Leseprobe Mord auf Coney Island

Eins

New York, August 1902

Da war es wieder, dieses verrückte Lachen. Ich blickte mich um, konnte aber nicht ausmachen, woher es kam. Es schien ein Teil der Dunkelheit selbst zu sein. Schwarzes Wasser schwappte über meine Füße, als ich auf den Steg aus filigranen Eisengittern trat. Ich glaubte, eine Kinderstimme „Rette mich, rette mich“ rufen zu hören und ging darauf zu. Doch unter mir sah ich gesichtslose Gestalten. Sie streckten mir ihre weißen Arme entgegen und riefen: „Hilf uns zuerst.“

Das Lachen wurde lauter, bis es mich überwältigte. Ich rannte los. Wasser spritzte unter meinen Füßen und als ich auf meine Schuhe hinabblickte, sah ich, dass sie schwarz waren. Da begriff ich, dass es gar kein Wasser war. Es war Blut.

Ich erwachte mit klopfendem Herzen und richtete mich auf. Meine Hände klammerten sich an die kühle Wirklichkeit der Laken, ehe mir bewusst wurde, dass ich in meinem Zimmer war. Während sich die Stille des leeren Hauses um mich herum in mein Bewusstsein drängte, saß ich eine Weile reglos da und fragte mich, was dieser Traum mir sagen wollte. Ich träumte ihn in dieser Woche schon zum dritten Mal. Beim ersten Mal hatte ich es auf ein exotisches, mongolisches Essen bei meinen Freundinnen auf der anderen Seite des Patchin Place geschoben (sie durchlebten gerade eine nomadische Phase), aber da ich nun zum dritten Mal dasselbe geträumt hatte, musste mehr als meine Verdauung dahinter stecken.

In meiner Heimat in Irland waren Träume immer sehr ernst genommen worden. Meine Mutter wäre auf der Stelle in der Lage gewesen, diesen zu deuten. Wobei ich glaube, dass ihre Interpretation dadurch beeinflusst worden wäre, dass ich in ihren Augen ungezogen war, die Älteren nicht respektierte und auf ein schlimmes Ende zusteuerte. Doch ich erinnere mich an die Frauen, die bei einer Tasse Tee in unserem Cottage zusammengesessen und erörtert hatten, ob der Traum von einer schwarzen Kuh von zukünftigem Reichtum oder einem Todesfall in der Familie kündete. Was hätten sie wohl zu einem Meer aus Blut gesagt? Ich erschauderte und schlang die Arme um mich.

Mein Leben war sehr turbulent gewesen, seit ich von meinem Auftrag am Hudson zurückgekehrt war, doch ich konnte mir nicht erklären, was einen solch entsetzlichen Alptraum auslösen mochte. Natürlich war da mein furchteinflößendes Martyrium im Fluss. Das könnte für einen Traum von Wasser verantwortlich sein. Und ich hatte die kleine Bridie O’Connor beinahe an den Typhus verloren. Sie hatte sich noch immer nicht vollständig erholt und war nach Connecticut in ein Lager für kränkliche Kinder geschickt worden, geleitet von den Damen aus dem Siedlungsbau in der 6th Avenue. War es ihre Stimme, die ich im Traum gehört hatte? Rief sie nach mir, damit ich zu ihr kam? Hätte ich aufs Land rausfahren sollen, um bei ihr zu sein?

Ich stand auf und lief zum Treppenabsatz. Unter meinen nackten Füßen spürte ich das kalte Linoleum. Ich hielt an der Tür inne, hinter der Bridie und Shamey gelebt hatten und erwartete beinahe, den gleichmäßigen Atem der Kinder zu hören. Doch das einzige Geräusch war das rhythmische Ticken der Uhr unten auf dem Kaminsims. Ich zitterte plötzlich, obwohl es noch Hochsommer und die Nacht warm war. Ich kehrte ins Bett zurück, hatte aber zu viel Angst, um wieder einzuschlafen. Mir ging auf, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben allein in einem Haus war. Normalerweise wäre ich stolz gewesen, die Herrin meines eigenen Hauses zu sein, aber im Augenblick verspürte ich nichts als überwältigende Einsamkeit. Ich saß da, hatte die Knie an meine Brust gezogen und starrte aus dem Fenster auf die tanzenden Schatten an der Hauswand auf der anderen Seite der Gasse. Als sich am Himmel ein erster Streifen der Morgendämmerung zeigte, stand ich auf, machte mir eine Tasse Tee und beobachtete aus dem Augenwinkel das Fenster, bis ich meine Nachbarin Gus herauskommen sah, die bei der Clement Family Bakery um die Ecke in der 6th Avenue ihre Frühstücksbrötchen holte.

Ich brauchte gerade dringend Gesellschaft. Ich wusste, dass ich in ihrem Haus immer willkommen war, aber mein Stolz und der Ekel über meine eigene Schwäche ließen nicht zu, dass ich zu dieser frühen Stunde ungebeten bei ihnen hereinplatzte oder ihnen von dem Traum erzählte. Also wartete ich, bis Gus zurückkehrte, öffnete unter dem Vorwand Krümel auszuschütteln die Haustür und täuschte dann angenehme Überraschung vor, als ich ihr begegnete.

„Schau mal, wen ich gerade gefunden habe, liebste Sid“, rief Gus, als wir durch den Flur in ihre helle und luftige Küche kamen. Zu dieser Uhrzeit war sie noch kühl. Die Terrassentüren standen offen und der süße Duft der Heckenkirschen rang mit dem verführerischen Geruch frischen Kaffees.

Sid stand am Herd und trug an diesem Morgen einen smaragdgrünen Morgenrock aus Seide und eine weite, schwarze Hose, die aussah, als würde sie in einen Harem gehören. Ihr schwarzes Haar, das sie wie den Pagenschnitt eines Kindes glatt und kinnlang trug, vervollständigte das bemerkenswerte Bild.

„Molly, meine Süße. Wie schön, dich zu sehen. Du siehst blass aus. Setz dich, trink einen Kaffee und nimm dir ein warmes Croissant.“ Sid warf mir ein strahlendes Lächeln zu, goss zähflüssige, trübe Flüssigkeit in eine Tasse und reichte sie mir. Ich trank einen Schluck und gab wie immer vor, dass ich meinen Kaffee genau so mochte: mit der Konsistenz und dem Geschmack von East-River-Schlamm. Sid bestand morgens immer auf türkischen Kaffee und französische Croissants. Gegen die Croissants hatte ich nichts einzuwenden, aber den Kaffee hatte ich nie zu schätzen gelernt.

Ich setzte mich auf den Stuhl, den Gus mir angeboten hatte und nahm mir eines der noch warmen Croissants aus ihrem Brotkorb.

„Und warum bist du heute schon zu so früher Morgenstunde auf den Beinen?“, fragte Gus.

„Ich habe vergangene Nacht nicht gut geschlafen.“ Soviel war ich bereit zuzugeben. „Ich musste einfach mal aus dem Haus und frische Luft schnappen.“

„Du vermisst die O’Connors, das ist der Grund“, sagte Gus.

„Ganz sicher nicht“, entgegnete ich empört. „Ich habe den Großteil meines Lebens damit verbracht, mich um die Kinder anderer zu kümmern. Ich bin froh, davon mal eine Pause zu bekommen.“

Der wissende Blick, den Sid und Gus austauschten, entging mir nicht.

„Und überhaupt, sie werden bald wieder zurück sein, wenn Bridie sich erholt hat und wieder bei Gesundheit ist“, fuhr ich fort. „Sie macht prächtige Fortschritte, müsst ihr wissen. Und in der Zwischenzeit mache ich mir ernste Gedanken über meine Zukunft.“

Sie blickten sich wieder an, diesmal amüsiert.

„Hast du das gehört, Gus? Ernste Gedanken über die Zukunft. Meinst du, sie wird noch einmal über den Antrag des ernsten Mr. Singer nachdenken?“

Ich schnappte mir die New York Times, die auf dem Tisch lag. „Würdet ihr zwei bitte still sein? Warum denkt gerade ihr, dass die Zukunft einer jungen Frau unmittelbar mit einem Heiratsantrag verknüpft sein muss? Ich habe keine Absicht, irgendeinen Antrag anzunehmen, egal ob anständig oder unsittlich.“

Dann schlug ich die Zeitung auf, vergrub mich im Anzeigenteil und ignorierte ihr Gekicher.

„Wie klingt Nebraska?“ Ich blickte erwartungsvoll aus der Times zu ihnen hinüber und sah zwei Gesichter, die mich fassungslos anstarrten.

„Nebraska?“, fragte Gus.

„Ja, hört euch das an: ‚Lehrerin gesucht für Einklassenschule. Arbeitsantritt August. Muss unverheiratet, unbelastet, christlich und von makellosem Charakter sein. Referenzen benötigt. Unterkunft wird gestellt. Bewerbung an die Schulbehörde, Spalding, Nebraska.‘“ Ich hielt inne und sah auf. Meine Freundinnen lächelten immer noch.

„Liebste Molly, willst du andeuten, dass du eine Schullehrerin in Nebraska werden willst?“, fragte Sid und schob sich ihren Bob aus dem Gesicht.

„Warum nicht?“, fragte ich. „Glaubt ihr, ich wäre einem Leben im Grenzland nicht gewachsen? Wo ist Nebraska eigentlich?“

Bei dieser Frage brachen die beiden in heiteres Gelächter aus. Gus streckte den Arm aus und tätschelte meine Hand. „Du bist unvergleichlich, meine Süße“, sagte sie. „Wer würde uns zum Lachen bringen, wenn wir dich aus unseren Fängen entkommen ließen?“

„Und woher kommt überhaupt diese plötzliche Sehnsucht nach dem Grenzland?“ Sid hatte Aprikosenmarmelade auf einem Croissant verteilt und blickte auf.

„Ich habe New York City satt. Das Leben ist zu kompliziert geworden.“

„Und du glaubst, es wäre weniger kompliziert, wenn du auf dem morgendlichen Schulweg mit deiner Bibel Grizzlys erschlagen oder verliebte Pioniere abwehren müsstest, die sich nach einer Frau sehnen?“, fragte Sid.

Ich legte die Zeitung weg und seufzte. „Ich weiß es nicht. Ich will einfach irgendwo weit weg neu anfangen. Daniel Sullivans abscheuliches Gesicht nie wiedersehen müssen. Mir nicht mehr einreden müssen, dass ich Jacob Singer nicht heiraten will, so wohlerzogen und ernst er auch sein mag.“

„Ich möchte meinen, dass man diese beiden Dinge erreichen kann, auch ohne nach Nebraska zu gehen“, sagte Gus. „Wenn du endlich diese verrückte Vorstellung aufgegeben hast, Privatdetektivin zu werden, können wir dir sicher bei einem Neuanfang hier in der Stadt helfen. Aber wenn du auf deine Flucht bestehst, kann ich gewiss einige Kontakte in Boston für dich aktivieren, selbst wenn meine Verwandtschaft nichts mehr von mir wissen will.“

Ich blickte in Gus’ süßes, elfenhaftes Gesicht, das von einem Schopf aus weichen, hellbraunen Locken eingefasst war, und lächelte. „Ihr seid wirklich viel zu gut zu mir. Ich verdiene eure Freundschaft nicht. Ich komme bloß vorbei und unterbreche euer Frühstück mit Gejammer und Beschwerden.“

„Unsinn“, sagte Sid. „Stell dir nur mal vor, wie geistlos und gewöhnlich unser Leben ohne dich wäre.“

Da Sid und Gus den ungewöhnlichsten Lebensstil pflegten, der mir je zu Gesicht gekommen war, musste ich bei dieser Aussage lächeln. Ich sollte wohl erwähnen, dass ihre echten Namen Elena Goldfarb und Augusta Mary Walcott sind, von den Walcotts in Boston. Beide Familien hatten sie von finanzieller Unterstützung abgeschnitten. Doch dank einer üppigen Erbschaft von Gus’ Großtante, einer Suffragette, führten sie ein herrlich ungewöhnliches Leben in Greenwich Village. Gus versuchte, sich als Malerin einen Namen zu machen, während Sid gelegentlich linke Artikel verfasste. Meistens hatten sie einfach ihren Spaß und luden Schriftstellerinnen und Künstler zu wilden und extravaganten Partys ein. Sie hatten mich unter ihre Fittiche genommen, als ich noch neu in der Stadt gewesen war, und behandelten mich seitdem wie eine verwöhnte jüngere Schwester. Als ich sie so betrachtete, wurde mir bewusst, wie ungern ich ihre Gesellschaft hinter mir lassen würde.

„Na gut“, gab ich griesgrämig nach, „vielleicht nicht Nebraska.“

Sid ging zum Herd und holte die Kaffeekanne. „Trink noch eine Tasse Kaffee. Dann geht es dir besser“, sagte sie.

„Ich habe die hier noch gar nicht ausgetrunken“, sagte ich eilig.

„Mal überlegen.“ Gus stellte ihre Tasse ab und starrte Sid an. „Welche Arbeit könnten wir für sie finden? Ein Buchladen vielleicht?“

„Zu trostlos. Nicht lebendig genug.“

„Ryan könnte ihr helfen, am Theater etwas zu finden. Das würde ihr gefallen.“

„Ryan ist arbeitslos und gerade selbst sehr knapp bei Kasse.“

„Nun, was erwartet er auch, wenn er ein Stück schreibt, das über das amerikanische Theaterpublikum herzieht?“

Ich blickte von einer zur anderen, amüsiert, weil ich in dieser Debatte nicht zu Rate gezogen wurde.

„Ihr versteht es nicht“, mischte ich mich schließlich ein. „Es geht nicht um einen Berufswechsel. Ich mache mir jedes Mal, wenn ich das Haus verlasse, Sorgen, dass Daniel Sullivan draußen vor der Tür herumschleicht. Oder auch Jacob.“

„Jacob schleicht nicht herum, oder? So ein Mann scheint er mir nicht zu sein“, sagte Sid.

„Nein“, räumte ich ein. „Er ist immer sehr gesittet. Erwartet geduldig meine Entscheidung.“

„Und ich glaube nicht, dass wir Daniel in letzter Zeit hier herumschleichen sahen, oder?“ Sid wandte sich an Gus. „Nein, zumindest seit einigen Tagen nicht mehr. Vielleicht hat er resigniert aufgegeben.“

„Er schreibt mir noch immer“, sagte ich. „Mindestens einen Brief am Tag. Ich werfe sie alle in den Müll, ohne sie zu öffnen.“

„Das nenne ich hingebungsvoll“, sagte Gus.

„Gus! Wir reden über Sullivan den Schwindler! Der Mann vereint all die schlechten Eigenschaften des männlichen Geschlechts in sich – unzuverlässig, verführerisch und ein ausgewachsener Schurke“, sagte Sid erbittert. „An einem Tag versichert er Molly, dass er seine Verlobung gelöst hat, und am nächsten rennt er wieder zu dieser verwöhnten Arabella zurück, kaum dass sie mit dem Finger schnippt. Molly hat völlig recht damit, ihn zu ignorieren. Und Jacob Singer auch. Er mag vorgeben, dass er nicht mehr unter der Knute seiner Familie steht, aber ich kenne jüdische Familien, glaubt mir.“

Da sie aus einer stammte, glaubte ich ihr durchaus.

„Es ist nicht nur das“, sagte ich. „Ich möchte nicht bloß aus Bequemlichkeit und zur Absicherung heiraten. Bei Jacob fehlt einfach der Funke. Er ist ein guter Mann. Er wird einer jungen Frau ein guter Ehemann sein, aber nicht mir.“

„Ganz genau“, sagte Sid. „Wenigstens sind wir uns einig, dass Frauen sich nicht an einen Mann binden müssen, um glücklich zu werden.“ Sie sah mit einem Lächeln zu Gus hinauf.

Ich stand auf und ging zu den Verandatüren hinüber. Die ersten kräftigen Strahlen der Sommersonne tauchten die Backsteinmauer am Ende des winzigen Gartens in kräftige Farben. „Ich wünschte, ich wüsste, was ich will“, sagte ich schließlich. „Manchmal glaube ich, ich muss verrückt sein, weil ich versuche, die Privatdetektei weiterzuführen. Aber wenn ich an einem Fall arbeite, ist das aufregend und ich fühle mich lebendig.“

„Wenn du nicht gerade um dein Leben ringst, erschossen, ertränkt oder von Brücken gestoßen wirst“, sagte Gus trocken.

Ich grinste. „Dann ist es eben manchmal etwas zu aufregend. Aber ich kann mir nicht vorstellen, den ganzen Tag an einem Schreibtisch zu sitzen. Oder eine Gouvernante für verzogene Kinder zu sein, oder eine Hausfrau, wenn wir schon dabei sind. Mir fällt keine andere Arbeit ein, die mir Freude macht oder mich davon abhält, Daniel zu begegnen.“

„Ich verstehe nicht, warum du dir solche Sorgen darum machst, Captain Sullivan zu begegnen“, sagte Sid. „Du bist doch auch sonst eine Draufgängerin, die keine Konfrontation scheut und sagt, was sie denkt, Molly. Du hast bereits Anarchisten und Gangmitgliedern gegenübergestanden, ohne mit der Wimper zu zucken. Du hast doch sicher keine Angst vor einem simplen Captain der Polizei, oder?“

„Keine Angst, nein.“ Ich sah weg, um ihrem Blick auszuweichen. „Ich verliere bloß jeden Funken Menschenverstand, wenn er in der Nähe ist. Ich weiß, dass er mich bezirzen wird, ihm zu vergeben, und ich befürchte, schwach genug zu sein, um auf ihn zu hören.“

„Du bist eine starke, unabhängige Frau, Molly Murphy“, sagte Sid nachdrücklich. „Stell dich ihm, sag ihm, was du von ihm hältst, und bring es hinter dich.“

„Ihr kennt Daniel nicht. Es steckt zu viel irischer Schmeichler in ihm. Dieses Mal habe ich beschlossen, stark zu bleiben. Ihn nie mehr wiederzusehen ist die einzige Möglichkeit, das zu erreichen. Und ich fürchte, das bedeutet, die Stadt zu verlassen.“ Ich berührte Gus an der Schulter, als ich die Küche durchquerte. „Danke für das Frühstück. Ich bin belebt und erholt und werde jetzt Nebraska auf der Landkarte suchen.“

Ich verließ das Haus unter ihrem erneut anschwellenden Gelächter. Dann hielt ich inne und blickte den Patchin Place hinunter, um sicherzugehen, dass er menschenleer war, ehe ich zu meiner Haustür auf der anderen Straßenseite sprintete. Das war ganz sicher keine Art zu leben.

Stille umfing mich, als ich meine Haustür hinter mir schloss. Kein Gesang einer leisen, hohen Stimme, kein Shamey, der die Treppe herunterspringt und schreit: „Molly, ich verhungere. Kann ich etwas Brot und Schmalz haben?“

Meine Freundinnen hatten recht. Ich vermisste die O’Connor-Kinder. Sie waren eine Belastung gewesen, seit ich in New York angekommen war, aber ich fühlte mich auch für sie verantwortlich, da sie im Grunde mein Leben gerettet hatten. Ich hatte mich als ihre Mutter ausgegeben, um sie von Irland aus über den Atlantik zu bringen, da ihre echte Mutter erfahren hatte, dass sie an der Schwindsucht starb und deshalb nicht reisen durfte. So war ich in der Lage gewesen, Irland zu entfliehen, wo mir die Polizei auf den Fersen gewesen war. Daher konnte ich sie nicht zurücklassen. Die armen, kleinen Dinger, ganz ohne Mutter. Seamus und der junge Shamey waren aufs Land gefahren, um Bridie bei ihrer Genesung Gesellschaft zu leisten. Seamus hatte gehofft, Arbeit auf einer Farm zu finden, um sie über Wasser zu halten.

Als ich so gedankenverloren dastand, plumpste die Morgenpost auf die Fußmatte. Ich hob die beiden Briefe auf. Der erste, mit Daniels schwarzer, energischer Handschrift wanderte direkt in den Mülleimer. Der zweite war in einem kindlichen Gekritzel geschrieben, das ich nicht erkannte, und großzügig mit Tintenkleksen übersäht. Ich öffnete ihn und sah, dass er von den O’Connors kam.

Liebe Molly,

Mein Pa hat mir gesakt, das zu schraiben, weil er nich gut schraibt. (Der kleine Shamey hatte offensichtlich noch nicht über die Maßen von seinen neuerlichen Schulbesuchen profitiert.) Uns geht es hir gut. Bridie ist wiider auf den Bainen. Pa und ich schlafen in der Schoine und helfen dem Farmer bei der Ernte. Sie sollten mich sehen, Molly. Ich kann wi ein Mann die großen Heuballen heben. Pa gefällt es hir so gut, er sagt, er will gar nicht mehr in die Statt zurück, wo es nur Gangs und Krankhaiten und so giebt. Er versucht, hier auf der Farm eine Stelle fürs ganze Jar zu bekommen. Ich wünschte, Sie könnten hierher zu uns komen, Molly.

Darunter stand in noch unleserlicher Schrift:

Ohne Sie scheint es nicht dasselbe zu sein, Molly. Ich weiß, dass es zwischen uns keine Liebe gibt, aber wir kommen gut miteinander aus, oder? Und für die Kinder sind Sie schon wie eine Mutter.

 

Ich legte den Brief hastig auf dem Küchentisch ab. Wenn ich das richtig verstand, hatte ich jetzt drei unerwünschte Verehrer. Ich wünschte, ich hätte die Times nicht drüben in der Nummer 9 gelassen. Nebraska klang von Minute zu Minute verlockender!

Zwei

Eine Stunde später hatte ich eine wichtige Entscheidung getroffen. Ich würde nicht länger Trübsal blasen und in Selbstmitleid versinken. Sid hatte recht. Mein ganzes Leben lang war ich eine Kämpferin gewesen, kein Feigling. Ich sollte mich Daniel stellen, ein für alle Mal. Ich würde den Traum der vergangenen Nacht auf schlechte Verdauung schieben und mein Leben weiterleben. Ich beschloss, diese bedeutsame Entscheidung zu feiern. Gus und Sid waren so gut zu mir gewesen und ich hatte ihre Großzügigkeit genossen, ohne viel zurückzugeben. Also würde ich ihnen heute Abend ein Festmahl kochen, als Dankeschön. Außerdem würde es mich ablenken, wenn ich mich beschäftigte.

Ich würde nicht versuchen, mit ihren exotischen Speisen zu konkurrieren, sondern beschloss, dass ich mit kaltem Huhn und einem Salat an einem heißen Sommerabend nichts falsch machen konnte. Hühnerfleisch war ein Luxusgut, dass ich mir mit meinen momentanen Geldmitteln kaum leisten konnte. Ich hatte keinen Auftrag mehr bekommen, seit ich vor mittlerweile fast einem Monat von dem Anwesen am Hudson zurückgekehrt war. Und man schuldete mir immer noch mein Honorar für diesen Auftrag. Aber da es Daniel Sullivan war, der mir dieses Honorar auszahlen musste, würde ich lieber verhungern als danach zu fragen. Mein Verhalten könnte wohl als kindisch ausgelegt werden, aber ich war entschlossen, dieses Mal hart zu bleiben.

Ich setzte mich, um eine Einladung an die Damen Goldfarb und Walcott zu verfassen, in der ich darum bat, mich um acht im Patchin Place 10 für ein Abendessen mit ihrer Gesellschaft zu beehren. Dann brachte ich sie persönlich an ihre Haustür. Sie willigten ein und ich machte mich auf den Weg zu einem koscheren Metzger in der Bowery, bei dem das Huhn frisch geschlachtet wurde und nicht tagelang zwischen den Fliegen hing. Ich würde auch beim Postamt am Broadway vorbeischauen, um mich nach Post für Paddy Riley zu erkundigen, dem früheren Besitzer von P. Riley and Associates, von dem ich die Privatdetektei geerbt hatte. Ab und zu kam immer noch ein Auftrag für ihn, und ehrlicherweise konnte ich die Arbeit im Augenblick dringend gebrauchen. Es war eine kostspielige Angelegenheit, ein Haus zu unterhalten und zwei hungrige Kinder durchzufüttern.

Von der gegenüberliegenden Straßenecke aus warf der osteuropäisch wirkende Turm des Jefferson Market einen Schattenstreifen in das Licht der frühen Morgensonne. Schon um diese Zeit heizten sich die Bürgersteige auf. Der Gestank von verrottendem Obst und Gemüse, das unter den Eisenrädern von Karren voll frischer Speisen zerquetscht wurde, wehte zu mir herüber. Einige Polizisten verließen das Revier, das sich im selben Haus befand. Ich wandte mich um und eilte in Richtung Washington Square davon. Daniel kam gerne mal aus ebendiesem Revier und ich hatte unangenehme Erinnerungen an eine Nacht in der Zelle dort, weil man mich für eine Liebesdienerin gehalten hatte.

An der Ecke verkauften Zeitungsjungen die heutigen Ausgaben.

LESEN SIE ALLE NEUIGKEITEN. DER EAST SIDE RIPPER SCHLÄGT WIEDER ZU.

Ich hatte mich so auf den Anzeigenteil der Times konzentriert, dass mir diese reißerische Schlagzeile entgangen war. Aber sie schrie mir von den Plakatwänden an der 5th Avenue entgegen:

Weitere Prostituierte ermordet. Der Ripper treibt wieder sein Unwesen.

„Sie fordern es ja geradezu heraus, oder?“, hörte ich eine Frau zu einer anderen sagen, während sie sich eine Ausgabe des Herald kauften. „Wenn man in diesem Metier arbeitet, weiß man, womit man rechnen muss.“

„Das sollte in einer anständigen Stadt nicht erlaubt sein“, stimmte ihre Begleiterin zu. „Auf Nimmerwiedersehen, sage ich da. Ich hoffe, er erwischt noch viele von ihnen.“

Ich erschauderte, als ich an ihnen vorbeieilte. Also war noch eine weitere Prostituierte ermordet worden. Das machte vier in diesem Sommer, so viele, dass die Presse jetzt vom East Side Ripper sprach, der in die Fußstapfen von Londons berüchtigtem Serienmörder trat. Da die Opfer Prostituierte waren, hatte es vor den jüngsten Morden wenig öffentliche Aufmerksamkeit gegeben. Viele Menschen teilten die Meinung der beiden Frauen, die ich gerade gehört hatte – solch unmoralisches Verhalten fordere die Vergeltung geradezu heraus.

Es war einfach, solche Verbrechen als Geschehnisse aus einer anderen Welt abzutun. Das hat nichts mit mir zu tun, Gott sei Dank. Das war die allgemeine Einstellung dazu. Doch ich hatte mit einigen dieser Frauen eine Nacht in der Gefängniszelle verbracht. Sie waren nett zu mir gewesen und ich konnte nur Mitleid empfinden. Diese traurigen, jungen Mädchen, die ihre unschuldigen Gesichter unter Rouge und Lippenstift verbargen. Ich hätte auch so enden können, als ich mittellos nach New York gekommen war.

Ich hatte gerade den Broadway erreicht und schloss mich dem Trott der Fußgänger an, die diese Straße zu jeder Tages- und Nachtzeit zu bevölkern schienen, als mich plötzlich das Gefühl überkam, verfolgt zu werden. Ich blickte mich um, sah aber niemanden, den ich erkannt hätte. Ich beschleunigte meine Schritte, wurde das Gefühl aber nicht los. Man könnte wohl sagen, dass ich mit dem sechsten Sinn der Iren zur Welt gekommen bin. Nun, er hatte mir schon früher gute Dienste geleistet und ich würde ihn jetzt nicht ignorieren. Die Schlagzeilen über den East Side Ripper blitzen in meinen Gedanken auf. Lächerlich, sagte ich mir. Diese Morde waren alle nachts verübt und die Leichen auf einer Straße abgelegt worden, die für ihre Freudenhäuser bekannt war. Ich war offensichtlich keine dieser Frauen. Es war helllichter Tag und ich befand mich auf dem Broadway. Ich war in Sicherheit.

Dennoch, als ich eine Möglichkeit sah, zwischen zwei Straßenbahnwaggons und einer Bierkutsche hindurch zu schlüpfen, ergriff ich sie und wechselte auf die andere Straßenseite. Das Gefühl wurde noch stärker als zuvor. Ich trat unter die Markise eines Gemüsehändlers, blieb stehen und musterte die Menschenmenge. Ich erkannte niemanden. Und sah auch niemanden, der wie ein East Side Ripper aussah. Nur gewöhnliche Hausfrauen, die ihre morgendlichen Einkäufe erledigten, ehe die Hitze des Tages zu intensiv wurde, Geschäftsleute auf dem Weg zu ihren Terminen, Kinder, die spielen gingen. Ich entdeckte einen jungen Police Constable, sein vertrauter Helm wippte über der Menge auf und ab, und war beruhigt. Ich konnte jederzeit um Hilfe rufen, wenn ich sie wirklich brauchte. Also lief ich weiter. Als ich Wanamaker’s erreichte, die Kurzwarenhandlung am Broadway, hielt ich an und gab vor, die Hüte im Schaufenster zu betrachten, während ich tatsächlich die Menschenmenge beobachtete, die hinter mir vorbeizog.

In diesem Augenblick packte mich eine Hand an der Schulter. Ich blickte mich panisch nach dem Polizisten um, dann stellte ich fest, dass ich in sein Gesicht hinaufstarrte, und es seine Hand war, die mich festhielt.

„Heilige Mutter Gottes“, rief ich. „Sie haben mich zu Tode erschreckt, Officer. Was glauben Sie, da zu tun? Sehe ich für Sie wie eine Taschendiebin aus?“

Sein kantiges, jungenhaftes Gesicht lief vor Verlegenheit rot an. „Das tut mir leid, Ma’am. Ich glaube, ich weiß, wer Sie sind. Miss Murphy, nicht wahr? Captain Sullivan hat mich zu Ihnen geschickt.“

„Captain Sullivan?“, stieß ich aus, während sich die Menge um uns teilte. „So eine Frechheit. Er wagt es nicht, mir persönlich gegenüberzutreten, also schickt er einen seiner Handlanger, ja?“

„Es tut mir leid, Miss“, wiederholte er. „Aber es ist wichtig. Captain Sullivan muss dringend mit Ihnen sprechen und Sie haben nicht auf seine Briefe reagiert.“

„Natürlich habe ich nicht auf seine Briefe reagiert und ich beabsichtige auch nicht, mit ihm zu sprechen. Das sollte mittlerweile recht deutlich geworden sein. Wir haben nichts mehr miteinander zu besprechen.“

„Also werden Sie nicht mit mir kommen, um mit ihm zu sprechen?“

Ich schüttelte den Kopf. „Auf keinen Fall. Sie können Captain Sullivan mitteilen, dass unsere Bekanntschaft beendet ist und ich nicht den Wunsch hege, je wieder mit ihm zu sprechen. Und wenn er mich weiterhin belästigt, werde ich mich bei seinen Vorgesetzten beschweren. Habe ich das klar genug ausgedrückt?“

Die Verlegenheit des jungen Constables verschärfte sich. „Dann habe ich keine andere Wahl, Miss. Ich befolge wohlgemerkt nur Befehle, aber ich nehme Sie fest.“ Mit diesen Worten ließ er Handschellen um eins meiner Handgelenke zuschnappen, ehe ich wusste, wie mir geschah.

Ich starrte voller Entsetzen und Empörung auf meinen Arm. „Jesus, Maria und Josef! Wie können Sie es wagen? Lassen Sie mich augenblicklich frei, sonst werde ich den größten Aufstand verursachen, den Sie sich vorstellen können.“

„Es tut mir wirklich leid, Miss Murphy, aber mir wurde aufgetragen, Sie zu Captain Sullivan zu bringen, und das werde ich tun, selbst wenn ich Sie wie einen Sack Kartoffeln auf der Schulter tragen muss.“

„Das will ich sehen“, sagte ich. „Jetzt lösen Sie augenblicklich dieses Teil.“

Um uns versammelte sich eine Menge.

„Brauchen Sie Hilfe, Officer?“ Ein vornehm aussehender Mann trat vor. „Soll ich Unterstützung für Sie anfordern?“

„Ich glaube, ich werde mit ihr fertig, vielen Dank“, sagte der Constable, „aber sie hat ein streitlustiges Temperament, das kann ich Ihnen sagen. Eine Liste von ausstehenden Haftbefehlen so lang wie Ihr Arm.“

„Hören Sie nicht auf ihn!“, schrie ich. „Ich werde gegen meinen Willen entführt. Ich bin eine anständige Frau. Ich habe nichts falsch gemacht.“

„Wenn Sie dieses Hansom-Taxi für mich ranwinken könnten, wäre ich Ihnen sehr verbunden“, sagte der Constable und wischte sich den Schweiß von der Stirn, während ich versuchte, mich aus seinem Griff zu winden.

Der Kutscher zügelte seine Pferde und ich wurde von helfenden Händen hineingestopft.

„Die Gräber, so schnell Sie können“, rief der Constable zum Kutscher hinauf und wir fuhren in lebhaftem Trott los.

„Die Gräber? Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?“, fragte ich und war plötzlich verängstigt. „Sie bringen mich ins Gefängnis? Unter welchem Vorwand? Ist das Daniel Sullivans Vorstellung von einem Scherz?“

Der Constable schüttelte den Kopf. „Das ist kein Scherz, Miss. Es ist todernst, fürchte ich, sonst hätte der Captain Sie nicht auf diese Weise abholen lassen. Er hatte keine Alternative. Er steckt in ernsten Problemen, Miss Murphy. Er wurde verhaftet, sitzt in den Gräbern ein und wartet auf seinen Prozess.“

Ich hatte aus dem Hansom-Taxi geschaut und mich gefragt, ob es irgendeine Fluchtmöglichkeit gab. Jetzt wirbelte ich zum Constable herum. „Daniel wurde verhaftet? Was hat er getan?“

„Ich kenne die Einzelheiten nicht genau, Miss. Das wird er Ihnen selbst erklären müssen. Ich weiß nur, dass die gesamte Polizeitruppe sich gegen ihn gewandt hat. Es gibt nur noch wenige von uns, denen er vertrauen kann, mich eingeschlossen. Deshalb hat er mich geschickt, um Sie abzuholen. Er braucht Ihre Hilfe.“

„Er verdient meine Hilfe nicht“, sagte ich.

„Aber Sie werden mit ihm sprechen, oder? Ich möchte nicht erleben, dass ein guter Beamter wie Captain Sullivan ins Gefängnis geht.“

Ich seufzte. „Na gut. Ich werde wohl mit ihm sprechen müssen.“ In meinem Köpf flüsterte eine Stimme, dass Daniel Sullivan eine Weile Gefängnis nicht schaden würde. Das geschähe ihm ganz recht. Doch sogar ich konnte es mit der Rache nicht so weit treiben. „Aber ich will, dass mir umgehend diese Handschellen abgenommen werden“, fügte ich hinzu. „Ich will nicht gesehen werden, wie ich in Handschellen das Stadtgefängnis betrete. Ich habe einen Ruf zu wahren.“

Der Constable grinste und ließ die Handschellen aufschnappen. „Tut mir leid, Miss. Captain Sullivan hätte mir nie verziehen, wenn ich Sie hätte entkommen lassen.“

Ich starrte aus der Droschke, während sie auf die Center Street einbog und vor dem beeindruckenden Säulenvorbau des Stadtgefängnisses anhielt, das allgemein als die Gräber bekannt war. Der Spitzname entsprang der Architektur, die angeblich die Kopie eines ägyptischen Grabmals war. Aber dieser Tage schwang bei dem Namen eine deutlich düstere Bedeutung mit. Menschen, die für eine Gefängnisstrafe hineingingen, kamen nicht immer lebendig wieder heraus.

Das Gebäude war bekanntermaßen feucht und die Überbelegung führte zu Typhus, Schwindsucht, Cholera – dieselben Krankheiten, die in den Wohnungen grassierten und sich bei der Sommerhitze verbreiteten.

„Da wären wir, Miss.“ Der Constable sprang hinaus und bot mir seine Hand an.

Es hatten weitreichende Renovierungsarbeiten stattgefunden, seit ich zuletzt hier gewesen war. Eine Wand war vollständig von einem Gerüst verdeckt und das Schlagen der Maurerhämmer hallte uns entgegen, als wir aus der Droschke stiegen. Eine Wolke aus feinem Staub hing in der Luft. Die Zeitungen hatten verkündet, dass das gesamte Gebäude im Schlamm versank, und jeden Augenblick über den Köpfen der Insassen zusammenzubrechen drohte. Wie viele Gebäude in New York, war es über einem ehemaligen Bachlauf oder See errichtet worden. Daher auch die stetigen Beschwerden über die Feuchtigkeit.

Ich hustete und hielt mir die Hand vor den Mund, als ich hineingeführt wurde. Innen war es dunkel und nach der Hitze, die von den Bürgersteigen zurückstrahlte, merklich kühler. Ich beobachtete einen Wortwechsel zwischen dem Constable und einem Beamten an einem Schreibtisch, konnte aber nichts verstehen. Letzterer sah auf und betrachtete mich, nickte, stand dann auf und holten einen riesigen Schlüsselring hervor.

„Dann hier entlang“, sagte er. „Passen Sie auf, wo Sie hintreten.“ Er führte uns einen langen, dunklen Flur hinunter und öffnete schließlich die Tür zu einem trostlosen und spartanisch eingerichteten Raum mit zwei Stühlen, die beide schon bessere Tage gesehen hatten. Er legte einen Schalter um und der Raum wurde in kaltes, elektrisches Licht getaucht. Die grüne Farbe an der Backsteinmauer blätterte an manchen Stellen ab, sodass das ursprüngliche Gemäuer mit interessanten Schimmelmustern zutage trat. Es roch modrig und feucht, mit einem Hauch von Urin. Wenn das Gebäude tatsächlich renoviert wurde, hatte man diesen Teil dabei eindeutig noch nicht erreicht.

„Warten Sie bitte hier“, sagte der Wärter. „Und nur zehn Minuten, für mehr werde ich nicht bezahlt.“ Er zog sich zurück und zog die Tür mit einem dumpfen Dröhnen von Endgültigkeit ins Schloss. Der Constable bot mir einen Stuhl an. Ich setzte mich und wartete eine gefühlte Ewigkeit. Jetzt, da ich Daniel wiedersehen würde, pochte mein Herz so heftig, dass ich kaum atmen konnte. Draußen war es so heiß gewesen, dass mein dünnes Nesselstoffkleid vom Schweiß etwas feucht geworden war. Jetzt zitterte ich. Einen schrecklichen Augenblick lang fühlte ich mich sogar so, als würde ich ohnmächtig werden. Da ich mein ganzes Leben lang noch kein Korsett getragen hatte, war ich nie anfällig für eine Ohnmacht gewesen, und das kalte, klamme Gefühl war erschreckend. Als ich mich zurücklehnte und die Augen schloss, hörte ich in der Ferne das Hallen von Schritten auf Steinboden. Dann folgte ein kratzendes Geräusch, während eine Trennwand an der gegenüberliegenden Seite des Raumes geöffnet wurde, und plötzlich starrte ich durch ein Eisengitter in Daniels Gesicht.

„Molly!“, rief er. „Du bist hier. Gott sei Dank.“