Leseprobe Mord gibt seinen Segen

Kapitel 1

Siobhán O’Sullivan war in den frühen Morgenstunden auf und blätterte ihr neues Mitarbeiterhandbuch durch, als Pfarrer Kearney einen Toten auf dem Friedhof fand. Und im Gegensatz zu den anderen armen Seelen auf dem Friedhof von Saint Mary’s, gehört dieser nicht dorthin.

Als es laut gegen die Tür von Naomi’s Bistro klopfte, zuckte Siobhán zusammen, sodass die An-Garda-Síochána-Zettel auf dem Boden landeten. Sie sammelte sie hastig auf und sah zur großen, runden Uhr hinter dem Tresen. Eine solche Uhr sah man gewöhnlich eher an einem Bahnhof: Dicke Zeiger aus Eisen, hübsche grüne Patina und große Zahlen, die man aus der Ferne gut lesen konnte. Normalerweise überkam Siobhán bei dem Anblick immer ein wohliges Gefühl, doch zu dieser Uhrzeit graute es ihr. Es war halb zwei in der Frühe. Wer immer zu dieser gottlosen Uhrzeit vor ihrer Tür stand, würde keine guten Neuigkeiten überbringen und das Herz klopfte ihr wild in der Brust. Sie sollte schon im Bett sein und längst schlafen. Was hatte sie sich dabei gedacht? In wenigen Stunden fing ihr erster Tag als Polizistin bei der Gardai von Kilbane an. Die Leute verließen sich darauf, dass ihre örtlichen Polizisten ausgeruht waren, nicht unausgeschlafen und schreckhaft wie ein Kaninchen. Sie würde sich flugs um wen auch immer vor ihrer Tür kümmern und dann direkt ins Bett fallen.

Auf dem Weg zur Tür stolperte sie fast über Trigger, ihren Jack Russel Terrier, der sich auf der Türmatte zusammengerollt hatte. Er machte nur ein Auge auf und sah sie böse an. „Ein schöner Wachhund bist du mir“, schimpfte sie. Er gähnte und legte den Kopf wieder ab. Siobhán zog den Morgenmantel enger, versuchte ihre lange, rote Mähne zu bändigen, und linste am Vorhang vorbei.

Pfarrer Kearney stand unter der flackernden Lampe über der Eingangstür. Sie hatte die Glühbirne längst auswechseln wollen. Dieser Tage hatte sie einfach zu viel zu tun, um hinterherzukommen. Sie öffnete ihm die Tür, und als sie hinaussah, war sie überrascht, dort hübsche weiße Flocken um die Straßenlaternen der Sarsfield Street tanzen zu sehen. Der seit Wochen angekündigte Schnee war endlich eingetroffen. Sie hätte vor Freude gejubelt, wäre ihr das zutiefst besorgte Gesicht des Pfarrers nicht aufgefallen. Sie bedeutete ihm, einzutreten, als die kalte Luft hereinzog.

„Beeil dich“, sagte er und trat den Schnee auf der Türmatte ab. „Auf dem Friedhof ist ein Toter.“

Siobhán musterte ihn in ihrem unausgeschlafenen Zustand. „Ich würde meinen, dort gibt es mehr als einen, Pfarrer Kearney.“

Der Pfarrer zog eine Augenbraue hoch. „Dieser befindet sich oberirdisch.“ Seine runden Wangen waren knallrot von der Kälte und in seiner Stimme schwang Panik mit.

„Das verstehe ich nicht.“ Sie konnte ihn unmöglich richtig verstanden haben.

„Auf dem Friedhof liegt ein Mann. Über der Erde. Ich bin ziemlich sicher, dass er tot ist.“

Mit ihrem Gehör stimmte alles. Es war ihr Hirn, das hinkte. „Wer ist es?“

Pfarrer Kearney schüttelte den Kopf. „Das ist das Merkwürdige daran. Ich habe ihn noch nie zuvor gesehen.“

Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Kilbane war ein kleines Dorf, in dem jeder jeden kannte und über alles Bescheid wusste. Es gehörte zu den Dingen, die sie an ihrer Heimat liebte. Genauso gehörte es zu den Dingen, die sie daran hasste. „Könnte er sich bis zur Besinnungslosigkeit betrunken haben?“ Dass mal ein Kerl so viel trank und das Bewusstsein verlor, war in Irland nichts Neues. Sie schickte ein stummes Dankesgebet gen Himmel, dass ihr älterer Bruder, James, sich vor nun drei Jahren vom Alkohol hatte losreißen können.

Pfarrer Kearney schüttelte den Kopf und sah sich um, als hätte er Angst, jemand könnte ihn hören. „Ich habe einen Schuss gehört.“ Er hatte die Stimme gesenkt, doch Siobhán trafen die geflüsterten Worte, als hätte er geschrien. „Da ist eine Menge Blut.“

„Einen Schuss?“ Bei diesen Worten lief ihr noch ein Schauer über den Rücken. Er musste sich geirrt haben. Schusswaffen gab es in Kilbane nicht. Sie waren in ganz Irland selten, Gott sei Dank. Nicht einmal die Polizei trug welche bei sich. Ihr Schlagstock und ein strenger Blick waren die einzigen erlaubten Waffen und dank eines Taschenspiegels und stundenlangem Üben reichte meist ein Blick. Es war jedoch durchaus möglich, dass sie den durchdringenden Blick dadurch perfektioniert hatte, dass sie ihre Geschwister großgezogen hatte. Vier jüngere Geschwister und ein manchmal in Schwierigkeiten geratender großer Bruder waren eine ordentliche Vorbereitung gewesen. Es war großartig, wenn man die im Alltag erlernten Fähigkeiten bei der Arbeit einsetzen konnte. Wenn sie doch nur einen Weg finden würde, mit ihrem Schwarzbrot Kriminelle zu jagen, dann hätte sie alles bestens im Griff.

„Beeil dich.“ Pfarrer Kearney deutete auf ihren Morgenmantel.

„Ich muss das Verbrechen melden. Der Mann muss vielleicht ins Krankenhaus gebracht werden.“

Siobhán drehte sich um und wollte ihr Handy suchen, doch Pfarrer Kearney streckte die Hand aus und drückte sanft ihren Arm. „Dafür ist es zu spät, Liebes“, sagte er. „Ich habe nachgesehen. Der Ärmste ist von uns gegangen.“ Der Pfarrer bekreuzigte sich. „Gott hab ihn selig.“

„Was, wenn es selbst verschuldet war?“ Selbstmorde waren leider nicht ungewöhnlich. Siobhán fühlte mit jenen, die so sehr litten, dass sie keinen anderen Ausweg sehen konnten.

„Das wäre möglich. Wobei …“ Wieder blickte er sich um.

„Wobei?“

„Ich könnte schwören, ich habe eine Gestalt vom Friedhof weglaufen sehen.“ Er rieb sich die Augen, als wolle er die Erinnerung vertreiben.

„Warum haben Sie nicht einfach den Notruf gewählt?“

„Habe ich doch gesagt. Er ist von uns gegangen.“

„Sie wissen, was ich meine. Warum haben Sie nicht die Polizei gerufen?“

„Was glaubst du, Garda O’Sullivan?“

Ein Kribbeln durchlief sie. Garda O’Sullivan. Garda Siobhán. Garda Siobhán O’Sullivan. Sie hatte die verschiedenen Kombinationen ihres neuen Titels vor sich hin gekritzelt, so wie die Mädels mit dem Namen desjenigen, den sie heiraten wollten. Und ihr Name war mehr als bloß ein verrückter Tagtraum, denn es war ihre neue Realität. Ob sie sich jemals daran gewöhnen würde? Jetzt da sie es hinter sich hatte, kamen ihr die zwei Jahre am Templemore Garda College nicht länger als eine einzige Runde auf dem Karussell vor. Doch in den zwei Jahren hatte sich so vieles verändert. Sie stand vor dem Anfang einer neuen Karriere. Sie hätte sich niemals ausgemalt, dass sie einen so guten Start haben würde. Sie schämte sich sofort. Ein Mann war tot. Möglicherweise ermordet worden.

Ihr gesunder Menschenverstand schaltete sich ein. „Ich kann mir den Fall nicht einfach selbst zuweisen, Pfarrer Kearney. Ich muss das melden.“

Der Pfarrer runzelte die Stirn. „Woher willst du wissen, was du da meldest, wenn du nicht vorher einen Blick drauf wirfst?“ In seinem Blick lag eine Botschaft. Er wollte, dass sie den Tatort als Erste überprüfte. Wenn sie die Polizei verständigte, würden sie eine Anfängerin wie sie nicht einmal in die Nähe lassen. Sie war die Neuste bei der Polizei, also wird man ihr Routinearbeit auftragen, keine Morduntersuchung.

Sie sollte eindeutig auf der Wache anrufen.

Wobei …

Diese frühmorgendliche Bitte kam von einem Geistlichen. Einen Geistlichen musste man doch erhören. Pfarrer Kearney war in Kilbane allseits beliebt. Er hatte sie getauft, ihre Erstkommunion geleitet, ihre Beichten gehört und wichtiger noch, er hatte ihr wegen ihrer seltenen Besuche keine Vorträge gehalten. Würden ihre Vorgesetzten es ihr wirklich verübeln, dass sie dieser sehr eindringlichen Bitte nachging?

Sein Argument war außerdem gut. Wie sollte sie es melden, wenn sie nicht genau wusste, was sie meldete? Vielleicht war der Mann, der auf dem Friedhof lag, ja doch bloß bewusstlos vom vielen Alkohol. Oder vielleicht machte er sich einen Scherz daraus und tat bloß so. Vielleicht war es Kunstblut. Im Dorf veranstalteten sie Schabernack ohne Ende. Die Jungs führten nichts Gutes im Schilde, wenn sie sich langweilten. Der Schnee machte alle ein wenig schelmisch, genau wie der Vollmond.

Es war also entschieden. Sie würde es sich kurz ansehen und dann die Polizei verständigen. Sie blickte auf ihren Morgenmantel, den Schlafanzug und die Hausschuhe hinunter. „Ich sollte mich umziehen.“

Er schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, dass sie sich auf dem Friedhof darum scheren, was du trägst. Den Toten ist das einerlei, Liebes. Beeil dich.“

„Ich wüsste nicht, wie sie ihre Meinung dazu mitteilen könnten, Pfarrer Kearney. Um was sie sich scheren oder auch nicht.“ Die Furchen auf seiner Stirn wurden noch tiefer. „Schon gut.“ Sie zog eine Winterjacke über den Morgenmantel, stieg in die Schneestiefel und zog dann als Letztes ihre nagelneue Polizeimütze auf, bevor sie dem Priester nach draußen folgte.

 

Die Köpfe wegen des fallenden Schnees gesenkt, liefen sie zum Friedhof. Das Dorf wurde im Winter ganz still, so wie ein stummgeschalteter Fernseher. Die pink, blau und grün getünchten Fassaden der Wohnhäuser und Geschäfte auf der Sarsfield Street wirkten vor dem irischen Winterhimmel gräulich und selbst die kunstvollen Wandmalereien auf den Seitenwänden der Pubs – grinsende Kerle, die riesige Pints hochhielten, bunte Guinness-Werbung, die saufende Tiere zeigte, und einladende Werbung von lokalen Geschäften – schrumpften im bedrückenden Januar zusammen. Weihnachten und Silvester waren vorüber und sie hatten den halben Monat geschafft. Für Siobhán konnte das Ende gar nicht früh genug kommen. Den Januar mochte sie am wenigsten. Bei dem Gedanken an den Mann, der auf dem Friedhof lag, schämte sie sich kurz. Wenn er wirklich tot war, dann war das Ende gewiss früher gekommen, als ihm lieb war.

Von der historischen Stadtmauer, die vor Geschichte strotzte, fühlte sich Siobhán O’Sullivan in Kilbane gleichermaßen beschützt und klaustrophobisch. Die vier ursprünglichen Eingangstore zur Stadt standen wie freundliche Wachen in gleichen Abständen zueinander. Sie ließ den Anblick des Bally-Gate-Eingangs auf sich wirken, als sie auf den Friedhof zugingen. Der Wind pfiff zwischen ihnen hindurch und Siobhán war völlig durchgefroren. Mehr als einmal musste sie ihre Polizeimütze festhalten, damit sie ihr nicht wegflog. Die Mütze mit dem goldenen Emblem war ihr Lieblingsstück der Uniform.

„Warum erzählen Sie nicht noch mal ganz von vorne?“, fragte Siobhán. „Erzählen Sie mir alles, an das Sie sich erinnern.“ Pfarrer Kearney begann mit seiner Geschichte. Etwa gegen ein Uhr morgens wurde er von einem lauten Knall aus dem Schlaf gerissen. „Vielleicht war es eine knallende Tür? Vielleicht eine Fehlzündung?“

„Das Geräusch kam vom Friedhof. Ich bin mir sicher. Und dann ist da noch die Sache mit dem Mann, der dort liegt.“

„Richtig.“ Wenn das alles stimmte, wussten sie schon den ungefähren Todeszeitpunkt. Und wenn es tatsächlich ein Mord war, hatten sie ein großes Problem. Denn um ein Uhr morgens würden sich alle potenziellen Verdächtigen ihr Alibi von der gleichen Person bestätigen lassen wollen: dem Sandmann. „Und was haben Sie dann getan?“

„Ich habe mich angezogen und bin sofort zum Friedhof hinunter gelaufen. Dort habe ich dann den scheußlichen Fund gemacht.“

Sie schüttelte sich ungewollt. „Keine Sorge, Pfarrer Kearney“, sagte Siobhán in der Hoffnung, ihre eigenen Nerven zu beruhigen. „Wir gehen der Sache auf den Grund.“

Der Pfarrer zog seinen Mantel hoch und vergrub sich darin, während er gegen den Wind ankämpfte. „Es gibt in diesem Dorf nur zwei Leute, denen ich zutraue, einen Tatort ordentlich zu untersuchen. Und einer von ihren ist ein absoluter Trottel, der sich nach Dublin verzogen hat, weil er Angst vor den Veränderungen hatte, die du vorgenommen hast.“ Pfarrer Kearney blickte zum goldenen Emblem auf ihrer Polizeimütze. „Auf die Veränderungen solltest du übrigens sehr stolz sein.“

Siobhán entschied sich, auf das Kompliment später einzugehen. „Beschreiben Sie mir die Person, die Sie weglaufen sahen.“

„Ich fürchte, da kann ich nicht viel erzählen, Liebes. Er trug dunkle Kleidung und ich habe ihn nur von meinem Fenster oben aus gesehen, ein vorbeihuschender Schatten.“

„Aber es war eindeutig ein Mann?“

„Es war eine Person. Ich bin davon ausgegangen, dass es ein Mann war, aber eine Gestalt im Dunklen hat kein Geschlecht. Böswillige Taten haben mit dem Geschlecht nichts zu tun.“ Ihn schüttelte es.

„Das ist wahr“, pflichtete Siobhán ihm bei.

Sie liefen zügiger weiter, so als versuchten sie, vor der Kälte und dem Schnee davonzulaufen. Ihn von Macdara Flannery reden zu hören, erfüllte sie mit sehnsüchtigen Was-wäre-wenn-Gedanken. Er war wirklich ein Trottel gewesen. Wütend auf sie, weil sie sich beim Garda-College eingeschrieben hatte. Er war derjenige gewesen, der ihr gesagt hatte, dass sie eine gute Ermittlerin abgeben würde. Er hatte selbst einige Veränderungen in den letzten Jahren durchlebt. Er war jetzt Detective Sergeant Flannery und in Dublin stationiert. Seitdem sie sich am College eingeschrieben hatte, hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Vielleicht war es so besser. Er hatte die Beförderung verdient, es vielleicht sogar verdient, aus dem kleinen Dorf hinauszukommen. Doch sie hatte sich niemals vorgestellt, dass ihr Leben sich so verändern würde. Sie war diejenige, die davonfliegen sollte, die große weite Welt erkunden, und er der Reisemuffel, der sie anflehte, zu bleiben. Verlief das Leben je, wie man es sich ausmalte?

Siobhán hielt ihre Taschenlampe fester und zwang sich, sich zu konzentrieren. „Wie viele Schüsse haben Sie gehört?“

„Nur einen.“

„Einer ist genug.“

„Sehr wahr.“

Der Schnee wurde dichter und behinderte ihre Sicht. Was für ein schreckliches Timing. All die Schneeflocken würden die wichtigen Beweise verdecken. Und sie konnte nichts tun, außer dabei zuzusehen. Niemand durfte die Leiche berühren, bis die Pathologin aus Dublin eintraf und den Tatort offiziell machte. Es war trotzdem ein großer Vorteil, den unberührten Tatort zu sehen. Die Zeit drängte. „Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich vorlaufe?“

„Lauf schon. Sei vorsichtig. Er liegt bei den Grabsteinen am hinteren Ende. Im ältesten Teil.“ Siobhán nickte und lief los. Sie versuchte, langsam zu laufen, damit sie auf dem eisigen Boden nicht ausrutschte. Einige Minuten später erreichte sie die Steinmauer, die sich schützend um den Friedhof zog. Sie kannte den Friedhof gut. Ihre Eltern, deren Leben wegen eines betrunkenen Autofahrers zu früh endeten, lagen hier begraben, doch sie schaltete die Taschenlampe trotzdem ein. Sie richtete den Lichtkegel auf die hintere Seite, wo die älteren Grabsteine standen. Die mochte sie am liebsten. Es hatte etwas Ehrfurcht Erbietendes, eine Verbindung zu jemandem zu sehen, der vor Hunderten von Jahren gelebt hatte. Wenn sie die Namen und Grabsprüche las, fragte sie sich, wer und wie sie einmal gewesen waren. Hatten sie ihr Leben voll ausgekostet? Waren sie geliebt worden? Hatten sie geliebt? Sie boten eine Verbindung zur Geschichte und bezeugten die Vergangenheit. So viele Menschenleben, so viele vergrabene Geheimnisse.

Sie eilte an den keltischen Kreuzen und den Engelsstatuen vorbei, die die Hände zum Gebet gefaltet hatten. In der Luft lag der Geruch von frisch fallendem Schnee. Die Inschriften sprangen ihr entgegen, als das Licht darauf fiel: Geliebte Mutter. Liebevoller Ehemann. Unser kleiner Engel.

Ihr Herz pochte wild, als sie weiter über den heiligen Boden lief. Als sie die letzte Reihe erreichte, richtete sie das Licht auf die Gräber und dort, beim sechsten Grab, lag ein Mann auf dem Boden, der sich nicht im Geringsten regte. Er lag auf der Seite und hatte einen Arm ausgestreckt, genau wie den Zeigefinger. Zeigte er auf etwas? Wenn ja, worauf?

Sie ließ sich neben ihm auf die Knie sinken. Pfarrer Kearney hatte recht, der Tod hatte ihn geholt. Seine blauen Augen waren offen und glasig, sie starrten unter den schneeflockenverhangenen Wimpern hervor und sein schmaler Mund stand offen, als wäre er mitten im Satz gestorben. Der arme Kerl. Gerade einmal zwei Wochen nach Neujahr. War der Mörder in der Nähe? Beobachtete er sie?

Siobhán studierte das Gesicht des Toten. Anhand seiner vielen Falten, der fleckigen Händen und des vielen weißen Haares, schätzte sie ihn auf Mitte bis Ende siebzig. Es hatte etwas furchtbar Tragisches an sich, so alt zu werden und dann eines gewaltsamen Todes zu sterben. Es war abscheulich ungerecht. Einem alten Menschen absichtlich Gewalt anzutun, war schlimmer als böswillig.

Er trug einen braunen Trenchcoat, eine graue Hose und spitze schwarze Schuhe. Die Farben passten überhaupt nicht zusammen. Vielleicht war er farbenblind oder einfach ein Mann, den Mode nicht die Bohne kratzte. Die Tweedmütze war ihm vom Kopf gefallen und die Brille mit dem dicken, schwarzen Rahmen war ihm die lange Nase heruntergerutscht. Sie ließ den Lichtkegel wieder über seine Brust wandern. Sie konnte keine Waffe sehen, was die Theorie unterstützte, dass er sich nicht selbst erschossen hatte.

Aus der Brust des Fremden floss das Blut und bildete auf dem Boden eine rote Lache. Um die Leiche waren einige unvollständige Schuhspuren zu sehen. Vermutlich stammten sie von Pfarrer Kearney, doch zur Sicherheit machte sie mit ihrem Handy einige Fotos, bevor der Schnee sie verschwinden ließ.

Das hier war persönlich. Die Schlussfolgerung kam ihr rasch. Aus naher Entfernung. Vielleicht ein Schuss ins Herz. Ein Mord aus Leidenschaft. Sie würde darauf achten müssen, ihre Ansichten nicht in den Bericht zu schreiben, was ihre Betreuer am College ihr immer wieder eingebläut hatten: „Ihre Ansichten haben in ihren Berichten nichts zu suchen, Ms. O’Sullivan. Sie werden eines Tages noch in Schwierigkeiten geraten, wenn Sie nicht vorsichtig sind.“

Sie biss sich auf die Lippe. Mutmaßungen wurden nicht gern gesehen? Was für eine Ausbildung war das? Ihr Instinkt hatte ihr in der Vergangenheit gute Dienste geleistet. Und selbst wenn sie sie nicht in den Bericht schrieb, prasselten ihre Ansichten herein. Der Mörder ist seinem Opfer nicht zufällig über den Weg gelaufen. Er oder sie hat den armen Kerl vermutlich hergelockt. Wer verirrte sich zu so später Stunde auf einen Friedhof? Es gab noch eine andere Möglichkeit, bei der sich ihr die Nackenhaare aufstellten. Jemand könnte den armen Mann auf den Friedhof gejagt haben.

Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, sich beim Ermordeten zu entschuldigen, ihn zu trösten. Noch etwas, das in der Ausbildung nicht gern gesehen wurde: Entwickle keine emotionale Verbindung zu dem Fall, besonders nicht zu einer Leiche. Das leuchtete natürlich ein. Man musste alle Möglichkeiten offenhalten, während man ermittelte. Unvoreingenommen sein war das wichtigste Hilfsmittel eines Ermittlers. Die Fakten führten einen zu einer Schlussfolgerung. Man kommt nicht zu einer Schlussfolgerung und versucht dann, die Fakten dazu zu zwingen, zu passen. Man musste flexibel und scharfsinnig sein. Professionalität stand an erster Stelle.

War ein rasches Gebet jedoch wirklich so verkehrt? Stumm sprach sie ein Gebet, dann zog sie ihr Handy heraus und meldete das Verbrechen.