Leseprobe Der Tod auf Wedgefield Manor

Kapitel 1

England, 1926

Ein Reifen des Zweideckers kam krachend am Boden auf, die Flügel kippten gefährlich, bis auch der zweite Reifen Bodenkontakt bekam, das kleine Flugzeug sich aufrichtete und über die weiche Erdpiste sauste, bis es recht unsauber zum Stehen kam. Der Motor brüllte, der Propeller war nur ein verschwommener Fleck vor meinen Augen.

Mein Herzschlag beruhigte sich. Ich war mir sicher gewesen, ich würde eine Bruchlandung hinlegen.

„Nicht schlecht für Ihre erste Landung!“ Ich hörte den Ruf, als ich mich in meinem Sitz umdrehte und den Mann ansah, der hinter mir saß. „Wollen Sie es noch mal versuchen?“

Ich spürte, wie sich ein Grinsen auf meinem Gesicht ausbreitete. Ja. Ich wollte nichts lieber, als es noch mal zu versuchen.

„Schieben Sie den Gashebel vor, wie ich es Ihnen gezeigt habe. Steuern Sie mit den Pedalen. Los geht’s!“

Ich trieb die De Havilland vorwärts und lenkte ungeschickt mit den Pedalen unter meinen Füßen. Der Flieger schwenkte zu weit nach rechts, ehe ich ein Gefühl dafür bekam. Ich wendete das Flugzeug und rollte in die entgegengesetzte Richtung die Piste hinunter. Dieses Mal hatten wir leichten Rückenwind. Mein Körper war angespannt, bis sich der Flieger in die Luft erhob und über den Waldrand hinwegsegelte. Selbst jetzt war es schwer, richtig zu entspannen, obwohl ich wusste, dass der Fluglehrer an seinem Sitzplatz die identischen Steuerelemente besaß und übernehmen würde, wenn wir in ernste Schwierigkeiten gerieten.

Es fühlte sich an, als könnte uns der Hauch eines Engels entweder nach oben oder unten drängen – und die vereinzelt dahinjagenden Wolken unter uns würden unseren Fall nicht bremsen. Doch während ich über der englischen Landschaft aufstieg – sanfte, grüne Hügel, gesprenkelt mit grasenden Schafen –, spürte ich, dass alle Sorgen von mir abfielen. Mein Herz war bis zum Zerbersten mit einem Freiheitsgefühl erfüllt: freier Himmel und endlose Möglichkeiten. Nach kurzer Zeit wendete ich das Flugzeug wieder in Richtung von Lord Hughes’ Anwesen und richtete es auf die Erdpiste aus, die am Rand seiner Ländereien verlief.

Dieses Mal verlief die Landung deutlich sanfter: Beide Räder küssten sanft den Boden und wir rollten langsam aus. Eine kleine Gruppe hatte sich auf der angrenzenden Grünfläche versammelt und erwartete unsere Rückkehr.

„Viel besser! Das war beinahe perfekt.“ Group Captain Christoper Hammond schob seine Fliegerbrille nach oben, als der Motor ausging, und entblößte damit seine funkelnden, braunen Augen. Er erhob sich aus dem hinteren Sitz, während ich meine eigene Brille auf den Lederhelm hochschob, der mir fest auf den Kopf geschnürt war. Ich konnte nichts für das Lächeln, das sich weigerte, aus meinem Gesicht zu weichen.

Bis ich den Gesichtsausdruck meiner Tante Millie sah.

„Ich weiß nicht, warum du auf diese Flugstunden bestehst, Jane“, erklang Millies Stimme aus der Ferne. Sie weigerte sich schlichtweg, auch nur in die Nähe des leuchtend gelben Zweideckers zu kommen, als könnte sie das Flugzeug dann schnappen und in die Lüfte tragen. „Das ist unglaublich gefährlich. Und wenn du abstürzt und stirbst, wie soll ich das dann deinem Vater erklären?“ Ich hätte beinahe gefragt, ob diese Erklärung tatsächlich der schlimmste Teil meines Todes durch Flugzeugabsturz wäre, doch ich biss mir auf die Zunge.

„Es ist absolut sicher.“ Group Captain Hammond bot mir eine Hand an und half mir, aus dem Vordersitz zu steigen, sachte auf den unteren Flügel zu treten und schließlich den Boden zu erreichen. „Die Motte hat ein ausgezeichnetes Sicherheitsprotokoll.“ Hammond zwinkerte mir zu, ehe er sich Millie zuwandte, die mit verschränkten Armen und finsterem Blick dastand.

„Hmpf.“

Lord Edward Hughes, der Besitzer des Anwesens, auf dem wir uns befanden, tätschelte Millies Arm, ehe er vortrat, um dem Group Captain die Hand zu schütteln. „Wacker geschlagen, Hammond. Brauchen Sie Hilfe beim Verstauen?“ Lord Hughes war immer noch ein attraktiver Mann, obwohl er einige Jahre älter als meine Tante Millie war. Sein graues Haar wuchs dicht und er war groß und schlank wie seine Tochter Lillian. Seine Liebe zur freien Natur und zum Sport verliehen ihm ein sehr gesundes Aussehen. Lord Hughes’ kleiner, weißer Hund sprang im Kreis, bis er herüberjagte und sich auf Hammonds Bein stürzte. Der beugte sich hinunter, kraulte das Tier hinter den Ohren und schnappte sich dann einen kleinen Stock zum Werfen. Rascal jagte dem Stock mit im Wind flatternder Zunge hinterher.

„Nein, Eure Lordschaft. Ich werde es fürs Erste einfach in die Scheune schieben. Wir müssen vermutlich nachtanken, ehe wir wieder starten können. Wollen Sie immer noch heute Nachmittag fliegen?“ Hughes nickte begeistert, während die Herren um das Flugzeug liefen und sich über Logistik und den kleinen Flieger unterhielten. Lord Hughes und der Group Captain kannten sich schon lange, und Hughes hatte den erfahrenen Fluglehrer mit einer Art Handel auf sein Anwesen eingeladen – Hammond würde einen verlängerten Urlaub auf dem Land bekommen, und Hughes würde ihn für Flugstunden bezahlen.

Ich setzte den Lederhelm ab und schüttelte meinen goldbraunen Bob aus. Es war beinahe enttäuschend, wieder auf festem Boden zu stehen. Ich wandte mich von den Männern ab und begegnete Millies fortwährendem Funkeln mit einem Lächeln. Ich konnte meiner Tante unmöglich erklären, dass es das exakte Gegenteil zu meiner Klaustrophobie war, die mich seit meiner Ehe plagte, sich in die Lüfte zu erheben. Genauso wie ich ihr nicht erklären konnte, wie entsetzlich meine Ehe gewesen war.

„Sollen wir zum Haus zurückkehren?“ Millie drehte sich, ohne zu antworten, auf dem Absatz um und ich trabte los, um sie einzuholen.

Ich konnte meinen Atem in der frischen Morgenluft sehen. England hatte uns ausnahmsweise einmal die Gunst eines klaren, blauen Himmels gewährt, und der strahlende Sonnenschein durchschnitt die Kälte. Millie und ich liefen den ausgetretenen Pfad zwischen dem Haus und der Scheune entlang, in der mehrere Autos und das Flugzeug untergebracht waren, das ich gerade gelandet hatte – Lord Hughes hatte die Motte als Dauerleigabe von einem Mitglied des Royal Aero Club erhalten. Neben der provisorischen Garage lagen die Ställe, die jetzt nur noch zwei Pferde beherbergten. Der Rest der Herde war vor Jahren verkauft worden.

Wir näherten uns dem Herrenhaus, ein großer, grauer Steinbau, dessen Eingang ein Portikus mit weißen Marmorsäulen zierte. Es war ein großes und äußerst imposantes Haus, besonders im Vergleich zu den gedrungenen Backsteinbauten, die ich aus Boston kannte. Da wir von der Rückseite des Gebäudes kamen, traten Millie und ich durch einen kleinen Kücheneingang ein, wo wir auch unsere langen Wollmäntel und die Schals aufhängen konnten. Ich setzte mich auf eine Bank und zog die schweren Stiefel aus, die ich mir von Lillian geliehen hatte, sowie die dicken Wollsocken, und schlüpfte wieder in meine flachen Schuhe. Bis ich fertig war, war Millie bereits den Flur hinunter verschwunden. Ich beschloss, sie ihrer schlechten Laune zu überlassen, statt ihr zu folgen.

Ich streckte den Kopf in die warme Küche, wo der Duft frisch gebackenen Brots in der Luft hing. Der große Raum hatte offensichtlich mal einen viel größeren Haushalt und die dazugehörigen Bediensteten versorgt, aber jetzt war er die alleinige Domäne von Martha Fedec. Lord Hughes hatte einige Sachen modernisiert, um Martha die Arbeit zu erleichtern, inklusive neuer Rohrleitungen. Ein hochmoderner Herd stand auf der einen Seite, wodurch der große, steinerne Kamin, der eine Wand zierte, größtenteils unbenutzt blieb, und unter den Töpfen und Pfannen, die in einem Gestell über dem verschrammten Holztisch hingen, war viel neuer Glanz zu sehen.

Martha blickte von ihrem großen Topf auf, der auf dem Herd brodelte, und sah mich an. „Rein oder raus, Miss Jane. Türpfosten sind der Teufel, wissen Sie?“ Ich wusste es nicht, tat aber, wie mir geheißen, und trat ganz in den Raum.

„Es riecht köstlich hier, Martha.“

Jetzt strahlte Martha mich an, rote Locken blitzten unter ihrer zweckmäßigen, weißen Haube hervor. Sie war groß und dünn, das Gegenteil von dem, was man bei einer so exzellenten Köchin erwarten würde. Mehl bedeckte die Schürze über ihrem grauen Kleid und zog sich auch über eine ihrer blassen Wangen. Sie führte Lord Hughes’ Haushalt jetzt seit Jahren und ihre glatte Haut und ihre forsche Art machten es mir unmöglich zu sagen, ob sie fünfunddreißig oder fünfzig war. Oder irgendwas dazwischen. Bei ihrem unspezifischen Akzent – und ihrer Vorliebe für deftige Eintöpfe – stellte sich mir die Frage, woher sie ursprünglich stammte.

„Sie bekommen etwas davon zum Abendessen. Zusammen mit rotem Eintopf. Aber für den Moment ist immer noch etwas Essen im Frühstückszimmer angerichtet, falls Sie hungrig sind.“ Ich lächelte, dankte ihr und ließ sie in Frieden weiterarbeiten.

Seit unseren Eskapaden in Ägypten, einschließlich Millies Nahtoderfahrung, hatte meine Tante beschlossen, dass sie in England Zeit mit ihrer Tochter Lillian verbringen wollte, statt wie ursprünglich geplant nach Amerika heimzukehren. Ich war recht zufrieden mit dieser Planänderung, da ich gern meine neu entdeckte Cousine besser kennenlernen wollte, und so hatten wir uns auf Lord Hughes’ Anwesen im ländlichen Essex wiedergefunden. Es war ein ruhiges Leben, es sei denn, man interessierte sich für Golf. Lord Hughes hatte auf dem weitläufigen Außengelände einen umfangreichen Kurs angelegt, auf dem Lillian trainieren konnte. Und die junge Frau verbrachte den Großteil ihrer Zeit eben damit. Lillians Sportbegeisterung kannte keine Grenzen, und wenn das Wetter schlecht war, brauchte sie eine andere Möglichkeit, um ihre Schläger zu benutzen – daher das Putting-Green im ehemaligen Ballsaal.

Ich interessierte mich nicht für diesen Sport. Oder für irgendeinen anderen.

Die Tage auf dem Hughes-Anwesen, das von der Familie liebevoll Wedgefield genannt wurde, waren für mich recht eintönig geworden, weit entfernt von den Gefahren und Aufregungen unserer Ägyptenreise. Die Ruhe hatte zunächst eine gewisse Erleichterung geboten, doch die war bald verflogen und von einer Rastlosigkeit abgelöst worden, die ich nicht abschütteln konnte. Zum Glück stand Group Captain Hammond parat, um mir das Fliegen beizubringen – wir stiegen jeden Morgen auf, so es das Wetter zuließ. In den zwei Wochen seit unserer Ankunft hatte ich bereits zwanzig Flugstunden abgeleistet und fühlte mich bei meinen Starts schon recht sicher. Ich hoffte, dass sich die Landungen auch bald so selbstverständlich anfühlen würden.

An den Nachmittagen ging ich entweder auf dem Anwesen spazieren, oder rollte mich in Hughes’ gemütlicher Bibliothek mit einem guten Buch ein. Lord Hughes besaß eine exzellente Auswahl von Gegenwartsprosa, und ich fand sogar einige Kriminalromane, mit denen ich mir die Zeit auf dem Anwesen vertreiben konnte. Selbst die Aufklärung eines echten Mordfalls hatte meine Begeisterung für dieses Genre nicht ermatten lassen.

Mein Verstand wanderte zu dieser jüngsten Krimigeschichte und meinem Ermittlungspartner, doch ich schob diese Gedanken schnell beiseite. Ich hatte seit meiner Ankunft in England nichts mehr von ihm gehört und rechnete auch nicht damit. Mit einem entschiedenen Kopfschütteln begab ich mich für einen kleinen Imbiss nach dem Flug ins Frühstückszimmer.

Kapitel 2

Der Nachmittag verging gemächlich und nach einem angenehmen Abendessen begab sich unsere Gruppe in den Salon. Es war ein Feuer entzündet worden, das die Kühle vertrieb, die sie ausbreitete, seit die Sonne hinter den Hügeln versunken war. Lillian und ihre Freundin Marie begaben sich augenblicklich zu dem neuen Radio und spielten an den Stellrädern herum.

„Tante Millie, wollen wir eine Partie Mah-Jongg spielen?“ Ich trat an den Tisch am Feuer, wo das Spiel bereits aufgebaut war.

„Nur wenn Lord Hughes einwilligt, sich uns anzuschließen.“ Millie warf ihm ein seltenes Lächeln zu und er erwiderte es. In Augenblicken wie diesen fragte ich mich, ob wieder aufflammte, was sich in vergangenen Jahren zwischen Millie und Lord Hughes ereignet hatte. Es verblüffte mich noch immer, dass meine kleine, mollige Tante mit der scharfen Zunge eine Affäre mit dem freundlichen Aristokraten vor uns angefangen hatte – aus der Lillian hervorgegangen war.

Ich zog eine Grimasse. Es war das Beste, nicht zu viel darüber nachzudenken.

„Natürlich.“ Lord Hughes wandte sich um. „Group Captain Hammond, sind Sie unsere Nummer vier?“

„Mit Vergnügen.“

Wir setzten uns an den Spieltisch und meine Tante Millie machte sich daran, die Steine zu mischen; „das Zwitschern der Sperlinge“, wie man es nannte. Während sie die Steine an uns verteilte, kam Hauptmann Simon Marshall ins Zimmer und gesellte sich zu Lillian und Marie.

Die jungen Frauen sahen einen großen Stapel Schallplatten in der Nähe des Grammofons durch, nachdem sie das Radio links liegen gelassen hatten, weil nichts ihren Geschmack getroffen hatte. Lillian begrüßte Simon fröhlich und drückte ihm augenblicklich Schallplatten in die Hand, um ihr beim Durchsehen zu helfen. Der junge Mann trug gepflegte Kleidung: ein Hemd mit verdeckter Knopfleiste, dessen Ärmel er hochgerollt hatte, und modische, braune Hosenträger, die an seiner mehrfach geflickten Tweedhose befestigt waren. Er war nur einer von vielen Veteranen, die Lord Hughes auf dem Anwesen beschäftigte. Soweit ich wusste, kümmerte Simon sich um die Autos und alles Mechanische, da er im Krieg als Flugzeugmechaniker gedient hatte, bis er eine Feldbeförderung zum Flight Lieutenant erhalten hatte. Ich hatte noch nicht viel Zeit mit dem jungen Mann verbracht, doch er schien für die Familie unverzichtbar zu sein.

Lord Hughes war gerade am Zug, als die jungen Frauen eine Jazz-Platte aus dem Kit Kat Club auflegten. Simon schob mehrere gepolsterte Lehnsessel auf die Seite und wirbelte die Frauen abwechselnd bei einem wilden Charleston herum, obwohl offensichtlich war, dass er Lillian bevorzugte. Ich beobachtete das Trio aus dem Augenwinkel und konnte erkennen, dass auch Marie Simons spezielles Interesse an Lillian aufgefallen war; als Marie ihnen beim Tanzen zusah, wurden ihre Augen schmal und sie verschränkte die Arme vor der Brust. Doch es war schwer, Simons guter Laune und seiner lässigen Anmut auf der Tanzfläche zu widerstehen, und als Marie wieder an der Reihe war und über die Tanzfläche gewirbelt wurde, hatte Simon ihr bald wieder ein Lächeln entlockt.

„Pong!“, krähte Millie. In ihrer ersten Hand hatte sie bereits drei identische Ziegel – die Fünf der Kreise. Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf das Spiel.

Wir machten reihum unsere Züge und als Lord Hughes die Ziegel auf seiner Hand betrachtete, wandte Millie sich Hammond zu.

„Also, Group Captain Hammond. Sie haben im Krieg als Pilot gedient?“ Ich fragte mich, worauf Millie mit dieser Frage hinauswollte.

„Ja.“ Hammond rutschte auf seinem Stuhl herum. Ich wusste, dass es ihm unangenehm war, über seine Zeit im Krieg zu sprechen, wie so vielen Veteranen.

„Und Sie haben nie geheiratet?“

Ich rollte mit den Augen. Ihre Versuche, mich wieder zu verheiraten, waren nie sonderlich subtil.

„Ich war verheiratet, doch wir haben uns nach dem Krieg scheiden lassen.“ Hammonds Stimme klang ausgeglichen und er betrachtete Millie mit einem höflichen Lächeln.

Ich lachte beinahe über den gequälten Ausdruck auf Millies Gesicht. Diese Aussage des Group Captains brachte ihre Befragung zu einem abrupten Ende, was ihm gewiss bewusst gewesen war – Millie würde niemals dulden, dass ich einen in Scheidung lebenden Mann heiratete.

Millie konzentrierte sich auf ihre Ziegel und Hammond erhob sich. „Jemand einen Drink?“

„Sehr gern.“ Ich schenkte Hammond ein entschuldigendes Lächeln. „Einen Gin Rickey, wenn Sie so freundlich wären.“ Der Group Captain entschuldigte sich und ging zu dem gut bestückten Barwagen, wo Lord Hughes bald zu ihm stieß. Hammond war unbekümmert und schwer aus der Ruhe zu bringen – wie ich sehr gut wusste, seit ich mit ihm Zeit in der Luft verbracht hatte. Ich ging nicht davon aus, dass Millies Frage ihn ernstlich gestört hatte, doch ich war immer noch verärgert über ihren unbeholfenen Verkupplungsversuch. Wieder einmal. Millie weigerte sich zu akzeptieren, dass ich nicht an einer zweiten Ehe interessiert war, und recht zufrieden mit meiner schwer erkämpften Freiheit. Und wenngleich der Group Captain attraktiv war – mit braunem Haar und ebenmäßigen, freundlichen Gesichtszügen, so hatte er meine Größe. Rücken an Rücken könnte ich sogar einige Zentimeter größer sein.

Und zudem lauerte noch die Erinnerung an einen großen, umwerfend gut aussehenden Mann in meinem Gedächtnis. Auch wenn ich jeglichen Gedanken an ihn sofort vertrieb, sobald er aufkam.

Hammond kehrte mit meinem Gin Rickey und einem großen, alkoholschwangeren Gebräu für sich zurück. Lord Hughes nahm seinen Platz wieder ein und brachte einen Whiskey-Highball für Millie und einen Cognacschwenker mit Scotch mit. So wie ich Lord Hughes kannte, war es ein teurer Single Malt, der jahrzehntelang in irgendeinem ausgefallenen Fass gereift hatte. Er war ein einfacher, bodenständiger Mann, doch er wusste feine Spirituosen zu schätzen.

In dieser Hinsicht hatte er viel mit Millie gemeinsam.

Während der Spielpause hatte Millie ihre Aufmerksamkeit den jungen Menschen zugewandt, die auf der anderen Seite des Raums ausgelassen tanzten. Sie beobachtete, wie Simon Lillian herumwirbelte und dann tief nach unten sinken ließ, wobei sein Blick auf dem Halsausschnitt ihres sittsamen Kleides ruhte. Ich spürte Millies gereizte Reaktion neben mir. Die Musik verstummte für einen Moment und Simon und Lillian sanken neben Marie auf ihre Stühle, lachend und mit geröteten Wangen.

„Edward“, Millies Stimme war laut und erfüllte den Raum. „Findest du es angemessen, dass einer deiner Diener mit den jungen Frauen verkehrt?“ Mein Atem stockte, während alle im Zimmer erstarrten.

Alle außer Simon. Der junge Mann verharrte nur kurz und erhob sich dann hastig von seinem Stuhl, die sonst freundlichen Züge von Wut entstellt. Sein Gesicht hatte beinahe die Farbe einer reifen Tomate angenommen und er stakte mit geballten Fäusten durch den Raum.

„Was zur Hölle wissen Sie schon?“, rief Simon.

Kapitel 3

Millies Augen waren geweitet und sie legte vorsichtig den Ziegel ab, den sie in der Hand gehalten hatte, ohne den Blick von der plötzlich in Rage geratenen Gestalt vor uns zu nehmen. Das Klicken des Spielsteins klang in dem stillen Zimmer wie ein Schuss.

„Und wer schert sich auch nur einen verdammten Deut darum, was ihr Amerikaner zu irgendetwas zu sagen habt?“ Simon hielt einen Schritt vor dem Tisch an, immer noch mit geballten Fäusten. „Was habt ihr Amerikaner je für uns getan? Hm? Sagen Sie mir das, Mrs. Hochmächtig.“ Simon hatte die Stimme erhoben, und jetzt, da er fertig war, blieb sein rauer Atem als einziges Geräusch im Raum zurück.

Group Captain Hammond schob gefasst seinen Stuhl zurück, trat auf Simon zu und legte ihm eine Hand auf den Arm. Simon schüttelte ihn ab und atmete noch immer schwer, doch Hammond blieb einfach vor dem jungen Mann stehen, ohne etwas zu sagen, und blickte ihn ruhig an. Nach einem Augenblick wich ein Teil der Wut aus Simons Gesicht, er drehte sich abrupt auf dem Absatz um und verließ den Raum.

Nach einigen Herzschlägen stieß ich die Luft aus, die ich unbewusst angehalten hatte.

„Millie! Wie konntest du nur?“ Lillians Wehklagen durchbrach die Stille. Bei ihrem anklagenden Ton fragte ich mich, ob sie Simons Aufmerksamkeit willkommen geheißen hatte. Und ich konnte in Millies Gesicht lesen, dass sie sich dieselbe Frage stellte und ihr diese Aussicht überhaupt nicht gefiel.

Mit einem weiteren leisen Klagelaut stürmte Lillian aus dem Zimmer. Millie schob gerade ihren Stuhl zurück, als Lord Hughes ihr eine Hand auf die Schulter legte und sie dort ruhen ließ.

„Nicht“, sagte Lord Hughes leise. „Es ist alles in Ordnung.“

„Bist du dir sicher?“ Millie ließ sich mit Unbehagen wieder auf ihren Stuhl sinken, ihre Hände zuckten in ihrem Schoß. „Ich bin mir nicht sicher, ob sie mit diesem jungen Mann allein sein sollte. Dieses Temperament!“ Es war ein seltener Anblick, Millie so aufgebracht zu erleben, aber ich wusste, dass ihre Liebe zu Lillian sie verändert hatte, sie in mancher Hinsicht sanfter werden ließ. Allerdings wusste ich auch, dass sie wohl kaum die Verantwortung für seinen Ausbruch übernehmen würde.

Hammond kam wieder an unseren Tisch zurück. „Er wird sich bald wieder beruhigt haben. Er ist nur … leicht reizbar.“ Der Group Captain hielt inne und ich merkte, dass er überlegte, wie viel er sagen wollte. „Viele der Männer hatten es seit dem Krieg schwer.“

Für einen Augenblick verfielen wir alle in Schweigen, bis Millie vorpreschte: „Aber was meinte er über die Amerikaner? Wir haben doch eindeutig unseren Anteil geleistet. Warum scheint er uns gegenüber so … giftig zu sein?“

Hammond und Lord Hughes wechselten einen raschen Blick und ich verstand, das mehr hinter dieser Geschichte steckte, als sie erzählen wollten. Ich machte mir einen gedanklichen Vermerk, Hammond später nach diesem Vorfall zu fragen. Vielleicht würde er mir die ganze Geschichte erzählen – ich wusste, dass Lord Hughes sich weigern würde, die Damen mit solchen Einzelheiten zu „beunruhigen“.

„Natürlich habt ihr das getan“, sagte Lord Hughes beschwichtigend. „Lasst uns die ganze Sache vergessen, ja? Wir können uns davon nicht den Abend verderben lassen.“ Millie seufzte und machte eine unbestimmte Handbewegung, ehe sie nach ihrem Highball griff. Ich war etwas überrascht davon, dass sie keine weiteren Erklärungen verlangte, aber sie war offensichtlich von ihren Gedanken an Lillian abgelenkt.

Als wir uns verlegen wieder unserem Spiel widmeten – mit einiger Schwierigkeit –, durchschnitt das Aufheulen eines Motors die Nacht. Das Scheinwerferlicht von einem von Lord Hughes’ Fahrzeugen glitt über die Salonfenster, während das Auto die Auffahrt hinunterraste und hinter sich Kies aufwarf. Einen Augenblick später kehrte Lillian zurück, das Gesicht blass und abgespannt.

„Nun, er ist abgehauen. Wieder einmal.“

Lord Hughes schien es nicht zu bekümmern, dass eines seiner teuren Automobile gerade in hohem Tempo von seinem Anwesen entführt worden war. „Er wird sich austoben und in ein paar Stunden wieder zurückkommen. Das macht er immer so.“ Hughes warf Lillian ein beruhigendes Lächeln zu, ehe er sich wieder seinen Ziegeln zuwandte. „Chow“, sagte er und legte eine Folge von Ziegeln vor sich ab.

Marie war beim Grammophon hin und her gelaufen, doch jetzt trat sie vor, holte Lillian an der Tür ab und führte sie wieder zum Plattenspieler. Lillian setzte sich und starrte abwesend aus dem Fenster, während Marie versuchte, sie wieder auf die Tanzfläche zu locken. Irgendwann gab Marie auf und ließ sich neben ihr auf einen Stuhl plumpsen, während die Platte ausklang. Sie steckte sich eine dünne Zigarette an und rauchte sie schweigend.

Für einen Moment starrte auch ich in die tiefschwarze Dunkelheit jenseits der Fensterfront hinaus und erschauderte leicht. Ich hoffte, Simon würde vorsichtig genug fahren.

 

Am folgenden Morgen erwachte ich etwas später als üblich. Mit all der Aufregung hatten Hammond und ich beschlossen, unseren üblichen frühen Flug auf den späten Vormittag zu verschieben, und ich musste zugeben, dass ich froh über die zusätzliche Zeit im Bett war. Ich hatte länger als sonst gebraucht, um einzuschlafen, während ich auf die Geräusche eines zurückkehrenden Autos gelauscht hatte. Ich kannte den jungen Mann nicht, doch ich machte mir immer noch Sorgen um seine Sicherheit. Ich fragte mich, ob Millie irgendwelche Probleme beim Einschlafen gehabt hatte, da es ihre ungeheuerliche Aussage gewesen war, die ihn überhaupt erst so wütend gemacht hatte; an ihrer Stelle hätte ich mich zumindest teilweise für Simons Wohlergehen verantwortlich gefühlt. Doch wie ich meine Tante kannte, hatte ihr das Ganze nicht einen Augenblick der Sorge bereitet.

Ich legte ein einfaches Strickkleid an, machte mich frisch und begab mich nach unten ins Frühstückszimmer. Der Raum war in warmes Licht getaucht, das vom Goldton der Wände reflektiert wurde. Porträts von feierlich aussehenden Männern und Frauen hingen an den Wänden und beobachteten uns beim Essen. Ich nahm an, dass es sich um Lord Hughes’ Vorfahren handelte. Nachdem ich mir am Beistelltisch meinen Teller mit Ei und Toast beladen hatte, und einer Scheibe englischen Bacons, nahm ich gegenüber von Lillian Platz, die in ihren Baked Beans herumstocherte.

„Guten Morgen, Jane.“ Group Captain Hammond schenkte mir ein herzliches Lächeln, während er zu meiner Linken Platz nahm.

„Auch Ihnen einen guten Morgen, Chris.“ Hammond hatte am zweiten Tag unseres Flugunterrichts darauf bestanden, dass ich ihn beim Vornamen nannte. Einige Sitzplätze weiter hob Millie ob dieser Vertrautheit die Augenbrauen und ich sah, wie sich ihr Mundwinkel zu einem selbstgefälligen Lächeln verbog, bis sie sich an seine Aussage des vergangenen Abends erinnerte und stattdessen eine Grimasse zog. Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf meinen Frühstückskaffee und ignorierte sie völlig.

Lord Hughes studierte die Seiten der Morning Post, eine der drei Zeitungen, die er täglich erhielt. Seine Hand verschwand gelegentlich unter dem Tisch, wenn er Rascal etwas Essen zusteckte, der seine Rolle als Fußwärmer sehr ernst nahm. Die Anspannung der vergangenen Nacht war noch nicht ganz verflogen und wir aßen schweigend. Die einzigen Geräusche waren das Klirren des Tafelsilbers und das Rascheln der Zeitung. Ich wollte mich gerade entschuldigen, als eine unerwartete Stimme von der Tür her erklang und den Bann brach.

„Guten Morgen, allerseits. Ich hoffe, ich störe nicht.“

Mein Herz machte beim Klang dieser tiefen, rumpelnden Stimme einen Satz und ich wandte mich zu ihm um.

Redvers.

Kapitel 4

Mein Herz stotterte und raste, während ich mich fragte, ob ich auf so alberne Weise heiter aussah, wie ich mich plötzlich fühlte. Doch als ich ihn betrachtete, wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Er schenkte mir ein kurzes, herzliches Lächeln, doch sein Gesicht nahm schnell wieder den düsteren Ausdruck an, während er sich an den Rest des Tisches wandte.

Millie begrüßte ihn. „Schön, Sie zu sehen, Mr. Redvers. Kennen Sie alle hier?“

„Ich glaube, ich bin mit allen bekannt.“

Ich hörte kaum zu. „Was stimmt denn nicht? Ist irgendetwas vorgefallen?“, fragte ich.

Er sah wieder zu mir, dann zu Lord Hughes. „Es gab einen Unfall.“

Millie keuchte und ich hörte eine Gabel auf den Tisch fallen. Ich drehte mich um und bemerkte, dass sämtliche Farbe aus Lillians Gesicht gewichen war.

„Simon“, flüsterte sie. Marie bedeckte kurz Lillians Hand mit ihrer, ehe Lillian sie abschüttelte und die Hände in ihrem Schoß verkrampfte.

„Ich bin mir nicht sicher, wer es ist, aber es gab in der Nähe einen Autounfall. Ich fürchte, der Fahrer hat nicht überlebt.“

Ich hatte keine Zweifel, wer der Fahrer war, und als ich mich am Tisch umsah, schien auch sonst keiner große Zweifel zu hegen. Neben mir hatte Hammonds Gesicht einen steinernen und ungerührten Ausdruck angenommen – ein großer Unterschied zu seinem sonst so freundlichen Auftreten. Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf, ehe ich etwas zu ihm sagen konnte. Zusätzlich zu seiner Arbeit als Fluglehrer hatte er auch unermüdlich daran gearbeitet, Veteranen Arbeit zu verschaffen – ich erinnerte mich daran, dass der Group Captain Simon für seine Stelle hier auf dem Anwesen vorgeschlagen hatte. Hammond musste sich in vielerlei Hinsicht für Flight Lieutenant Marshall verantwortlich fühlen.

„Ich komme mit“, sagte Hammond ruhig.

Ich schob ebenfalls meinen Stuhl zurück und legte die Serviette neben meinen noch halb vollen Teller. „Ich auch.“

„Jane“, sagte Hammond gleichzeitig mit meiner Tante. Ich brachte sie beide mit einem grimmigen Blick zum Schweigen und drehte mich um, als Redvers gerade aus schmalen Augen den Group Captain musterte. Ehe ich mich über diese Reaktion wundern konnte, schüttelte ich den Gedanken ab und bewegte mich auf die Tür zu.

„Los geht’s.“

Wir drei stiegen schweigend in Redvers’ schwarzen Hardtop-Sedan. Hammond bestand darauf, dass ich zusammen mit Redvers vorne saß. Ich nestelte am Rock meines Kleides herum und fühlte mich plötzlich unbehaglich, nachdem ich den Mann eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte, obwohl es nur zwei Monate gewesen waren. Meine Bestürzung über Simons Schicksal rang mit der Euphorie über Redvers’ plötzliches Auftauchen – obwohl meine Tante rückblickend nicht besonders überrascht gewirkt hatte, ihn zu sehen. Ich fragte mich kurz, ob sie etwas mit seinem Erscheinen auf dem Anwesen zu tun hatte.

Redvers warf mir einen Seitenblick zu.

„Es tut mir leid, dass die Umstände keine besseren sind.“

„Mir auch“, sagte ich, angemessen trauervoll, obwohl ich den Mann am liebsten in die Arme schließen und dem Himmel für seine stabile und beruhigende Präsenz danken wollte.

Wir fuhren nur wenige Minuten über schmale Straßen, die durch hügeliges Ackerland schnitten, bis wir den Unfallort erreichten. Als wir um eine lange Kurve kamen, sahen wir den Lambda. Er war in einem kleinen Hain neben der Straße gegen eine große Eiche gekracht. Redvers hielt auf dem grasbewachsenen Straßenrand und ließ genug Platz, damit uns andere Fahrzeuge passieren konnten. Ich sah mich um, als wir ausstiegen, und war nicht verwundert, dass Simon erst jetzt gefunden worden war. Wir waren irgendwo zwischen dem Anwesen und dem kleinen Dorf, und die Straße war kaum befahren. Lord Hughes’ Anwesen lag recht isoliert und es gab meilenweit kein anderes Haus.

„Es sieht aus, als hätte er die Kontrolle verloren, als er durch die Kurve fuhr.“ Redvers kam um das Auto herum und wir drei bewegten uns vorwärts, während wir die Szene untersuchten. Hammond versuchte, mich mit seinem Körper von dem grausigen Anblick abzuschirmen, doch ich trat rasch an ihm vorbei, obwohl ich auch problemlos über seine Schulter hätte blicken können. Er hatte nicht die Größe oder Statur, um mir die Sicht zu nehmen.

„Sind Sie sich sicher, dass Sie das sehen wollen, Jane?“

Ich ignorierte den Mann, während Redvers ihm versicherte, dass ich Schlimmeres gesehen hatte. Ich warf ihm einen dankbaren Blick zu, ehe ich mich wieder der Szene vor uns zuwandte.

Zwei Polizeibeamte und vermutlich ein ortsansässiger Arzt untersuchten bereits die Unfallstelle, doch ohne ein Anzeichen von Dringlichkeit. Die gesamte Front des Wagens war wie ein Akkordeon zusammengestaucht, die Leiche des Fahrers über dem Lenkrad zusammengesunken. Selbst von unserem Standpunkt aus erkannte ich das dunkle, lockige Haar und die Kleidung, die Simon am vergangenen Abend getragen hatte. Ich musste nicht näher zum Auto gehen, um mir sicher zu sein – ich war ganz zufrieden damit, in respektvoller Distanz zu bleiben und die Beamten am Unfallort ihre Arbeit machen zu lassen.

„Erkennen Sie ihn?“ Redvers sah zwischen Hammond und mir hin und her. Wir nickten beide.

„Das ist Simon Marshall“, sagte ich.

„Bist du dir sicher?“

Ich warf Redvers einen düsteren Blick zu; er nickte lediglich.

„Flight Lieutenant Marshall war ein sehr guter Fahrer“, sagte Hammond langsam. „Und er kannte diese Straßen gut. Ich bin überrascht, dass er verunglückt ist.“

„Wann ist er gestern Abend losgefahren?“ Redvers betrachtete die Straße in der Richtung, aus der wir gekommen waren.

„Es war schon dunkel“, sagte ich. „Aber ich bin mir nicht ganz sicher, wann er abgefahren ist. Ich habe nicht auf die Uhr gesehen.“

Hammond schüttelte den Kopf. „Ich auch nicht. Aber die Dunkelheit hätte ihm eigentlich nichts ausmachen dürfen.“

„Es sei denn, etwas ist vors Auto gesprungen.“

Ich seufzte. Falls das der Fall war, würden wir wohl kaum herausfinden, welche Person oder welches Tier das gewesen war. Aber ich dachte über die mögliche Szene nach. „Wenn etwas vor ihm auf die Straße gesprungen wäre, wäre er auf die Bremse gestiegen, richtig?“ Die Männer nickten zustimmend. „Und wenn er eine Vollbremsung gemacht hätte, was hätte das mit der Straße angestellt?“ Ich glaubte, die Antwort zu kennen, doch ich wollte meinen Verdacht bestätigen.

Redvers hob eine Augenbraue. „Nun, Mrs. Wunderly, das hätte eine Spur in der Erde hinterlassen, würde ich annehmen. Und auch auf der Straße, weil die Räder blockiert hätten.“

Ich ignorierte die förmliche Anrede mit meinem Nachnamen und blickte auf die makellose Straße und den Weg, den das Auto bis zu seinem fatalen Aufprall am Baum genommen hatte. Es gab Spuren in der Erde, aber nicht so tief, wie man sie erwarten würde, wenn jemand das Bremspedal durchgetreten hätte. Keine dunklen Spuren oder aufgerissene Erde. „Ich sehe keinerlei Hinweise darauf. Hätten blockierte Räder nicht sehr viel mehr Schaden angerichtet?“ Ich hob den Blick und stellte fest, dass Redvers mich bereits mit seinen dunklen, schokoladenbraunen Augen fixierte. Röte stieg an meinem Hals empor.

Genau wie damals.

„Ein Mechaniker muss einen Blick auf den Wagen werfen.“ Hammond näherte sich der Unfallstelle, hielt jedoch abrupt inne. Ich blickte hinüber und sah, dass man gleich Simons geschundene Leiche bergen würde. Ich wandte mich ab, mein Frühstück lag mir wie ein bleierner Klumpen im Magen.

Redvers nickte. „Das werde ich der Polizei vorschlagen. Hatte er Familie, die wir benachrichtigen müssen?“

Hammond schüttelte traurig den Kopf. „Nein. Ich werde … mit Lord Hughes sprechen und sehen, was wir für ihn tun können.“

 

Hammond und ich kehrten zu unserem Wagen zurück, während Redvers sich kurz bei dem Mann meldete, der am Unfallort das Sagen hatte. Unsere Rückfahrt zum Haus verlief schweigend; jeder von uns hing seinen eigenen Gedanken nach. Das Auto hatte kaum angehalten, als Hammond raussprang und ins Haus lief. Redvers und ich stiegen ebenfalls aus, blieben aber für einen Moment auf der Zufahrt stehen.

„Was tust du hier?“, fragte ich.

„Freust du dich nicht, mich zu sehen?“ Redvers’ Augen funkelten.

Ich rollte mit den Augen und auf seinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Ich wollte ihm keine Selbstbestätigung verschaffen, indem ich ihm – und mir – gegenüber einräumte, wie glücklich ich war, ihn zu sehen. Jedes Mal, wenn sich unsere Blicke trafen, setzte mein Herzschlag kurz aus. Die Zeit, die wir voneinander getrennt gewesen waren, hatte meine Reaktion auf ihn nicht verändert.

Obwohl ich nicht derart erfreut sein sollte, ihn zu sehen. Unser Abschiedskuss im Mena Haus in Ägypten war ein kurzer Aussetzer meines gesunden Menschenverstands gewesen – der gute Menschenverstand, der mich lehrte, mich von attraktiven und charmanten Männern fernzuhalten. Wie es schien, musste ich dringend daran erinnert werden.

„Du bist wohl kaum hier, um einen Autounfall zu untersuchen.“

„Nun, wir wissen nicht, ob es ein Unfall war, oder? Zumindest noch nicht.“

Ich rümpfte die Nase. Ich vermutete, dass er nicht davon ausging, es sei mehr als ein tragischer Unfall. Aber was das mysteriöse Auftauchen von Redvers vor Lord Hughes’ Haustür anging: Ich hatte mehr als nur einen leisen Verdacht, wer ihn gerufen haben könnte.

„Kennst du Lord Hughes, Redvers?“

„Wir sind uns schon begegnet.“

„Hm.“ Das war offensichtlich die Wahrheit. „Es ist schön, dass ihr euch kennt.“

„Nicht wahr?“

„Aber ich würde wetten, dass es Tante Millie war, die dich herbestellt hat.“

Redvers’ Augen weiteten sich unschuldig. „Ich weiß gewiss nicht, was du meinst.“

Ich kämpfte gegen ein Lächeln an, während wir zum Haus gingen. Normalerweise verabscheute ich die Einmischungen meiner Tante und ihre endlosen Versuche, mich zu verheiraten, aber wenn sie tatsächlich Redvers über unsere Anwesenheit auf dem Land informiert hatte, wäre ich gar nicht wütend. Plötzlich stürmte Rascal die Auffahrt herunter und stürzte sich auf Redvers’ Bein.

„Sitz, Junge.“ Rascal ignorierte mich und ich blickte zu Redvers, nur um zu sehen, dass er den Hund mit offenem Mund anstarrte. „Er muss entwischt sein, als Chris die Tür öffnete.“

„Ja, aber was ist das? Ein Schaf?“

Ich lachte. Ich hatte ganz ähnlich reagiert, als ich Lord Hughes’ ungewöhnlichen Hund zum ersten Mal erblickt hatte. Sein weißes, flauschiges Fell war tatsächlich so geschoren, dass er wie ein zu klein geratenes Schaf aussah. „Ein Bedlington Terrier.“

„Aber warum sieht er so aus?“

„Ich weiß nicht, warum sie Rascals Fell so schneiden. Hat irgendetwas mit der Rasse zu tun.“ Mit einem Schulterzucken ging ich zur Tür und Redvers folgte neben mir. Rascal sprang fröhlich neben ihm her, seine Zunge baumelte vor Freude aus dem Maul. Ich konnte es dem Hund kaum verdenken, so schnell Gefallen an Redvers zu finden.

Ich kam nicht umhin, mich an seiner Seite auch etwas fröhlicher zu fühlen.

 

Das Haus lag in Schweigen, als wir eintraten, und wir fanden die Familie versammelt im Salon – in ebendiesem Raum hatten wir Simon Marshall zuletzt gesehen, bevor er seinem traurigen Ende entgegengerast war. Es kam mir recht makaber vor, aber auch irgendwie passend, dass wir uns hier wiedertrafen, da wir Simons Verhängnis besprechen würden. Die Möbel standen wieder da, wo sie hingehörten, und Martha hatte ein Tablett mit Tee und Sandwiches bereitgestellt, das jedoch weitgehend unangetastet geblieben war. Die einzigen Geräusche kamen von meiner Tante und Lord Hughes, die sich gedämpft am Fenster unterhielten. Während ich zu ihnen sah, streckte Hughes den Arm aus, nahm für einen Moment Millies Hand und hielt sie sanft in seiner.

Ich wandte den Blick ab und bemerkte, dass wir einen Neuzugang in der Gruppe hatten. Ein junger Mann in feinem Wollanzug saß neben Lillian auf einem gepolsterten Zweiersofa und tätschelte ihren Arm. Er hatte dunkelblondes Haar und feine Züge, mit einer langen Adlernase; man mochte ihm wohl klassisches, gutes Aussehen bescheinigen, nur seine eisblauen Augen standen einen Hauch zu nah zusammen.

Lillian erhob sich, als sie uns sah. „Was ist mit Simon?“ Ich nickte und sie sank wieder auf ihren Platz zurück. Lord Hughes trat vor und klopfte Lillian im Vorbeigehen auf die Schulter. Dann schüttelte er Redvers die Hand.

„Schön, Sie zu sehen, Redvers. Ich bin froh, dass Sie zu uns stoßen konnten.“

„Es tut mir leid, dass ich der Überbringer schlechter Nachricht sein musste.“

Ich schüttelte leicht den Kopf. Es schien, als hätte Lord Hughes Redvers’ Ankunft erwartet, was bedeutete, dass er wohl Millies Komplize war, in ihrem Plan, ihn auf dieses Anwesen zu bringen.

„Und das ist mein Neffe Alistair. Er ist gerade erst eingetroffen.“ Der junge, blonde Mann stand auf, trat vor und gab uns beiden mit einem angemessen verhaltenen Lächeln die Hand. Ich sah jetzt, dass Alistair groß und dünn war – er erinnerte mich an einen Windhund. Ich warf Redvers einen Blick zu, doch es schien, als stände hier tatsächlich jemand, den er noch nicht kannte.

„Eine scheußliche Sache“, sagte Alistair. „Ich bin nur froh, dass ich für Lillian zur Verfügung stehe.“ Er drehte sich zu ihr um und warf ihr einen beruhigenden Blick zu, eher er sich wieder uns zuwandte. „Ich weiß, wie sehr sie die Gesellschaft von Flight Lieutenant Marshall genossen hat.“ Diese Aussage kam mir unehrlich vor, doch ich musterte Alistair für einen Augenblick und er wirkte aufrichtig.

Ich sah mich im Raum um; Hammond und Marie schienen bei unserer Versammlung zu fehlen. Lord Hughes bemerkte meine Neugier.

„Der Group Captain macht einige Telefonate und kümmert sich um die … Vorbereitungen.“

Ich nickte. „Und Marie?“

Lord Hughes zuckte mit den Schultern. „Ich glaube, sie ist auf ihr Zimmer gegangen.“

Ich fragte mich, ob es Marie ärgerte, dass Lillian die Aufmerksamkeit eines weiteren jungen Mannes auf sich zog. Sie war Lillian treu ergeben, doch sie hätte gewiss auch gern etwas von der Zuneigung abbekommen.

Ein entferntes Klingeln durchbrach die Stille, und einen Moment darauf kam Shaw ins Zimmer. John Shaw, ein weiterer Kriegsveteran, war groß, trug eine Brille und hatte recht auffällige, zusammengewachsene Augenbrauen. Ein düsterer Kerl, doch sehr versiert in seiner Rolle als Butler – selbst Millie hatte keine Fehler an seiner Arbeit finden können, obwohl mir aufgefallen war, dass sie sein deutlicher Dialekt der Arbeiterklasse störte. Der Buchstabe H war ihm, wenn überhaupt, nur flüchtig bekannt.

„Entschuldigen Sie die Störung, aber da ist ein Anruf für Mr. Redvers.“

Redvers folgte Shaw aus dem Zimmer und ich blickte ihnen hinterher in der Hoffnung, dass es keine Nachricht war, die Redvers zum Aufbruch nötigte, nachdem er gerade erst eingetroffen war. Weil es für ihn unangenehm wäre, natürlich, da er gerade erst den weiten Weg gekommen war, nur um gleich wieder abzureisen. Das hatte nichts mit meinem Wunsch zu tun, Zeit mit ihm zu verbringen. Mein Magen rumorte nichtsdestotrotz.

Frustriert von der Richtung, in die meine Gedanken abschweiften, machte ich mich über das Teetablett her und stellte fest, dass Martha so aufmerksam gewesen war, für mich eine kleine Kanne Kaffee dazuzustellen. Ich schenkte mir eine lauwarme Tasse ein und gesellte mich zu Millie und Lord Hughes ans Fenster.

„Millie, hast du zufällig Redvers herbestellt?“ Ich beobachtete das Gesicht meiner Tante. „Denn es käme mir seltsam vor, wenn er einfach so aus heiterem Himmel hier aufgetaucht wäre.“

Millie zuckte gleichgültig mit den Schultern und Lord Hughes interessierte sich plötzlich sehr für die Vorhänge. „Es zählt nur, dass er für diese Tragödie hier ist. Nicht wahr, Edward?“

Lord Hughes murmelte zustimmend und ich schüttelte den Kopf. Deutlichere Beweise brauchte ich nicht; ich hatte meine Schuldigen gefunden.

 

Kurz darauf kehrte Redvers ins Zimmer zurück, mit grimmigem Gesichtsausdruck. Er kam zu mir und setzte sich auf den Stuhl neben mir, während Lillian und Alistair sich rasch erhoben und sich hinter der Couch aufstellten, auf der Lord Hughes und Millie saßen.

„Das war der Police Inspector. Er wird bald zu uns stoßen.“

Die Ankunft des Inspectors war nicht der einzige Grund für diesen Anruf gewesen – das konnte ich in Redvers’ Gesicht lesen. „Der Inspector hat etwas herausgefunden, nicht wahr?“
Redvers begegnete meinem Blick. „Ich fürchte, die Bremskabel wurden manipuliert.“