackt werde? Glaubst du, hier oben in den Bergen sind sie alle gewalttätig? Ich kann mir vorstellen, dass es hier viel Inzucht gibt.“

„Es gibt nur eine Möglichkeit, um das herauszufinden.“ Er grinste, während er ihr einen sanften Schubs gab. „Und es war deine Idee, weißt du noch?“

„Unsere Idee. Wir haben das gemeinsam geplant.“

Er sah sie für einen langen Augenblick an. „Ich habe dich vermisst, Emmy.“

„Ich dich auch. Ich hätte nicht gedacht, dass es so lange dauern würde. Ich bin verdammt eifersüchtig, weißt du?“

„Das musst du nicht sein.“

Ein älterer Mann in Leinenmütze und Tweedsakko kam schnellen Schrittes die Straße herunter und verschwand im Pub. Einige Frauen kamen vorbei, mit Einkaufskörben an den Armen und ins Gespräch vertieft. Sie trugen die britische Uniform für ungewisses Wetter: Plastikregenmäntel und ein Kopftuch über der grauen Dauerwelle. Sie hielten inne, um dem Wagen einen interessierten Blick zuzuwerfen, ehe sie sich an der Bushaltestelle niederließen.

„Ich sollte hier verschwinden“, sagte der Mann. „Man sollte mich nicht bemerken. Es gibt ein großes Hotel oben am Pass – du kannst es nicht verfehlen. Es sieht aus wie ein verdammt großes Schweizer Chalet – fürchterlich hässlich. Ich werde da oben auf dich warten, in Ordnung?“

„Alles klar. Gib mir etwa eine Stunde.“ Sie öffnete die Autotür und wurde von einer frischen, steifen Brise begrüßt. „Meine Güte, hier oben ist es eiskalt. Ich werde mir Thermounterwäsche kaufen müssen, wenn wir uns entschließen, dass dies der richtige Ort ist.“

„Fang im Pub an“, schlug er vor. „Immerhin wissen wir, dass dort jemand ist.“

Sie nickte. „Gute Idee. Ich könnte einen Drink vertragen.“ Ein Lächeln machte sich auf ihrem schmalen, ernsten Gesicht breit. „Drück mir die Daumen.“

„Viel Glück“, sagte er. „Das ist eine verrückte Idee, Emmy. Hoffentlich klappt es auch.“

Kapitel 2

Das große Auto fuhr die Straße hinauf. Emmy schob sich das lange, dunkle Haar aus dem Gesicht, als sie die schwere Eichentür öffnete, und betrat den Red Dragon.

Sie kam in einen warmen und einladenden Raum. Eine lange, polierte Eichenbar zog sich beinahe über die ganze Länge der einen Wand, und der Deckenbalken aus demselben Holz war mit Hufeisen verziert. Ein Feuer brannte in dem riesigen Kamin am anderen Ende des Raumes. Die junge Frau mit dem wilden, blonden Haar stand hinter der Bar und unterhielt sich mit dem alten Mann und einigen jüngeren Männern in schlammbespritzten Arbeitsoveralls. Das leise Gemurmel der walisischen Unterhaltung erstarb in dem Moment, als sie die Fremde bemerkten.

„Kann ich Ihnen helfen, Miss?“, fragte die junge Frau in trällerndem Englisch.

Emmy gesellte sich zu den Männern an der Bar. „Sicher. Welches Bier trinkt man hier in der Gegend?“

„Das wäre wohl Robinson’s“, antwortete die junge Frau. „Aber manche bevorzugen Guinness oder Brains, auch wenn das aus Südwales kommt. Ich weiß gar nicht, warum wir das auf Lager haben.“

„Dünn wie Wasser“, murmelte der alte Mann.

„Na gut. Dann nehme ich ein halbes Pint Robinson’s.“

Die Barfrau blickte zu den Männern. Sie schien sich eindeutig unbehaglich zu fühlen. „Es tut mir leid, aber Damen trinken üblicherweise in der Lounge, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Gehen Sie einfach durch, dann bringe ich Ihnen Ihre Bestellung.“

„Na gut.“ Emmy gelang ein Lächeln. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um Wellen zu schlagen. „Könnten Sie mir bitte den Weg zur Lounge weisen?“

„Gleich hinter diesem Durchgang dort.“

Emmy ging durch den offenen, bogenförmigen Durchgang und fand sich in einem deutlich kühleren Raum mit einigen polierten Holztischen und gepolsterten Ledersesseln wieder. Auch in diesem Raum gab es einen Kamin, aber es brannte kein Feuer. An einer Wand erstreckte sich eine lange Eichenbar. Emmy stellte amüsiert fest, dass es die Rückseite der Bar war, an der auch die Männer standen. Die junge Frau hatte sich umgedreht, um sie anzusehen.

„Dann haben Sie den Weg gefunden?“

„Ist das eine Art Gesetz in Wales?“, fragte Emmy. „Die Frauen in einem Schankraum und die Männer im anderen, meine ich.“

„Oh, nein“, sagte die Barfrau. „Nicht wirklich ein Gesetz. Aber es war schon immer so, nicht wahr? Und die Männer haben das Gefühl, sich nicht anständig unterhalten zu können, wenn Damen zugegen sind. Sie könnten unangemessene Ausdrücke verwenden oder mal einen Witz erzählen wollen.“

Emmy lächelte über diese seltsame Eigenart. „Dann sitzen die Damen alleine hier drüben und tauschen Strickmuster aus?“

„Um die Wahrheit zu sagen, die Damen kommen nicht oft allein in den Pub. Und wenn sie mit ihren Männern da sind, naja, dann setzen sie sich zusammen in die Lounge.“ Sie wandte sich dem älteren Mann zu, der an der Bar lehnte. „Nicht wahr, Charlie? Ich sagte, dass Frauen nicht oft alleine in den Pub kommen.“

„Sie kommen generell nicht oft her“, gab Charlie zurück, „weil sie üblicherweise zuhause sein müssen, um unser Abendessen zuzubereiten, während wir hier sind. Abgesehen davon schmeckt Bier den wenigsten Frauen. Meine Mair sagt, sie würde lieber Medizin trinken.“

Die Barfrau hatte erfolgreich das halbe Pint gezapft und stellte es vor Emmy ab. „Das wäre dann ein Pfund bitte, Miss.“

Emmy zog die Münze heraus und legte sie auf den Tresen. „Danke. Na dann, cheers. Wie sagt man ‚cheers‘ auf Walisisch?“

„Iyched da“, sagte Charlie und die anderen Männer im Chor.

„Yacky dah?“ Emmy versuchte es, aber sie stolperte über die Aussprache und brachte sie alle zum Lachen.

„Wir sollten sie nicht alleine in der kalten Lounge lassen“, bot einer der jüngeren Männer an. „Es schadet doch nichts, wenn sie herkommt und mit uns trinkt.“

Emmy bemerkte die hervortretenden Muskeln unter seinem abgetragenen T-Shirt und dem unordentlichen, dunklen Haar. Nicht schlecht, dachte sie. Dieser Auftrag könnte einige unerwartete Vorteile mit sich bringen.

„Harry würde das nicht gefallen“, sagte die Barfrau bestimmt. „Und abgesehen davon würde sie die Ausdrücke, die du manchmal verwendest, nicht hören wollen, Eimer-Barry – bei dem, was du manchmal von dir gibst, würde sie rot werden.“

„Ich? Wann habe ich je etwas gesagt, das dich erröten lassen würde, Betsy fach?“

„Na ja, ich bin das gewöhnt, nicht wahr? Ich muss dich dauernd ertragen.“

Sie wandte sich mit einem entschuldigenden Lächeln wieder Emmy zu. „Achten Sie nicht auf ihn, Miss.“

„Wie haben Sie ihn genannt?“, fragte Emmy fasziniert.

„Eimer-Barry, weil er eine Planierraupe fährt, mit dieser großen Schaufel vorne dran.“

„Eimer-Barry. Das gefällt mir.“

Die Männer lehnten jetzt alle an der Bar und beobachteten Emmy intensiv, während sie einen großen Schluck von ihrem Bier trank. Sie war versucht, das Glas in einem Zug zu leeren, so wie sie es im College gelernt hatte, aber es war wichtig, dass sie das richtige Bild von sich zeichnete. Sie trank einen Schluck, setzte das Glas ab und lächelte sie an. „Das ist gut“, sagte sie. „Lecker und vollmundig.“

„Dann mögen Sie Bier, ja?“, fragte Barry. „Trinkt man in Amerika Bier? Sie kommen doch aus Amerika, oder?“

„Genau. Pennsylvania. Und wir trinken dort gerne Bier, obwohl Sie es vermutlich für zu schwach und zu kalt halten würden.“

„Das ist sehr blasses Zeug und sprudelt wie Limonade. Ich habe mal eins getrunken. Bud – nicht wahr?“

Barry wandte sich an seinen Kumpel, der zustimmend nickte.

„Machen Sie hier Urlaub, Miss?“, fragte Charlie.

Emmy stellte amüsiert fest, dass es offensichtlich in Ordnung war, wenn die Männer sich durch die Bar mit ihr unterhielten – ganz wie das Gitter in einem Kloster, fand sie. „Eigentlich bin ich hier, um zu forschen“, sagte sie. „Ich studiere an der University of Pennsylvania und mache dort meinen Doktor in Psychologie. Und meine Doktorarbeit befasst sich mit übersinnlichen Fähigkeiten.“

„Abgefahren!“ Die Barfrau warf den Männern einen beeindruckten Blick zu.

Emmy hatte lange genug an dieser Rede gearbeitet, sodass ihr die Worte jetzt leicht von den Lippen kamen. Er wäre sehr zufrieden mit dem bisherigen Verlauf. „Ich bin hier, weil die Kelten für ihre übersinnlichen Fähigkeiten bekannt waren.“

„Wie aus Teeblättern zu lesen, meinen Sie sowas?“ Die Barfrau lehnte sich erwartungsvoll vor.

„Ja, sowas in der Art. Die Zukunft voraussehen, prophetische Träume, Gefahren spüren – die alten Druiden besaßen angeblich alle diese Fähigkeiten.“

„Zu schade, dass meine alte Nain vor ein paar Jahren verstorben ist“, sagte die Barfrau.

„Meinten Sie neun?“ Emmy war verwirrt. Sie wusste, dass die Neun in der keltischen Mythologie eine bedeutende Zahl darstellte, aber ...

Nain – oh, Verzeihung, ich meinte meine Großmutter. Nain ist die walisische Bezeichnung. Ich komme manchmal durcheinander.“

„Dann war Ihre Großmutter eine Hellseherin?“

„Oh, das war sie in der Tat, nicht wahr, Charlie?“ Betsy wandte sich dem älteren Mann zu. „Einige Male hat sie sogar den Derin Corff gesehen. Oder war es die Cannwyll Corff?“

„Was ist das?“ Emmy holte ihr Notizbuch heraus und kritzelte etwas hinein.

„Also, der Derin Corff ist der Totenvogel und die Cannwyll Corff ist die Totenkerze. Sie sind eigentlich dasselbe – man sieht sie, wenn jemandes Tod bevorsteht.“

„Faszinierend“, sagte Emmy. „Und Ihre Großmutter hat sie gesehen?“

„Oh ja, hat sie. Ich erinnere mich noch daran, wie ich eines Abends spät nach Hause kam, und sie zu uns sagte: ‚Huw Lloyd wird die Nacht nicht überstehen. Der Derin Corff saß auf dem Dach seines Schuppens.‘“

„Das war vermutlich nur der alte Hahn der Lloyds“, kommentierte Eimer-Barry und kicherte.

„Sei leise, Barry“, sagte Betsy und schlug ihm auf die Hand. „Was es auch immer war, sie behielt recht. Am Morgen war Huw von uns gegangen. Und das Ding, das sie auf dem Dach gesehen hatte, war auch fort.“ Sie erschauderte. „Ich bekomme noch immer eine Gänsehaut, wenn ich daran denke. Und sie verstand sich darauf, aus Teeblättern zu lesen. So war meine Nain.“

„Hat sie dir auch gesagt, dass du diesen Samstag mit einem gutaussehenden Kerl aus dem Dorf ausgehen wirst?“, fragte Barry und lehnte sich über den Tresen, bis sein Gesicht dicht vor ihrem war.

„Ja, aber Constable Evans hat mich noch nicht gefragt“, entgegnete Betsy lässig. „Obwohl ich ausreichend Andeutungen gemacht habe.“

Der ältere Mann kicherte. „Sie ist dir ebenbürtig, Junge.“

„Und sie verschwendet ihre Zeit damit, Evan Evans hinterher zu schmachten“, gab Barry mit einem Schnauben zurück.

„Warum soll das Zeitverschwendung sein?“ Betsy sah ihn herausfordernd an.

„Das weißt du ganz genau. Du hast zugelassen, dass Bronwen Price sich ihn angelt, oder nicht? Jetzt musst du ihn erst von ihr loseisen.“

„Das werden wir ja sehen, nicht wahr?“ Betsy zog ihren engen Pullover glatt. „Eines Tages bekomme ich meine Chance, und dann werde ich ihm zeigen, was er die ganze Zeit verpasst hat – selbst wenn ich dafür erst die verdammte Bronwen Price vom Berg stoßen muss!“

Die Männer lachten und Betsy fiel mit ein. Dann erinnerte sie sich daran, dass Emmy auf der anderen Seite der Bar stand und drehte sich wieder zu ihr. „Entschuldigen Sie, Miss. Machen Sie sich nichts daraus. Sie necken mich dauernd, weil ich mein Herz an unseren Dorfpolizisten verloren habe.“

„Daran ist doch nichts verkehrt“, sagte Emmy. „Erzählen Sie mir bitte von den hellseherischen Fähigkeiten Ihrer Großmutter, Betsy. So heißen Sie doch, oder?“

„Ganz recht, Miss. Betsy Edwards.“

„Hallo Betsy, ich bin Emmy.“ Sie streckte ihre Hand aus und Betsy ergriff sie unbeholfen. „Also, erzählen Sie von Ihrer Großmutter.“

„Na ja, sie war im ganzen Dorf bekannt dafür, das Zweite Gesicht zu haben, nicht wahr, Charlie?“

„War sie“, stimmte Charlie zu. „Wenn sie davon träumte, dass etwas geschehen würde, dann geschah es auch.“

„Fantastisch.“ Emmy strahlte sie an. „Sie haben nicht zufällig ihre Begabung geerbt?“

„Ich?“ Betsy lief rot an. „Oh nein, ich glaube nicht. Obwohl ...“

„Ja?“

„Ich weiß manchmal, dass das Telefon klingeln wird, kurz bevor jemand anruft. Solche Dinge.“

„Da haben wir’s. Sie haben vermutlich auch hellseherische Talente, aber Sie haben noch nie versucht, sie zu benutzen.“

„Ihre ‚Talente‘.“ Eimer Barry stieß seinen Kumpel an.

„Halt die Klappe, Barry“, sagte Betsy. „Wir führen hier eine ernste Unterhaltung. Sie glauben also, dass ich das Zweite Gesicht von meiner Großmutter geerbt haben könnte?“

„Es bleibt häufig in der Familie“, sagte Emmy. „Wird in der weiblichen Linie vererbt. Sie sind nicht zufällig ein siebtes Kind, oder?“

„Nein, ich bin Einzelkind. Und meine Mutter war ebenfalls Einzelkind.“

„Perfekt“, sagte Emmy. „Das ist die beste Voraussetzung: Einzige Tochter einer einzigen Tochter. Besser könnte es nicht sein.“

„Glauben Sie das wirklich?“, stammelte Betsy. „Meine Güte, aber das wäre ja toll, nicht wahr? Stellen Sie sich mal vor, dass ich wirklich in die Zukunft blicken könnte!“

„Du könntest deinen Vater wissen lassen, welches Pferd im Halb-drei-Rennen in Doncaster gewinnen wird.“ Barry stieß seinem stillen Kumpan erneut in die Seite.

„Wenn man solche Fähigkeiten hat, dann muss man damit Gutes tun“, sagte Betsy feierlich. „Nicht bei Pferdewetten gewinnen.“

Emmy blätterte in ihrem Notizbuch herum. „Lassen Sie mich bitte Ihren Namen und Ihre Telefonnummer notieren, ja? Ich würde mich gerne mit Ihnen treffen, um ein paar Versuche zu machen, wenn Sie dazu bereit wären.“

„Versuche?“ Betsy blickte besorgt zu Charlie.

„Wir müssen hellseherische Fähigkeiten unter kontrollierten Bedingungen testen ...“

„Ich gehe dafür nicht ins Krankenhaus“, sagte Betsy.

„Oh, nichts in der Art.“ Emmy lächelte. „Ich werde in einem Haus namens Sacred Grove arbeiten. Kennen Sie das?“

„Kann ich nicht behaupten“, sagte Betsy. „Ist das in Wales?“

„Das große Anwesen an der Küste bei Porthmadog, nicht wahr?“, warf Charlie ein.

„Das war mal das private Anwesen eines verrückten, englischen Lords. Tiggy oder so, hieß er nicht so?“, fragte Barry.

„Er hieß Bland-Tyghe“, sagte Charlie, „und man spricht es ‚tai‘, du ignoranter Trottel.“

Barry grinste. „Die sind doch alle verrückt, nicht wahr? Ist der alte Mann nicht immer in seinem Pyjama durchs Dorf gelaufen und hat Gedichte rezitiert?“

„Ich dachte, ich hätte gelesen, dass seine Tochter das Anwesen in eine Art Klinik oder Sanatorium umgewandelt hat“, sagte Charlie.

„Vermutlich eher eine Klapsmühle“, kommentierte Barry. „Pass bloß auf, Betsy. Wenn sie dich dort aufnehmen, lassen sie dich vielleicht nie wieder gehen.“

„Ich gehe sicher nicht in ein Irrenhaus“, sagte Betsy ängstlich.

„Nein, Sie verstehen das ganz falsch“, unterbrach Emmy hastig. „Es ist ein New-Age-Zentrum.“

„Ein New-Age-Zentrum?“, fragte Charlie. „Sowas wie ein Altersheim, meinen Sie?“

„New Age“, wiederholte Emmy. Diese Leute waren einfach perfekt. Völlig ahnungslos. „Die machen alle möglichen, tollen Dinge – alternative Medizin, hellseherische Forschung. Solche Sachen. Ich war noch nicht dort, aber ich stehe in Kontakt mit ihnen und es klingt, als hätten sie dort großartige Einrichtungen und tolles Personal.“ Sie lächelte Betsy hoffnungsvoll an. „Ich bin gerade erst hier angekommen. Ich muss mich erst einleben, aber dann können Sie und ich uns vielleicht mal dort unten umschauen. Dann sehen wir, ob Sie da gerne mitmachen würden, in Ordnung?“

„Na gut“, sagte Betsy. „Ich habe nichts dagegen, mir das mal anzusehen.“

„Ich mache mich besser auf den Weg“, sagte Emmy. „Ich habe viel zu tun. Ich muss noch in den anderen Dörfern nach Menschen mit hellseherischen Fähigkeiten suchen, und ich muss eine Unterkunft finden. Das Hotel ist zu teuer. Sie wissen nicht zufällig, ob es hier ein gutes Bed-and-Breakfast gibt, das nicht so schweineteuer ist?“

„Hier oben gibt es nicht viel Tourismus“, sagte Charlie. „Oben, wo die Farm der Morgans war, gibt es Ferien-Cottages, aber die sind auch nicht billig, wie ich hörte.“

„Ich hätte lieber irgendwo ein Zimmer, und jemanden, der mir Frühstück macht“, sagte Emmy. „Ich werde vermutlich ziemlich viel arbeiten.“

„Es gibt ein Zimmer, das frei wird“, sagte Betsy plötzlich. Sie warf den Männern einen aufgeregten Blick zu. „Ist doch so, oder? Wenn Evan Evans in dieses Cottage zieht, wird Mrs. Williams ein Zimmer frei haben.“

„Hat er wirklich beschlossen auszuziehen?“, fragte Charlie. „Ich weiß, dass er darüber nachdenkt, aber vielleicht entscheidet er sich im letzten Moment um, wenn ihm klar wird, wie gut Mrs. Williams für ihn gesorgt hat.“

„Wenn er sagt, dass er es tut, dann tut er es auch“, sagte Betsy entschlossen. „Wie auch immer, wir fragen ihn, wenn er das nächste Mal herkommt.“

„Großartig“, sagte Emmy. „Ich habe ja Ihre Telefonnummer, dann werde ich anrufen und mich erkundigen. Das wäre so praktisch, wenn ich ein Zimmer in Llanfair bekommen könnte.“ Sie sprach es Lan-fair aus.

„Es heißt Chlan-veyer“, sagte Betsy. „So sprechen wir das aus. Aber keine Sorge“, fügte sie hinzu. „Kein Fremder bekommt das richtig hin.“

Chlan-veyer“, wiederholte Emmy. „Beim nächsten Mal mache ich es richtig. Sie müssen mich auf dem Laufenden halten, Betsy.“

„In Ordnung, Miss.“

„Nennen Sie mich Emmy.“ Sie schenkte ihr ein warmes Lächeln. „Ich melde mich, Betsy.“

Sie war gerade durch den Türbogen in den Hauptraum der Bar getreten, als die Tür aufging und der Metzger hereinkam, jetzt ohne seine blutige Schürze. Er sah sich im Raum um und sein Blick fixierte Emmy. Als er einen walisischen Wortschwall ausstieß, trat Emmy hastig zur Seite. Sie hatte den fleischerbeilschwingenden Irren ganz vergessen, der ein Leben in diesem Dorf zur Gefahr machte.

Betsy antwortete ihm auf Walisisch und er entspannte sich, während er sich der Bar näherte.

„Entschuldigen Sie, Miss“, sagte Betsy, „aber Fleischer-Evans ist heute Morgen nicht in bester Stimmung. Er hat auf Manchester United gewettet, aber Liverpool hat gewonnen, wie ich gesagt habe.“

„Ein Fußballspiel?“ Emmy konnte sich das Lächeln nicht verkneifen.

„Mr. Evans findet, dass der Schiedsrichter unfair gepfiffen hat. Er hat dem besten Spieler von Manchester eine rote Karte gegeben, obwohl es gar kein Foul war“, sagte Betsy. „Aber jetzt wird er bezahlen, wie der Gentleman, der er ist.“

Fleischer-Evans lächelte verlegen. „Es bricht mir das Herz, ansehen zu müssen, wie ein hochklassiges Team wie Manchester United von einem Haufen Flegeln wie Liverpool geschlagen wird, das ist alles. Na ja, da kann man jetzt nichts machen, nicht wahr? Also machst du mir besser ein Pint Robinson’s, Betsy fach.“

Emmy schlüpfte aus dem Pub, während Betsy das Bier einschenkte. Sie eilte die Dorfstraße hinauf, an den beiden Reihen identischer Cottages vorbei, jedes mit einer Haustür in leuchtenden Farben, einem glänzenden Messing-Briefkasten und einer blitzblanken, weißen Türschwelle. Einige hatten Blumenkästen mit Frühlingsblumen an den Fenstern – gelbe Narzissen und blaue Hyazinthen als Farbspritzer vor dem grauen Stein. Alles sehr ordentlich, heiter und idyllisch hier, dachte sie. Völlig abgeschnitten von der echten Welt. Er würde ganz schön lachen, wenn sie ihm erzählte, dass sie noch nie etwas von New Age gehört hatten!

Sie kam an einem Schulhof vorbei, das Schulgebäude lag dahinter. Durch ein offenes Fenster hörte sie junge Stimmen im Chor Dinge aufsagen. Es klang verdächtig nach dem kleinen Einmaleins, wobei es natürlich auf Walisisch war. Nach der Schule kamen die beiden letzten Gebäude des Dorfes – zwei Kapellen. Sie standen einander zu beiden Seiten der Straße gegenüber, Spiegelbilder aus solidem, grauem Stein. Vor beiden standen Anschlagtafeln, die verkündeten, dass es sich um die Bethel-Kapelle und die Beulah-Kapelle handelte. Auf jeder Tafel stand ein Bibeltext. Auf der einen hieß es: „Wer da bittet, der empfängt“, während auf der anderen stand: „Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr!, in das Himmelreich kommen.“

Emmy lächelte vor sich hin und ging weiter. Hier oben in der tiefsten Provinz war man wirklich ahnungslos. Vermutlich hatten sie noch nicht einmal realisiert, dass sich die beiden Passagen aus der Bibel widersprachen.

Das Hotel, von dem er ihr erzählt hatte, dominierte den Pass. Es war, wie er gesagt hatte, ein riesiges, abscheuliches Chalet im Zuckerbäckerstil mit Geranien in den Blumenkästen – an einem kahlen, walisischen Hang völlig fehl am Platz. Auf dem für sich stehenden Steinschild waren in goldenen Lettern die Worte Everest Inn eingemeißelt. Der Parkplatz dahinter war mit teuren Autos übersät, sodass der Jaguar gar nicht auffiel. Sie näherte sich dem Wagen und stieg ein.

Er sah erwartungsvoll auf. „Und?“

Sie strich sich das Haar zurück und ein breites Lächeln zog sich über ihr Gesicht. „Wir sind auf eine Goldader gestoßen. Sie ist einfach perfekt.“