Leseprobe Mörderische Idylle

Prolog

Josef Kaack verfluchte sich und seine verrückten Ideen. Am liebsten hätte er alles hingeworfen.

Das Elsass ist schön, hatte man ihm vorgeschwärmt. Der goldene Herbst, sonnendurchflutete Wälder, laue Abende – so war es ihm beschrieben worden. Doch keiner hatte die nebeligen Morgenstunden und die Wolkenbrüche erwähnt, die unvorhersehbar über der flachen Region zwischen Schwarzwald und Vogesen niedergingen, wenn sich der Herbst von seiner schmuddeligen Seite zeigte wie an diesem Morgen.

Auf was habe ich mich hier nur eingelassen, dass ich in dieser eisigen Frostnacht auf einem wackeligen Hochstand sitze?

Er nahm einen großen Schluck aus seinem Flachmann, um sich aufzuwärmen. Es war kalt, nass und ungemütlich auf der harten Holzbank. Josef Kaack saß auf einem Hartschaum-Kissen, das den einzigen Komfort auf diesem, mit Moos und Flechten bewachsenen Hochstand darstellte. Jeder Rüttler brachte das morsche Holz in Bewegung und verursachte ein lautes Knarzen und Stöhnen im Gebälk, was seinen Gastgeber jedes Mal sofort in Rage versetzte.

»Still jetzt! Merken Sie sich eines: Schweigsamkeit und Gelassenheit ist oberstes Gebot, wenn man sich auf der Pirsch befindet«, ermahnte ihn der Jäger und zog dabei ein silbern schimmerndes Döschen aus der Innentasche seiner Jacke. Er ballte seine Hand zu einer Faust und spreizte dann den kleinen Finger und den Daumen ab, sodass sich eine Kuhle am Ende der Daumenwurzel bildete. In dieser platzierte er ein Häufchen braunes Pulver, hielt sich die Hand unter die Nase und sog es kräftig ein. Anschließend wischte er sich mit Daumen und Zeigefinger die überschüssigen Brösel von Nase und Oberlippe.

»Darf ich Ihnen auch eine Prise Schnupftabak anbieten? Frisch aus Bayern importiert.«

Josef schüttelte angewidert den Kopf. »Nein, danke. Der Flachmann hier, ist meine einzige Droge.«

Der Jäger nieste kräftig, zog ein ehemals weißes Stofftaschentuch aus seiner Jacke und putzte sich dann lautstark die Nase.

»So, und jetzt ist endlich Ruhe, sonst sitzen wir hier für nichts und wieder nichts!«

Der Jäger hantierte umständlich mit einer Thermoskanne herum, goss etwas von dem Inhalt in zwei Müslischüsseln und hielt Josef eine der dampfenden Schalen hin.

»Café au lait avec beurre, so wie mein grand-père ihn schon zum Frühstück serviert hat. Das wärmt die Knochen und schenkt Kraft.«

Josef nahm vorsichtig einen Schluck des gräulich braunen Getränks. Es war klebrig süß, aber trotzdem bitter und der schlechteste Kaffee, den er jemals gekostet hatte. Er schüttelte sich angeekelt, griff hastig zu seinem Flachmann und goss einen kräftigen Schuss Cognac in die Brühe. Dann probierte er erneut und nickte zustimmend. Jetzt war das Gesöff trinkbar.

Josef starrte in den undurchdringlichen Nebel, der sie umgab. Man konnte keine fünf Meter weit sehen, wie sollten sie bei dieser Witterung einen Schwarzkittel ausmachen können? Er überlegte kurz und kramte das Diktiergerät aus seinem Rucksack, um mit dem vereinbarten Interview beginnen zu können.

»Wie ich schon am Telefon erwähnt habe, Herr Jacques Barth, ich und meine Leser interessieren sich für alles, was Sie mir über die Jagd im Allgemeinen und die Wildschweinjagd im Speziellen hier im Elsass erzählen können. Zu Ihrer Person und Ihrer Rolle in diversen, dunklen Machenschaften rund um die Schwarzkittel habe ich ebenfalls die eine oder andere Frage.«

Der Jäger stellte seinen Kaffee ab, senkte das Fernglas und sah Josef schräg von der Seite her an. Er schüttelte kurz den Kopf und zischte wütend: »Hier oben werden Sie mich ganz bestimmt nicht interviewen. Dafür ist heute Mittag, wenn wir den Aufbruch genießen, genug Zeit.«

»Was meinen Sie mit Aufbruch?«

»Alles, was bei der roten Arbeit aus dem Schwarzkittel rausgeholt wird.«

Josef sah seine schlimmsten Befürchtungen plötzlich bestätigt. Ihm wurde allein bei dem Gedanken an gekochte Innereien übel. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken und er versuchte krampfhaft, sich nicht zu übergeben.

Sein Gastgeber sah ihn grinsend an. »Keine Angst, ich verwende nur die Leber, den Rest vergräbt man im Wald.«

Erleichtert nahm Josef einen Schluck aus seinem Flachmann. »Leber ist was Feines, ich habe schon befürchtet, Sie servieren mir Herz und Lunge oder Nierchen, ekelhaft!«

»Ich empfehle Ihnen erneut, dass wir jetzt endlich still sind, sonst verjagen wir das Wild und Ihr Ausflug war für die Katz.«

Der Jäger grinste, griff in die rote Kühlbox, die zu ihren Füßen stand und reichte ihm ein, in Alufolie eingewickeltes Baguette. »Hier, ein kräftiges Frühstück, damit Sie mir nicht erfrieren in den nächsten Stunden. Vergessen Sie nicht, es einzutunken, das gibt Kraft!«

»Stunden? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, hier im feuchten Wald herumzusitzen, ich habe nachmittags noch einen anderen Termin.«

»Um elf Uhr fahren wir zu mir nach Hause, und dort bekommen Sie Ihr Interview, so ausführlich, wie Sie es sich vorstellen, außer Sie plappern noch weiter, dann brechen wir sofort auf und Sie können alles vergessen!«

Ist heute doch mein Glückstag?, grübelte Josef und biss in das, mit Le Vigneron, einem typischen Elsässer Weichkäse, und Schinken belegte Baguette, das der Jäger bereits am Vorabend zubereitet hatte.

Doch der Bissen blieb ihm prompt im Hals stecken, so ekelhaft schmeckte das Sandwich. Wie bekam ein normaler Mensch es fertig, so eine Scheußlichkeit zu essen? Das Brot war labberig und nass, der überreife Käse schmeckte wie ein alter Wischlappen und der Schinken klebte schmierig am Gaumen.

Josef Kaack würgte, spuckte den Brocken im hohen Bogen in den Wald und trank eilig einen großen Schluck Kaffee.

»Das war abscheulich! Wer, in Gottes Namen, isst denn freiwillig so etwas Grauenvolles?«

Der Jäger betrachtete ihn stirnrunzelnd, bis ein leichter Windhauch ihm das Aroma von Ammoniak und Tod in die Nase wehte.

»Oh merde, das war bestimmt die falsche Kühlbox. Das hier ist die Äsung zum Körnen der Wildsauen.«

Der Jäger sah sich suchend um, dann deutete er nach unten. »Am Fuß der Leiter steht die blaue Kühlbox mit unserem Frühstück, Sie haben die verkehrte hochgetragen. Wenn Sie Hunger haben, klettern Sie runter und holen Sie die Box, aber passen Sie auf, dass Sie kein anderer Jäger mit seiner Beute verwechselt. Sie sind nämlich ohne Warnweste unterwegs, das kann schnell gefährlich werden.«

Josef Kaack sah sich um. In dem Nebel würde ihn kaum jemand bemerken, wenn er dicht am Hochstand blieb. »In dieser trüben Suppe sieht mich garantiert keiner, ich denke, das Risiko, angeschossen zu werden, ist minimal.«

»Wenn Sie meinen, steigen Sie hinunter und holen Sie unser Frühstück.«

Josef kletterte unwillig die Leiter hinab. »Ich würde mich lieber ins Auto setzen und warten, bis dieses Theater vorbei ist«, murmelte er ungehalten.

»Das ist Ihre Entscheidung, aber Sie wollten doch wissen, wie es auf der Pirsch zugeht.«

Mist, dachte Josef, der hört aber auch alles! Kaum hatte er die Leiter verlassen, spürte er eine leichte Vibration unter seinen Füssen und das Geräusch von Dutzenden Hufen, die durch das Unterholz pflügten, zerriss jäh die bleierne Stille.

»Die Rotte bricht durch das Dickicht, bringen Sie sich schnell in Sicherheit. Am besten schauen Sie, dass Sie wieder hochkommen!«, schrie der Jäger aufgeregt. Doch bevor Josef Kaack reagieren konnte, vernahm er einen lauten Knall, begleitet von einem plötzlichen Schmerz an seinem rechten Ohr.

»Verdammt noch mal! Welcher Idiot schießt da auf mich?«

Mit einem Satz sprang er auf die Leiter, landete auf der dritten Sprosse, die allerdings unter seinem Gewicht berstend zersplitterte.

Kaack erwischte mit seiner Hand noch den Holm der Leiter, bevor er das altersschwache Gebilde mit sich riss und rücklings auf den Waldboden fiel.

»Hände über den Kopf, zusammenrollen und beten!«, hörte er den Jäger schreien, als der Basse wütend aus der Nebelwand brach und über ihn hinweg rannte, gefolgt von der aufgebrachten Rotte.

Er hörte jetzt unzählige Schüsse wie Donnerschläge durch den Wald hallen.

»Ihre Kollegen schießen wie wild, sie werden die Schwarzkittel aufhalten und dann bin ich gerettet!«, schrie er verängstigt.

»Machen Sie sich so klein Sie können, und bewegen Sie sich nicht mehr, sonst sind Sie gleich tot, Sie Depp! Was machen Sie denn überhaupt da unten?«

»Selber Depp! Sie haben mich doch runtergeschickt, um unser Frühstück zu holen.«

»Das war ein Scherz! Ich habe doch nicht geglaubt, dass Sie wirklich da runter steigen.«

Josef Kaack spürte jetzt sein Herz rasen und ihm wurde schwindlig.

»Mein letztes Stündlein hat geschlagen. Entweder bringen mich die Schwarzkittel oder der Kugelhagel um!«, brüllte er panisch.

»So schnell stirbt man nicht im Elsass«, vernahm er, bevor das Stampfen der rasenden Leiber ihn komplett einhüllte und ihm jegliche Orientierung nahm. Ihm blieb immer weniger Raum, um den wütenden Schwarzkitteln, die ihn umzingelten, auszuweichen.

Panisch versuchte er, sich noch weiter zusammenzurollen. Die Hufe könnten ihn schwer verletzen, gefährlicher waren jedoch die Hauer der Keiler. Diese schlitzten einen erwachsenen Mann ohne Probleme vom Nabel bis zum Kinn auf.

Dann wäre der Aufbruch für die Schwarzkittel angerichtet, kam es Josef in den Sinn.

Er tastete nervös nach seinem Flachmann und versuchte, zitternd einen Schluck zu nehmen, doch es kam nichts heraus. Ungläubig drehte er das silberne Behältnis um und schüttelte es, um sicherzugehen, dass der Cognac tatsächlich zur Neige gegangen war.

»Verflucht«, murmelte er, als er realisierte, dass seine Anti-Stress-Medizin leer war. »Was für ein bescheidener Tag!«

Ein brennender Schmerz durchfuhr seinen Körper, als plötzlich etwas Hartes seinen Kopf streifte und ein Feuerwerk blitzte vor seinen Augen auf. Dann verschwamm die Landschaft um ihn herum und löste sich in einem grauen Nebel auf.

So sieht also mein Ende aus, waren seine letzten Gedanken, bevor er ohnmächtig wurde.

Als Josef erwachte, sah er sich erst einmal desorientiert um. Er lag in einem altertümlich eingerichteten Zimmer auf einem ungemachten Bett. Dunkel und Bedrohlich waren die ersten Begriffe, die ihm in den Sinn kamen, als er die schwarze Holzdecke betrachtete.

Wo bin ich? Oh verflucht, mir platzt gleich der Schädel! Josef griff sich vorsichtig an die Stirn und entdeckte dort eine Bandage. Er erinnerte sich daran, dass ihn irgendetwas am Kopf erwischt hatte. Er tastete also zuerst seinen Schädel ab, dann sein Ohr und zuletzt seinen Hals. Er entdeckte getrocknetes Blut an seinem Kragen; ein dunkelrotes, verkrustetes Rinnsal, das von seiner Schulter bis zu seiner Hüfte sein Hemd ruinierte.

»So ein Scheibenkleister, irgendein Idiot hat mich tatsächlich angeschossen!«, schrie er wütend, als plötzlich aus heiterem Himmel der Jäger durch die Tür trat.

»Oder ein Schwarzkittel hat Sie mit seinem Huf gestreift, das werden wir wohl nicht so leicht herausfinden können.«

»Ich fühle mich wie ein überfahrener Frosch, der an einem Reifen klebt.«

»Das kann ich mir vorstellen. Sie hatten dennoch großes Glück, mein lieber Freund. Dafür, dass die komplette Rotte an Ihnen vorbeigestürmt ist, sehen Sie noch ganz gut aus.«

»Sehr witzig! Das nächste Mal warnen Sie mich gefälligst vor, das ist ja lebensgefährlich.«

»Ich habe Sie gewarnt, Herr Kaack.«

»Warum haben Sie eigentlich nicht geschossen?«

Der Jäger hielt kurz inne, bevor er sagte: »Sie sind wieder wach, das ist gut. In einer halben Stunde gibt es Essen. Der Aperitif steht schon auf dem Tisch.«

Josef hatte bemerkt, dass seine Frage dem Jäger offenbar unangenehm gewesen war. Nach dem Essen würde er der Sache auf den Grund gehen, doch zuerst brauchte er eine Handvoll Wasser im Gesicht.

»Wo kann ich mich ein wenig frisch machen? So möchte ich mich ungern an den Tisch setzen.«

»Die Tür raus und dann rechts. Dort finden Sie ein Bad, um sich zu waschen. Saubere Handtücher liegen auf der Waschmaschine bereit.«

Der Duft von karamellisierten Zwiebeln und frischen Kräutern lag in der Luft, als Josef aus dem Bad kam. Außerdem hörte er das geschäftige Klappern von Geschirr in der Küche, was bedeutete, dass Jacques gerade das Essen vorbereitete.

Auf der schmalen Theke, die die offene Küche zum Essplatz hin abgrenzte, standen zwei Gläser mit einer klaren, gelben Flüssigkeit. »Nehmen Sie sich ein Glas, das ist ein Rezept von meiner Oma. So einen Anisette finden Sie in ganz Frankreich nicht, ach was sage ich, in ganz Europa.«

Josef betrachtete skeptisch das ausgeprägt nach Anis duftende Getränk. Zögerlich kostete er einen kleinen Schluck. Sofort fühlte sich sein Mund taub an, er schüttelte sich und stellte das Glas hastig ab. »So was trinken Sie zum Mittag? Das würde ich ja nicht einmal meinem Mörder anbieten.«

Jacques drehte sich um. Lachend schüttelte er den Kopf. »Aber klar doch, nur nicht pur. Sie müssen den Likör zuerst mit Wasser aufgießen und Eiswürfel hinzufügen, erst dann entfaltet sich das wahre Aroma. Pur ist es eher ein Anästhetikum, das auch ausgezeichnet gegen Zahnschmerzen hilft.«

Josef tat, wie ihm geheißen war. Vorsichtig kostete er nun die, inzwischen milchig trüb gewordene Flüssigkeit. »Das ist ja nichts anderes als gelber Ouzo. Sagen Sie mir das doch gleich.«

»Ich habe doch erklärt, dass es Anisette ist. Alle anishaltigen Liköre, wie Yeni Raki, Ouzo, Pastis, Ricard, selbst Absinth zählen zu diesen Getränken. Diese regen den Appetit an und helfen bei der Fettverdauung.«

»Was ist an Ihrem so außergewöhnlich?«

»Ich setze meinen immer mit echtem, französischem Anis an, nicht mit diesem billigen China-Import-Sternanis. Das erzeugt ein milderes Aroma und ist CO2-verträglicher.«

Jacques schob jetzt einen Teller zu Josef hinüber. »Probieren Sie mal, das ist eine hausgemachte Elsässer Wildsau-Salami, die stellt einer meiner Kollegen her.«

Josef roch vorsichtig an der Hartwurst und allein der Geruch ließ ihn schon würgen, daher lehnte er dankend ab. »Ich habe das Aroma von luftgetrockneter Rohwurst, geschweige denn deren Geschmack, schon als Kind nicht ertragen.«

Jacques leerte sein Glas. »Soll ich Ihnen noch einen zubereiten?«

»Nein, danke, aber Sie hatten recht, mein Magen fühlt sich schon besser an. Kann ich Ihnen in der Küche helfen?«

»Nein, es ist alles vorbereitet. Nehmen Sie Platz, ich komme in wenigen Minuten mit dem Essen an den Tisch.«

Jacques wendete sich wieder seinen Töpfen zu. »Was möchten Sie trinken? Einen Roten oder lieber einen Rosé?«, erkundigte er sich, ohne sich vom Herd wegzudrehen.

»Ich bevorzuge Rotwein.«

»Das trifft sich gut. Machen Sie bitte den Pinot Noir auf und schenken Sie uns zwei Gläser ein. Es steht eine gekühlte Flasche auf dem Tisch.«

»Sie haben einen Rotwein gekühlt?«

»Ja, der Pinot Noir ist einer der wenigen Roten, die man am besten gekühlt, bei vier bis sechs Grad, genießt.«

Der Jäger kam jetzt mit dem Essen aus der Küche und Josef goss den rubinrot schillernden Wein in die Gläser.

Anschließend betrachtete er seinen Teller, zerteilte das Fleisch, kostete und hielt inne. Er war angenehm überrascht.

»Perfekt, ein wahrer Genuss, der auf der Zunge zergeht.«

Er probierte die Spätzle, und kaute die Beilage genussvoll. »Die Spätzle sind ebenfalls ganz hervorragend, Chapeau, kochen können Sie.«

Jacques beobachtete seinen Gast, der mit großem Appetit das Mittagessen bis auf den letzten Happen verspeiste.

»Ich mache das eigentlich selten, aber haben Sie vielleicht ein Stückchen Baguette für die Soße?«

»Kommt sofort. Es freut mich, dass Ihnen meine einfache Hausmannskost so mundet. Ein Stück Käse zum Abschluss vielleicht?«

»Nein, lieber einen Cognac zur Krönung des herrlichen Essens.« Bei diesen Worten sah Josef zufällig auf seine Uhr.

»Oh, es ist schon dreizehn Uhr, jetzt wird es aber Zeit für das Interview. Wie erwähnt, habe ich noch einen anderen Termin heute.«

Sie nahmen bei Kaffee und Cognac im Wohnzimmer Platz, das Diktiergerät auf dem Tisch, ein Block mit Fragen und einem Kugelschreiber daneben.

»Herr Barth, ich möchte Sie wie gesagt gern zur Wildschweinjagd im Elsass, und wegen der verschiedenen Gerüchte Ihrer Person betreffend interviewen.«

»Sagen Sie Jacques zu mir, das ist mir angenehmer.«

»Wie Sie wünschen, Jacques. Wie ich heute beobachtet habe, waren Sie nur passiv an der Jagd beteiligt, und doch wurden Sie mir als Jäger sehr empfohlen. Warum waren Sie nicht bewaffnet?«

Man sah Jacques deutlich an, dass ihm diese Frage unangenehm war.

»Das hat Gründe, die ich nicht unbedingt weiter vertiefen möchte. Es geht bei diesem Interview aber nicht um mich, sondern um die Schwarzkittel und ihre ungebremste Ausbreitung im Elsass, wenn ich mich recht erinnere.«

»Wie Sie möchten, dann kommen wir später darauf zurück. Ich bin zu Ihnen gekommen, weil Ihr Name immer wieder mit dem jüngsten Skandal in Baden-Württemberg in Verbindung gebracht wird. Soweit ich informiert bin, wurden dort Wildschweine ohne vorherige veterinärmedizinische Untersuchung verkauft. Was sagen Sie zu diesem Vorwurf?«

»Sie sind nur hergekommen, um mich durch den Dreck zu ziehen?« Jacques stand wütend auf. »Dann können Sie nämlich Ihre Unterlagen zusammenpacken und verschwinden.«

Josef tat so, als habe er diesen Rauswurf gar nicht gehört. »Wollen Sie etwa abstreiten, in diesen Skandal verwickelt zu sein? Ihr Name wurde schließlich mehrfach in diesem Zusammenhang erwähnt.«

»Herr Kaack, ich bitte Sie hiermit ein letztes Mal höflich, mein Haus zu verlassen. Ich kann zu dieser ganzen, verleumderischen Story nur eines sagen: Sie wollen ökologisches Fleisch, dessen Tier zuvor biologisch und artgerecht ernährt worden ist? Dann versuchen Sie doch mal eine Wildsau aus dem Elsass. Die wachsen grundsätzlich ohne Kraftfutter auf, sind naturbelassen und CO2-neutral!«

Jacques war währenddessen zur Tür gegangen und hielt diese unmissverständlich auf. »Wenn ich bitten darf, verlassen Sie jetzt meinen Grund und Boden, und nehmen Sie Ihren Flachmann mit.« Er sah Josef zornig an. »Überlegen Sie sich gut, was Sie in Ihrer Reportage bringen, denn eine Anzeige wegen übler Nachrede könnte Ihnen durchaus schaden.«

Josef Kaack hatte verstanden. Diese Partie hatte er offenbar verloren. Er griff nach seinen Sachen, schaltete das Diktiergerät aus und betrachtete dann verwundert den Flachmann, den Jacques ihm vor die Nase hielt. »Woher haben Sie meinen Flachmann?«

»Der ist Ihnen aus der Hand gefallen, als Sie, zusammengerollt wie ein Embryo, am Boden lagen und um Ihr Leben gebangt haben. Da er leer war, habe ich Cognac für Sie nachgefüllt. Sie werden ihn nötig haben, wenn Sie weiterhin in dieser Richtung ermitteln.«

Josef nahm einen kräftigen Schluck. »Nun denn, auf Ihr Wohl, Herr Jacques Barth. Sie werden noch von mir lesen. Ich wollte Ihnen hier und heute die Chance geben, sich persönlich zu den Vorwürfen zu äußern, aber ich werde alles, was ich benötige, auch in den Untersuchungsberichten der Polizei finden können.«

»Wenn Sie denken, dass Ihnen das guttun wird, machen Sie ruhig weiter so, Herr Kaack!«

Jacques warf die Tür hinter Josef ins Schloss, stürmte zu seiner Bar hinüber und stürzte einen doppelten Williams hinunter, um seine flatternden Nerven zu beruhigen.

»Verdammt, warum kommt dieser Idiot auch ausgerechnet zu mir? Ich kann es absolut nicht brauchen, dass mich meine Kunden mit diesem bescheuerten Bürgermeister von Baden-Baden und seinen undurchsichtigen Machenschaften in Verbindung bringen.«

Er griff nach der Flasche und dem Glas, zuckte kurz mit den Schultern, setzte die Flasche direkt an und nahm einen kräftigen Schluck vom Williams.

»Auf dein Wohl, Josef Kaack!«

Dieser stieg derweil in sein Auto und drehte den Rückspiegel, um seine Verletzungen betrachten zu können. Er griff behutsam an sein Ohr und betastete seinen Kopf. »So schlimm wird es schon nicht sein.«

Er löste das Pflaster, mit dem die Mullbinde fixiert war und wickelte den Verband langsam ab. Als er die blutverkrustete Wunde betrachtete, atmete er erleichtert auf.

»So wild ist die Verletzung ja gar nicht, nur ein Kratzer am Ohr und ein kleiner Schnitt an der Schläfe.«

Er griff in das Handschuhfach, nahm eines der desinfizierenden Feuchttücher aus der Verpackung und wischte sich damit das verkrustete Blut ab, bis nur noch ein roter Streifen über der Schläfe von seiner Kollision mit einer Wildsau zeugte. Dann wechselte er sein Hemd, denn zum Glück bewahrte er immer ein Ersatzhemd in seinem Wagen auf, nahm einen Schluck aus seinem Flachmann, betrachtete sich erneut im Rückspiegel und nickte zufrieden.

»So kann ich ohne Weiteres zu meinem nächsten Termin.«

Mit quietschenden Reifen fuhr Josef Kaack vom Hof und sah dabei schon die Schlagzeile vor sich: Radioaktives Wildschwein im Elsass verschachert!

Vorspeise

Kapitel 1

Christof Weinkeiler sog die frische Waldluft tief ein. Der würzige Duft von Pilzen, das spezielle Aroma des aufziehenden Herbstes, die orangerot verfärbten Blätter, die den Wegesrand säumten, all das ließ ihn zur Ruhe kommen. Er streichelte Gonzo, den Golden Retriever-Rüden, der ihn seit einigen Monaten begleitete, über den Kopf.

Gonzo sah zu seinem Herrchen auf, rieb sich an Christofs Bein und setzte sich in das, vom Morgentau feuchte Gras. Christof kniete sich nieder, kraulte seinem Hund die Ohren und hielt ihm ein Glas vor die Nase, in dem eine, mit etlichen Kratern überzogene, schwarze Knolle lag. Aufgeregt schnüffelte Gonzo daran.

Christof stand auf und drehte den Deckel des Glases langsam auf.

»Ich weiß mein Lieber, darauf hast du schon gewartet.«

Schwanzwedelnd hatte der Hund sich aufgerichtet und beobachtete, wie Christof den Deckel abnahm und das Glas schließlich vor seine Nase hielt.

»Hier, such, mein Braver, zeig mir wo die köstlichen kleinen Knollen wachsen.«

Er ließ seinen Hund an der Trüffelknolle schnüffeln, sodass dieser mit seiner feinen Nase die Spur der raren Pilze aufnehmen konnte. Gonzo hielt seinen Kopf kurz in den Wind, dann trabte er, am Boden schnüffelnd, in den Wald hinein und zog Christof zu einer der alten Eichen. Dort begann er, dicht am Stamm die Erde aufzuscharren und grub seine Nase in das feuchte Moos.

Christof nahm seinen Rucksack vom Rücken, stellte ihn auf den Waldboden und nahm die kleine Spitzschaufel, die seitlich daran festgeschnallt war.

Gonzo hatte sich inzwischen schwanzwedelnd hingesetzt.

»Was haben wir denn da gefunden?« Christof kniete sich neben Gonzo in das feuchte Moos.

Der Hund bellte kurz. Er wartete auf seine Belohnung, darum stupste er sein Herrchen immer wieder mit der Schnauze an. Erfreut über den schnellen Erfolg streichelte er Gonzo und holte ein Leckerli aus der Tasche, das er ihm vor die Schnauze hielt.

»Hier mein Lieber, das hast du gut gemacht.«

Gonzo schnappte sich seine Belohnung und legte sich anschließend auf den feuchten Boden, während Christof einmal um den mächtigen Stamm herumging. Er roch bereits das feine Aroma der Pilze. Als er auf der anderen Seite des Baumes ankam, bot sich ihm das übliche, enttäuschende Bild.

Eine Rotte Wildschweine hatte sich schon daran gütlich getan. Tiefe Gräben zeugten von ihrer Gier auf das schwarze Gold des Waldes.

»Cacahuète! Schon seit drei Wochen finde ich nur leere Löcher, das ist alles, was mir die Schwarzkittel übrig lassen.«

Er kniete sich nieder und ließ die humusreiche Erde, auf der Suche nach winzigsten Überresten, durch seine Finger rieseln. Resigniert stand er wieder auf und verstaute sein Werkzeug in seinem Rucksack.

Gonzo saß noch immer an dem Platz, wo er in der Erde gescharrt hatte.

»Was ist los, hast du noch etwas gefunden?«

Er kniete sich nieder und tastete durch das Laub. Anscheinend hatte er doch Glück, eine Knolle, so groß wie eine Walnuss lag verborgen unter dem feuchten Blattwerk, genau dort, wo Gonzo gegraben hatte.

Vorsichtig hob er den Pilz auf und mit einem Pinsel aus Schweineborsten entfernte er behutsam die Erde, reinigte den Pilz und kontrollierte, ob sein Fund keine Bissspuren oder andere Beeinträchtigungen aufwies. Nach einer akribischen Begutachtung nickte er befriedigt. Er schlug die Knolle sorgfältig in ein Blatt Küchenpapier ein und legte sie zu der anderen in das Sammelglas. Selbst frischen Trüffel ernten zu können, war einer der Gründe, warum es Christof Weinkeiler ins Elsass verschlagen hatte.

»Komm Gonzo, wir wandern noch hinüber zur Lichtung, wo die Maroni-Bäume stehen. In wenigen Minuten lichtet sich der Nebel, dann können wir uns in der Herbstsonne aufwärmen.«

Zufrieden schlenderte er weiter, warf ab und zu einen Stock für Gonzo zum Apportieren und klaubte dabei die frischen Eicheln auf, die überall am Boden verstreut lagen.

Ich liebe mein neues Leben, dachte er glücklich.

An einen alten Baumstamm gelehnt, saß er auf der Lichtung und beobachtete die Sonne, deren Strahlen sich ihren Weg durch den grauen Nebel bahnten.

»Es ist eine Wohltat«, murmelte er, und streichelte zärtlich Gonzos Kopf. »Das sind die Augenblicke, an denen ich nichts mehr bereue. Mein Leben fühlt sich endlich wieder normal an, seit ich mich hier ins Elsass zurückgezogen habe.«

Als die Sonne den grauen Dunst vertrieben hatte, stand Christof auf. »Kommst du, Gonzo? Ich habe heute noch einiges zu erledigen, wir können nicht den ganzen Tag hier faul rumsitzen, so gern ich das auch täte.«

Gelassen erhob sich der Golden Retriever, gerade so als würde seine Heiligkeit ihm Gnade erweisen. Gemächlich trottete der Hund, immer einen Schritt vor ihm her, bis sie kurz vor ihrem Zuhause waren.

Dort erwachte Gonzo plötzlich jäh aus seiner Trance. Wie ein Pfeil schoss er los und rannte auf den alten Hof zu. In solchen Momenten wusste Christof, dass es die richtige Wahl gewesen war, denn er hatte sich für ein Zuhause entscheiden und nicht nur für ein Haus.

Im Hof hatte er schon mehrere Kilo Eicheln zum Trocknen ausgelegt, um sie später zu Mehl mahlen zu können. Zuvor musste er die Früchte allerdings rösten, schälen und mindestens eine Woche lang wässern, um die Gerbstoffe herauszulösen und sie auf diese Weise genießbar zu machen.

Christof wässerte zuerst seine heutige Ausbeute, stellte dann den Trüffel kühl und versorgte anschließend Gonzo mit Fressen und Wasser, bevor er sich selbst sein petit déjeuner zubereitete.

Er freute sich schon auf sein knuspriges Baguette, das frisch vom Bäcker stammte, bestrichen mit Bauernbutter und selbst gemachter Mirabellenmarmelade. Dazu gab es eine Bol de Café au lait. Er bereitete sich aus den frischen Eiern, die ihm sein Nachbar immer vor die Tür stellte, einem Schuss Sahne und zwei Tropfen Wasser außerdem noch ein luftiges Rührei zu.

Unschlüssig betrachtete er den gedeckten Tisch. Rühreier, Baguette, Butter, Marmelade … irgendetwas fehlte da noch.

Christof holte kurzerhand das Glas mit dem Trüffel aus dem Kühlschrank und hobelte ein paar feine Scheiben des aromatischen Pilzes über die dampfenden Eier. Sofort breiteten sich die erdigen Aromen in der Küche aus. Jetzt war alles perfekt!

Christof setzte sich nach dem genussvollen Frühstück in sein Büro, um weiter an seinem Manuskript zu arbeiten. Er schrieb schon einige Jahre an dem Kochbuch mit nachhaltigen Speisen. Seit zwei Wochen überarbeitete er die Rezepte noch einmal und versuchte dabei, die Zubereitungsschritte besser zu beschreiben, da er von den Verlagen bisher nur fadenscheinige Absagen erhalten hatte.

Nach drei Stunden wurde ihm die Arbeit zu viel, denn sein Kopf schmerzte, seine Augen brannten und die Buchstaben auf dem Bildschirm verschwammen mehr und mehr zu einem grauen Brei. Es war also höchste Zeit für eine Pause. Er sah aus dem großen Fenster, und erkannte, dass der Nebel komplett verschwunden war, sodass er einen Blick auf ein unglaubliches Panorama hatte.

Rechterhand sah er die Vogesen, links war, bei klarer Sicht, das stolze Relief der Haut-Koenigsbourg erkennbar. Direkt hinter seinem Haus standen alte Obst-Bäume … Zwetschge, Mirabelle, Pfirsich und Walnuss. Er hatte den Baumbestand erst letzte Woche um Kiwi, Sharon und Feige erweitert.

Christof erahnte bereits die Blütenpracht und freute sich auf die reiche Ernte, die ihn in Kürze erwartete. Sein Garten grenzte an abgeerntete Maisfelder, und dahinter konnte man die Schnellstraße und das weite Tal sehen, das sich bis zu den Ausläufern der Vogesen erstreckte. Diese Aussicht würde ihm erhalten bleiben, denn die Felder wurden von einem jungen Bauern und dessen Frau in seiner Nachbarschaft bewirtschaftet. Somit war sichergestellt, dass ihm die nächsten Jahre niemand seinen Ausblick verbaute. Die ruhige Lage des Hofes hatte ihn schnell davon überzeugt, dass dies sein neues Zuhause werden würde. In der Straße gab es außerdem einen Holzhändler, eine Bibliothek und eine Kinderkrippe. Am Ende der Seitenstraße, in dem angrenzenden Wald konnte man außerdem die Überreste des Schlosses besichtigen, das der Straße ihren Namen verliehen hatte.

Christof hörte jetzt Gonzo bellen. Das war ein untrügliches Zeichen dafür, dass der Briefträger gerade seine Runde drehte, was eine willkommene Ablenkung vom Schreiben darstellte. Er ging zum Briefkasten und nahm die Post heraus. Wie üblich befanden sich darunter einige Wurfsendungen, die er ungeöffnet ins Altpapier warf. Doch dann stutzte er kurz.

Hatte sich da ein Brief unter die ganze Werbung geschmuggelt? Er griff nach dem Umschlag und las neugierig den Absender.

Sein Herz setzte kurz aus, als er erkannte, dass es ein weiteres Schreiben eines Verlages war. Das konnte nur bedeuten, dass sie sein überarbeitetes Manuskript dieses Mal annahmen! Er riss den Brief aufgeregt auf und las die Nachricht. Er stutzte kurz, steckte den Brief aber in seine Hosentasche.

Wütend stapfte er durch sein Haus, zog sich für die Baustelle um und griff nach seiner Werkzeugtasche.

Er stand jetzt im ersten Stock an der hintersten Wand seines Büros vor einer uralten Tür ohne Schloss. Er hatte sie während der Umbauarbeiten hinter einer Holzverkleidung entdeckt. Mit einem kräftigen Tritt öffnete Christof Weinkeiler jetzt den, vermutlich direkten Durchgang vom Wohnhaus in die Scheune. Staub schlug ihm entgegen, als die alte Tür, die er aus den verrosteten Angeln getreten hatte, auf dem Boden aufschlug. Die blind gewordenen Fenster beleuchteten den Raum nur sehr spärlich. Es war gerade hell genug, um sich einen Überblick über das Chaos aus alten Möbeln, verstaubten Aktenordnern, einem Stapel Rosshaarmatratzen und wurmzerfressenem Brennholz verschaffen zu können.

Vorsichtig machte er einen Schritt in den Raum hinein. Er tastete nach einem Lichtschalter und fand schließlich einen Drehschalter, der sich allerdings mit einem leisen Knirschen unter seinen Fingern auflöste und zu Staub zerfiel. Die abgebrochenen Kupferkabel bohrten sich unvermittelt in seinen Handrücken. Aus Angst vor einem Stromschlag zuckte er erschrocken zurück, erinnerte sich nun aber daran, dass in diesem Teil der Scheune der Strom glücklicherweise abgeklemmt war. Er rieb sich den schmerzenden Handrücken und wartete, bis sich seine Augen an das schummerige Licht gewöhnt hatten.

Der Staub legte sich jetzt langsam, sodass er den Raum genauer betrachten konnte. Er war nicht besonders angetan von dem Bild, das sich ihm bot. Im Kaufvertrag hatte gestanden, dass das Gebäude ausgeräumt und besenrein übergeben werden würde. So wie es hier aussah, zählte die Scheune offenbar nicht dazu.

Christof Weinkeiler krempelte die Ärmel hoch. Heute war er genau in der richtigen Verfassung, dieses Chaos zu beseitigen. So konnte er sich wenigstens abreagieren. Der Gedanke an den Brief in seiner Tasche brachte ihn nämlich erneut in Rage. Es war eine persönlich und giftig formulierte Absage gewesen. Gerade so als wollte ihn der Schreiber bewusst verletzen.

Er schüttelte den Kopf, verdrängte den Gedanken an die erneute Absage und begann, die Möbel zur Seite zu schieben, um sich einen Weg zur gegenüberliegenden Wand bahnen zu können. Er hatte das Nachtkästchen vor sich kaum berührt, als sich auch schon das erste Unglück anbahnte. Die Marmorplatte auf dem Holzkästchen geriet in Schieflage, weil er einen der Füße gestreift hatte. Das wurmzerfressene Holz zerbröselte praktisch vor seinen Augen und das Kästchen zerbrach in seine Einzelteile. Mit einem lauten Krachen prallte die Steinplatte vor Christofs Füßen auf den Boden und zersprang in unzählige Stücke.

Oh Mist, ich muss mir unbedingt Sicherheitsschuhe anziehen, das hier ist gefährlicher, als ich gedacht habe. Ich werde Hilfe benötigen, damit ich nicht von dem ganzen Schrott erschlagen werde.

Vorsichtig schlängelte sich Christof an dem deckenhoch gestapelten Gerümpel vorbei zum Fenster. Er riss es auf, um ein wenig zu lüften, und sah einen silbernen City-Geländewagen langsam die Straße entlangfahren, bevor dieser abrupt vor seinem Haus stehen blieb. Da das Hoftor offenstand, fuhr der Wagen einfach unaufgefordert auf Christofs Hof. Gonzo hatte den Ankömmling offenbar ebenfalls bemerkt. Er stand auf, hob den Kopf und schnupperte. Er bellte kurz, sah zu Christof hinauf, legte sich auf seinen Platz und wartete ab.

Kapitel 2

Von seiner erhöhten Position aus konnte Christof das Geschehen unbemerkt überblicken. Er beobachtete neugierig den Wagen. Wollte der Fahrer vielleicht nur umdrehen und war deshalb rückwärts bei mir vorgefahren? Grübelnd betrachtete er die Szenerie.

Er sah, dass ein Mann hinter dem Steuer saß, der etwas in seiner Hand las und augenscheinlich die Nummer an Christofs Hoftor kontrollierte. Kopfschüttelnd stieg der Fremde aus, blieb schwankend neben dem Wagen mit dem deutschen Kennzeichen stehen und sah sich um. Er musste sich an dem Auto festhalten, um nicht umzufallen, torkelte kurz darauf zwei Schritte in Richtung Zaun und blieb erneut stehen.

Christof traute seinen Augen nicht. War der Fremde da unten etwa betrunken?

In diesem Moment übergab sich der Besucher, spie auf Christof Weinkeilers frisch gepflasterten Hof und riss bei seinem schwankenden Gang eine der provisorisch aufgestellten Laternen um, bevor er den Hund erblickte.

Der Mann wich sofort zurück, als er Gonzo sah, der gerade faul vor der Haustür lag. Das knirschende Geräusch seiner Schritte auf dem Kies ließ den Hund allerdings aufhorchen. Christof beobachtete das Schauspiel von seinem Logenplatz aus und fragte sich, wie Gonzo auf den Fremden reagieren würde.

Wie erwartet stand der Hund auf, reckte seine Schnauze in die Luft und schnupperte. Der Mann trat hastig hinter die Fahrertür und hielt sich verkrampft daran fest.

»Ist irgendjemand zu Hause? Würde bitte jemand diesen Köter anbinden?«, rief der Mann verängstigt.

Genau in diesem Augenblick stellte sich Gonzo demonstrativ in die Mitte des Hofes, schüttelte sich und begann vernehmlich zu bellen, als wolle er klarstellen, dass ihm dieser Gast nicht geheuer war.

»Herr Weinkeiler? Bin ich hier richtig? Sind Sie zu Hause?«, schrie der Besucher laut, um Gonzo zu übertönen.

Christof beobachtete das Schauspiel ungläubig.

Was macht ein Betrunkener in meiner Einfahrt? Warum kotzt der mir in den Hof und führt sich so auf, als wäre er hier daheim, fragte er sich kopfschüttelnd. Er betrachtete den Mann eine Weile, der nun zur Haustür wankte und dort nach einem Namensschild suchte.

Ich muss etwas unternehmen, bevor der mir erneut auf den Hof spuckt.

»Mahlzeit! Wie kann ich Ihnen helfen?«, rief er zu dem Fremden hinunter.

Dieser sah sich überrascht um.

»Bin ich hier richtig bei Christof Weinkeiler, dem Verfasser des Foodblogs Regional

Christof musterte den Mann erneut; er sah wenig vertrauenserweckend aus.

»Wer will das wissen?«

Der Fremde sah sich weiterhin suchend um.

»Hier oben!«, rief Christof schließlich.

Jetzt entdeckte der Mann den orangen Baustellenhelm, der ein Stockwerk über ihm am anderen Ende des Hauses aus einem Fenster lugte.

»Ich komme von einem Frankfurter Verlag. Sie wurden von meiner Sekretärin über meinen Besuch informiert, wenn ich mich recht erinnere.«

»Nein, ich wurde von niemandem über Ihren bevorstehenden Besuch unterrichtet. Ich habe heute keine Zeit für Interviews oder Sonstiges.«

»Herr Weinkeiler, ich habe mich vier Stunden lang durch einen Mega-Stau auf der Autobahn gequält, nur um Ihre regionale, nachhaltige Küche verkosten zu können. Wir planen einen großen Bericht über die verschiedenen deutschsprachigen Foodblogs. Wenn Sie mich empfangen, werde ich positiv über Sie und Ihren Blog schreiben, ansonsten könnte ich Sie nur, als einsiedlerischen Eigenbrötler unter Sonstiges erwähnen.«

Erpresste ihn der Mann etwa gerade? Sein Blog war aus einer Laune heraus entstanden, ohne, dass er dabei an Profit gedacht hatte.

»Wie kommen Sie darauf, dass ich Interesse daran habe, in Ihrem Bericht erwähnt zu werden? Der Blog ist nur ein Hobby, nichts weiter.«

»Das ist Ihre Entscheidung, überlegen Sie es sich gut. Ich garantiere Ihnen, dadurch werden Ihre Klicks durch die Decke gehen, ansonsten wird Ihre Seite irgendwann einfach im Internet–Nirwana verschwinden, wie schon die Seiten vieler anderer, hochnäsiger Blogger.«

Christofs Foodblog war immer bekannter geworden und die ersten Anfragen für Produkttests und Bewertungen waren inzwischen eingetrudelt. Er hatte viertausend Abonnenten und annähernd hunderttausend Klicks auf einer beliebten Videoplattform. Er fand es mittlerweile recht spaßig, seine kulinarischen Ausflüge mit regionalen Produkten mit dem Rest der Welt zu teilen.

Damit hatte er niemals gerechnet. Während der Anfangszeit hatte er sich jede Woche dazu zwingen müssen, einen neuen Blogbeitrag zu verfassen.

Vielleicht sollte er mit dem Mann reden, es würde seiner geplanten Kochschule für zwei nicht schaden, wenn sein Bekanntheitsgrad im Internet weiter steigen würde.

»Warten Sie, ich komme runter, dann reden wir über Ihre Reportage.«

Christof Weinkeiler klopfte sich den Staub von seinen Klamotten und stapfte missmutig nach unten in den Hof. Kurz darauf stand er dem Fremden gegenüber und musterte das blasse Gesicht seines Besuchers, der übel zugerichtet aussah.

»Sie sehen nicht gut aus, kommen Sie herein, setzen Sie sich. Ich hole Ihnen ein Glas Wasser, das hilft bestimmt. Obwohl, so, wie Sie aussehen, empfehle ich Ihnen eher, eine Notfall-Ambulanz aufzusuchen. Sie gehören dringend in ärztliche Behandlung.«

»Das ist nicht nötig, mir wäre es lieber, wenn Sie mir stattdessen eine Probe Ihrer Kochkünste kredenzen. Zur Einstimmung vielleicht einen Feldsalat mit Ihrem hausgemachten Schlehen-Balsamico und Wiesenblüten. Als Hauptgericht steht mir der Sinn nach Wildschwein–Bäcklein an Polenta mit karamellisierten Karotten und zum Abschluss vielleicht eine saftige Tarte Tatin.«

Christof Weinkeiler sah den Mann überrascht an, das war das Menü, das er diese Woche in seinem Blog veröffentlichen wollte.

»Wissen Sie was … kommen Sie in vier bis fünf Stunden wieder, dann können Sie Ihr Degustationsmenü genießen. Das mit den Bäcklein ist überhaupt kein Problem, ich habe gestern welche gebeizt.«

»Das passt mir gut. Welches Hotel können Sie mir empfehlen? Ich möchte mich jetzt gern ein wenig frisch machen, außerdem denke ich nicht, dass ich heute Nacht nach Frankfurt zurückfahre.«

»La Couronne im Nachbardorf ist ganz in Ordnung für den Preis, den sie verlangen.«

Der Mann stieg daraufhin in sein Auto und fuhr vom Hof, ohne sich für das widerrechtliche Betreten zu entschuldigen oder sich zu verabschieden.

Christof sah dem Wagen zweifelnd hinterher. Die ganze Geschichte kam ihm äußerst seltsam vor.

Angeekelt vom Geruch des Erbrochenen griff er nach dem Schlauch, um die Sauerei auf seinem Hof zu bereinigen.

»So etwas Unverschämtes ist mir bisher noch nie passiert!«, fluchte er lautstark und spülte das Erbrochene in den Gully. Gonzo bellte, als ob er seine Aussage bestätigen wollte.

Christof Weinkeiler begab sich in seine Küche und bereitete das Essen vor. Er variierte das Menü allerdings ein wenig. Als Vorspeise würde er mit gehackter Wildschweinleber gefüllte Champignons auf Rucola-Salat servieren, danach den gewünschten Feldsalat, verfeinert mit geräucherter Entenbrust und Wachtel-Spiegeleiern.

Er schälte gerade die Champignonköpfe, als er durch den Lattenzaun den vertrauten, violetten Renault Zoe vorfahren sah.

Seine Nachbarin, Stephanie Benard, fuhr soeben auf ihren Hof. Er beobachtete sie und genoss es, wie ihr schulterlanges, brünettes Haar bei jeder Bewegung ihres Kopfes ihr schlankes Gesicht umrahmte und ihre hohen Wangenknochen betonte. Als sie ausstieg, erkannte er an ihren Stöckelschuhen und ihrem Hosenanzug, der ihre zarte Figur perfekt betonte, dass sie gerade aus dem Büro kam.

Stephanie arbeitete als Sekretärin bei einem Notar oder Anwalt, so genau hatte er sich das nicht gemerkt. Sie half ihm bei seinem Manuskript und er zeigte ihr dafür im Gegenzug seine Tricks beim Kochen. Sie war eine wahre Zauberin am Computer und er bewunderte es, wie ihre Finger über die Tastatur flogen. Unweigerlich verfolgte er, wie sie anmutig den Zaun entlangschritt.

»Cacahuète!«, murmelte er, weil er sich aufgrund der Ablenkung in den Finger geschnitten hatte. Er betrachtete seinen Daumen, es war nur ein leichter Kratzer. Christof schlug sich mit der Hand auf die Stirn, er hatte den Termin mit Stephanie vollkommen vergessen!

An diesem Nachmittag waren sie verabredet, um einige kleine Vorspeisen, einen sogenannten Degustationsteller, anzurichten. Es bereitete ihm beinahe körperliche Schmerzen, ihr absagen zu müssen, da sie inzwischen eine willkommene Ablenkung und eine lieb gewonnene Freundin in seinem ansonsten so einsamen Leben hier im Elsass war.

Christof beobachtete, wie Stephanie beschwingt durch den Hof auf das Haus zukam und öffnete ihr hastig die Tür. Sie benutzte zwar immer den Klingelknopf am Tor, wartete aber nie, bis er herauskam, um ihr zu öffnen. Er genoss es, wie herzlich sie ihn begrüßte. Es war zwar hier in Frankreich üblich, dass man sich mit einem angedeuteten Küsschen links und rechts auf die Wange begrüßte, doch bei ihnen war aus dem gehauchten Küsschen schon bald mehr geworden.

»Salut Stephanie, ça va? Du siehst heute wieder mal sehr gut aus.«

»Salut Christof, mir geht es auch ausgesprochen gut. Ich bin hungrig, was kochen wir Feines?«

Christof wurde sofort ein wenig verlegen. »Cacahuète!«, murmelte er leise.

Sie lächelte ihn an. »Willst du Erdnüsse kochen? Erklär mir mal, was du immer damit hast. Cacahuète bedeutet doch Erdnuss, oder nicht?«

»Ich muss meinem Ärger manchmal Luft machen. Da ich nicht gern Schimpfwörter verwende, sag ich einfach Cacahuète. Mir geht es dann besser und niemand fühlt sich auf den Schlips getreten.«

»Christof, ab und zu hast du wirklich seltsame Ideen. Jetzt erzähl mal, was dich so verlegen macht.«

»Stephanie, ich muss dir was gestehen. Ich habe unseren Termin vollkommen vergessen. Das wird heute Abend leider nichts.«

Sie sah ihn so intensiv mit ihren haselnussbraunen Augen an, dass ihm schier die Luft wegblieb.

»Das ist wirklich schade, ich hatte mich so auf unseren gemeinsamen Abend gefreut. Was ist passiert?« Dabei strich sie ihm mit einer fließenden Bewegung über die Schulter.

»Heute Nachmittag stand plötzlich ein Fremder bei mir auf dem Hof. Ein Journalist eines deutschen Verlages, der eine Reportage über Foodblogger machen will. Er meinte, es würde sich auf meine Klicks auswirken, wenn er sich positiv über meinen Blog äußert.«

»Hey, das ist ja ausgezeichnet, und der kommt heute Abend hierher, um dich zu interviewen?«

»Er kommt zum Probeessen. Er hat mir quasi genau diktiert, was er verkosten möchte.«

Sie strich ihm mit ihrem Handrücken über den weichen Drei-Tage-Bart und zerzauste ihm die Haare. »Rasier dich mal wieder, am besten, bevor der Journalist kommt. Der schießt bestimmt ein paar Fotos von dir, und du siehst aus, wie der letzte Clochard.«

Er strich sich über seine unrasierten Wangen. »Du hast recht.«

Stephanie hielt ihm mit zwei Fingern eine graue Spinnwebe vor die Nase. »Dieses ekelhafte, staubige Ding steckte in deinen Haaren. Was hast du heute gemacht?«

»Ich habe endlich mit der Scheune angefangen, aber es ist unglaublich viel Ramsch da drin. Um dem Chaos Herr werden zu können, muss ich mir wohl einen großen Container bestellen, damit ich den ganzen Müll entsorgen kann.«

»Ich lasse dich jetzt mal machen. Vergiss das Duschen nicht!«

»Du hast recht. Zuerst Kochen, dann ins Bad verschwinden. Du verstehst, dass ich heute keine Zeit für unser Menü habe, oder? Tut mir wirklich leid, Stephanie, verschieben wir das Ganze auf morgen?«

Sie zuckte kurz mit den Schultern, drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf jede Wange und drehte sich zur Tür um.

»Ich wünsche dir Glück bei deinem Essen.«

Sie öffnete die Haustür und trat hinaus, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sichtlich enttäuscht ging sie zu ihrem Haus hinüber.

Er konnte es nicht verhindern, dass ihr kleiner, knackiger Po seinen Blick unausweichlich anzog.