Leseprobe Mittsommerwünsche

Kapitel 1: Neustart

Isabell

»Und du willst echt auswandern?«

»Niemand redet von Auswandern«, protestiere ich und deute anklagend mit meinem Löffel auf sein Gesicht. »Die Stelle wäre auf ein Jahr befristet.«

»Schweden also.« Alex zieht die Stirn kraus und schiebt mir meinen üblichen Kaffee zu. Einen extra großen Karamell-Latte mit Doubleshot, perfekt wie immer.

»Wieso nicht?« Ich nippe an dem herrlich weichen Milchschaum. Mein Bruder wischt sich die nassen Hände an seiner Schürze ab und lehnt sich mit verschränkten Armen gegen die Theke, auf deren anderer Seite ich noch immer ungläubig auf die Mail starre, die vor ein paar Minuten auf meinem Handy aufgepoppt ist. »Professor Walther hat mich für eine Stelle vorgeschlagen. Ein ehemaliger Kollege von ihm arbeitet dort in einem ziemlich großen Architekturbüro.« Ich tippe mir an die Stirn, immer noch nicht in der Lage zu begreifen, was hier gerade passiert. »Ausgerechnet mich.«

»Natürlich hat er dich vorgeschlagen. Du bist gut.« Alex stößt sich von der Theke ab, als die Türglocke hinter mir verkündet, dass soeben Gäste das Bistro betreten. »Aber denkst du wirklich darüber nach, hier alle Zelte abzubrechen?«

Ich seufze und tauche den Löffel in die süße Kaffeesünde vor mir. In meinem Kopf rotieren tausend Gedanken in Endlosschleife. Schweden. Schweden

Ein neuer Job, eine neue Perspektive. Das Auslandssemester, das ich während meines Studiums nie gemacht habe. Ich könnte endlich eine richtige Architektin sein. Diese Aussicht bringt ein aufgeregtes Ziehen in der Magengegend mit sich.

»Isabell?« Die Stimme meines Bruders reißt mich aus meinen Gedanken.

»Mhm?«

»Du hast meine Frage nicht beantwortet.«

»Keine Ahnung. Du weißt, dass ich nicht besonders an meinem Job hänge.« Wie so oft wandert meine Laune in den Keller, sobald ich an das winzige Büro an der Deutzer Freiheit denke, in dem man mich nie etwas machen lässt, was über die simpelsten Schritte der Grundlagenplanung hinausgeht.

Alex schnaubt. »Kein Wunder, diese Blutsauger beuten dich ja auch aus. Dein Gehalt ist ein Witz.«

»Denkst du, das weiß ich nicht?«, murmele ich, während die beiden Frauen, die bisher die große Menükarte über der Theke studiert haben, näher kommen, um bei Alex ihre Bestellung aufzugeben. Sofort setzt mein Bruder sein strahlendes Kundenlächeln auf und notiert sich die Wünsche der beiden, ehe er sie bittet, an einem der Tische Platz zu nehmen.

Als sie weg sind, rückt er die runde Brille zurecht, und seine blauen Augen, die meinen so ähnlich sind, durchleuchten mich. »Nachdem du dir so lange für dein Studium den Arsch aufgerissen hast? Das ist das Letzte.« Er schüttelt den Kopf und hält den Siebträger unter die summende Kaffeemühle. Sofort steigt mir der herrliche Geruch frisch gemahlener Bohnen in die Nase. »Was würdest du denn in Schweden verdienen?«

Ich zucke mit den Schultern. »Professor Walther schreibt, wenn ich Interesse hätte, würde er mir die Nummer seines Kollegen geben.«

»Hör es dir wenigstens mal an«, meint Alex und holt zwei Cappuccinotassen aus dem Regal hinter sich. »Wenn das Geld stimmt, kannst du vielleicht endlich damit anfangen, deinen Studienkredit abzubezahlen.«

Autsch. Sofort schießt mir das Blut in den Kopf und ich weiche Alex’ Blick aus. Mein großer Bruder und ich verstehen uns gut, mehr noch, er ist mein bester Freund, doch ich hasse es, wenn er darauf herumreitet, dass ich auch ein Jahr nach meinem Abschluss kaum etwas des haushohen Studienkredits abbezahlen konnte. Anders als viele meiner damaligen Kommilitonen habe ich nicht gewollt, dass meine Eltern mir das Studium finanzieren. Ich hätte es nicht ertragen, deswegen in ihrer Schuld zu stehen. Deshalb war ich gezwungen, mit einem Haufen Schulden ins Berufsleben zu starten. So ist das nun mal, aber ich bin es leid, ständig daran erinnert zu werden.

Um nichts darauf erwidern zu müssen, greife ich über die Theke hinweg nach dem Tellerhalter neben der Kaffeemaschine und stelle ihm zwei Untertassen hin, drapiere die Löffel darauf und lege zwei Schokoplätzchen dazu. Als Alex das sieht, umspielt ein Lächeln seine Lippen, das fast unter seinem dichten Bart verschwindet. »Es ist Samstag. Deine Schicht beginnt erst um drei, Herzchen.«

»Ich weiß.«

Er seufzt, als er die Härte in meiner Stimme vernimmt. »Tut mir leid, Isa. Ich hätte nichts sagen sollen.«

»Schon gut.« Ich nehme einen besonders karamelligen Schluck Kaffee, der mich ein wenig milder stimmt.

Alex wirft mir eine Kusshand zu und kippt etwas Hafermilch zum Schäumen in die kleine Metallkanne. »Um noch mal auf das Thema zurückzukommen: Du kannst gar kein Schwedisch.«

Nun ist es an mir, zu seufzen. »Hörst du mir denn nie zu? Ich habe im Bachelor einen Schwedisch-Kurs belegt. Davon habe ich zwar so gut wie alles vergessen, aber Schwedisch ist keine sonderlich komplizierte Sprache. Das schaffe ich schon.«

Ich fische einen Schokokeks aus der Schale bei den Tellern, schiebe ihn mir in den Mund und spüre, wie mein Herz aufgeregt zu klopfen beginnt, als vor meinem geistigen Auge unzählige atmosphärische Bilder entstehen, die glatt von Pinterest stammen könnten: Wälder, Seen, Flüsse, rote Holzhäuschen. Freiheit.

Alex, der zu ahnen scheint, was in mir vorgeht, schmunzelt. »Und du würdest nach einem Jahr wiederkommen?«

»Klar. Bevor ihr mich vermisst, bin ich wieder da.«

»Ihr?« Alex lacht. »Ich werde dich höchstens vermissen, weil ich dann eine neue Aushilfe für die Wochenenden brauche.«

»Rede dir das ruhig ein, Bruderherz. Wie wär’s mit Toni? Er hängt oft genug hier rum und hätte keinen Arbeitsweg.«

Obwohl Alex’ Freund schon dreißig ist, lässt er sich mit seinem Psychologiestudium Zeit und könnte meinen Bruder problemlos im Naked Cat unterstützen.

Doch dieser schüttelt energisch den Kopf. »O nein, kannst du vergessen. Für die Gastro ist er völlig unbrauchbar.«

»Das ist natürlich tragisch.« Ich trinke meinen Kaffee aus und schiebe Alex das leere Glas hin. Als sich unsere Blicke treffen, beschließe ich, mir einen brüderlichen Rat einzuholen. »Denkst du, ich sollte es machen?«

Alex lächelt. »Wenn ich mir das Glitzern in deinen Augen so ansehe, hast du dich schon längst entschieden, oder?«

Mein Herz macht abermals einen aufgeregten Satz, als mir klar wird, dass er recht hat. »Wenn die Konditionen stimmen, wüsste ich nicht, wieso ich diese Chance nicht nutzen sollte.« Ich grinse ihn an.

»Du wärst nicht du, wenn du dich nicht sofort in jedes Abenteuer stürzen würdest, das sich dir bietet, Schwesterchen.« Er wirft sich ein frisches Geschirrtuch über die Schulter und zwinkert mir zu. »Also, worauf wartest du? Schreib deinem Prof zurück, schnell.«

 

Als ich das Naked Cat um neunzehn Uhr schließe, kommt Alex gerade aus der Haustür nebenan, um mich nach Hause zu begleiten, so wie jeden Abend.

»Hi! Ich habe dir was mitgebracht.« Mein Bruder greift in seine Jackentasche, um mir ein kleines gelbes Buch in die Hand zu drücken. Als ich die Aufschrift Wörterbuch Schwedisch-Deutsch lese, muss ich lachen.

»Das ist perfekt. Danke.« Ich stecke das Büchlein in meine Manteltasche und ziehe das Rolltor des Ladens runter. »Du hast für jede Situation das passende Buch, was?«

Alex macht eine wegwerfende Geste. »Bei uns liegt es nur rum und ich dachte, du kannst es vielleicht gebrauchen. Habe ich dir schon gesagt, dass du mir echt fehlen wirst?«

»Nur vier oder fünf Mal«, entgegne ich lässig, was uns beide zum Lachen bringt. Ich schultere meinen Rucksack, und Seite an Seite schlendern wir die Fußgängerzone hinab Richtung Heimat.

»Wann telefonierst du mit diesem Svensson?«, fragt Alex.

»Mein Professor hat geschrieben, ich soll es am Montag gegen zehn probieren.« Sofort ist die Aufregung von vorhin wieder da und mein Magen zieht sich zusammen.

Alex’ gepiercte Lippe kräuselt sich zu einem Grinsen. »Mann, ist das aufregend. Und du kennst wirklich gar keine Details?«

Ich schüttele den Kopf. »Ich weiß noch nicht mal, wo genau in Schweden das Unternehmen von Svensson ist. Das alles ist ein riesiges Überraschungspaket.«

Genau, wie ich es mag.

»Hoffentlich mitten in Stockholm oder an einem schönen See.« Der träumerische Ausdruck auf Alex’ Gesicht entlockt mir ein Lächeln.

»Würde mir gefallen. Aber vor allem bin ich auf die Architektur dort gespannt. Die skandinavische Moderne ist etwas ganz Besonderes. Der schwedische Architekt Gunnar Asplund war einer der Pioniere dieser Epoche, im Studium haben wir viel über sein Schaffen gesprochen. Dieser Mann ist mein Held!« Während ich von meinem Fachgebiet schwärme, entgeht mir nicht, dass Alex neben mir eine alberne Grimasse schneidet.

»Ich weiß, wir hatten diese Diskussion schon oft, Herzchen, aber ich werde nie verstehen, wie du dich so brennend für Gebäude interessieren kannst. Es sind nur aufeinandergestapelte Steine.«

Ich schnaube. »Unsinn! Bauwerke sind so viel mehr als nur Gebäude! Sie sind Kunst, Kreativität, manchmal eine Botschaft. Ein Statement.«

»Ist deine Wohnung auch ein Statement?« Alex’ Stimme trieft vor Sarkasmus, als wir vor dem hässlichen, mit rotem Backstein verklinkerten Mehrfamilienhaus aus den Siebzigern stehen bleiben, in dessen viertem Stock meine schäbige Einzimmerwohnung liegt.

»Kann man so sagen. Nur nicht gerade im positiven Sinne.« Ich schließe die Haustür auf. »Kommst du mit hoch?«

»Klar, muss doch jetzt jede Sekunde auskosten, die du noch hier bist.«

Auf dem Weg nach oben wächst der Anflug eines schlechten Gewissens in mir, den ich rasch wegschiebe.

Auf meiner Etage angekommen, schließe ich die Wohnungstür auf, und wir betreten mein kleines Reich. Während ich mich meiner Stiefel, des Mantels und des Rucksacks entledige, ist Alex schon auf dem Weg ins Wohnzimmer. Unwillkürlich lächele ich in mich hinein, denn ich weiß genau, was er vorhat.

Als ich ihm wenig später folge, sitzt er auf dem alten Palettensofa, meinen aufgeklappten Laptop vor sich.

»Ich suche nach dem Unternehmen von diesem Svensson«, bestätigt er meinen Verdacht und macht mir Platz. »Wie heißt er mit Vornamen?«

»Henrik oder Hendrik, glaube ich.« Ich lasse mich neben ihn in die Kissen fallen. Auch wenn ich kein Problem damit hätte, mich vom Standort meines potenziellen neuen Jobs überraschen zu lassen, brenne ich nun plötzlich ebenfalls darauf, zu erfahren, wohin es mich verschlagen wird.

»Oh.« Alex’ dichte Augenbrauen wandern in die Höhe, sein Blick ist gebannt auf den Bildschirm gerichtet.

Alarmiert setze ich mich auf. »Was meinst du mit Oh? Gibt’s ein Problem?«

Anstelle einer Antwort dreht Alex den Bildschirm in meine Richtung, sodass ich sehen kann, was er sieht.

»Gotland?« Verständnislos schüttele ich den Kopf. »Noch nie gehört.«

»Eine schwedische Insel. Irgendwo im Nirgendwo.«

Ich rufe die Bildersuche auf und klicke mich durch die ersten Fotos. Bis auf endlose Küsten, Felder und einige mittelalterlich wirkende Städtchen scheint auf dieser Insel tatsächlich der Hund begraben zu sein. Sofort regt sich Enttäuschung in mir. »In diesem Kaff soll Svenssons Unternehmen liegen?«

»Gib mal her.« Alex nimmt den Laptop wieder an sich. Einige Minuten lang schweigen wir, während er das Netz durchforstet. »So klein ist die Insel gar nicht«, sagt er. »Gerade der Bau von Ferienanlagen boomt dort, genau wie auf den benachbarten Inseln. Svensson Arkitekter gibt es seit 2010, es scheint ein solides Unternehmen zu sein. Hier steht, sie restaurieren historische Gebäude, von denen es auf der Insel eine Menge gibt.«

Zumindest ein kleiner Lichtblick. Wenn ich etwas noch mehr liebe als Gebäudeentwurf und Raumplanung, dann ist es die Restaurationsarbeit an alten Bauwerken. Dennoch – ein Jahr auf einer verschlafenen Insel ist nicht gerade das, was ich mir vorgestellt habe.

Alex lächelt mir aufmunternd zu, was ich erwidere, doch es gelingt mir nur halb.

»Danke fürs Recherchieren.«

Als er meinen Blick bemerkt, runzelt er die Stirn. »Du hast was anderes erwartet, oder?«

»Kann sein«, räume ich ein, »aber ich warte das Telefonat ab. Vielleicht ist Svensson Arkitekter es wert.«

 

Am Montag radele ich nach Feierabend über die Deutzer Brücke zum Naked Cat, wo mein Bruder und Toni das Apartment über dem Bistro bewohnen. Montag ist Gyoza-Tag, und wie immer besuche ich die beiden zum Essen. Und wie immer bin ich spät dran. Die Leuchtreklame mit der Sphynx-Katze im Rollkragenpullover leuchtet noch, obwohl der Laden schon geschlossen hat. Alex vergisst ständig, sie auszuschalten.

Als ich die Klingel mit der Aufschrift A. Berger/T. Marino drücke und die Tür sogleich aufsummt, klopft mein Herz einige Takte schneller. Gleich werde ich meinem Bruder und seinem Freund verkünden, dass ich für ein Jahr aus Köln verschwinde. Eine Situation, die mich unerwartet nervös stimmt.

Die Wohnungstür im zweiten Stock steht offen, Tonis Lachen dringt schallend durch das Treppenhaus, untermalt von Indie-Musik.

»Hallo!«, rufe ich, werfe die Tür hinter mir zu und schiebe mich durch den Flur ins Wohnzimmer, wo die beiden bereits wie bei einer Séance auf dem Teppich vor dem niedrigen Couchtisch sitzen. Dieser ist schon über und über gefüllt mit den Pappschachteln unseres Lieblingslieferdienstes, der köstliche Geruch der Teigtaschen steigt mir in die Nase. Ein Vorteil daran, ständig zu spät zu kommen, ist, nie auf das Essen warten zu müssen. »Tut mir leid, hatte noch zu tun.« Ich lege meine Sachen ab und setze mich auf den freien Fleck zwischen Alex und Toni. »Wieso fangt ihr nicht ohne mich an?«

»Weil wir gut erzogen sind«, entgegnet Toni, der mich frech angrinst. »Außerdem hoffen wir immer noch auf den Tag, an dem du mal pünktlich kommst.«

»Diese Diskussion führen wir jedes Mal und uns allen ist klar, dass das nie passieren wird«, gibt Alex zu bedenken. »Hast du Neuigkeiten, Isa?«

»Ja, wie war dein Telefonat?«, fragt Toni, während er unsere Teller großzügig mit Gyoza und Kimchi belädt.

»Tja, es sieht ganz so aus, als müsstet ihr bald montags nicht mehr ewig auf mich warten.«

Sofort starren mich zwei Augenpaare an.

»O Mann, spann uns nicht so auf die Folter!« Toni rüttelt wild an meiner Schulter. »Sag schon, wie sieht’s aus?«

»Das Angebot klingt perfekt und ich könnte im April anfangen.«

»Also hast du zugesagt?« Alex lehnt sich gegen die abgewetzte Zweiercouch, um deren Plätze wir uns lange gestritten haben, bis wir beschlossen, einfach alle auf dem Boden zu sitzen.

»Noch nicht ganz. Ich soll mich bis Mittwoch melden. Aber entschieden habe ich mich schon, denke ich. Als Nächstes steht also Kündigung, Wohnungssuche und Papierkram an. Ich brauche bestimmt so was wie eine Aufenthaltserlaubnis. Das muss ich alles erst mal in Erfahrung bringen.«

»Wow. Das ging schnell.« Mein Bruder schiebt sich etwas Kimchi in den Mund, wobei er mich nachdenklich, fast besorgt mustert. Er ist eben durch und durch mein großer Bruder. »Hast du Mama und Papa schon davon erzählt?«

»Nein. Ich wollte nicht, dass sie mir da reinreden.«

Eine kleine Falte erscheint zwischen Alex’ Augenbrauen, wie immer, wenn es um unsere Eltern und mein steifes Verhältnis zu ihnen geht.

»Sie würden dir da nicht reinreden, Isa. Gib ihnen doch mal eine Chance, an deinem Leben teilhaben zu können.«

Und da ist es wieder, das einzige Thema, über das Alex und ich endlos streiten können: unsere Eltern.

»Ich erzähle ihnen schon früh genug davon«, murmele ich, den Blick starr auf meine Knie gerichtet. Als ich aufschaue, sieht Alex nicht mehr nachdenklich, sondern traurig aus.

»Wird es dir schwerfallen, zu gehen?«

Ich denke kurz über seine Frage nach, denke an Elif, Marcel und Alina, meine Freunde aus der Uni, die ich seit unserem Abschluss sowieso nur alle paar Monate sehe, weil wir alle viel zu sehr damit beschäftigt sind, Karriere machen zu wollen.

»Nein«, entgegne ich wahrheitsgemäß. »Ihr werdet mir schon fehlen, klar, aber abgesehen von dir hält mich hier nicht viel, Alex.« So war es schon immer – bis auf meinen Bruder gibt es kaum eine Konstante in meinem Leben, und ein herzliches, inniges Verhältnis wie das, was er und unsere Eltern pflegen, habe ich nie gekannt. Auch wenn ich längst erwachsen bin, tut es immer noch weh, zu sehen, wie gut Alex mit ihnen klarkommt, obwohl sie nie wirklich für uns da waren. In dunklen Momenten hasse ich ihn dafür, nur um mich selbst danach noch mehr zu hassen.

»Darauf sollten wir anstoßen.« Toni angelt nach zwei Bierflaschen auf dem Tisch und drückt mir eine davon in die Hand. »Unsere kleine Isa verlässt uns, um allein in die große weite Welt zu ziehen«, verkündet er theatralisch. »Auf Isa! Du hast bestimmt eine gute Zeit in Schweden. Du wirst uns fehlen.«

»Ihr mir auch.« Ich proste ihm zu.

»Auf dich und deinen Mut, Isa«, pflichtet Alex ihm bei und wir alle nehmen einen Schluck. »Wir sind stolz auf dich. Auch wenn ich mir deinetwegen eine neue Aushilfe suchen muss.« Seine Lippen kräuseln sich zu einem kleinen Lächeln. »Aber ich verzeihe dir. Du wirst diese schwedische Firma richtig aufmischen.«

Überwältigt von ihren liebevollen Worten richte ich mich auf und ziehe die zwei in eine feste Gruppenumarmung. »Ich werde euch so vermissen«, murmele ich, und plötzlich wird es trotz der Musik sehr still im Raum. In dieser Stille kann ich förmlich hören, wie mein Plan von Schweden Stück für Stück zur Realität wird.

»Wir müssen jeden Tag facetimen und telefonieren, okay?« Alex’ Stimme klingt belegt.

»Definitiv«, verspreche ich, jetzt ebenfalls nur noch mit mäßig fester Stimme. Als sich unsere Blicke erneut treffen, glitzern Tränen in seinen Augen.

Mahnend richte ich meine Essstäbchen auf ihn. »Wenn du heulst, heule ich auch, also lass es.«

»Ich versuche es ja!«, krächzt er und blinzelt energisch die Tränen weg.

Toni streichelt ihm über den Rücken. »Das wird schon. Hey, wenn Isa weg ist, können wir wenigstens pünktlich essen.«

Das bringt uns zum Lachen, auch wenn es die Traurigkeit nicht ganz vertreiben kann.

Kapitel 2: Die Seele des Künstlers

Kian

Wenn ich male, bin ich frei.

Es ist, als würden mich die schwarzen Kohlestriche auf dem Papier von der Realität abschneiden, mich an einen anderen, friedlichen Ort befördern, weit weg von allem, was mich einengt. Wenn ich male, ruhe ich tief in mir selbst, falle auseinander, setze mich neu zusammen und verschmelze in den Linien, Formen und Texturen meiner Kunst.

Zumindest so lange, bis man mich stört.

Die Hand, die sich wie aus dem Nichts auf meine Schulter senkt, legt mein Herz für ein, zwei Schläge lahm, dann rast es los. Ich springe auf, wirbele herum und reiße mir dabei die Overear-Kopfhörer runter. Vor mir steht ein breit grinsender Adam, die roten Locken kleben ihm nass in der Stirn.

»Whoah! Bist du verrückt geworden?«, schimpfe ich los und boxe ihm gegen den Arm, woraufhin er nur lacht und mir einen Schubser versetzt, der mich zurück auf meinen Hocker befördert.

»Sorry, wollte dich nicht erschrecken.«

»Hast du aber. Was ist denn?« Meine Stimme klingt schroffer als beabsichtigt. Adam ist mein bester Freund, doch es ist mir unangenehm, wenn jemand ungefragt mein Haus und noch dazu meinen privatesten Raum betritt. Selbst wenn dieser Jemand einen Schlüssel hat. »Kannst du nicht die Klingel benutzen wie jeder normale Mensch?«

»Stell dir vor, das habe ich an die zehn Mal getan. Vielleicht solltest du die da zwischendurch leiser machen.« Er deutet auf meine Kopfhörer, aus denen viel zu laut Bring Me The Horizon dröhnt.

Ich kappe die Bluetooth-Verbindung auf meinem Handy und die Musik verstummt. Allmählich beruhigt sich mein wild rasendes Herz wieder. »Was gibt’s denn?«

Adam verdreht die Augen. »Wir waren verabredet, Kian. Heute ist Dark-Souls-Abend. Ist dein Hirn wirklich so ein Sieb?«

Ertappt werfe ich einen Blick auf die Uhr. Mal wieder habe ich beim Zeichnen die Zeit vergessen.

»Skit. Sorry.« Ich stehe auf, um ihn möglichst unauffällig aus meinem Arbeitszimmer zu drängen, doch Adam rührt sich nicht vom Fleck. Die Hände tief in den Hosentaschen vergraben steht er da, den Blick zwischen mir und meinen Kohlezeichnungen hin- und herwechselnd, als würde er einem Tennisspiel folgen.

»Wieso malst du eigentlich immer nur so düsteren Kram?«

»Weil es mir gefällt, und jetzt raus hier. Willst du ’n Bier?«

Adam grinst. »Verstehe die Frage nicht.«

Endlich lässt er sich von mir aus dem Zimmer bugsieren und ich schließe die Tür hinter uns. Mein schwarzer Husky-Mischling Caliban, der schnarchend im Flur liegt, rührt sich nicht vom Fleck, als wir über ihn hinübersteigen.

»Du bist ein mieser Wachhund«, brumme ich im Vorbeigehen und gehe die knarzende Holztreppe hinab ins Erdgeschoss. Es dämmert schon, von draußen klatscht der Regen gegen die Fenster. Der gekachelte Kamin im Wohnbereich ist beinahe ausgegangen, ich werfe zwei Holzscheite nach. Adam schält sich aus seinem durchnässten Karohemd, um es zum Trocknen über den Stuhl am Feuer zu hängen. Egal, wie schlecht das Wetter auf Gotland ist, Adam hält es fast nie für nötig, eine Jacke zu tragen.

»Wollen wir was bestellen? Du hast bestimmt wieder den ganzen Tag nichts gegessen, oder?« Er mustert mich mit forschendem Blick. »Und deine Haare könntest du dir auch mal wieder schneiden.«

»Ich mag meine Haare«, protestiere ich und fahre mir mit der kohleverschmierten Hand durch die dunkelblonde Mähne, die mir inzwischen fast bis auf die Schultern fällt. »Außerdem habe ich gegessen. Auflauf von der Nachbarin.«

»Die wahrscheinlich auch Angst hat, dass du irgendwann mal umkippst, ohne dass jemand es merkt, du elender Einsiedler-Hipster.« Adam geht an mir vorbei und öffnet den Kühlschrank, in dem bis auf Eistee, Aufstriche und ein paar Flaschen Bier gähnende Leere herrscht. Er reicht mir eine davon. Ich stelle sie auf der Anrichte ab und wasche mir in der Spüle die Farbe von der Haut. »Also: Burger oder Pizza?«

»Pizza.«

»Gute Wahl.« Adam zückt sein Handy. Bei dem magischen Wort Pizza erscheint Caliban am Fuß der Treppe und kommt schwanzwedelnd auf mich zu, um an meiner Hose zu schnuppern.

»Du hast auch Hunger, was?« Liebevoll kraule ich den Rüden hinter den Ohren und hole eine Dose Hundefutter aus dem Regal. Sofort setzt sich Caliban brav hin, wobei er in freudiger Erwartung die Ohren spitzt.

»Wie geht’s dir, Kian?«

Ich halte inne und starre in Calibans leeren Napf. Immer diese Frage, jeden Tag.

»Kann nicht klagen.« Die ehrliche Antwort ändert sich ohnehin nie, deshalb gebe ich sie auch nicht mehr. Halb rechne ich damit, dass Adam mir diese Lüge nicht durchgehen lässt, doch als ich ihn ansehe, hebt er nur eine Augenbraue.

»Und dir?«, frage ich rasch, um die schwere Stille zu füllen, die sich zwischen uns ausbreitet.

»Mir geht’s wunderbar. Das Café läuft und der Frühling bringt die Touristen her, da kann nicht mal das Sauwetter was dran ändern. Übrigens: Wann lässt du dich mal wieder in der Stadt blicken?« Adam öffnet sein Bier und wirft mir den Flaschenöffner zu.

Ich unterdrücke ein Stöhnen. »Keine Ahnung. Wieso?«

»Jedes Mal, wenn ich deine Mutter treffe, weiß ich nicht, was ich ihr sagen soll, Mann.« Er spricht mit ruhiger, beinahe vorsichtiger Stimme, als wäre ich ein rohes Ei, das jeden Moment zerspringen könnte. Ich liebe Adam, sehr sogar, aber ich ertrage es kaum, wenn er so mit mir redet. Dabei meint er es nur gut.

»Du musst ihr gar nichts sagen«, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Ein Wort über meine Mutter und schon ist es, als würden sich enge Stahlketten um meinen Brustkorb legen. Ich klatsche Caliban sein Futter in den Napf, während mir der Blick meines besten Freundes wie ein Schüreisen im Nacken brennt. Adam ist nicht der Einzige, der seit Monaten eine Reaktion aus mir herauszukitzeln versucht, was meine Eltern angeht. Seit ich Visby verlassen habe, um hier draußen für mich zu sein, meint jeder, mir ins Gewissen reden zu müssen. Dabei bin ich hierhergekommen, um all das endlich hinter mir zu lassen. Um meiner Familie ein für alle Mal den Rücken zu kehren. »Ignorier sie einfach.«

»Wenn sie mich auf der Straße oder im Café anspricht? Wie soll ich das denn anstellen?«

Ich drehe mich um und fasse ihn scharf ins Auge. »Ist mir egal, Adam. Aber ich will nicht darüber reden, okay?«

Anstelle einer Antwort gibt er nur ein Brummen von sich und ich bin froh, dass das Thema vorerst beendet ist.

 

Nachdem die Pizza geliefert wurde, ziehen wir ins Wohnzimmer um, und Adam startet die PlayStation. Caliban, der mir überallhin folgt, rollt sich auf dem alten Sessel am Fenster zusammen.

»Wie läuft’s mit Ragga?«, frage ich, während der Ladebildschirm von Dark Souls auf meinem TV erscheint.

Adam wirft mir einen raschen Seitenblick zu, ehe er verhalten mit den Schultern zuckt. »Gut, aber unverändert. Wir sehen uns regelmäßig, gehen essen und so. Bisher hat noch keiner von uns das Thema angesprochen.«

»Das Thema?«

»Was aus uns werden soll. Oder auch nicht werden soll.« Er stößt ein Seufzen aus und nimmt sich ein Stück Peperoni-Pizza aus dem Karton. »Dabei macht mich diese Ungewissheit langsam krank!«

»Wieso sprichst du es dann nicht an?«

»Keine Ahnung. Sie ist toll. Ich will sie auf keinen Fall vergraulen, indem ich einen auf Ernst mache.« Mit einem frustrierten Seufzen beißt er in die Pizza.

»Also wartest du, bis sie es tut?«

»Hör auf, mich so auszufragen, Mann«, murrt Adam mit vollem Mund. »Wir lassen es halt langsam angehen.«

Unwillkürlich muss ich schmunzeln. Es ist lange her, dass ich Adam so aufgebracht wegen einer Frau erlebt habe. Auch wenn ich ihm praktisch jedes Wort über sie aus der Nase ziehen muss – für ihn scheint Ragga etwas ganz Besonderes zu sein. Ich kenne sie nur flüchtig, sie ist eine Freundin meines Bruders.

Das Spiel startet und einige Minuten flüchten wir uns schweigend in die düstere Welt von Lordran, bis Adam erneut das Wort ergreift: »Wie sieht’s bei dir aus?«

Seine Frage trifft mich so unvermittelt, dass ich den Controller sinken lasse. »Wie meinst du das?« Ich schinde Zeit, obwohl ich eigentlich genau weiß, wie er es meint.

Adam zuckt mit den Schultern. »Na ja, fühlst du dich nach dem, was passiert ist, schon bereit für einen Neuanfang? Bezogen auf Dating?«

Neuanfang. Dating.

Wie schon zuvor ziehen sich die imaginären Ketten um meinen Brustkorb zu und machen das Atmen unmöglich. Meine Kehle fühlt sich plötzlich an wie mit Schmirgelpapier überzogen; ich nehme einen hastigen Schluck Bier, ehe ich mich zu einer Antwort durchringe. »Ich glaube, dafür brauche ich ein bisschen Zeit.«

Es ist, als würde an meiner Stelle jemand Fremdes sprechen. Ich bin selbst schuld, ich habe das Thema zuerst aufgebracht, dabei will ich das letzte Jahr einfach nur um jeden Preis vergessen und erst recht nicht über eine Zukunft sprechen, die ich nie haben werde. Dass Adam mir diese Frage stellt, ist verständlich, er sorgt sich um mich. Trotzdem fühlt es sich an, als würde er mir ein Messer in die Brust stoßen, mich in einen freien Fall stürzen lassen.

Er lächelt mich traurig an. »Das ist okay. Jeder verarbeitet Dinge anders.«

Ich nicke stumm, unfähig, noch ein weiteres Wort rauszubringen. Adam, der allmählich zu merken scheint, wie sehr mich seine Frage aufgewühlt hat, legt mir die Hand auf die Schulter. Mein Spielcharakter, der gerade tatenlos herumsteht, wird geschlagen, und auf dem Bildschirm wabern in roten Lettern die Worte YOU DIED auf. Wie passend.

In meinem Kopf brennt eine Sicherung durch. Ehe ich weiß, was ich tue, bin ich schon auf den Beinen. Der Pizzakarton rutscht zu Boden und landet auf dem Teppich.

Adam richtet sich auf, in seinen grünen Augen stehen Schreck und Sorge. »Kian. Mann. Ich wollte dich nicht unter Druck setzen. Tut mir leid.«

»Schon gut. Caliban muss raus. Bin gleich wieder da.«

Fluchtartig verlasse ich den Raum, der Hund wie ein dunkler Schatten hinter mir. Im Flur werfe ich mir den Regenmantel über und reiße die Haustür auf.

Erst draußen im strömenden Regen kann ich wieder atmen. Caliban jault und setzt sich zu meinen Füßen auf den nassen Rasen. Seine ungleichen Augen, eins braun, eins blau, schauen fragend zu mir auf. »Na lauf schon, Junge.«

Er stürmt davon. Langsam folge ich ihm den matschigen Trampelpfad hinab, der runter zum Strand führt, wo die tosenden Wellen wütend gegen die Kreidefelsen schlagen. Die Ostsee schäumt grau und schmutzig auf und wirkt wie ein Abbild meiner Emotionen. Es ist kalt und ich friere. Der Wind zerrt mir die Kapuze vom Kopf, Regen peitscht in mein Gesicht. Für einen Moment schließe ich die Augen.

Ich muss mich endlich zusammenreißen, loslassen, neu beginnen. Sich hier draußen zu verstecken und vor sich hin zu vegetieren ist keine Lösung, das weiß ich, trotzdem ist es so verdammt schwer, aus diesem Loch zu kommen.

Dabei kann dir niemand helfen, Kian. Adams Stimme geistert durch meinen Kopf, halb übertönt vom Heulen des Windes. So beschissen das auch ist, du musst dir selbst helfen.

Du musst dir selbst helfen.

Du musst dir selbst helfen.

Du musst dir …