Leseprobe Moorgrab

Kapitel 1

Der Notruf ging um 15.36 Uhr am Sonntag, dem 9. August 2020, ein, wie später im Einsatzleitrechner der „Hanno”, der neuen Einsatzleitstelle in der Waterloostraße in Hannover, stand. Die Stimme des älteren Mannes war kaum zu verstehen. Doch ihr Klang, das Hecheln und die Stimmlage deuteten auf nichts Gutes, wie der leitende Beamte vom Dienst Gottlieb Franke, seines Zeichens Kommissar vom Lagedienst, an diesem Hochofensommertag erkannte. Er schob seit zwanzig Jahren Dienst in der Einsatzleitstelle. Früher war er Streifenpolizist gewesen. Es half bei der Einschätzung eines Notrufes, wenn man den Job auf der Straße gemacht hatte. Noch nie hatte er sich bei der Beurteilung der Brisanz eines Notrufes geirrt.

Auf seinem Bildschirm erschien die Straßenkarte. Auch wenn er den Einsatzort noch nicht kannte, so konnte er zumindest den nächsten Funkmast in der Nähe des Anrufers orten. Es lebe die Zeit des Mobilfunks. Dieser kam aus der Nähe von Mardorf am Steinhuder Meer.

„Sind Sie in Gefahr? Soll ich einen Rettungswagen schicken?“, fragte Franke.

„Nein … Gassi … Hand … tot …“

Schlecht, ganz schlecht, dachte Franke. Er spürte es in allen Gliedern, mit allen Sinnen, obwohl er nur die Stimme des Anrufers im Ohr hatte. 

„Wo genau sind Sie?“, fragte er nochmals. Seine erste Frage danach war unbeantwortet geblieben. Ob das an der schlechten Verbindung lag oder an der Aufregung des Anrufers, wusste er nicht.

„Totes … Wasser …“

Franke starrte konzentriert auf den Bildschirm. Der Mann schien sich nordöstlich vom Steinhuder Meer zu befinden, zwischen Mardorf und Schneeren. An der Straße zwischen den Orten lag ein See. Meinte er den mit „Totes Wasser”? Oder meinte er damit das Moor, Brackwasser? Schließlich lag Mardorf am Rande des Toten Moors. Er vergrößerte die Karte auf seinem Bildschirm. Am Moorweg entdeckte er ein paar kleinere Tümpel. Auch möglich. Oder befand sich der Anrufer direkt am Steinhuder Meer? Eher nicht, seinem Gefühl nach. Dann wäre bestimmt das Wort „Meer” gefallen. Das war in der Gegend einmalig, jeder würde es zur Lagebeschreibung verwenden. Oder auch nicht, wie sich Franke eingestehen musste.

„Sind Sie an einem See oder Tümpel oder am Steinhuder Meer direkt?“

Vielleicht konnte er doch noch ein paar genauere Infos aus dem Mann herausholen.

„Mo…“

Das klang weder nach See noch nach Tümpel oder Meer. Sondern nach Moor. Also befand er sich doch wohl eher im Moor östlich von Mardorf.

„Bleiben Sie ganz ruhig, ich schicke gleich eine Streife vorbei.“

Wieder schaute er auf die Karte. Irgendwo zwischen Mardorf und Neustadt am Rübenberge musste der Anrufer stecken. Dort gab es jede Menge Entwässerungskanäle und Moortümpel.

Herbert und Effi Lu, die Neue, frisch verbeamtet, vom Polizeistützpunkt Neustadt-Mardorf waren in der Nähe. Nur im Hochsommer und zur Hauptsaison war eine Streifenbesatzung vor Ort im Stützpunkt an der weißen Düne stationiert. Na, da würde es hinterher wieder eine nach Kotze stinkende Uniform geben. Auch dafür hatte er meistens den richtigen Riecher.

Er gab den Einsatzbefehl im Computer ein, sodass die beiden auf dem Display im Streifenwagen alles über ihren Einsatz lesen konnten. Wie erwartet kam bei den dürftigen Angaben zum Einsatzort gleich die Nachfrage per Funk.

Doch er konnte ihnen auch nicht mehr sagen.

 

Eine Viertelstunde hatten sie gebraucht, bis sie den wild winkenden älteren Mann mit pummeliger, ebenfalls älterer Frau an der Hand und Hund an der Leine neben einem Wasserloch an der Rote-Kreuz-Straße entdeckten. Nicht am Schneerener See und auch nicht im Toten Moor, sondern am Ortsrand von Mardorf.

Die Frau hatte den Kopf an die Schulter des Mannes gelehnt, schien zu vibrieren. Dadurch wirkte ihr Anblick verschwommen. Nur ihre für eine Frau in den Sechzigern erstaunlich kurze Shorts stach grellbunt und glasklar heraus. Blümchenmuster. Offenbar der Versuch, dem vermasselten Sommerurlaub am Steinhuder Meer statt auf dem Ballermann ein wenig südländisches Flair zu verleihen.

Effi Lu war aufgeregt. Endlich klang ein Einsatz spannend. Kein entlaufener Hund, besoffener Anwohner oder Taschendieb. Endlich konnte sie beweisen, was sie draufhatte. Sie wusste, dass die Kollegen sie nicht ernst nahmen. Mit Ach und Krach hatte sie die eins dreiundsechzig Mindestgröße für den Polizeidienst erreicht. Auch die Dicke ihrer Brillengläser war von der Kommission kritisch beäugt worden. Doch eine waschechte Chinesin mit deutscher Staatsbürgerschaft, die fließend Mandarin, Wu, Xiang und Kantonesisch sprach, war bei den wachsenden Touristenzahlen aus China nicht zu verachten. Und sie hatte den Bachelor an der Polizeiakademie als Jahrgangsbeste abgeschlossen. Nun lechzte sie danach, ihr Können im wahren Leben zu beweisen.

Der Mann hechelte, als er, mit zitternder Stimme und ausgestrecktem Zeigefinger auf einen kleinen Tümpel, vielleicht fünfzig Meter entfernt, deutend, etwas von einer Hand erzählte. Einer Hand. Nur Hand? Nur eine? Im Tümpel? Effi Lu schluckte. Egal, was sie gleich zu sehen bekommen würde, ihr durfte nicht übel werden. Sie würde sich nicht übergeben. Auf gar keinen Fall. Herbert wartete nur darauf, dass sie eine Schwäche zeigte. Dass sie versagte. Er hatte ein Riesentheater veranstaltet, als sie ihm als Besatzung für den Stützpunkt den ganzen Sommer über zugewiesen worden war. Hatte sich lustig über sie gemacht und war selbst von den Kollegen als Kindermädchen gehänselt worden. Was er ihr persönlich übel nahm. Das ließ er sie spüren. Die ganzen zwei Wochen schon, die sie gemeinsam Dienst schoben.

Auch heute hatte er noch kein Wort mit ihr gewechselt, und als sie am Kiosk am Steinhuder Meer ihren Pausenstopp eingelegt hatten, hatte er sie allein stehen lassen. Damit würde Effi klarkommen, sie hatte schon Schlimmeres erlebt. Aber wenn etwas schier unbegrenzt war, dann ihre Geduld. Zudem hatte sie eine harte Schale. Die ihr niemand, der sie so sah, zutraute. Sie würde es ihm schon noch zeigen. Der Moment würde kommen, und sie würde ihn nutzen.

Wie es aussah, war es jetzt so weit. Die erste echte Leiche in ihrem Berufsleben. Nein, im ganzen Leben. Also wenn man von Großmutter Li absah. Aber die war friedlich im Bett eingeschlafen.

Herbert, der sie wie immer ignorierte, wenn er sie nicht gerade belehrte, beruhigte den Mann und wies ihn an, an Ort und Stelle zu bleiben, bis sie zurückkämen. Das würde er tun. Er war so einer, der jeder Anweisung der Polizei Folge leistete. Mit seinen knielangen Piratenhosen, dem am Bauch zu engen Polohemd und der orangefarbenen Basecap stellte er den Prototyp des deutschen Urlaubers dar, fand Effi Lu. Davon hatte sie sich in den beiden Wochen am Meer, das keins war, überzeugen können.

Nebeneinander gingen sie in die gewiesene Richtung über die Wiesenkämpe zu dem Tümpel, der mehr einem Morast glich: Schwarzes Wasser verdichtete sich am Ufer zu Schlamm. Der Teich war nicht groß, aber rundum stark bewachsen. Weiden neigten ihre Kronen weit über das Wasser, und Wasserlilien hatten sich am Rand des Gewässers ausgebreitet. Zwischen der Straße und dem Ufer wucherten Brennnesseln. Über einen Meter hoch. Die Luft vibrierte vom Summen der unzähligen Stechmücken, die sich auf den stark schwitzenden Herbert stürzten. Der schlug wild um sich, konnte aber nicht verhindern, dass drei auf seinem Nacken saßen. Effi würde ihn nicht warnen.

Hinter sich hörten sie den Mann „Weiter, weiter“ rufen. Also gingen sie an der Seite entlang, bis sie eine freigetrampelte Stelle entdeckten, an der sie bis zum Ufer gelangen konnten. Ein Warnschild wies darauf hin, dass das Betreten der Wasserfläche lebensgefährlich sei. Effi Lu unterdrückte ein Schmunzeln. Zu gerne würde sie das Schild mit ihrem Handy fotografieren und auf Instagram posten.

Effi Lu schaute zurück zu dem Mann, der heftig nickte. Sie stolperte hinter Herbert her, der das Ufer bereits erreicht hatte und aufstöhnte, sich abwandte und übergab. Das würde Effi Lu nicht passieren. Sie schob ihren Kollegen beiseite und trat an den Rand des Morastes. Da entdeckte sie sie: eine Hand, die aus dem schwarzen Moorwasser gen Himmel ragte – mit einer schwarzen Kugel in der Größe eines Tennisballs darin.

Effi Lu würde sich nicht übergeben. Nein, sie nicht!

 

Effi Lu hatte sich tapfer in den Schlick gestürzt. Schließlich könnte der Mensch, zu dem die Hand gehörte, trotz allem noch leben. Doch sie kam nicht weit. Der Schlick setzte sie fest, Herbert musste sie herausziehen. Die Hand hatte sie gar nicht erst erreicht. Das Schild war doch nicht so absurd, wie Effi Lu geglaubt hatte. Sie würde es nicht posten.

Auch ihre herbeigeeilten Kollegen vom Polizeikommissariat Neustadt schafften es nicht, bis zu der Hand zu gelangen. Sie mussten die freiwillige Feuerwehr Mardorf zu Hilfe rufen. Sie selbst hatte mit ihren schwarz eingefärbten Beinen ein müdes Lächeln bei den Kollegen hervorgerufen, das Hemd von Herbert erstaunte Blicke. Bei ihr waren nur die Beine verdreckt. Darauf war sie stolz!

Mühsam hatten zwei Feuerwehrleute mithilfe eines Schlauchbootes die Leiche erreicht und ins Boot hineingezogen. Der Albtraum jeder Spurensicherung. Zusammengekrümmt mit ausgestrecktem Arm ähnelte der Tote mehr einer in absurder Haltung erstarrten dunkelhäutigen Schaufensterpuppe als einem Menschen, so ebenmäßig schwarz, wie der Morast ihn freigegeben hatte.

Zurück auf festem Boden erkannten sie sofort, dass sie die große Besetzung rufen mussten. Der Hinterkopf der Leiche war weggesprengt.

Während Herbert, inzwischen trotz der unerträglichen Hitze mit Uniformjacke über dem vollgekotzten Hemd, sich schon einmal das Paar, das sich aus Neugier näher herangetraut hatte, vornahm und die Kollegen aus Neustadt den See weiträumig absperrten, war Effi Lu von dem Ball in der Hand des Toten fasziniert. Er war erstaunlich sauber geblieben. Seine glatte, matte Oberfläche hatte eine orange Rille um seinen Äquator und war weiß beschriftet. Also kein gewöhnlicher Ball. Aber was dann? Auch wenn sie es besser wusste, konnte sie sich nicht bremsen. Herbert war abgelenkt, die Kollegen auf der anderen Seite des Sees außer Sichtweite. Also ging sie ganz dicht ran an das Teil. Beäugte es von allen Seiten.

Und dann fiel der Groschen. So etwas hatte sie schon einmal in irgendeiner Netflix-Serie gesehen: Es handelte sich um ein Sonargerät zum Angeln.

Jetzt wird es spannend, dachte Effi Lu. Ein vorsichtiger Blick zu Herbert zeigte ihr, dass er noch immer abgelenkt war. Da sie ohnehin stets ihre Chirurgenplastikhandschuhe trug, war ihr schlechtes Gewissen eher formal, als sie das Gerät aus der Hand des Toten nahm und es begutachtete. An ihm war noch der Rest eines Nylonfadens befestigt. Damit konnte man das Sonar an der Angel anbinden und weit über dem See nach Fischen suchen, erinnerte sie sich. Doch wo war die Angel? Und wo die Fische? In diesem schwarzen, toten Gewässer würden die wohl kaum einen Tag überleben. Also wonach hatte der Tote dann mit dem Sonar in dem Tümpel gesucht?

Sie sah sich um, bis sie einen langen Holzstock in den Schwertlilien entdeckte. Gerade etwas außerhalb ihrer Reichweite. Aber was machte das noch aus? Ihre Schuhe und Hose waren ohnehin ruiniert. Sie setzte sich auf ihren Po und ließ die Beine vorsichtig in den Wasserschlick gleiten. Einen halben Meter vom sicheren Ufer entfernt, hatte sie noch festen Boden unter den Füßen. Vorsichtig streckte sie sich nach der Rute, an deren dickem Ende ein rechteckiger Gegenstand befestigt war, und zog die Konstruktion zu sich heran und mit sich ans Ufer.

Das Display des mit Panzerklebeband an den Stock getapten Handys war noch eingeschaltet, aber im Energiesparmodus. Effi Lu aktivierte den Bildschirm und scrollte sich durch das Menü, bis sie die Aufnahmen fand, die der Mann vor seinem Tod von dem Tümpelgrund gemacht haben musste.

Und erstarrte, als sie darauf ein großes, scharf abgegrenztes Rechteck entdeckte.

Kapitel 2

Kriminalhauptkommissar Montag hatte sich wie verrückt auf den Urlaub gefreut. In drei Tagen sollte es losgehen nach Florida, in die Everglades und zum Baden nach Key West. Tropische Nächte mit eiskalten Longdrinks an einer Bar unter Palmen, die im Bett neben Svetlana enden sollten. So weit der Plan. Lange hatte er dafür gespart. Zum Hochzeitstag hatte er sie damit überrascht. Und nun das.

Da hatte er endlich im dritten Versuch die Frau seines Lebens gefunden, mit der er es bisher sage und schreibe fünfzehn Jahre ausgehalten hatte, ein Rekord. Die erste Ehe endete, weil er fremdgegangen war, die zweite endete, weil er fremdgegangen war. Mit dieser Frau hatte er alt werden wollen. Doch sie war nicht da. Nicht zu Hause, wo sie eigentlich sein sollte. Es war weit nach Mitternacht, und er hatte sie im Bett vermutet.

Er hätte ihr Fehlen nicht einmal bemerkt, wäre er nicht mitten im Dienst umgekippt. Einfach so. Erst hatte es in seiner Brust gebrannt, dann war ihm die Luft ausgegangen. Angina Pectoris, wie der Arzt im St.-Josefs-Hospital bescheinigte. Vorstufe zum Herzinfarkt, hatte er gesagt. Nach Hause hatte der ihn geschickt und ihn angewiesen, in den nächsten Tagen einen Kardiologen aufzusuchen. Was Montag natürlich nicht machen würde. Schließlich wollte er in Urlaub fliegen.

Das alles war schlagartig vergessen gewesen, als er statt seiner treusorgenden Gattin eine leere Wohnung vorgefunden hatte. Aufs Sofa vor den Fernseher hatte er sich gefläzt, sich Talkshow um Talkshow reingezogen, bis sie morgens um vier endlich heimgekommen war.

Aufgeregt hatte sie sich, dass er sauer war. Nur weil sie mal mit ein paar Freundinnen ausgegangen war, hatte sie sich empört. Wo er doch so häufig nachts dienstlich unterwegs war. Und sie immer zu Hause auf ihn warten musste.

Er wäre ein schlechter Ermittler, wenn er nicht nachgebohrt hätte. Und das war er nicht. Im Gegenteil. Lange hatte sie nicht standgehalten, bis ihr der erste Hinweis rausgerutscht war, dass auch ein Mann dabei gewesen war. Wer, hatte sie nicht gesagt. Trotz allem Nachbohrens. Obwohl er all seine Techniken angewandt hatte, die er sich im Laufe der Jahre als Kripobeamter angeeignet hatte. Was ihn noch misstrauischer gemacht hatte. Ihr musste es mehr als wichtig sein, dass er nicht herausfand, mit wem sie unterwegs gewesen war.

Erst war er sprachlos, dann fassungslos und zum Schluss nur noch sauer gewesen. Wie hatte er nur übersehen können, dass seine Frau abglitt, wegdriftete aus ihrem schönen, gemeinsamen Leben? Sicher, ihm war aufgefallen, dass sie neuerdings nicht immer auf ihrem Handy erreichbar war. Ihre Erklärungen hatten aber plausibel geklungen. Dass sie nicht mehr so begeistert beim Sex mit ihm war. Er schob es auf die beginnende Menopause. Und überhaupt war er viel zu beschäftigt damit gewesen, das Geld heranzuschaffen, mit dem sie sich kaufen konnte, was immer sie wollte. Und nun das. Nicht einmal erkundigt hatte sie sich, warum er schon zu Hause war. Als er die Reise angesprochen hatte, hatte Svetlana ihn nur mit leerem Blick angesehen.

Am Morgen, als er aus der halben Ohnmacht erwacht war, die ihn sanft hinweggetragen hatte aus diesem Schlamassel, war sie fort gewesen. Ebenso wie ihr Koffer, ihre beste Kleidung und sein Wagen. Na gut, ihr gemeinsamer Wagen. Den er ihr überlassen hatte. Er radelte immer mit seinem Rennrad zur Dienststelle, damit sie mehr Freiheiten hatte.

Das hatte er nun davon. Ein anderer Mann. Dabei war doch er der chronische Fremdgänger gewesen. Zumindest früher. Vor Svetlana. Er war noch immer fassungslos. In aller Ruhe, zu der er sie gar nicht für fähig gehalten hatte, hatte sie ihm erklärt, dass sie Abstand brauche nach dem Drama, das er gerade veranstaltet hatte.

Dass sie das so wörtlich gemeint hatte, hatte er in der Nacht nicht geglaubt. Nun musste er das.

 

Er zwang sich zur Dienststelle, schließlich musste er als Leiter der Ermittlungsgruppe des zentralen Kriminal- und Ermittlungsdienstes der Polizeiinspektion Osnabrück ein gutes Vorbild sein. Die Kollegen tuschelten bei seiner Ankunft mehr als sonst. Irritiert schaute er sich um. Heimliches Grinsen hinter vorgehaltener Hand, ein Kichern hinter seinem Rücken. Normalerweise schauten die Kollegen kaum hoch, wenn er die Dienststelle betrat. Doch nun war ihr Verhalten anders. Seltsam. Erwartungsfroh.

Ihn traf fast der Schlag, als er sich an seinen Schreibtisch setzte: Vor ihm lagen Fotos, mindestens zehn. Alle zeigten Svetlana mit Harald, seinem muskelbepackten Möchtegern-Schwarzenegger-Kollegen. Eng aneinandergeschmiegt beim Tanz in irgendeiner finsteren Kaschemme. Auf dem Absatz machte er kehrt, stürmte in die Zentrale.

„Wo ist er?“, brüllt er alle an. Das heimliche Kichern wich schallendem Gelächter. Er erblasste, spürte, wie ein Übermaß an Farbe zurück in sein Gesicht strömte. Seine Brust wieder eng wurde und er kurz vor der Schnappatmung stand.

„Wo ist der Drecksack?“, presste er mühsam beherrscht durch seinen fast geschlossenen Mund hervor. Er hatte Angst zu schreien, wenn er ihn weiter aufmachen würde.

Bernd, ein anderer Kollege, wies mit dem Zeigefinger dicht an ihm vorbei. Montag drehte sich um und sah sich dem breit grinsenden Muskelprotz gegenüber, einen halben Kopf größer und dank stundenlangem Training zwar doppelt so breit in den Schultern wie er, doch im Gegensatz zu ihm mit keinem Gramm Fett zu viel.

 

Natürlich klingelte sein Telefon genau in dem Moment, in dem er sein Büro betrat, das Nokia mit der gedrückten Kurzwahl zum Handy seiner Frau in der Hand. Ein interner Anruf. Gerade war er aus dem Duschraum der Wache gekommen, wo er sich das Blut, das nach dem gezielten Schlag dieses Drecksackes aus seiner Nase getrieft war, abgewischt hatte. Das Blau um sein rechtes Auge hatte er nicht abwaschen können. Ebenso wenig wie die Schmach, dass Harald ihn mit einem einzigen gezielten Schlag ausgeknockt hatte. Und das vor allen Kollegen.

Am Apparat war Petra von Amsfeld, Polizeipräsidentin der Polizeidirektion. „Was ist denn da bei Ihnen los?“, blökte sie ohne Begrüßung ins Telefon.

Die Frage konnte er eindeutig nicht beantworten. Jeder Versuch würde alles noch schlimmer machen. Er wunderte sich nicht, dass sie schon davon wusste. Dabei war die Prügelei keine zehn Minuten her. Solche Geschichten machten schneller die Runde, als er an diesem Morgen denken konnte.

„Haben Sie eine Erklärung dafür, die mir die Möglichkeit gibt, Sie nicht aus dem Dienst zu entfernen, damit Ruhe in die Abteilung einkehrt?“

Hatte er nicht. Ihre Frage und das Warten auf eine Antwort waren ohnehin rein formal. Er war auf Harald losgegangen, gefilmt von mindestens fünf Handys und ganz sicher schon auf Twitter gepostet.

„Gut, dann machen wir das Beste aus diesem Debakel. Wie es der Zufall so will, kam gerade ein Rundfax der KFI 1 Hannover, wo man dringend eine Cold-Cases-Gruppe bilden muss. Es sind Sommerferien, die Dienststellen sind unterbesetzt. Und sechs Leichen auf einen Schlag, zum Großteil uralt, sind kein Pappenstiel. Ich denke, dass Sie schon immer so etwas machen wollten, aus dem Nichts eine besondere Truppe bilden, richtig?“

Er wusste, was er zu antworten hatte. Seine Position hier war unhaltbar geworden. Trotzdem …

„Aber ich habe einen Urlaub gebucht, übermorgen soll es losgehen nach Florida.“

„Kein Aber. Papperlapapp. Stellen Sie sich nicht so an, hier ist es auch heiß, hochofenheiß. Es ist schließlich Hochsommer. Was wollen Sie da in einem noch heißeren Land? In diesen Alligator-verseuchten Sümpfen? Unsinn. Alles andere wird von mir ohnehin nicht akzeptiert. Ich schulde Henner noch was. Fahren Sie nach Hause, packen Sie Ihren Koffer, und los geht’s. Die brauchen wirklich dringend Unterstützung. Die Stornokosten für die Reise übernehmen wir.“

Das hatte den Ausschlag gegeben. Blöderweise hatte er an der Reiserücktrittsversicherung gespart. Was sollte er allein in den Everglades? Ohne Svetlana? Ohne schwülheiße Nächte mit ihr im Doppelbett?

Er wusste zwar nicht, wer Henner ist, aber ein Wechsel zu einer Cold-Cases-Gruppe in einer anderen Kriminalfachinspektion für Mord und Totschlag klang deutlich besser, als einsam und verlassen auf Svetlanas Rückkehr zu warten. Die, wie es aussah, nicht so bald stattfinden würde.

 

Zurück in der gemeinsamen Wohnung hatte er im Dauermodus ihre Handynummer gewählt, bestimmt hundert Mal. Und ihre Mailbox vollgequatscht. Bis er endlich begriffen hatte, dass seine Frau, seine Svetlana, wie er gedacht hatte, nicht rangehen würde. Nicht mit ihm reden wollte. In eine andere Welt abgetaucht war, in der es keinen Platz mehr für ihn gab.

Irgendwann legte er frustriert sein Handy beiseite und schaute sich um, nahm zum ersten Mal wieder seine Wohnung bewusst wahr. Seit ihrer Hochzeit lebten sie hier, hatten sie nach ihren gemeinsamen Vorstellungen immer weiter verschönert. Bis er dachte, dass es nicht mehr besser werden könnte.

In einer einzigen Nacht hatte sein Zuhause seine Wärme und Behaglichkeit verloren. So schnell ging das. Da musste nur einer gehen. Ihm war das Zurückbleiben unerträglich. Allein hier und Svetlana weg? Nein, das würde er nicht aushalten. Nicht ertragen.

Er dankte Gott, dass er sich für den Auftrag entschieden hatte. Dass er nicht hierbleiben musste. Lieber hätte er Gott, an den er in diesem Moment nicht wirklich glauben konnte, dafür gedankt, wenn das alles nur ein schlechter Traum gewesen wäre.

Doch dieses Glück hatte er nicht. Jetzt musste er zusehen, wie er die nächste Zeit überstand. Bis die Zeit, dieser Quacksalber, seine schlimmsten Wunden heilen würde.

Sechs Leichen? Das sollte genügen, um sich abzulenken. Er schnappte seinen für Florida gepackten Koffer, rief ein Taxi und zog die Tür hinter sich zu.