Leseprobe Mord auf Rhode Island

Eins

8. Oktober 1903

„Wir hätten nicht herkommen sollen!“, rief ich über das Heulen des Sturms hinweg. Heftige Böen vom Meer schleuderten uns Regen entgegen und verschluckten meine Worte. Es war nicht die richtige Nacht, um in völliger Dunkelheit oben auf einer Klippe zu stehen. Unser Regenschirm hatte den ungleichen Kampf gegen den Sturm auf dem Weg vom Bahnhof verloren und lag jetzt in einem Mülleimer, seine Streben ragten heraus wie die Beine einer großen, toten Spinne. Daniel hatte ihn trotz meines Einspruchs dort hineingeworfen, weil er meinte, er sei nicht mehr zu reparieren.

Es war ein weiter Weg vom Bahnhof, und keiner, den man in einer stürmischen Nacht unternehmen sollte. Aber wir hatte keine Wahl. Der Weg, der uns beschrieben worden war, hatte ein entzückender Nachmittagsspaziergang auf einem Pfad entlang einer Klippe werden sollen, der blaue Ozean unter uns. Wir hatten nicht damit rechnen können, dass Daniel eines plötzlichen Problems wegen im Hauptquartier aufgehalten worden würde und wir zusammen mit dem von Einheimischen so genannten Nordostwind eintreffen würden.

Nachdem wir in Providence umgestiegen waren und in Kingston auf eine Nebenlinie gewechselt hatten, waren wir um beinahe zehn Uhr endlich im Bahnhof von Newport eingetroffen. Es war kein Hansom-Taxi oder sonst irgendein Beförderungsmittel aufzufinden gewesen. Die Stadt schien sich in Erwartung des Sturms verschanzt zu haben. Wir waren mutig unter Daniels großem Regenschirm aufgebrochen, aber einmal aus dem Stadtkern heraus und unterwegs in Richtung des Pfads oben an den Klippen, hatte die volle Kraft des Windes den Regenschirm innerhalb von Minuten umgestülpt und zerfetzt.

„Verflixt und zugenäht“, hatte Daniel gemurmelt. Seit wir verheiratet waren, entschuldigte er sich nicht länger bei mir, wenn er in meiner Gegenwart fluchte. „Wir hätten bis morgen früh warten sollen. Ich hätte nicht auf dich hören dürfen.“

„Und einen ganzen Tag unserer Flitterwochen verlieren?“, fragte ich, während ich versuchte, meinen neuen Hut abzusetzen. Es war ein modisches Machwerk mit aufgetürmten Schleifen und Schnüren, und ich wollte ganz sicher nicht, dass er die Klippe hinunterwehte. Ich stopfte ihn in meine Reisetasche, was ihm wahrscheinlich nicht allzu guttat, aber immerhin bewahrte es ihn davor, ins Meer zu segeln. „Kopf hoch. Ich bin mir sicher, dass es nicht weit ist. Newport ist nur eine kleine Küstenstadt, oder? Nicht mehr als ein paar Cottages, sagte man mir.“

Daniel musste kichern und legte mir einen Arm um die Schultern. „Warte aufs Tageslicht, dann siehst du die Zahl der Cottages.“

Vor meinem geistigen Auge stellte ich mir eine Straße vor, wie sie ins irische Westport hineinführt, gesäumt von einfachen, getünchten Cottages mit Meerblick. Es wäre schön, die Flitterwochen an einem Ort zu verbringen, der mich an meine Heimat erinnert, hatte ich gedacht, als Daniel mir von dieser Gelegenheit erzählt hatte.

Der Weg wurde von einem Ärgernis zu einer furchterregenden Erfahrung. Wir versuchten, einer schmalen, dunklen Straße namens Cliff Avenue zu folgen, aber sie endete an einem hohen, verschlossenen Tor und zwang uns zu unserer ursprünglichen Route entlang der Klippen zurück – kein Weg, den wir in einer dunklen Nacht freiwillig gegangen wären. Kein Licht drang durch den Sturm und unter uns konnten wir die Wellen an die Felsen krachen hören. Die Klippe schien sich ewig hinzuziehen, und selbst ich begann zu bezweifeln, ob es einen Sinn gehabt hatte, unser Cottage noch an diesem Abend erreichen zu wollen. Glücklicherweise kam der Wind vom Meer her, sonst hätte ich befürchten müssen, dass wir über den Rand der unsichtbaren Klippe gefegt würden und in den Tod stürzten.

„Bist du dir sicher, dass dies der richtige Weg ist?“, rief ich und packte Daniels Arm. „Gibt es hier nur solche Pfade? Liegt dieses Cottage nicht an einer anständigen Straße?“

„Offensichtlich“, sagte Daniel knapp. „Aber es kam mir nie in den Sinn zu fragen, wie man den Weg bei miesem Wetter findet. Ich nahm an, dass es eine Droschke gäbe, falls wir eine brauchen.“

Ich starrte in die Dunkelheit. „Hier sind keine Lichter zu sehen. Wir sind unmöglich in der Nähe irgendwelcher Cottages. Ausgeschlossen, dass die gesamte Bevölkerung von Newport um neun Uhr abends ins Bett geht, oder?“

„Es ist Oktober. Keines der Cottages wird zu dieser Jahreszeit bewohnt sein“, rief Daniel zurück. „Sie werden nur im Sommer benutzt.“

Die Vorstellung, die einzigen Menschen in einem abgelegenen Küstenort zu sein, hatte attraktiv geklungen, als Daniel sie mir präsentiert hatte, nachdem unsere eigentlichen Flitterwochen-Pläne ins Wasser gefallen waren, weil Daniel zwei Tage nach unserer Hochzeit wieder an die Arbeit musste. Ich hatte das ausnahmsweise einmal mit erstaunlicher Geduld ertragen, weil ich verstand, dass dies das Los einer Polizistengattin war. Ich glaube, Daniel war von meinem Gleichmut beeindruckt gewesen und hatte mir versprochen, dass wir aus der Stadt fliehen würden, sobald seine Arbeit es ihm erlaubte. Als dann das Angebot für ein Cottage an der Küste kam, hatte er sich darauf gestürzt. Natürlich war der Oktober etwas spät für Strände und Baden, aber wir hatten ohnehin andere Aktivitäten im Sinn. Und dieser Teil des Landes erlebte oft das, was man Altweibersommer nannte, mit glorreichem Wetter und glühenden, herbstlichen Farben. Nur dieses Jahr nicht, wie es schien.

„Wir sind fast da, glaube ich.“ Daniel trieb mich voran, den Arm um meine Taille gelegt. „Dann werden uns ein Bad und ein heißes Getränk wieder ins Lot bringen. Ah, hier entlang. Ich glaube, wenn wir dieser Mauer folgen, führt sie uns zum Tor.“

Als Daniel meine Hand nahm und mich vom Pfad an den Klippen wegführte, donnerte es unheilvoll über unseren Köpfen. Einige Momente später erleuchtete ein Blitz ein schmiedeeisernes Tor, das vor uns aufragte. Daniel tastete nach einem Riegel, aber das Tor weigerte sich, uns einzulassen.

„Elende Verdammnis!“, rief er. „Dieses verfluchte Tor muss sich doch irgendwie öffnen lassen.“ Er rüttelte voller Enttäuschung daran, aber es weigerte sich nachzugeben.

„Sie wissen, dass wir heute eintreffen , oder?“, fragte ich. „Ich sehe kein Licht.“ Ich war nass bis auf die Knochen, meine Zähne klapperten, die Haare klebten mir im Gesicht und die Kleider am Körper. Alles, was ich wollte, war nach drinnen zu gelangen, an ein Feuer und zu einer Tasse Tee.

„Ich verstehe es nicht. Ich weiß, dass die Familie zu dieser Jahreszeit für gewöhnlich nicht hier ist, aber es muss einen Verwalter geben, der sich um das Anwesen kümmert.“ Daniel blaffte die Worte. „Aber wir haben keine Möglichkeit, jemanden zu benachrichtigen, es sei denn, wir laufen in die Stadt zurück und schauen, ob wir telefonisch jemanden erreichen.“

Dieser Vorschlag erschien mir nicht allzu verlockend. „In der Stadt schien alles für die Nacht geschlossen zu haben. Davon abgesehen können wir nicht den ganzen Weg zurücklaufen“, sagte ich. „Wir sind schon jetzt völlig durchnässt. Ich schätze nicht, dass rufen einen Sinn hätte, oder?“

„Bei diesem verdammten Lärm würde uns niemand hören.“

Donner grollte erneut und wieder wurde die Szenerie von einem zuckenden Blitz erhellt. Das Licht enthüllte eine lange Auffahrt hinter dem Tor und in der Entfernung den großen schwarzen Umriss von etwas, das ein gewaltiges Schloss zu sein schien. Ich starrte das Gebäude erstaunt an.

„Ich dachte, du hättest gesagt, es sei ein Cottage.“

„Ich wollte dich überraschen“, antwortete Daniel mit verärgerter Stimme. „Die Wohlhabenden, die Sommerhäuser in Newport besitzen, nennen sie Cottages, aber es sind tatsächlich Villen. Diese hier heißt Connemara.“

„Heilige Mutter Gottes“, murmelte ich. „Wir haben doch nicht eine ganze Villa nur für uns, oder doch?“

„Nein, uns wurde das Gäste-Cottage auf dem Anwesen angeboten. Wenn wir nur einen Weg hineinfänden.“ Er rüttelte erneut wütend am Tor.

Ich spürte Angst in mir aufsteigen. Es waren nicht nur das Heulen des Sturms und die zuckenden Blitze. Gott weiß, dass ich an der Westküste Irlands genug Stürme erlebt hatte. Es war noch etwas anderes. „Daniel, lass uns nicht hierbleiben“, platze ich plötzlich heraus. „Vielleicht sollten wir doch in die Stadt zurückgehen. Es muss ein Hotel oder irgendein Gasthaus geben, wo wir die Nacht verbringen können. Das Haus will uns offensichtlich nicht.“

Daniel sah mich fragend an. „Das Haus will uns nicht?“

„Ich habe das überwältigende Gefühl, dass wir nicht hier sein sollten, dass wir nicht erwünscht sind.“

„Du und dein sechster Sinn“, sagte Daniel. Er war noch immer fest entschlossen und starrte am Tor und der hohen Steinmauer hinauf. „Du wirst dich anders fühlen, wenn wir drinnen und in Sicherheit sind. Ich bin entschlossen, einen Weg hinein zu finden, selbst wenn ich die Mauer erklimmen muss.“

Lauter Donner krachte genau über unseren Köpfen und übertönte seine letzten Worte, während die Welt gleichzeitig in blaues, elektrisches Licht getaucht wurde. Ich starrte zum Haus hinauf und sah ziemlich deutlich ein Gesicht, eingerahmt von einem Fenster im oberen Stockwerk. Es war das Gesicht eines Kindes und es lachte in wahnsinniger Freude.

Ich ließ die Stangen des Tores los, als hätte ich mich verbrannt. „Komm weg!“, rief ich. „Wir sollten nicht hier sein.“

Zwei

„Ruhig Blut.“ Daniel packte mich, als hätte er gespürt, dass ich drauf und dran war, wie ein aufgescheuchtes Pferd davonzustieben. „Ich hätte nicht gedacht, dass ein wildes, irisches Mädchen wie du Angst vor einem leichten Sturm hat.“

„Hast du es nicht gesehen?!“, fragte ich.

„Ich kann verdammt noch mal gar nichts sehen“, sagte Daniel. „Es ist stockfinster.“

„Das Gesicht im Fenster. Ich habe im Fenster des Türmchens ein Gesicht gesehen, Daniel.“

„Dann ist das Haus immerhin bewohnt“, sagte Daniel. „Hoffen wir, dass die Person uns ebenfalls gesehen hat und jemanden herunterschickt, um das Tor aufzuriegeln.“

„Es war ein Kind und es hat gelacht. Genau genommen ein ziemlich beängstigendes Gesicht.“

Wir warteten, doch es wurden keine Lichter entzündet. Der Sturm wütete weiter, der Wind heulte in den Bäumen und ließ sie wie verrückt tanzen. Ich starrte weiter zu dem Türmchen hinauf und wartete darauf, wieder das Gesicht zu sehen.

„Ich werde verdammt noch mal die Mauer erklimmen, wenn ich muss.“ Daniel beäugte die acht Fuß hohe Steinmauer abwägend.

„Und was würde das bringen? Wenn das Tor verschlossen ist, wärst du nicht in der Lage, mich hereinzulassen, und ich komme eine solche Mauer nicht hoch.“

„Ich dachte, weibliche Detektive könnten alles, was ein Mann auch kann. Hast du das nicht mal gesagt?“

Ich war nicht in der Stimmung, mich triezen zu lassen. „Ich gehe zurück in die Stadt“, sagte ich. „Wenn wir noch länger in dieser Kälte stehen, holen wir uns den Tod.“

„Hilf mir hoch“, sagte Daniel und ignorierte mich. „Ich glaube, ich kann hier hochklettern.“

„Und wenn du das Tor nicht öffnen und nicht wieder zurückklettern kannst? Schlägst du vor, die Nacht auf der einen Seite zu verbringen, während ich auf der anderen bin?“

„Mach dir keine Sorgen. Ich wecke jemanden im Haupthaus.“

Er begann, an der groben Steinmauer hochzuklettern.

„Komm schon, gib mir einen Stoß.“

„Führ mich nicht in Versuchung“, blaffte ich. Er lachte. Ich gab nach und schob.

Es schien seltsam, mit meinen Händen einen Gentleman zu berühren, auch wenn wir allein in der Dunkelheit waren. Er hievte sich mit einem Ächzen höher, dann schwang er ein Bein über die Mauer. Einen Moment später verschwand er und ich hörte einen Schrei.

„Was ist passiert? Bist du in Ordnung?“

„Stechpalme“, erklang es schwach. Dann erschien er auf der anderen Seite des Tores.

„Ah, ich verstehe!“, rief er. Er beugte sich vor, um einen Bolzen aus der Erde zu ziehen und wunderbarerweise schwang das Tor mit einem lauten Stöhnen auf.

„Hoffen wir, dass sie keine Wachhunde haben, die auf dem Gelände patrouillieren“, sagte ich, als Daniel unsere Taschen holte und mir hindurchhalf.

„Die wären mittlerweile aufgetaucht. Davon abgesehen werden wir erwartet. Gäbe es Wachhunde, hätte man sie weggesperrt.“

„Nicht gerade das, was ich ‚den roten Teppich ausrollen‘ nennen würde“, sagte ich. „Wer genau war es, der sagte, dass wir hier wohnen können? Einer der Bediensteten?“

„Stadtrat Hannan selbst“, sagte Daniel. „Es ist sein Haus.“

„Stadtrat? Mir war nicht bewusst, dass du mit Stadträten verkehrst.“

„Ah. Es gibt immer noch eine Menge Dinge, die du nicht über mich weißt“, antwortete er mit einem Hauch der typischen Daniel-Sullivan-Prahlerei, die ich abwechselnd anziehend und lästig fand.

Wir gingen vorsichtig die Kiesauffahrt hinauf, auf den dunklen Umriss dieses Schlosses zu. Kein einziges Licht war zu sehen, und ich zögerte, die Stufen hinauf auf die imposante Haustür zuzugehen.

„Du sagtest, wir wären im Gäste-Cottage untergebracht.“ Ich packte Daniels Arm und hielt ihn zurück. „Sollten wir nicht versuchen, es zu finden?“

„Inmitten mehrerer Morgen Waldlandschaft?“, antwortete Daniel und ich konnte hören, dass die Anspannung in seiner Stimme anstieg. „Wir stolpern dabei wahrscheinlich noch die Klippen hinunter.“

„Was schlägst du also vor?“

„Dies“, sagte Daniel. Er ging die Stufen hinauf, hob den Türklopfer und hämmerte beharrlich. Wir hörten das Geräusch drinnen nachhallen, aber es kam keine Antwort.

„Was jetzt?“, fragte ich. Mir kam ein Gedanke. „Bist du dir sicher, dass dies das richtige Haus ist? Es wäre nicht schwer, in dieser Dunkelheit eine falsche Abzweigung zu nehmen.“

„Ja, ich bin mir sicher“, sagte Daniel, klang aber nicht wirklich überzeugt. Er trat von der Tür zurück und spähte an der Fassade hinauf. „Ja, ich bin mir sicher, dass dies das Haus ist. Ich habe Bilder gesehen. Ich klopfe noch mal.“

„Jemand muss bei diesem Kind im Türmchen sein“, sagte ich. „Ich schätze, ein Kindermädchen wäre mittlerweile ins Bett gegangen, und das Kind dürfte nicht verstehen, dass wir hereinwollen.“

„Wir können nicht die ganze Nacht auf der Türschwelle stehen“, sagte Daniel gereizt. „Wirklich, das ist zu dumm vom alten Hannan.“

„Vielleicht hat er vergessen, die Bediensteten zu informieren“, sagte ich.

Daniel lief auf und ab, blickte erst die Fassade hinauf und dann in die Dunkelheit der Nacht. Es regnete womöglich noch heftiger – dicke Tropfen prasselten unaufhörlich auf den Kies der Auffahrt. Über unseren Köpfen grollte immer wieder der Donner.

„Es muss irgendwo einen Wagenschuppen geben“, sagte er. „Einen Ort für die Automobile.“

Er verschwand im Sturm und rief mir dann zu. „Hier drüben! Hier ist ein Wagenschuppen. Lass mich sehen, ob ...“ Ich hörte, wie er an einer Tür rüttelte. „Die Stallungen scheinen offen zu sein. Macht es dir etwas aus, die Nacht bei den Pferden zu verbringen?“

„Alles ist besser als das hier.“ Ich rannte durch den Vorhang aus Regen auf ihn zu, obwohl ich nicht weiß, warum ich mir die Mühe machte zu rennen, wo doch keine Möglichkeit bestand, noch nasser zu werden. Meine Röcke waren jetzt schwer und durchtränkt und wickelten sich mir um die Beine, als ich versuchte, mich zu bewegen, sodass ich beinahe stolperte. Daniel streckte eine Hand aus, um meine zu nehmen, und führte mich dann hinein. Es roch schwach nach Pferd, aber die Stallungen waren leer. Keine Tiere anwesend. Regen trommelte aufs Dach und immer noch grollte der Donner, aber jetzt weiter weg.

„Das genügt völlig“, sagte Daniel. „Sauberes Stroh. Was willst du mehr?“

„Eine warme Mahlzeit, ein Bad und ein Feuer wären reizend“, murmelte ich mit klappernden Zähnen. „Aber alles ist besser, als draußen im Regen zu stehen. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich je so durchnässt war.“

Es war stockfinster in den Stallungen und wir tasteten uns vorwärts, bis wir eine leere Box voller Stroh fanden.

„Du ziehst besser deine nassen Sachen aus“, sagte Daniel. „Hoffen wir, dass ein paar der Sachen in unseren Reisetaschen trockengeblieben ist.“

Meine Hände waren eiskalt. Ich fummelte am Verschluss meiner Reisetasche herum und fand etwas, von dem ich hoffte, dass es mein Nachthemd war. Es fühlte sich klamm an, aber das mochten auch meine kalten, nassen Hände sein. Ich zitterte mittlerweile unkontrollierbar und fühlte mich den Tränen nahe. Ich schluckte sie herunter. Ich versuchte, die Schleife zu öffnen, die unter meinem Kinn den Umhang hielt. Meine Finger weigerten sich, mir zu gehorchen, und der Knoten war durchnässt und steif.

„Es hat keinen Zweck. Ich kann es nicht!“, schrie ich wütend.

„Was?“, fragte Daniel sanft.

„Meinen Umhang abnehmen. Ich bekomme den Knoten nicht auf.“ Ich musste wie ein kleines, hilfloses Kind geklungen haben, denn er legte seine Arme um mich.

„Es ist alles in Ordnung“, sagte er. „Wir sind jetzt in Sicherheit. Und du hast einen Ehemann, der dich liebend gerne auszieht.“ Ich spürte seine Hände an meinem Hals. „Verdammter Knoten“, murmelte er, nachdem er sich abgemüht hatte. „Ich muss die Schleife zerreißen.“ Ich setzte zum Protest an. Es war mein neues Reisegewand, Teil meiner Aussteuer. Allerdings wollte ich es auch nicht die ganze Nacht tragen. Daniel zerrte und zog und ich hörte Stoff reißen, während das durchnässte Kleidungsstück von mir abfiel. „Das hätten wir“, sagte er und warf es zur Seite. „Dreh dich um.“ Dann bewegten sich seine Hände von meinem Umhang zu meinem Kleid und er löste geduldig alle Haken. „Gott sei Dank, dass du kein Korsett trägst“, murmelte er. „Ich glaube, das überstiege meine Fähigkeiten.“ Seine Hände verweilten auf meinem Körper. „Mein Gott, bist du kalt“, sagte er. „Zieh dir schnell etwas Trockenes an.“

„Mein Nachthemd ist ganz feucht“, sagte ich. „Ich weiß nicht, was ich sonst anziehen soll.“

Ich hörte ein Klicken, als er seine Reisetasche öffnete. „Hier, nimm mein Nachthemd.“

„Was ziehst du dann an?“

„Ich komme zurecht. Ich nehme an, meine Unterwäsche ist trocken genug.“

Ich hörte, wie er damit rang, seine eigene Kleidung auszuziehen, dann sagte er: „Komm her“, und schloss mich in die Arme.

„Du bist so kalt wie ich“, sagte ich und spürte, wie sich sein halbnackter Körper an meinen presste.

„Uns wird bald warm werden.“ Er zog mich mit sich nach unten ins Stroh. Ich lag an ihn gelehnt, mein Kopf ruhte auf seiner Brust.

„Das erinnert mich an ein anderes Mal“, fügte er hinzu. „Erinnerst du dich?“

„Natürlich.“ Es war vor langer Zeit gewesen. Ein ähnlicher Sturm, eine einsame Scheune und das erste und einzige Mal, dass ich so schwach geworden war, Daniels Liebeswerben nachzugeben. Eine Menge Wasser war seit dieser Nacht den Fluss hinuntergeflossen. Damals war ich nicht sicher gewesen, ob er mich je heiraten würde. Und jetzt war ich seine Ehefrau, lag ganz legal in seinen Armen. Ich kuschelte mich an ihn und fühlte mich augenblicklich besser.

„Ich bin froh, dass dies nicht unsere tatsächlichen Flitterwochen sind“, murmelte Daniel. „Es wäre eine höllische Art, unsere Ehe zu beginnen, oder?“

„Ach, ich weiß nicht“, flüsterte ich. „Recht romantisch, wenn du mich fragst.“

„Wenn dir das verflixte, kratzende und kitzelnde Stroh und der der durch die Ritzen der Tür pfeifende Wind nichts ausmachen.“

„Ich weiß, wie ich dich davon ablenken kann.“ Ich schmiegte mich an ihn. Daniel brauchte keine zweite Einladung.

 

Ich erwachte, weil ein heller Sonnenstrahl auf mich fiel und eine riesige Gestalt über mir aufragte.

„Heilige Mutter Gottes!“, murmelte eine Stimme. „Was haben wir hier? Fahrendes Volk? Wie um Himmels willen haben Sie es auf das Anwesen geschafft? Kommen Sie schon, ab mit Ihnen, und zwar sofort, ehe ich die Polizei rufe.“

Daniel setzte sich auf und beäugte die Gestalt mit trübem Blick. „Guten Morgen“, sagte er. „Ich nehme an, Sie sind die Hauswirtschafterin, und ich nehme ebenfalls an, dass Sie entweder taub sind oder einen tiefen Schlaf haben.“

„Was um Gottes willen plappern Sie da?“ Sie sprach mit einem starken irischen Akzent und klang damit beinahe wie eine Bühnen-Irin aus dem Varieté.

Ich war jetzt wach genug, um zu bemerken, dass sie eine große, ältere Frau war, die ganz in Schwarz gekleidet war und die Hände in die Hüften gestemmten hatte.

„Lediglich, dass wir gestern Abend an die Haustür gehämmert haben und niemand uns eingelassen hat“, sagte Daniel. „Also mussten wir darauf zurückgreifen, in der Scheune zu schlafen.“

Die Frau nahm die Hände aus den Hüften und erhob sie zu einer Geste des Schreckens. „Jesus, Marie und Josef! Sagen Sie mir nicht, dass Sie Mr. und Mrs. Sullivan sind.“

„Die sind wir in der Tat“, sagte Daniel. „Also haben Sie uns erwartet. Und doch war das Tor verschlossen und niemand hat auf unser Klopfen an der Haustür reagiert. Ein schöner Empfang, wenn ich das so sagen darf.“

„Gott vergib mir“, sagte sie. „Ich habe bis nach neun Uhr auf Sie gewartet und dann gedacht, dass Sie unmöglich so spät und während dieses Sturms kommen würden. Mir wurde gesagt, ich solle Sie am frühen Nachmittag erwarten, also nahm ich an, dass Sie sich verspätet hätten und erst heute eintreffen würden. Also habe ich wie gewöhnlich abgeschlossen. Ich schlafe nicht auf dem Anwesen, wenn die Familie nicht hier ist, verstehen Sie? Ich kehre in mein eigenes kleines Haus in der Stadt zurück. Und der Herr nimmt es sehr genau, wenn es darum geht, dass jeden Abend alles abgeschlossen wird.“

Ich setzte mich ebenfalls auf und mir war bewusst, dass ich wahrscheinlich einigermaßen unanständig aussah, so wie meine Beine aus Daniels Nachthemd herausschauten. „Also wollen Sie sagen, dass gestern Abend niemand im Haus war? Aber ich habe ein Gesicht im Fenster gesehen – das Gesicht eines Kindes.“

„Das Gesicht eines Kindes?“ Ich sah, wie ihr die Farbe aus dem Gesicht wich, als sie mich kurz voller Furcht anblickte. Dann zwang sie sich zu einem Lächeln. „Das muss eine optische Täuschung durch das Licht gewesen sein, meine Liebe. Es ist niemand im Haus. Gewiss keine Kinder. Aber wo sind meine Manieren?“ Sie hatte sich wieder gefangen. „Ich bin Mrs. McCreedy. Und das war ein schrecklicher Empfang in Connemara, den Sie hatten. Erlauben Sie mir, Sie zu Ihrem Quartier zu bringen. Und dann mache ich Ihnen ein schönes, warmes Frühstück.“

Sie trat diskret nach draußen, während wir versuchten, genug trockene Kleidungsstücke zu finden, um uns anzuziehen, dann folgten wir ihr an den hoch aufragenden Steinwänden des Schlosses vorbei und einen Pfad hinunter zu einem kleinen, von Bäumen eingerahmten Cottage. Es sah aus wie meine Definition eines Cottages, getüncht und reetgedeckt, genau wie man es in Irland finden würde. Die Blätter der umstehenden Bäume, färbten sich bereits golden und rot, sodass sich mit dem blauen Ozean dahinter ein entzückendes Bild ergab. Ich seufzte voller Freude.

„Erinnert Sie an die Heimat, nicht?“, fragte die Frau. „Ich weiß. Ich kriege immer etwas Heimweh, wenn ich es ansehe. Ich selbst komme aus Galway und ich kann hören, dass auch Sie aus diesem Teil von Irland stammen.“

„Ein Dorf nahe Westport“, gab ich ihr recht. „Und Stadtrat Hannan muss ebenfalls aus der Region stammen, wenn er sein Zuhause Connemara nennt.“

„In der Tat“, sagte die Frau. „Die Familie floh während der Großen Hungersnot aus Galway. Er war noch ein kleines Kind, als er nach Amerika kam. Beide Eltern starben, als er zwölf Jahre alt war, und seitdem ernährt er die Familie. Ich würde nicht sagen, dass er es schlecht getroffen hat, für jemanden, der mit leeren Händen herkam, oder?“

Ich wandte mich um und warf einen Blick auf das Schloss. Bei Tageslicht wirkte es nicht ganz so unheilvoll, aber es war eindeutig gebaut worden, um einer alten Bastion zu ähneln, eine, wie man sie in den ländlichen Gegenden Irlands sehen würde. Die Wände bestanden aus grob behauenen Steinen, teilweise mit Efeu und wildem Wein bedeckt, der einen entzückenden Rotton angenommen hatte. Die Fenster waren gewölbt und in die Wände eingelassen, entlang des Daches verliefen Zinnen und in einer Ecke erhob sich ein Türmchen – mit einem Fenster. Ich hätte schwören können, gestern Abend in diesem Fenster ein Kind gesehen zu haben. Die Außenanlagen rundherum waren tadellos gepflegt, mit Baumbestand, Beeten, einem Tennisplatz und einem verzierten Brunnen. Die ganze Szenerie wurde vom blauen Ozean im Hintergrund eingerahmt.

„Die Außenlangen sind wunderschön“, sagte ich. „Ich bin mir nicht sicher, ob das Haus nach meinem Geschmack ist.“

„Ich mir auch nicht“, sagte sie. „Ich selbst würde mich für mehr Gemütlichkeit entscheiden, und dass der Wind im Winter durch diese hohen Flure pfeift, macht es unmöglich, das Haus zu heizen.“

Daniel hatte sich, wie mir auffiel, nicht an der Unterhaltung beteiligt. Ich nahm an, es gefiel ihm nicht, in einem solch ungepflegten Zustand erwischt worden zu sein. Sein Stolz und seine Würde waren verletzt worden, und die waren ihm wichtig. Die Hauswirtschaftlerin schien im selben Augenblick zu bemerken, dass wir beide Daniel ignoriert hatten. Sie wandte sich ihm wieder zu. „Sie sind also ein Freund des Stadtrats, Sir?“

„Kein Freund, aber der Stadtrat und ich sind miteinander bekannt. Und als er hörte, dass unsere Flitterwochen ruiniert wurden, war er freundlich genug, mir anzubieten, dieses Haus zu benutzen.“

Ein Lächeln breitete sich auf dem Gesicht der Frau aus. „Oh, ja, er ist ein freundlicher und großzügiger Mann. Sanftmütig wie nur was, wenn er will, obwohl ich gehört habe, dass er in Geschäftsangelegenheiten so gnadenlos ist wie ein Tiger.“

„Ist er das?“, fragte Daniel.

Wir hatten die Haustür des Cottages erreicht.

„Und es sind Ihre Flitterwochen. Stell sich einer vor“, sagte Mrs. McCreedy. „Nun, dieser schreckliche Sturm ist vorübergezogen. Sie können es sich jetzt gutgehen lassen.“ Sie öffnete die Tür und trat beiseite, sodass wir in den Flur treten konnten. Das Haus roch nicht wie ein Cottage aus der Heimat. Zum einen gab es keinen bleibenden Geruch nach Torffeuer, zum anderen nicht die Kombination aus Feuchtigkeit und Möbelpolitur, die man mit alten Häusern in Verbindung bringt. Dies war ein neues Haus, auf alt gemacht, was bestätigt wurde, als Mrs. McCreedy sagte: „Sie wollen Zweifels ohne ein Bad nehmen. Es gibt oben bei den Schlafzimmern ein reizendes Badezimmer. Und genug heißes Wasser.“

Wir brauchten keine zweite Einladung. Eine halbe Stunde später kamen wir die Treppe hinunter, sahen wieder zivilisiert aus und stellten fest, dass uns Eier und Bacon erwarteten. Die Schrecken der Nacht waren vergessen.

„Nun, dann lasse ich Sie mal allein“, sagte sie, wischte sich die Schürze ab und nickte zufrieden. „Die Speisekammer sollte gut gefüllt sein, aber wenn Sie irgendetwas brauchen, ich bin im Haupthaus. Am Wochenende werden alle hier sein, also werde ich eine Menge damit zu tun haben, Schlafzimmer auszulüften und Vorräte zu besorgen.“

„Sie werden alle hier sein?“, fragte ich. „Die Familie des Stadtrats, meinen Sie?“

„Alle miteinander.“ Mrs. McCreedy sah uns mit einem Ausdruck vollkommenen Verdrusses an.

Ich blickte fragend zu Daniel. „Ich dachte, du hättest gesagt, die Cottages werden zu dieser Jahreszeit nicht benutzt.“

„Das werden sie normalerweise auch nicht“, antwortete Mrs. McCreedy für ihn. „Für gewöhnlich ist jetzt schon alles für den Winter verschlossen, aber ich habe gehört, dass Mr. Archie dieses Wochenende an irgendeinem Bootsrennen teilnimmt und der Stadtrat die gesamte Familie hierher eingeladen hat. Aber es ist nicht an mir, das Warum zu erörtern. Er gibt die Befehle und ich führe sie aus. Und ich setze mich jetzt besser in Bewegung, wenn ich alles fertig haben will, ehe sie eintreffen.“

„Gibt es keine weiteren Bediensteten?“, fragte Daniel. „Ein großes Haus, um es von nur einer Frau führen zu lassen.“

Sie nickte zustimmend. „Natürlich bringen sie ihre persönlichen Dienstmädchen und Diener mit, und der Stadtrat hat stets seinen persönlichen Koch dabei. Er ist sehr speziell, wenn es um sein Essen geht.“

„Ich könnte heraufkommen und Ihnen zur Hand gehen, wenn Sie mögen“, schlug ich vor.

Sie wirkte entsetzt. „Eine Freundin des Stadtrates geht mir zur Hand? Das ginge nicht. Aber Sie haben eine herzliche und großzügige junge Dame geheiratet, Sir.“

„Eindeutig.“ Daniel lächelte mich an. „Sie mag es, stets beschäftigt zu sein.“ Ich verstand die Doppeldeutigkeit seiner Aussage. Wir hatten monatelang debattiert, ob ich meine Karriere aufgeben würde, wenn wir heirateten. Ich hatte zustimmen müssen, meine Detektei aufzugeben – weil ich einigermaßen widerwillig verstand, dass sie Daniels Position im New York Police Department kompromittieren könnte. Aber ich hatte ebenfalls ziemlich deutlich gemacht, dass ich nicht bereit war, müßig herumzusitzen und mich hausfraulichen Tätigkeiten zu widmen.

„Wir holen einheimische Mädchen her, um uns beim Saubermachen zu helfen, wenn die Familie hier ist“, sagte Mrs. McCreedy und hielt in der Tür inne. „Soll ich arrangieren, dass eine von ihnen für Sie kocht und saubermacht, während Sie hier sind?“

„Oh, nein. Ich bin mir sicher, das bekommen wir hin“, sagte ich. „Ich bin daran gewöhnt, selbst zu kochen.“

„Nun, lassen Sie es mich wissen, wenn Sie irgendetwas brauchen. Und ich würde von der Einsamkeit Gebrauch machen, wenn ich Sie wäre, denn ab Freitag wird es hier ziemlich lebhaft.“

Damit ging sie und ließ uns allein.

Drei

Ich wartete, bis sich die Tür hinter ihr schloss, dann wandte ich mich um und blickte Daniel wütend an.

„Wusstest du, dass ein ganzer Haufen Leute mit uns hier sein würde?“, fragte ich.

Daniel wand sich unbehaglich unter meinem Blick. „Nein, wusste ich nicht.“

„Warum genau hat dieser Stadtrat uns dann zur selben Zeit hierher eingeladen wie seine Familie? Das ist doch gewiss nicht die beste Zeit dafür. Und ein Mann wie er muss einen anderen Grund gehabt haben, abgesehen von seiner Herzensgüte.“

Daniel kicherte. „Du bist scharfsinniger, als gut für dich ist. In Ordnung, ich schätze, es muss ein Motiv gegeben haben, abgesehen von seiner Herzensgüte.“

„Ich wusste es!“, sagte ich wütend. „Ich wusste, dass an dieser Sache etwas verdächtig war. Mächtige Männer tun nichts aus reiner Herzensgüte – es sei denn, sie wollen etwas. Also, was glaubst du, sollst für diesen Stadtrat tun? Du bist doch nicht hier, um an einem Fall zu arbeiten, oder?“

Daniel legte mir seine Hände auf die Schultern. „Beruhige dich, Hitzkopf. Ich bin nicht zum Arbeiten hier. Er wollte mit mir über irgendetwas reden – etwas mache ihm Sorgen, sagte er. Er glaubte, er habe es vielleicht falsch verstanden.“

„Was falsch verstanden?“

„Das hat er nicht gesagt. Er hat lediglich gesagt, dass er mein Urteilsvermögen schätzt und dass er möchte, dass ich es mir persönlich ansehe. Das ist alles, was ich weiß.“

„Also hast du schon mal mit ihm gearbeitet? Du weißt alles über seine Geschäfte?“

Daniel lächelte. „Ich bezweifle, dass irgendjemand alles über seine Geschäfte weiß. Wenn man über jemanden sagen könnte, dass er überall seine Finger im Spiel hat, dann über Brian Hannan. Ihm und seinem Bruder gehört ein großes Bauunternehmen, wie du wahrscheinlich weißt. Sie übernehmen nur wichtige Aufträge – Brücken, Tunnel, sowas in der Art. Du hast vielleicht gehört, dass sie die Untergrundbahn unter den Straßen von New York bauen. Und du musst wissen, dass er außerdem in der Politik mitmischt – er ist seit Jahren ein hohes Tier in Tammany Hall und wurde kürzlich zum Stadtrat gewählt. Und jetzt strebt er noch größere Dinge an, wie wir hören. Ich glaube, er hat ein Auge auf einen Senatssitz geworfen, will aber nicht die Kontrolle über Tammany Hall abgeben, um sicherzustellen, dass er alle Stimmen in der Tasche hat.“

„Meine Güte“, sagte ich. „Ein wirklich geschäftiger Mann.“

„Vielleicht hat er sich endlich übernommen“, sagte Daniel. „Er hat die Tagesgeschäfte von Hannan Construction an seinen Bruder übergeben. Und um dir die Wahrheit zu sagen, wir haben Hannan Construction seit einiger Zeit im Auge. Sie bewegen sich hart am Rande der Legalität, aber wir haben es nie geschafft, sie hochzunehmen.“

„Wie genau am Rande der Legalität?“

„Auftragsmanipulationen, sowas in der Art. Mit der Hilfe von Tammany Hall natürlich. Aber die Tammany-Wahlen stehen kurz bevor. Brian Hannan will sichergehen, dass sein Kandidat gewinnt. Aber die Basis scheint einen Mann namens Murphy zu bevorzugen. Also haben Hannans politische Ambitionen ihn vielleicht an Einfluss verlieren lassen. Stadtrat zu sein bedeutet, dass er jetzt zum Establishment gehört. Das kommt bei Tammany Hall nicht immer gut an. Sollte interessant werden.“

„Glaubst du, er hat dich hierher eingeladen, um dich zu bestechen?“, fragte ich.

„Das werden wir sehen, nicht wahr?“ Daniel lächelte wieder. „Und in der Zwischenzeit machen wir das Beste aus der Gastfreundschaft. Lass uns schauen, ob er uns einen gut bestückten Weinkeller dagelassen hat.“

„Daniel!“ Ich lachte nervös. Ich begann gerade erst zu verstehen, was es bedeutete, die Frau eines New Yorker Polizisten zu sein. Es gab Regeln, aber diese Regeln konnten, wie es schien, zur rechten Zeit und am rechten Ort umgangen werden. Immerhin musste ich mir keine Sorgen darum machen, dass Daniel korrupt war, wie einige seiner Kollegen.

Wir unternahmen eine rasche Tour durch unser kleines Gäste-Cottage. Es war einfach, aber zufriedenstellend – das Erdgeschoss bestand aus einem Wohnzimmer, einem Esszimmer und der Küche, oben befanden sich zwei Schlafzimmer und das Badezimmer. Die Speisekammer war gut gefüllt und zu Daniels Zufriedenheit gab es auch ein Fass Bier und einige Flaschen Wein. „Lass uns einen Spaziergang machen. Die Sonne scheint“, sagte Daniel.

„Wir müssen erst das Frühstücksgeschirr wegräumen“, sagte ich.

„Ich frage mich, ob sie eine Zeitung ins Haupthaus geliefert bekommen.“ Daniel sah sich um.

„Glaube nicht, dass du dich darum drücken kannst, deinen Teil der Hausarbeit zu machen, während wir hier sind, Daniel Sullivan“, sagte ich. „Du hast keine Arbeitssklavin geheiratet. Hier, staple diese Teller auf, während ich heißes Wasser hole.“

Daniel seufzte, protestierte aber nicht. Eine halbe Stunde später liefen wir über das hübsche Anwesen und genossen die warme Sonne auf unseren Gesichtern. Vereinzelt herumliegende Äste und Verwehungen von Blättern waren die einzigen Anzeichen für das Wüten der letzten Nacht. Heute war die Luft mild genug, um uns zu erlauben, ohne Mäntel spazieren zu gehen; und die Brise, die vom Meer heraufkam, war sanft und brachte gerade genug salzigen Geruch mit sich, um entzückend zu sein. Ich ließ meine Hand unter Daniels Arm gleiten, hakte mich bei ihm ein und freute mich immer noch über das frische Gefühl, ein Paar zu sein. Die Ehe war am Ende gar nicht so schlecht. Ich weiß nicht, warum ich so lange aufbegehrt hatte.

Unser Weg führte uns vom Haupthaus fort, durch einen Bestand von Waldkiefern und Rhododendronbüschen. Plötzlich waren wir hindurch und fanden uns oben auf der Klippe wieder, unter uns übel aussehende Felsen an der Küstenlinie. Es gab keinen Zaun und keine Mauer, Daniel packte meinen Arm und zog mich zurück. „Keinen Schritt weiter“, sagte er. „Wir wissen nicht, ob der Rand überhängt.“

„Ich bin froh, dass wir letzte Nacht nicht zu weit gestolpert sind“, kommentierte ich. „Wir hätten auf diesen Felsen enden können.“

Wir traten zurück, als eine besonders große Welle auf die Felsen krachte und ein Vorhang weißen Schaums zu uns heraufschwappte. Aber die Klippe war zu hoch, und das Wasser erreichte uns nicht.

„Hast du Lust zu schwimmen?“, fragte Daniel bösartig.

„Ich bin in wilderen Meeren geschwommen, als ich ein Kind war“, antwortete ich und begegnete seinem Blick. „Aber das war vor einer langen Zeit. Ich glaube, ich bleibe bei ruhigeren Beschäftigungen. Und ich würde gerne einen Blick ins Haupthaus werfen, solange wir alleine hier sind, du nicht?“

„Es wäre interessant zu sehen, ob Hannan mit seinem Geld auch zu Geschmack gekommen ist“, stimmte Daniel zu.

Wir vollendeten den Rundgang, indem wir am Tennisplatz, dem Krocketrasen und dann am Springbrunnen vorbeigingen. Es gab sogar eine hübsche, kleine und offene Gartenlaube, versteckt zwischen Bäumen.

„Dieser Ort hat alles“, sagte Daniel. „Ich frage mich, ob Hannan sich je genug Freizeit gestattet hat, um ihn zu genießen. Männer wie er widmen ihr Leben dem Gelderwerb.“

„Wir werden uns eindeutig genug Zeit nehmen, uns zu amüsieren, oder nicht?“ Ich zog an Daniels Ärmel.

„Wenn ich Polizist bleibe, wird unser Leben nicht darauf hinauslaufen, dass wir ein Vermögen verdienen wie Brian Hannan, soviel ist sicher“, sagte er. „Und ich habe dich gewarnt, dass ich zu jeder Tages- und Nachtzeit arbeiten muss.“

„Du lässt das so verlockend klingen“, sagte ich trocken, was ihn zum Lachen brachte. Er legte mir einen Arm um die Schultern und zog mich an sich. „Wir werden uns Zeit nehmen, um uns zu amüsieren. Das verspreche ich.“

Wir kamen zur Vorderseite des Hauses und mein Blick wurde wieder von dem Ecktürmchen angezogen. In welchem Fenster hatte ich das Gesicht gesehen? Gab es überhaupt ein Fenster, das in Richtung des Haupttors zeigte?

„Kommst du?“, unterbrach Daniel meinen Tagtraum. Ich folgte ihm die imposanten Stufen zur Haustür hinauf. Diesmal stand sie halb offen. Daniel spähte hinein. „Hallo!“, rief er. „Jemand zu Hause?“

Niemand erschien, als wir in ein gewaltiges, eichengetäfeltes Foyer eintraten, dessen Wände wie in einem alten Schloss mit Schwertern und Bannern dekoriert waren.

„Ich frage mich, wo er die herhat“, sagte Daniel und blickte an den Wänden empor. „Aus einem irischen Schloss oder einem Laden für Theaterrequisiten.“

„Still, Daniel, jemand wird dich hören“, flüsterte ich. Ich zitterte und wünschte, ich hätte meinen Umhang dabeigehabt. Nach dem hellen Sonnenschein fühlte sich die Eingangshalle kalt und unfreundlich an und ich fragte mich, warum irgendjemand ein Haus würde bauen wollen, dass sich alt und ungemütlich anfühlt.

„Ich frage mich, wohin die Hauswirtschafterin verschwunden ist“, sagte Daniel und lief ungeduldig auf und ab.

„Es ist ein großes Haus.“ Ich sah mich um, mein Blick folgte der breiten, geschwungenen Treppe, die zu einer dunklen Empore hinaufführte. „Sie ist wahrscheinlich oben und macht Betten. Wir sollten wieder rausgehen und klingeln, um sie wissen zu lassen, dass wir hier sind.“

„Unsinn“, sagte Daniel. „Wir können uns auch ohne sie umsehen. Hannan würde es nichts ausmachen. Es ist ja nicht so, als würden wir das Tafelsilber mitgehen lassen.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob das richtig ist“, sagte ich. Seit ich die Eingangshalle betreten hatte, verspürte ich wachsendes Unbehagen. Ich stellte fest, dass ich über meine Schulter blickte, als würden mich unsichtbare Augen voller Ablehnung beobachten. Aber Daniel ging bereits voraus, durch einen Bogengang und in einen eindrucksvollen Salon hinein. Dieses Zimmer hatte eine ganz andere Atmosphäre – geräumig, hell und üppig möbliert, mit Brokatsofas und kunstvoll vergoldeten Tischen und Spiegeln. Mit wenigen Schritten waren wir aus einer irischen Festung in ein französisches Chateau gelangt. Daniel sah sich voller Belustigung um.

„Ich frage mich, ob er sich das aus Versailles hat herüberschicken lassen“, sagte er und sprach damit genau meine Gedanken aus. „Diese Sachen sind keine Kopien, sie sind echt. Und die Gemälde sind auch nicht schäbig. Diese da sehen nach echten italienischen Meistern aus, glaube ich.“

„Dieses hier ist ein Raphael, glaube ich“, kommentierte ich.

Daniel wirkte überrascht und beeindruckt. „Woher weißt du das?“

„Ich bin eine gebildete junge Frau.“ Ich lächelte ein wenig selbstzufrieden. „Du glaubst doch nicht, dass du ein Bauernmädchen aus dem Sumpf geheiratet hast, oder?“ Mein Blick wurde von einer Ansammlung silbergerahmter Fotografien angezogen, die zusammen auf einem Glastisch standen. „Ich schätze, das ist die Familie“, sagte ich. „Guck mal, hier ist ein Gruppenfoto. Sie sind ein gutaussehender Haufen. Wer ist der Stadtrat? Es gibt anscheinend drei Männer, die sich sehr ähnlich sehen.“

„Hannan hat einen Bruder, der dieser Tage das Geschäft führt, und es kann sehr wohl noch einen weiteren Bruder geben. Lass mich mal sehen.“

Er kam herüber und betrachtete über meine Schulter hinweg das Foto. Es hatte etwas Seltsames an sich. Die Ober- und Unterseite hatten einen weißen Rand, aber die beiden anderen Seiten der Fotografie verschwanden unter dem Silberrahmen, beinahe, als wären sie abgeschnitten worden.

„Schau dir das an“, sagte ich und zeigte auf die Seiten des Bildes. „Sieht das nicht so aus, als wären mehr Menschen auf dem Foto gewesen, als es aufgenommen wurde? Schau, links von dem kleinen Jungen. Hält er nicht jemandes Hand? Und die rechte Seite ist ebenfalls abgeschnitten worden. Warum sollte man das tun?“

Als ich Daniel das Foto hinhielt, ertönte direkt hinter uns eine Stimme, die uns schuldbewusst herumfahren ließ. „Captain Sullivan! Wie um alles in der Welt sind Sie hereingekommen? Ich habe die Türklingel nicht gehört.“

Mrs. McCreedy stand da und wirkte beinahe durcheinander.

„Die Haustür stand einen Spaltbreit offen“, sagte Daniel und stellte die Fotografie wieder auf den Tisch zurück. „Wir haben gerufen, aber niemand kam, also dachten wir, dass Sie vermutlich anderswo beschäftigt sind.“

„Das war ich in der Tat“, sagte sie. „Und ich habe keine Ahnung, wie diese elende Tür aufgegangen ist. Der Herr wäre ganz und gar nicht glücklich zu hören, dass Leute von der Straße einfach hereinkommen und sich bedienen könnten.“

„Wir waren daran interessiert, das Haus zu sehen, bevor die Familie eintrifft“, sagte ich, und mir gefiel diese Unterstellung nicht. „Ich versichere Ihnen, wir waren nicht im Begriff, etwas einzustecken.“

Ob dieser Bemerkung geriet sie noch mehr durcheinander. „Gewiss nicht. Ich habe nichts dergleichen angedeutet. Sie sind Gäste des Stadtrats und natürlich würde er sie in seinem Haus willkommen heißen. Zu jeder anderen Zeit würde ich Sie liebend gerne herumführen – es ist nur so, dass ich jetzt bis über die Ohren in Arbeit stecke, wenn es Ihnen also nichts ausmacht ...“

Und sie versuchte, uns zur Haustür zu geleiten wie ein großer Hütehund.

„Wir können uns alleine umsehen, wenn Sie beschäftigt sind“, sagte Daniel.

„Oh, nein. Das ist unmöglich“, antwortete sie eilig. „Ich hätte lieber alles so, wie es gehört, ehe Sie es sehen.“

Mir kam der Gedanke, dass sie mit dem Saubermachen nachlässig gewesen war, während die Familie nicht hier gewohnt hatte, und sich jetzt beeilen musste, um ihre Faulheit wettzumachen.

„Das ist ganz und gar kein Problem“, sagte ich. „Wir haben alle Zeit der Welt. Wir lassen Sie jetzt Ihre Arbeit weitermachen und Sie können uns wissen lassen, wenn Sie eine freie Minute für eine Tour haben.“

„Das werde ich tun. Sehr freundlich.“ Ich konnte sehen, wie die Sorge aus ihrem Gesicht wich.

Als wir die düstere Eingangshalle durchquerten, verspürte ich plötzlich einen Luftzug im Nacken und wieder dieses seltsame Gefühl, beobachtet zu werden. Ich konnte nicht anders, als die Treppe hinaufzuschauen. „Sagen Sie mir, Mrs. McCreedy“, sagte ich. „Spukt es in diesem Haus?“

„Spuken?“ Sie lachte. „Oh, nein, Ma’am. Dieses Haus ist viel zu neu, als dass es hier spuken könnte. Erst 1890 fertiggestellt. Das ist zu jung, um sich einen oder zwei Geister zu verschaffen, selbst wenn dem Herrn ein ansässiger Geist gefallen würde, um seinem Schloss etwas mehr Atmosphäre zu verleihen. Nun, in Irland habe ich genug heimgesuchte Orte gesehen und ich nehme an, Sie auch. In der Nähe unseres Dorfs gab es eine Schlossruine und die Einheimischen schworen, dass sie eine weiße Gestalt auf den Zinnen gesehen hätten. Eines Nachts haben meine Freundinnen und ich eine Mutprobe gemacht. Als wir näherkamen, hörten wir dieses unheimliche Stöhnen und sind um unser Leben gerannt. Wenn ich jetzt zurückblicke, schätze ich, dass es eine Kuh war.“ Sie hielt lachend inne. „Ach, nun, ich habe keine Zeit für Klatsch. Ich habe Arbeit zu erledigen. Aber kommen Sie zur Tee-Zeit wieder, dann können Sie mein frischgebackenes Sodabrot probieren. Ich werde für den Herrn eine ganze Menge backen. Er mag sein Sodabrot besonders, jawohl, und er sagt, ich verstünde mich aufs Backen.“

Damit schob sie uns beinahe zur Haustür hinaus und schloss sie entschieden hinter uns.