Leseprobe Mörderische Verstrickungen

Kapitel 1

Nairn, Schottland

Vereinigtes Königreich

Paislee Shaw beäugte die Uhr über dem Herd, als wäre die Zeit selbst ihre Erzfeindin. Schon halb neun? Sie fuhr zu ihrem Sohn herum, der gerade an dem runden Küchentisch mit seinem Frühstück fertig wurde, und erwischte ihn dabei, wie er dem Hund kleine Wurststückchen zuschummelte.

„Brody, wenn du Wallace noch einen einzigen Bissen gibst, gibt’s morgen Haferbrei!“

Der schwarze Scottish Terrier leckte sich mit hängenden Ohren die Schnauze und ließ sich auf den geflochtenen Flickenteppich unter Brodys Stuhl plumpsen.

„Mum!“

Paislee wischte ihre Hände an einem Baumwollhandtuch ab und funkelte ihren Zehnjährigen böse an. „Dann sag mir, warum ich mir die Mühe für ein aufwändiges Frühstück machen sollte? Du hättest eine Schüssel Müsli essen können und wir wären beide zufrieden gewesen.“ Und nicht zu spät dran. Ihre eigene Schuld, weil sie mit dem Geschirr nicht wie eine vernünftige alleinerziehende Mutter bis später warten konnte, trotz wenig Zeit und viel Verantwortung.

„‘Tschuldigung“, murmelte Brody, mit dunklem kastanienbraunen Haar, das in seine blasse Stirn fiel. Seine durch einen erneuten Wachstumsschub schlaksigen Glieder stachen hervor, als er seine knochigen Ellbogen auf die abgenutzte Holzfläche stützte.

Wenn Paisley eines wusste, dann war es die Tatsache, dass ihr Sohn Haferbrei verabscheute. Sie hatte braunen Zucker, süße Sahne, Johannisbeeren dazugetan – nichts konnte ihn umstimmen. Meistens gab es Weetabix mit Heidelbeeren, aber da Montag war und keiner von ihnen wollte, dass der Sonntag vorbei war, hatte sie Eier, Lorne-Würstchen und Toast gemacht. Aber sobald sie mal eine Minute nicht aufpasste, fütterte der kleine Racker gleich Wallace heimlich damit.

Brody brachte seinen leeren Teller zur Spüle. Sie wischte die Krümel ab und tunkte ihn ins Spülwasser. Nachts träumte sie von modernen Küchengeräten – es gab nichts, was ihr einen süßeren Schlaf bescherte, als die Vorstellung einer Edelstahlspülmaschine und einem dazu passenden Kühlschrank. Sie spülte den Teller in dem weißen Doppelspülbecken aus und stellte ihn in den Geschirrständer auf der laminierten Arbeitsfläche.

„Hopp! Geh deine Zähne putzen und hol deine Bücher für die Schule. Wir müssen noch am Geschäft vorbei, bevor ich dich absetze.“

Sie wartete nicht auf möglichen Widerspruch als er ins untere Badezimmer hinunterstampfte, sondern ging die Treppe hoch zu ihrem Schlafzimmer, um ihren Cardigan zu holen. Die dritte und fünfte Stufe knarrten, aber so etwas war zu erwarten in einem hundert Jahre alten Haus.

Zwei Schlafzimmer oben und ein Bad für sie und Brody. Grans Suite aus zwei Zimmern, hauptsächlich Abstellräume, seit Gran gestorben war, eine Küche, ein Wohnzimmer, und hinten eine überdachte Terrasse, die zu einem langen und schmalen Garten führte, wo Wallace Eichhörnchen jagen konnte.

Die alten Edelkastanien- und Wildkirschbäume versorgten sowohl Vögel als auch Eichhörnchen mit Nüssen und Beeren – manchmal blieb genug übrig, damit sie Marmelade machen konnte. Sie sagte sich, dass, wenn das Geld zu knapp wurde, sie das untere Schlafzimmer ausräumen und es in den drei Sommermonaten der Haupttourismussaison in Nairn vermieten konnte. Nachdem sie den Sweater von der Lehne ihres Stuhls genommen hatte, wagte Paislee einen Blick in den Spiegel. Sie stöhnte, blickte auf ihre Armbanduhr, und wusste, dass sie keine Zeit für etwas anderes als einen Klecks Lipgloss hatte. „Weiß wie die Wand“, hatte ihr Vater sie immer aufgezogen; ihr Gesicht hatte nicht eine einzige Sommersprosse, die ihr etwas Farbe gegeben hätte. Himmelblaue Augen mit kastanienbraunen Wimpern und Haaren, die so dünn waren, dass sie sie am liebsten in einem lockeren Dutt trug, um zumindest etwas Dichte vorzutäuschen. Sie trug das Lipgloss auf, während sie die Treppe hinunterlief, und steckte die Tube ein.

„Fertig, Brody?“ Die Wolllieferung sollte um Punkt neun ankommen, und sie hatte versprochen, die Hintertür für Jerry aufzuschließen, falls er kam, während sie ihren Sohn zur Schule brachte. Sogar bei dichtem Verkehr sollte die zwei Meilen lange Rundfahrt nicht länger als zehn Minuten dauern. Sie hoffe, dass Isla, die sie auf Teilzeit wieder einstellen würde, sofort anfangen konnte, damit es morgens nicht so eine Quälerei war. Sie hatten heute um halb zehn ein Vorstellungsgespräch.

Wie durch ein Wunder hatte ihr Sohn seine Jacke und Turnschuhe an und wartete an der Tür. „Hast du dein Mittagessen?“

Er schlug sich mit der Hand vor die Stirn und rannte in die Küche, um sein Käsesandwich zu holen.

Es würde ein geschäftiger Morgen im Cashmere Crush werden, und sie hatte Mary Beth versprochen, ihr mit dem schicken hellrosa Saum um ihre Decke zu helfen, deren Wolle Paislee extra von Jerry geordert hatte. Ein Taufgeschenk für ein kleines Mädchen. Ja, Babys waren schon niedlich, aber sie war froh, dass ihr Sohn jetzt selbst seine Haare kämmen konnte – meistens. Sie streckte die Hand nach seinem Kopf aus und glättete eine widerspenstige Strähne.

„Ich weiß, ich weiß, du kannst absolut nichts mehr gebrauchen.“ Brody schob seine Unterlippe vor und wich vor ihrer Berührung zurück.

Sie hasste es, wenn ihre eigenen Worte gegen sie verwendet wurden. „Wohl frech, wie?“

Er grinste und sie scheuchte ihn aus der Tür und in den verblichenen silbernen Nissan Juke. Ein Carport schützte ihr acht Jahre altes Fahrzeug vor den Elementen – meistens Regen, und viel davon, obwohl Nairn im Vergleich zum Rest Schottlands das trockenste Wetter mit der meisten Sonne hatte; etwas, das der Earl von Cawdor in seinen Slogans verwendete, um die Stadt neu zu beleben und Wohlstand für alle zu schaffen.

Sie fuhren eine Meile zu Cashmere Crush, ihr Strickpullover- und Wollgeschäft in der Market Street, das am Ende einer langen Reihe von einstöckigen Backsteinhäusern lag, die sich über einen Block erstreckten. Market Street war eine Hauptverkehrsstraße, und ein schmaler, unebener Bürgersteig trennte sie von den Läden.

Meeresduft und Möwengeschrei wehten vom Segelhafen herüber. Hinten gab es einen Durchgang, der groß genug für die Lieferwagen war, und auf der anderen Straßenseite eine Reihe von zweistöckigen alten Geschäften. Hinter der Gasse lag ihr Geschäft Rücken an Rücken mit einer Zeile von Restaurants.

Ihr Lieblingsrestaurant auf der anderen Seite der Gasse war das chinesische, weil sie die Glückskekse mochte. Sie und ihre Granny hatten sich immer lustige Vorhersagen ausgedacht, über die sie sich schiefgelacht hatten, und jetzt führten sie und Brody diese Tradition weiter – je alberner, desto besser, zum Beispiel Das Glück, das du suchst, ist noch ein Keks.

„Brody, was hältst du von Lo Mein-Hühnchen zum Abendessen?“

„Ja! Und Rind mit Orange?“

Sie nickte, während ihr das Wasser im Mund zusammenlief. Die Ausgaben rechtfertigte sie damit, dass es ein voller Tag im Laden werden würde, was Geld in der Kasse bedeutete. Sie bog auf der Hammond links ab und dachte daran zurück, wie sie bei ihrer Granny eingezogen war, dankbar für ihre Überzeugung, dass Paislee es schon als sehr junge alleinerziehende Mutter schaffen konnte – die Meinung, dass sie niemandem eine Erklärung schuldig war und sich nicht unterkriegen lassen sollte.

Nachdem ihr Vater gestorben war, vor ihrem Schulabschluss mit siebzehn – damals, als sie noch darüber nachgedacht hatte, zu studieren – war ihre Mutter durchgedreht und hatte innerhalb eines Jahres einen Amerikaner geheiratet, einfach nur, um so weit wie möglich von ihrer Trauer wegzukommen.

Paislee, die selbst trauerte, hatte die Vorstellung aufs College zu gehen aufgegeben, und war zu ihrer Granny gezogen, die ihr beigebracht hatte, Pullover zu stricken und stolz traditionelle Familienmuster an sie weitergab. Irgendwie, zehn Jahre später, hatte Paislee es geschafft, sich und Brody zu versorgen – zwar nicht mit Räucherlachs oder Aberdeen Angus Fleisch, aber sie verhungerten nicht.

Als Kind war ihr immer von einer Großfamilie erzählt worden, von Tanten und Onkeln und Cousins, aber sie war als Einzelkind aufgewachsen. Nach dem Tod ihres Vaters und der Fahnenflucht ihrer Mum – die aus dem Land geflüchtet war, verflixt noch mal! – hatte Granny sie urteilslos aufgenommen und sie bedingungslos geliebt, als Paislee gezwungen war, das Erwachsenenleben zu meistern.

Mit einem trauernden Schniefen um ihre Granny parkte Paislee ihren Juke hinter Cashmere Crush, um die Hintertür für Jerrys Wolllieferung aufzuschließen, genauer gesagt, für das helle Rosa für Mary Beths Decke. „Ich bin gleich zurück“, sagte sie zu Brody, der sie ignorierte und auf der Beifahrerseite raussprang.

„Das sagst du immer, aber …“ Brodys Sneaker schlurften über den rauen Asphalt, als er ihr folgte. „Es passiert dann was. Ich darf nicht nochmal zu spät kommen. Mrs. Martin mag das nicht.“

„Ich beeile mich.“ Nachdem sie am letzten Sonntag Islas E-Mail gelesen hatte, in der sie sie bat, ihren Job zurückzubekommen, hatte Paislee nachgerechnet. Es wurde eng, aber sie konnte gerade so fünfzehn Stunden schaffen, und betete, dass Isla zustimmen würde, da die Touristensaison Ende April anfangen würde.

Sie betraten den Laden durch die Hintertür und Paislee schaltete das Licht im Lagerbereich ein. Die Birne über ihnen flackerte, blitzte auf und zischte dann. Hatte sie überhaupt einen Ersatz?

Brody kicherte nervös angesichts des schummrigen Innenraums. Der Laden war ein langes Rechteck mit weniger als fünfundsiebzig Quadratmetern, und jegliches natürliche Licht wurde von den Gebäuden gegenüber auf der Market Street geblockt.

Sie schlängelte sich vorsichtig zum Schalter für die Deckenbeleuchtung um die Kisten, den Sessel, den ovalen Tisch und den kleinen Fernseher herum, den sie für Brody aufgestellt hatte, wenn er mal mit ihr zur Arbeit musste, aber blieb dann stehen, als ihr Blick zum schattigen Eingang fiel. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust und sie streckte den Arm nach Brody aus, als sie zwei Silhouetten erkannte, die durch das Milchglas ihres vorderen Fensters spähten.

„Was?“, sagte er und befreite sich, um an ihr vorbei zum Tresen zu gehen, wo sie eine Schüssel mit Süßigkeiten stehen hatte.

„Stopp – sie werden dich sehen.“

Er erstarrte wie ein Eichhörnchen, das von Wallace im Garten ins Visier genommen worden war. „Wir haben keine Zeit, um zu öffnen, Mum.“

„Ich weiß!“ Aber sie hasste es, Geschäfte zu verpassen. Zu spät – sie hatten sie gesehen. Es klopfte leicht gegen die Milchglasscheibe.

Und jetzt war ihr auch nicht mehr wohl dabei, die Hintertür für Jerry offen zu lassen. Was, wenn die Fremden sich entschlossen, einen anderen Weg herein zu finden?

Zwei ihrer Kundinnen wollten diesen Morgen vorbeikommen, und manchmal kamen sie ein bisschen früher auf eine Tasse Tee und Tratsch. Könnten sie es sein? Nicht mit diesen Schultern – nicht mal Mary Beth mit ihren neunzig Kilo.

Unschlüssig ging Paislee langsam zur Tür. Vielleicht würden die beiden zurückkommen, wenn sie erklärte, dass sie nicht vor halb zehn öffneten … aber ein ungutes Gefühl in der Magengrube warnte sie vor einer zu herzlichen Begrüßung.

Granny hatte ihr Talent für Vorahnungen nicht zusammen mit der Gabe fürs Stricken weitergegeben – das war etwas anderes. Kampf oder Flucht. Sie rieb sich die Gänsehaut im Genick.

Ein Schatten richtete sich auf, bewegte sich zur Tür und klopfte laut mit der Faust an. Der Messingknauf wackelte.

„Aufmachen!“, rief eine Männerstimme.

„Mum.“ Brody stand plötzlich an ihrer Seite. „Ich glaube, das ist nicht Jerry.“

„Nein. Er würde die Hintertür nehmen.“

„Vielleicht sollten wir auf ihn warten?“

Ließ sie ihre Angst schon auf ihr Kind abfärben? Reiß dich zusammen, Paislee Shaw. Sie reckte das Kinn und lächelte selbstbewusst. „Ich bin sicher, es ist nichts.“

Noch ein kräftiges Klopfen.

Sie holte tief Luft, schob den Riegel zurück und öffnete die Tür. Ein Mann mit kantigem Kinn, kühlen grünen Augen, glänzenden schwarzen Schuhen und einer Police Scotland Regenjacke stand im Eingang neben einem älteren Mann um die siebzig in einem langen Tweedmantel und einer dunkelgrünen Schottenmütze.

Der ältere Mann hatte eine dunkle Brille, einen silbernen Bart und einen braunen Koffer.

Ihr stockte der Atem. Das letzte Mal, als ein Polizist vor ihrer Tür gestanden hatte, war ihr Vater bei einem Bootsunfall gestorben.

Brody klebte an ihrer Seite wie eine Klette.

Der Polizist lächelte zu ihrem Sohn hinunter, und schaute sie dann leicht tadelnd an, als ob er sie an ihre Manieren erinnern wollte. „Dürfen wir reinkommen?“

„Ja, natürlich.“ Sie zog die Tür weiter auf und sog dann die Luft zwischen ihren Zähnen ein, als sie den älteren Mann betrachtete.

Das konnte nicht sein.

„Ich bin Detective Inspector Mack Zeffer“, sagte der Beamte. „Ich habe diesen Herrn hier unten im Park gefunden, wo er auf einer Bank übernachtet hat. Er sagt, Sie seien seine einzige Familie.“ Er geleitete den Mann am Ellbogen nach drinnen.

„Grandpa Angus?“ Sie hatte ihn vor fünf Jahren bei Grannys Beerdigung gesehen. Er hatte mit seinem Sohn in Dairlee gewohnt … zumindest hatte sie das gedacht.

„Sie erkennen ihn?“ Im Tonfall des Beamten schwang mehr als nur eine Spur von Erleichterung mit.

„Ja.“

„Du bist mein Opa?“, fragte Brody mit einem freundlichen Lächeln. Fehlte ihnen Familie so sehr, dass Brody keinerlei Vorbehalte hatte? Der Mann hatte sich seit Jahren nicht dazu bequemt, vorbeizukommen.

Ur-Opa“, korrigierte er. Die Worte waren scharf und Brodys Ausgelassenheit verpuffte.

Sie zog ihren Sohn wieder neben sich.

Der Uhrturm in der Innenstadt läutete, und sie senkte den Kopf, als Brody an ihrem Cardigan zupfte. Punkt neun. Sie kamen zu spät. Schon wieder. „Ich muss los …“

„Alles klar, dann lasse ich Sie mal allein“, sagte der Beamte, während er zur Tür ging.

Grandpa Angus bewegte sich nicht vom Fleck. „Moment – was meinen Sie?“ Panik stieg in ihr auf.

Detective Inspector Zeffer blieb bei einem brusthohen Arbeitstisch stehen, auf dem sich Musterbücher stapelten, und blickte vom Koffer zu Füßen ihres Großvaters zu Paislee. Zeffers rostrotes Haar, das perfekt in Form gestylt war, bewegte sich dabei nicht. „Sie sind seine einzigen Angehörigen. Er kann nicht weiter im Park übernachten.“

Paislee schüttelte den Kopf. „Ich verstehe nicht.“

„Ich kann nirgendwo anders hin.“ Grandpa Shaw verschränkte die Arme, als ob sie sich absichtlich dumm stellte.

Ein Klopfen ertönte an der Hintertür und Jerry kam hereinmarschiert. „Morgen. Ich hab schlechte Nachrichten – die rosa Wolle ist noch nicht fertig.“ Jerry McFadden stieß mit polternden Arbeitsstiefeln und dem Duft frischer Frühlingsluft zu ihnen. Er blieb am Tresen stehen, der den vorderen Teil des Shops vom Lager trennte, und nickte verlegen dem Polizeibeamten, ihrem Großvater und schließlich Brody zu. „’Tschuldigung – ich dachte, du wärst allein. Ist alles in Ordnung?“

„Alles gut“, sagte Paislee automatisch. „Wann wird sie da sein?“

Jerry rieb sich das Kinn. „Morgen, gleich als Erstes. Die Färbemaschine ist kaputtgegangen, aber sie ist wieder repariert.“

Sie atmete ein, ballte die Fäuste, und zählte geduldig bis fünf. Mary Beth brauchte die rosa Wolle, um die Taufdecke fertigzustellen – und um dafür in Rechnung gestellt zu werden. Keine Wolle, keine Decke, kein Geld, kein Lo Mein. Die Fassung zu verlieren war keine Option. Als alleinerziehende Mutter musste sie ein gutes Beispiel sein.

Die Vordertür schwang mit einem Scheppern auf, und ihr Vermieter kam herein.

„Mr. Marcus?“ Der Eigentümer des Gebäudes war ein Mann Mitte fünfzig, der sich im letzten Jahr wegen gesundheitlicher Probleme selten hatte sehen lassen. Sie und die anderen in ihrer Backsteinzeile hatten sich Sorgen gemacht, was mit ihren kostbaren Mietverträgen passieren könnte, und Paislee war nicht die einzige Ladeninhaberin die Dankesgebete ausgestoßen hatte, als sich Mr. Marcus wie durch ein Wunder berappelt hatte, wie seine braune, zur Seite gekämmte Frisur und vollen Wangen bezeugten.

„Wie geht’s Ihnen?“ Mit einem Blick auf ihre Besucher räusperte sich Mr. Marcus und reichte ihr einen Brief, der vorne mit einem grünen Stempel versehen war. „Sie können ihn später öffnen, aber es eilt.“

Paislee sah den nervösen Herrn stirnrunzelnd an. Seine Haut besaß keine schottische Blässe, sondern einen orangenen Stich. Bräunungsspray? Mit ihrem Daumennagel öffnete sie den zugeklebten Umschlag und zog ein Blatt Papier mit dem Briefkopf eines Anwalts heraus.

Sie schwankte rückwärts, während die schwarze Schrift vor ihren Augen verschwamm. Ihr Großvater hielt sie am Ellbogen aufrecht. „Was ist los, Mädchen?“

„Ein Räumungsbefehl? Aber mein Mietvertrag läuft noch ein Jahr!“ Und sie hatte gehofft, ihn erneuern zu können, bis sie ihr eigenes Geschäft kaufen konnte.

„Der durch Verkauf aufgelöst wird.“ Mr. Marcus begriff, dass Paislee die Neuigkeiten nicht gut aufnahm, wich zurück und wischte schnell das Lächeln von seinem Gesicht.

„Wie lange?“, fragte Jerry in einem drohenden Grollen, das ihm einen warnenden Blick vom Polizeibeamten eintrug.

„Dreißig Tage“, brachte Paislee hervor. Ihr Magen zog sich zusammen und der Laden drehte sich. Cashmere Crush war ihr Lebensunterhalt. Sie hatte ihr ganzes Herzblut hineingesteckt, um etwas für sich und Brody zu erschaffen, das ihr Überleben sicherte.

„Nun, Ms. Shaw, ich bin sicher, Sie werden schon etwas anderes zur Miete finden.“ Mr. Marcus machte einen Schritt Richtung Tür.

Ihr Zorn flammte bei seinem überheblichen Ton auf. Sie zwang sich dazu, ruhig zu klingen. „Wird der neue Eigentümer die vorigen Mieter dafür in Betracht ziehen?“

Mr. Marcus winkte mit der Hand, wobei ein goldener Ring aufblitzte, der das Licht vom Fenster einfing. „Zweifelhaft – sie wollen diese alten Steine abreißen, um ein Luxushotel zu bauen.“

Paislee fluchte laut.

Brody gab ihr sein Sahnebonbon mit einem enttäuschten Ausdruck auf seinem süßen Gesicht. „Oh, Mum, das sind fünfzig Pence für die Fluch-Kasse.“

Kapitel 2

Paislee stand völlig erschüttert mitten in Cashmere Crush. Sie beäugte die Männer um sich herum und knirschte mit den Zähnen. Shawn Marcus zog sich zwei weitere Schritte näher an den Vordereingang zurück.

„Warten Sie mal eine“ – sie warf ihrem Sohn einen Blick zu, der große Augen machte – „verflixte Minute. Haben Sie schon mit den anderen gesprochen?“ Sie gestikulierte nach links zur der Wand, die sie sich mit ihrem Nachbarn James teilte, dem die Lederreparatur gehörte. Sie hatte an beiden der langen Wände Regale mit strahlend gefärbter Wolle aneinandergestellt, die den Raum sogar bei ausgeschaltetem Deckenlicht aufhellten.

„Sie waren die Letzte“, sagte Mr. Marcus. „Aber die Einzige, die tatsächlich ihren Brief aufgemacht hat.“ Sein Mund verzog sich missbilligend nach unten, als ob es unhöflich von ihr gewesen wäre, seinen Bescheid zu lesen.

Detective Inspector Zeffer runzelte leicht die Stirn, als er ihnen mit verschränkten Händen zusah.

Brody zupfte an ihrem Pullover. „Mum! Wir müssen los.“

„Wohin?“, fragte der Detective.

„Zur Schule.“ Brody verschränkte die Arme. „Wir kommen immer zu spät.“

„Nicht immer“, sagte Paislee mit feuerrotem Gesicht, als alle vier Männer sie missbilligend ansahen. Im Ernst?

Sie hatten keine Ahnung, wie es war, einen Sohn großzuziehen und ein Geschäft und einen Haushalt zu führen.

Und wenn sie diese Lage für Cashmere Crush verlor? Sie würde die acht Jahre verlieren, die sie damit verbracht hatte, ihre Kundschaft um sich zu sammeln; die treue Gruppe von Strickerinnen war heute wie eine Familie.

„Wenn du willst, kann ich ihn hinbringen“, bot Jerry hinter ihr an. „Ich muss nur noch zweimal anhalten.“

„Nein, ich kann das schon“, sagte Paislee gestresst. „Dafür muss ich Sie alle aber bitten, jetzt zu gehen.“ Sie scheuchte den Detective und ihren Vermieter zur Tür.

Ihr Großvater richtete seinen Hut, aber seine braunen Stiefel rührten sich nicht vom Fleck. Was um Himmels willen sollte sie mit ihm machen?

Jerry ging zur Hintertür, verabschiedete sich und entschuldigte sich für die Wolle.

Sie hob die Hand, aber die Wolle war nun die letzte ihrer Sorgen. „Dann morgen, Jerry. Tschüss.“

Mr. Marcus trat verlegen von einem Fuß auf den anderen, und duckte sich dann einfach nach draußen. Was konnte der Mann schon zu sagen haben, das sie hören wollte? Dreißig Tage, um hier raus zu sein?

Detective Inspector Zeffer zögerte, die Hand auf der Tischplatte. Sie spürte sein Bedürfnis, was auch immer gerade passiert war, wieder gerade zu rücken, aber da kein Verbrechen begangen worden war, benötigten sie seine Dienste nicht. Er straffte die Schultern und folgte ihrem Vermieter nach draußen. Paislee machte sich nicht die Mühe, sich zu verabschieden – ihr fehlten die Worte für das Chaos, das diese beiden Männer gerade in ihrem Leben angerichtet hatten.

Keine Miete und eine neue Verantwortung.

„Du musst wohl mit uns mitkommen“, sagte sie zu Grandpa Angus.

Er widersprach nicht, aber stimmte auch nicht zu; er hob einfach seinen Koffer hoch.

Sie schloss die Tür ab und scheuchte Brody und Grandpa Angus zum Juke, den sie hinter dem Laden geparkt hatte.

Brody beäugte seinen Urgroßvater, bevor er dem alten Fremden den Vordersitz anbot, den der Mann zu Brodys Erleichterung ablehnte.

Sie nickte ihrem Sohn für seine guten Manieren wohlwollend zu. Sie fuhren eine Meile zu Fordythe, einem sehr langen eingeschossigen Backsteingebäude mit blau gestrichenen Doppeltüren in der Mitte. Auf der linken Seite gab es einen umzäunten Rasen, auf dem die Kinder spielen konnten. Sie folgte der gepflasterten Einfahrt, wo Eltern morgens ihre Kinder absetzen und sie dann um halb vier wieder abholen konnten – normalerweise gab es zwei Aufseher, und die Lehrer wechselten sich mit der Aufsicht ab.

Die letzte Aufsicht ging gerade nach drinnen, und Brody sauste ohne sich zu verabschieden mit seinem schwarzen Rucksack über dem Arm aus dem Auto.

„Er geht nur noch ein weiteres Jahr zur Grundschule“, erzählte sie mit belegter Stimme.

Ihr Großvater stellte sich stumm.

Was sollte sie mit ihm machen? Sie konnte Grandpa Angus nicht mit nach Hause nehmen; sie kannte ihn überhaupt nicht. Ihr Zuhause lag ihr am Herzen, und obwohl sie nicht allzu viele neue Dinge besaß, hütete sie das, was sie hatte.

Was, wenn er mit dem Fernseher abhaute?

„Könntest du bitte hier vorne sitzen, damit ich mir nicht wie ein Taxifahrer vorkomme?“

Mit einem Grunzen öffnete Grandpa Angus die hintere Autotür und kletterte auf den vorderen Beifahrersitz. Er starrte nach vorne, sein Kinn von einem silbernen Vollbart verdeckt.

Er roch nach der See, und sie wurde scharf daran erinnert, dass die Dinge zwar eng für sie gewesen waren, aber für ihn schlimmer.

„Möchtest du einen Happen essen?“ Wann hatte er das letzte Mal etwas gegessen?

Er antwortete nicht.

Die Digitaluhr des Autoradios zeigte 9:15. „Heute Morgen werden ein paar Kunden hereinkommen.“ Verflixt, und Isla. „Ich hole ein paar Sandwiches und Kaffee vom Supermarkt – heute ist ein Tag für Kaffee; und dann fahren wir zu Cashmere Crush.“

Er sagte immer noch nichts.

„Ich kann dir nicht helfen, wenn du nicht mit mir redest.“ Sie wollte ihm die Obdachlosigkeit ersparen, ja, aber was konnte sie tun?

„Ich will deine Hilfe nicht. Lass mich einfach irgendwo raus.“

„Damit dich der Detective wieder zurückbringt?“ Ihre Stimme wurde schrill. „Er weiß jetzt, zu wem du gehörst.“

„Reg dich nicht auf.“ Er setzte seinen Hut ab und konzentrierte sich auf die vorbeiziehenden Läden aus Stein oder Ziegel. Nairn war einmal ein beliebtes Fischerdorf gewesen.

„Keine Sorgen machen? Im Ernst?“ Das würde unmöglich sein, jetzt wo sie wusste, dass er in Schwierigkeiten steckte. „Wo ist Craigh?“

Er sagte kein Wort.

Paislee fuhr eine halbe Meile zu dem kleinen Supermarkt in der Nähe ihres Ladens. Sie konnte es förmlich in seinem silbrigen Kopf rattern hören. Sie hatte keine Zeit für noch mehr Drama, aber heute schien kein Weg daran vorbeizuführen.

Paislee parkte und wandte sich ihrem Großvater zu. Ihre Erinnerungen an ihn waren vage und von Grannys Weigerung überschattet, über ihn zu sprechen. Sie hatte nie direkt schlecht von ihm gesprochen, aber die gemurmelten Bemerkungen, wann immer sein Name zur Sprache kam, reichten Paislee, um zu erkennen, dass er kein willkommenes Thema war.

Das letzte Mal, als sie ihn gesehen hatte, war bei Grannys Beerdigung gewesen, und Paislee war derart aufgewühlt gewesen, dass sie sich kaum an das Geschehen erinnern konnte. Granny war monatelang krank gewesen, bevor sie verstorben war. Pater Dixon hatte sich um alles gekümmert, dem Himmel sei Dank.

Paislees Großmutter hatte nicht einmal ihren Ehemann sehen wollen, bevor sie gestorben war. Und woran lag das?

Als einen letzten Akt der Liebe hatte Gran Paislee ihr Heim vermacht, und gesagt, dass niemand befürchten sollte, ohne ein Dach über dem Kopf dazustehen, nicht, wenn sie es verhindern konnte.

Das kann nicht sein, was du gemeint hast, Gran.

Grandpa Angus sah sie endlich an. Klare, braune Augen hinter einer schwarzen Brille, silberner Bart und Haare. Tiefe Falten eines harten Lebens zerfurchten seine Wangen und Stirn.

„Du kannst mit mir reinkommen und dir selbst etwas aussuchen oder hier warten. Ich bin sofort mit zwei Schinkensandwiches und Kaffee zurück. Okay?“

Er nickte dankend und blieb im Auto.

Paislee nahm ihre Schlüssel und ihren Cardigan mit, als sie in den kleinen Supermarkt eilte. Es gab Krimskrams, den ein Tourist brauchen könnte – Shampoo in Reisegröße, Zahnbürsten und Zahnpasta, Rasierer. Würde ihr Großvater irgendetwas davon brauchen?

Wo zum Teufel war Craigh?

Sie ging zum Tresen und schenkte Colleen, einem jugendlichen Mädchen von zwanzig Jahren, ein Lächeln. Paislee könnte töten für die grenzenlose Energie des Mädchens.

„Morgen. Zwei Schinkensandwiches und zwei Kaffee.“

„Hey, Paislee“, sagte Colleen und sprang hinter den Tresen, wo sie Paislees Bestellung zusammenpackte und eintippte. Der Geruch des Schinkens ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen, obwohl sie vorhin schon ein kleines Frühstück mit Brody gehabt hatte.

Colleen reichte ihr die Tüte und zwei Kaffee in einem Pappkarton.

„Danke!“

Colleen grinste und begrüßte den nächsten Kunden in der Schlange.

Paislee trug die Leckereien zurück zum Juke, besorgt, dass ihr Opa vielleicht die Beine in die Hand genommen hatte, während sie weg war.

Wo würde er hingehen?

Es war offensichtlich, dass seine Möglichkeiten begrenzt waren, wenn er im Park übernachtete.

Sie atmete erleichtert aus, als sie den Umriss seines Huts erkannte, der nun wieder auf seinem Kopf saß, und das Schimmern des Silbers in seinem Bart.

Er lächelte nicht, aber er beugte sich im Auto vor um ihr die Tür zu öffnen.

Sie stieg ein und gab ihm zuerst den Kaffee, dann die Tüte.

„Ich hoffe, du hast Hunger. Die sind riesig.“

Er nickte und schluckte schwer. Seine Finger an dem Karton mit dem heißen Kaffee zitterten.

Sie wandte die Augen ab, bevor sie noch etwas sagte, was ihn in seinem Stolz kränken würde.

Auf den Nebenstraßen war nicht viel los und sie schaffte es in fünf Minuten zu Cashmere Crush, wo sie in der Gasse parkte.

„Möchtest du deinen Koffer im Auto lassen?“

Er schüttelte den Kopf und stieg aus dem Juke, wobei er den Kaffee und seinen Koffer balancierte, während sie die Tüte mit dem Essen mitnahm.

Wann immer sie mit einem Dilemma konfrontiert war, hatte Granny immer den Kessel für heißes Wasser und schottischen Schwarztee von Brodies aufgesetzt und die Scones warm gemacht. Sie hatten so viele Gespräche über das Leben mit Blick auf den Garten gehabt. Das größte und bedeutendste davon hatten sie geführt, als Paislee mit achtzehn und schwanger mit ihrem eigenen Koffer vor der Tür gestanden hatte.

„Pass auf die Stufe auf“, sagte sie und hielt Grandpa Angus die Hintertür auf. „Ich weiß, dass die Kante da ist, und stolpere trotzdem darüber.“

Er spähte nach unten und hob seinen Fuß.

Als sie drinnen ankamen, war das Innere des Ladens dunkel – sie würde die Birne für den Lagerbereich austauschen müssen – und sie schaltete schnell die Deckenlampen an.

Freude durchströmte sie, etwas, das sie nie für selbstverständlich nahm, als das Licht ihr Geschäft zur Schau stellte.

Paislee hatte das Innere mit deckenhohen Regalen getrennt, die als Raumteiler fungierten und den Großteil des Raums offen ließen. Regale säumten beide langen Wände Richtung Straße, gefüllt mit einer vielfältigen Auswahl an Wolle.

Am Fenster hatte sie Pullover und Strickware ausliegen. Sie holte klappbare Werktische hervor, je nach Bedarf der Gruppe. Ihr wöchentliches Strick-und-Schlückchen-Event war sehr beliebt. Der Boden war aus geschliffenem Zement.

Cashmere Crush war für acht Jahre ihr zweites Zuhause gewesen. Wie konnte Shawn Marcus es wagen, es ihr so vor der Nase weg zu verkaufen? Sie presste eine Hand auf den Magen, damit das Schlingern aufhörte.

Grandpa stellte das Tablett mit dem Kaffee neben die Kasse auf den Tresen, auf dem außerdem noch eine Tasse mit Krimskrams wie Kugelschreibern, Bleistiften und Häkelnadeln stand. Sie legte die Tüte mit ihrem Essen neben den Laptop und atmete unauffällig ein, als er an ihr vorbeiging. Der alte Mann roch nach frischer Luft – Bäumen, Gras, dem Firth – aber er war ziemlich sauber. Wie lange war er schon obdachlos?

Er schlurfte zu einem der Stühle und setzte sich. Sie hatte sich acht robuste Holzstühle mit hohen Lehnen bei einer Haushaltsauflösung geschnappt und sie lackiert, damit sie wie neu aussahen, und ein halbes Dutzend verschiedener Stühle für die brusthohen Werktische.

Sie schaute auf ihre Armbanduhr. „Ich erwarte um halb ein Mädchen für ein Bewerbungsgespräch.“ Zehn Minuten. Was konnten sie schon in zehn Minuten entscheiden? Nichts – er hatte Ringe unter den Augen, was hieß, dass er sich wahrscheinlich ausruhen und nicht mit zwanzig Fragen bombardiert werden musste. „Ein paar Kunden werden reinkommen, um ein paar Projekte fertigzustellen.“

„Ich werde dir nicht im Weg stehen“, sagte er mit leiser Stimme. Sein Blick flackerte zu der Tüte, aber er griff nicht nach dem Essen.

Sie versuchte, sich in seine Lage zu versetzen, und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, während sie die Schinkensandwiches auswickelte. „Billig aber gut – sie machen immer dick Schinken darauf. Ist aber mit braunem Dressing; man muss nach Ketchup fragen, falls man ihn bevorzugt.“

„Braunes Dressing und Butter ist genau, wie ich sie zuhause mache“, sagte er, während er das Sandwich aus der Folie nahm und es mit einem Nicken begutachtete. „Einfaches Weißbrot. Lecker.“

Paislee mochte die einfache Variante auch am liebsten. „Ich habe so eins mal unten am Hafencafé bestellt und sie haben es mit getoastetem, selbstgemachtem Brot serviert und gebackene Bananen dazugetan.“

„Also es verhunzt.“ Grandpa setzte seinen Hut ab, legte ihn auf den Boden und biss dann in das Sandwich. Er schloss die Augen als er das Essen genoss. Sie bewunderte seine Selbstbeherrschung, als er sich Zeit ließ und zwischendurch seinen Mund und Bart abwischte. Er musste am Verhungern gewesen sein.

Sie nahm den Deckel von seinem Kaffee ab und reichte ihn rüber. „Kaffeesahne? Zucker?“

„Ja, beides – ich mach schon.“

Sie blickte wieder auf die Uhr und sah, dass es fünf Minuten vor halb war. Mit brutaler Klarheit wurde ihr bewusst, dass es ihr jetzt unmöglich war, Isla einzustellen. Sie musste nicht nur ausziehen, sondern ihr Großvater würde alles restliche Geld brauchen, das sie zusammenkratzen konnte.

Sie würde Isla sagen müssen, dass sie ihr keinerlei Arbeit anbieten konnte, etwas, worauf sie nicht gerade erpicht war. „Also, wo ist Craigh abgeblieben?“

Er hielt den Blick auf das Zuckerpäckchen gerichtet. „Vermisst.“

„Was?“

„Ja. Ich habe es den Behörden gemeldet. Sie gehen der Sache nach, aber es hat nicht geholfen.“

Paislee schüttelte den Kopf. „Ich verstehe nicht.“

„Er hat vor zwei Monaten angefangen, auf der Mona zu arbeiten, eine Bohrinsel weit draußen in der Nordsee.“ Grandpa schüttete Zucker in seinen schwarzen Kaffee. „Ich weiß durch seine früheren Aufträge, dass sie nicht immer Telefon oder Internetzugang haben, aber er hat sich gemeldet, wann immer er es geschafft hat. Es ist eine einsame Arbeit. Es sollte einen Zuschlag für einen viermonatigen Aufenthalt geben, bevor er den Helikopter nach Aberdeen nehmen sollte.“

„Aberdeen?“

„Ja. Das war eine junge Firma und hat genug gezahlt, dass Craigh in zwei Jahren in Rente hätte gehen können. Er hatte vor, ein Auto zu mieten, um zu unserer Wohnung in Dairlee zu fahren.“

Dairlee lag acht Meilen, und Aberdeen weniger als zwei Stunden von Nairn entfernt.

Seine Stimme wurde heiser. „Ich habe mir keine Sorgen gemacht, bis ich gesehen habe, dass kein Geld auf sein Konto für die Ausgaben für die Wohnungsmiete gekommen ist. Ich habe die Mona angerufen.“ Sein Körper bebte. „Sie haben gesagt, dass Craigh Shaw nie auf dieser Bohrinsel gearbeitet hat.“

„Das kann nicht sein. Vielleicht hast du dich mit dem Namen vertan, weil sie schließlich neu war?“

Das Gesicht ihres Großvaters rötete sich vor Zorn. „Jetzt klingst du schon wie die Behörden. Ich sei ein schrulliger alter Mann, der sich Geschichten ausdenkt. Das ist nicht wahr.“ Er rührte mit einem Holzstäbchen seinen Kaffee um, während er Milchpulver dazugab.

Paislee dachte sich, dass er ihr schon bei Verstand erschien. Sie gestikulierte zu seinem rechteckigen braunen Koffer, der so altmodisch war, dass er keine Rollen hatte. „Was ist passiert?“

„Bin vor zwei Wochen aus unserer Wohnung geworfen worden, weil ich unsere Ersparnisse aufgebraucht habe. Craighs Konten waren leer.“ Seine Wangen röteten sich, als ob er sich schämte. „Ich kriege eine kleine Rente für damals, als ich vor meiner Rückenverletzung in der Fischerei gearbeitet habe, aber es reicht nicht, um eine eigene Wohnung zu bezahlen.“

„Warum bist du nicht gleich zu mir gekommen?“

Er warf ihr einen verstohlenen Blick zu, bevor er an seinem Kaffee nippte. „Du kennst mich nicht. Ich bezweifle, dass das, was du gehört hast, dich in irgendeiner Form überzeugt, mir zu helfen.“

Da hatte er nicht ganz Unrecht.

„Ich werde später mal alle Nummern anrufen, die du von Craigh hast.“

Er machte ein finsteres Gesicht. „Die Antwort wird dieselbe sein, aber du kannst gerne deine Zeit verschwenden.“

Soweit Paislee das beurteilen konnte, bestand das dringende Problem darin, wo Grandpa sich über Nacht zur Ruhe betten konnte. Paislee hatte nicht das Geld, ihn irgendwo in einem Hotel unterzubringen.

„Es muss doch eine Agentur geben, die wir anrufen können, um dir eine Bleibe zu finden, oder Sozialleistungen, damit du nicht im Park schlafen musst. Was war dein Plan?“

„Ich werde mir ein Zelt kaufen und campen, sobald der Campingplatz für den Sommer öffnet. Ich muss rausfinden, was mit Craigh passiert ist. Die Bücherei hat Internet und Telefon. Ich habe im Park geduscht.“

Brr. Schon zwei Wochen hatte er draußen geschlafen? Das konnte nicht angenehm gewesen sein, und ob sie ihren Großvater nun kannte oder nicht, sie waren immer noch eine Familie. „Frühlingsnächte sind kalt – Juni ist noch drei Monate hin.“ Vielleicht war der alte Mann doch ein kleines bisschen übergeschnappt.

Halb zehn. Ihre Schultern sackten nach unten. Isla würde jede Minute da sein und denken, dass sie zumindest einen Teilzeitjob hatte, aber mit der Zwangsräumung und Grandpa konnte Paislee sie beim besten Willen nicht einstellen.

„Ich hab dich nicht nach deiner Meinung gefragt, Mädchen.“

Sie biss sich auf die Zunge und schaute auf ihr Handy, dann zur Vordertür, und erwartete Islas lächelndes Gesicht nun jede Sekunde.

Isla, jetzt zweiundzwanzig, war mit zwanzig Jahren von Edinburgh hergekommen, eine hübsche Blondine, die sich in den falschen Kerl verliebt hatte. Er hatte sie für ein romantisches Wochenende nach Nairn gebracht und dann hatten sie sich nach einem großen Streit getrennt. Von fröhlicher, aber forscher Natur, war Isla hereingekommen und hatte nach einem Job gefragt – sie würde alles nehmen, sagte sie, und alles tun, aber sie könnte nach dem Schlamassel nicht nach Edinburgh zurückgekrochen kommen. Sie hatte ihr Gesicht abgewandt, aber Paislee hatte einen kurzen Blick auf ihre zitternde Unterlippe erhascht.

In dem Ansturm während der Touristensaison hatte Paislee sie auf der Stelle angeheuert. Sie hatte sich selber in der jungen Frau wiedererkannt, die versuchte, sich durchzuschlagen. Isla hatte bis vor ein paar Monaten im Cashmere Crush gearbeitet, als sie nach Inverness gezogen war, um mit ihrem neuen Freund, Billy, in einer größeren Stadt zu leben.

Paislee hatte Isla ein überschwängliches Empfehlungsschreiben verfasst, froh ihrem Schützling dabei helfen zu können, ihr Glück und eine Vollzeitanstellung zu finden. Es war eine Umstellung gewesen, wieder alles selbst zu erledigen, aber die Wintermonate waren entspannter, weshalb Paislee den Laden allein führen konnte.

Und jetzt war Isla zurück in Nairn und bat um ihre alte Anstellung zurück. Was war passiert? Es war gut, sie zu sehen und auf den neuesten Stand gebracht zu werden, auch wenn sie wusste, dass es eine Enttäuschung für Isla sein würde, nicht mit Paislee arbeiten zu können. Aber wie könnte sie die Stunden rechtfertigen, besonders jetzt, wo sie möglicherweise noch ein Maul zu stopfen hatte?

Grandpa knüllte eine Papierserviette zusammen und behielt sie in der Handfläche. „Warum guckst du dauernd auf dein Handy?“

„Ich habe dir ja erzählt, dass ich um halb zehn einen Termin habe – ich wollte jemanden in Teilzeit einstellen.“

Er rutschte auf seinem Stuhl umher. „Du suchst Leute?“

„Isla hat mal hier gearbeitet; also hielt ich es für einen Segen, als ich ihre E-Mail bekommen habe, in der stand, dass sie zurück in der Stadt ist – mit der Touristensaison vor der Tür war das Timing genau richtig.“

Grandpa kratzte seinen Vollbart und blickte sie prüfend über sein schwarzes Brillengestell hinweg an. „Und jetzt?“

Paislee hob die Schultern und ließ sie fallen. „Jetzt werde ich Cashmere Crush dank diesem Ekel Shawn Marcus verlieren und kann niemanden einstellen.“

„Kannst du nicht umziehen?“

„Doch – aber mit welchem Geld? Dieser Laden liegt genau am Fußgängerverkehr“ – sie wies nach links zum Mündungsarm des Moray Firth – „weil es nahe am Strand und in der Innenstadt ist.“

„Was ist mit deinen Ersparnissen?“

Paislee verdrehte die Augen. „Vernichtet, als das Wasserrohr wie eine reife Wassermelone geplatzt ist, und durch die neuen Reifen für den Juke.“

„Ah.“ Er klopfte mit seinen kurzen Fingernägeln auf den Tisch. „Das Leben tritt nochmal nach, wenn du am Boden liegst, das kenn ich gut. Ein trauriger Kampf um ein halbes Brot.“

„Dad hat das manchmal gesagt.“ Ein harter Kampf für die Hälfte dessen, was man eigentlich wollte. Er musste es von ihrem Großvater gehört haben. Dad, Grandpa und Brody hatten alle braune Augen. Familie. Sie atmete aus und bot ihm die andere Hälfte ihres Sandwiches an. „Ich habe schon gefrühstückt.“ Die Eier drehten sich in ihrem Magen um. „Nimm ruhig, wenn du möchtest.“

Er nahm das Angebot erst an, nachdem er sie prüfend angeschaut hatte, ob sie Mitleid mit ihm hatte. Sie stand auf, tätschelte ihren Bauch und nahm den Deckel von ihrem Kaffee. Sie fügte Milch hinzu, rührte ihn um und nahm dann einen vorsichtigen Schluck. Obwohl das Gebräu ab und zu ein nettes Schmankerl war, war ihr Tee lieber.

Sie wusch sich in dem kleinen Bad am hinteren Ende des Shops die Hände. „Du kannst dich hier hinten hinsetzen und fernsehen, solange die Lautstärke leise ist. Stecken wir mal die Köpfe zusammen und schauen, was wir für Ideen haben. Im Park zu schlafen ist keine Option. Ist das alles was du hast?“ Sie wies auf seinen Koffer.

„Ich habe für etwas Geld einen Lagerraum gemietet, wo ich Craighs Sachen hingetan habe. Ich habe ein paar Nächte da geschlafen, aber er ist nicht groß genug. Und sie haben Wachleute.“

Paislees Gedanken kreisten um die unschöne Wahrheit, und sie akzeptierte, dass es wirklich nur eine scheußliche Lösung gab. „Du kannst eine Weile bei mir bleiben, bis wir alles geklärt haben.“

„Ich werde hier kein Wohltätigkeitsfall sein“, verkündete er, und strahlte in seinem zerknitterten Chambray-Hemd und Khakihosen Stolz aus.

„Oh, das hat nichts mit Wohltätigkeit zu tun“, versicherte Paislee ihm rasch. Sie hatte für ein Wunder gebetet, aber das war nicht das Wunder, das sie im Sinn gehabt hatte. Sie fühlte sich wie die Gelackmeierte in einem kosmischen Streich.

Seine langen Finger kratzten wieder seinen Bart. „Hä?“

„Ich könnte etwas Hilfe im Geschäft brauchen.“ Sie beobachtete ihn genau, auf der Suche nach der Wahrheit in einem Mann, den sie nicht kannte. „Kannst du fahren?“

„Ja.“ Seine bärtigen Mundwinkel verzogen sich.

„Wo ist dein Auto?“

„Habe keins in Dairlee gebraucht. Ich bin überall hingelaufen, wo ich hinmusste.“

Hmm. „Ich glaube, wir können zu einer Einigung kommen.“

„Ich werde nicht unbezahlt arbeiten, Mädchen.“

Verstand er nicht, dass sie ihm helfen würde? „Du wirst für Kost und Logis arbeiten.“ Paislee verschränkte die Arme und wartete auf Widerspruch. „Wir müssen dann Grannys Zimmer unten ausräumen, aber wir werden schon zurechtkommen.“

Ihre liebe Gran drehte sich wahrscheinlich im Grab um.