Leseprobe Marry me, Santa

Prolog

In Filmen liegen sie immer alle weinend auf dem Badezimmerfußboden. Ich habe es ausprobiert. Ist unbequem. Und kalt.

Und dennoch liege ich hier, links von mir die Badewanne, rechts die Toilette, und heule Rotz und Wasser. Ich kann mich nicht einmal ganz ausstrecken, weil das verdammte Badezimmer so klein und mit unnötigem Schnickschnack so vollgestopft ist, dass ich die Beine anwinkeln muss, um liegend Platz darin finden zu können. Die bodengleiche Dusche und die beiden großen Holzregale mit Milchglaselementen, in denen ich meine Handtücher und Kosmetikartikel aufbewahre, waren teuer, sind aber unpraktisch. Zumindest in meiner aktuellen Situation.

Ich kann mich zwar nicht selbst im Ganzen sehen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass mein Anblick ein absolut erbärmlicher ist. Das Fenster in der Dachschräge ist bereits zur Hälfte mit Schnee bedeckt, und leise rieseln weitere Flocken hinzu.

Es ist mein Geburtstag, mein dreißigster tatsächlich, und ich sollte nicht hier sein – allein, mit gebrochenem Herzen, auf dem Badezimmerfußboden. Und … hatte ich die Kälte schon erwähnt? Sie kriecht durch meine Kleidung, als hätte sie spontan ihren Aggregatzustand verändert und wäre flüssig geworden. Meine Schultern, mein Rücken, mein Po ‒ alles wird von dieser Kälte befallen, bevor sie weiterwandert, in meinen Kopf hineinsteigt, meine Hüften berührt und sogar in mein tiefstes Inneres eindringt.

Ich will nicht melodramatisch klingen, aber meinem Herz würde ein wenig Kälte gerade ganz guttun. Es fühlt sich nämlich an, als sei es in zwei Hälften gerissen, zertrampelt, von einem mittelgroßen Laster überfahren, von einem Riesen mit schlechten Zähnen zerkaut und schlussendlich in Brand gesteckt worden. Mindestens. Vielleicht sogar noch schlimmer.

Das größte Glas, das ich finden konnte und bis zum Rand mit billigem Rotwein gefüllt habe, steht schon fast leer im untersten Regalfach zwischen der Tamponbox und dem Toilettenpapier. Deprimierende Musik dringt aus der Musikbox auf der Fensterbank, um meinen Herzschmerz bestmöglich zu untermalen. Mit einem traurigen Lied im Hintergrund heult es sich doch gleich viel besser. Das ist Fakt.

Ich reibe mir mit den Handinnenflächen unsanft die verschmierten Mascarareste aus dem Gesicht und starre die Glühbirne an, die in Ermangelung einer anständigen Lampe an einem wenig Vertrauen erweckenden Kabel von der Decke herunterbaumelt.

Wieso ich hier liege? Warum ich ein so luxuriös anmutendes Badezimmer, aber keine Badezimmerlampe habe und weshalb die Packung Taschentücher neben mir fast leer ist? Um das erklären zu können, muss ich etwa zwei Monate zurückblicken.

Kapitel 1

Last Christmas

Es ist der 24. Dezember. Heiligabend. Ich sollte irgendwo an einer festlich gedeckten Tafel sitzen, einen Haufen kitschiger Deko und Kerzen um mich herum, einen saftigen Truthahn vor, einen Mistelzweig über und eine nervige Tante oder ein quengelndes Kind neben mir, während es überall blinkt und glitzert. Doch ich habe keine nervige Tante, ich habe nicht einmal eine stinknormale Tante, und vom Kinderkriegen bin ich momentan mindestens genauso weit entfernt wie von einem traditionellen Weihnachtsfest mit Truthahn, kitschiger Deko und Kerzen.

Stattdessen bin ich mit meinen vier besten Freunden in Las Vegas und trinke seit einer ganzen Weile abwechselnd Bourbon mit Karamellnote und prickelnden Sekt, während ein als Santa Claus verkleideter, ziemlich großer Kerl White Christmas singt und dazu Gitarre spielt. Seine Stimme klingt nicht übel, ein wenig rau und doch irgendwie sanft. Sie untermalt den Abend, läuft angenehm im Hintergrund, ohne unser Gespräch zu stören oder zu viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Las Vegas ist genauso, wie man es sich vorstellt, beziehungsweise wie ich es mir immer vorgestellt habe. Ich bin zum ersten Mal hier, und dennoch habe ich das Gefühl, es bereits zu kennen. Es ist laut, bunt und verrückt und erweckt hin und wieder den Eindruck, dass man in einer völlig anderen Welt gestrandet ist. Es scheint fast nur aus Casinos und Kapellen zu bestehen, zumindest der kleine Teil davon, den wir bisher gesehen haben, und obwohl Heiligabend ist, wimmelt es nur so von Menschen, die offenbar eher in Party- als in Festtagsstimmung sind.

Die kleine Bar, in der wir sitzen, ist so voll, dass wir trotz Reservierung eine halbe Stunde warten mussten, bis wir an unsere Plätze geleitet wurden. Wir sind nur zu fünft, nicht wie im vorigen Jahr in Sydney zu sechst, und irgendwie fühle ich mich wie das dritte Rad am Wagen, auch wenn es in unserer Clique nicht ein einziges Pärchen gibt. Ich wäre jetzt lieber woanders. In meinem Bett zum Beispiel (wenn ich das Weihnachtsessen mit der Tante und dem Kind schon nicht haben kann!) ‒ mit einem kitschigen Film und einer extragroßen Tafel Schokolade, um mich in meinem Herzschmerz zu suhlen.

Chris und Dave, die unverschämt gutaussehenden, dunkelhaarigen Zwillinge, die fast jeder nur anhand ihrer Ohrstecker auseinanderhalten kann, da Chris seinen links und Dave seinen rechts im Ohr trägt, ordern gerade eine weitere Flasche irgendeines sündhaft teuren alkoholischen Getränks, und ich muss mir mit meiner Serviette Luft zufächeln. Mir ist heiß und irgendwie auch ein wenig schwindlig, obwohl ich noch nicht viel getrunken habe. Meine Wangen glühen förmlich.

Harper stößt Leah leicht mit ihrem Ellenbogen in die Seite, woraufhin Leah erst Harper, dann mich fragend ansieht. Ihr blonder, gerade geschnittener Pony endet genau über ihren langen Wimpern. Binnen Sekundenbruchteilen schlägt ihr Blick um, und sie widmet mir ein Lächeln, das vor Mitleid und Empathie nur so trieft. Harper sieht mich ebenfalls an, als wäre ich ein abgemagertes Straßenkind. Und als würden Dave und Chris die Schwingungen spüren, wenden auch sie sich mir nun mit traurigen Augen zu. Vier betrübt dreinblickende Gesichter starren mich an. Ich fühle mich unangenehm in den Mittelpunkt des Geschehens gezerrt.

„Mir geht’s gut, Leute!“, beeile ich mich zu sagen. Ich blecke meine Zähne zu einem unbeholfenen Lächeln und leere mein Glas mit einem letzten großen Schluck. „Es ist mir egal, dass Jude Weihnachten mit … mit seiner Neuen verbringt. Wirklich. Es könnte mir gar nicht egaler sein.“

Ist egaler ein Wort? Egal. Jetzt ist es eins.

Jetzt bloß nicht heulen, Skadi, beschwöre ich mich selbst.

Verzweifelt versuche ich, die Tränen zurückzuhalten und lasse meinen Blick durch das Innere der Bar gleiten, um mich von dem scharfen Schmerz abzulenken, der sich wie ein frisch geschärftes Messer jäh in mein Herz gebohrt hat.

Alles ist auf Hochglanz poliert und weihnachtlich geschmückt. Es gibt Kerzen, Mistelzweige und kitschige Engel, wohin das Auge blickt. An der Theke sitzt der hochgewachsene Kerl im Santa Claus-Outfit, der vorhin noch gesungen hat, und flirtet hemmungslos mit der Bedienung. Viel von ihm ist nicht zu erkennen, doch so, wie sie ihn anhimmelt, während sie mit flinken Bewegungen ein Glas nach dem anderen poliert, muss er ziemlich gut aussehen.

„Mir geht’s bestens“, wiederhole ich mit festerer Stimme, wende mich den besorgten Gesichtern meiner Freunde wieder zu und deute an, ihnen mit meinem leeren Glas zuzuprosten. „Und ich danke euch von ganzem Herzen dafür, dass ihr mich mitgenommen habt an diesen …“, ich mache eine alles umfassende Bewegung mit den Armen, „… außergewöhnlichen Ort, um Weihnachten zu feiern.“

„Oh Skadi, natürlich nehmen wir dich mit“, sagt Leah betroffen, und nun ist sie es, die aussieht, als wäre sie kurz davor, in Tränen auszubrechen. Kurz setzt sie ihre Brille ab und blinzelt ein paarmal. „Nur weil Jude zuerst unser Freund war, heißt das nicht, dass wir dich fallenlassen, jetzt, nachdem ihr euch getrennt habt. Du gehörst zu uns! Er ist derjenige, den wir aufgrund seines widerlichen, illoyalen Verhaltens fallengelassen haben wie ein …“, sie sieht unsicher zu Harper, „… schmutziges, altes Blatt Toilettenpapier.“

„Scheiße, es klingt so schräg, wenn du versuchst zu fluchen, Leah!“ Harper lacht rau und bedient sich an der Flasche, die Chris und Dave zuvor an unseren Tisch geordert haben. „Lasst uns unsere Gläser erheben auf unsere Freundin Skadi Baker. Sie mag nicht besonders viel Glück in der Liebe haben, doch sie hat das Herz am rechten Fleck, und wir lieben sie über alles. So wie sie ist. Ohne dich, meine Süße, würde keiner von uns hier sein wollen, und das ist mein verdammter scheiß Ernst, kapiert? Du bist das Gummiband, das unsere Socken hält. Du bist die Butter, wegen der unsere Wurst nicht vom Brot fällt.“

Unwillkürlich muss ich lachen. Harper lehnt sich mit ihrer beneidenswerten Oberweite über den Tisch und gießt uns allen nacheinander etwas von der prickelnden, durchsichtigen Flüssigkeit ein, während Leah sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel wischt. Sie ist definitiv näher am Wasser gebaut als ich – und auch definitiv betrunkener.

„Auf Skadi“, sagt Dave feierlich, zwinkert mir zu und erhebt sein Glas.

„Auf Skadi“, fallen Leah, Chris und Harper mit ein und lassen ihre Gläser erst gegeneinander und anschließend gegen meins klirren.

Beschämt, dankbar und irgendwie melancholisch nippe ich an meinem Getränk und betrachte die vier Menschen, die mir innerhalb der letzten zwei Jahre so sehr ans Herz gewachsen sind, dass ein Leben ohne sie undenkbar scheint. Dabei waren sie zu Anfang Judes Freunde.

Jude fuhr immer die schnellsten Autos, trug die teuersten Anzüge und feierte die exzessivsten Partys. Bis heute scheint es surreal, dass er ausgerechnet mit mir zusammen sein wollte, seiner eher unauffälligen Angestellten, wo er doch jede hätte haben können. Ich bin weder so kurvig und schlagfertig wie Harper noch so makellos und intelligent wie Leah. Das Einzige, was ich mit ihnen gemein habe, ist das Glück, nicht gerade zu den ärmsten Menschen des Landes zu gehören. Durch meinen wohlhabenden Vater bekomme ich mehr Taschengeld im Monat als viele andere Leute in einem ganzen Jahr verdienen. Dennoch erwartet er, dass ich arbeiten gehe – vor allem, um bodenständig zu bleiben (ich würde mal behaupten, dass es halbwegs gut funktioniert). Und durch eben diese Arbeit gelangte ich zu Jude. Erst in seine Firma, dann in sein Herz – zumindest habe ich das früher gedacht.

Jude hatte sich unsere ganze Beziehung über wie ein Gentleman verhalten, mich mit Komplimenten und Geschenken überschüttet und es jedes Mal wieder geschafft, dass ich bei seinem Anblick weiche Knie bekam. Aber er war nicht so perfekt, wie ich gedacht habe, denn während er mich mit dem Gesicht eines Engels und dem Körper eines jungen Gottes blendete, hatte er seine Hosen nicht anbehalten können. Vor allem nicht bei seiner Sekretärin.

Judes ehemals beste Freunde habe ich jetzt sozusagen als Abfindung bekommen. Zu meinem Glück haben sie mich in ihr Herz geschlossen und ihm den Rücken gekehrt.

Schnell leere ich mein Glas und betrachte Chris, der gerade irgendetwas erzählt, was ich aufgrund meines Gedankenkarussells nicht von Anfang an mitbekommen habe.

„Ich sage ja nur, dass wir lange nicht gespielt haben“, erklärt er gerade und füllt sich sein Glas erneut. Erwartungsvoll blickt er in die Runde.

„Das liegt daran, dass wir alt werden“, wirft sein Bruder von der Seite ein und streicht sich eine glatte, dunkle Haarsträhne aus der Stirn. „In vier, fünf Jahren verbringen wir Weihnachten nur noch vollgefressen im Strickpulli vor dem Kamin.“

„Die Zeit der Spiele ist vorbei“, pflichtet Leah Dave weise bei.

„Was aber nicht heißt, dass sie nicht legendär waren!“ Chris’ Blick gleitet durch mich hindurch, und ein Grinsen breitet sich in seinem Gesicht aus, welches vermuten lässt, dass vor seinem inneren Auge gerade eine wohlige Erinnerung vorüberzieht. Seine dunkelbraunen Augen funkeln leidenschaftlich. „Ich sage nur Thunfisch.“

Wir stöhnen alle synchron auf und lehnen uns lachend in den Stühlen zurück. Nichts geht über Insiderwitze! Ein kleines Glücksgefühl beginnt in meinem Inneren zu prickeln.

„Gleich behauptet er wieder, dass es mindestens zwölf Dosen waren“, raunt Dave mir ins Ohr.

Ich verschlucke mich fast an meinem Drink.

„Es waren zehn, zwölf Dosen, vielleicht mehr“, setzt Chris wild gestikulierend an, und Dave und ich fangen lauthals an zu lachen.

„Halt die Klappe, Chris, die alte Thunfisch-Story ist nichts gegen die Aktion am Flughafen“, grölt Harper, und am Nebentisch drehen sich Köpfe nach ihr um. Sie ist so laut, dass Fremde oft genervt von ihr sind, aber andererseits so selbstbewusst, dass kaum jemand wagt, ihr dies zu sagen. „Da ist selbst mir der Arsch auf Grundeis gegangen!“

„Ich hab’ mir in die Hose gemacht“, wirft Leah nüchtern ein.

„Das haben wir alle“, stimme ich ihr zu.

„Nein, Skadi.“ Leah hebt die Schultern an und lässt sie wieder sinken. „Ich habe mir wirklich in die Hose gemacht. Harper hat mir eine neue gekauft. In einem der Läden, während ich mich auf der Toilette versteckt habe. War potthässlich, aber ein Schnäppchen. Die habe ich tatsächlich immer noch.“

„Die Geschichte ist wahr!“ Harper wiehert vor Lachen, und ich frage mich nicht zum ersten Mal, wie jemand so wunderschön aussehen und gleichzeitig so dreckig lachen kann.

Im selben Moment legt sich eine große Hand zwischen Dave und mir auf den Tisch, und als ich aufblicke, sehe ich dem als Santa Claus verkleideten jungen Sänger ins Gesicht, der vorhin mit der Bedienung geflirtet hat.

„Ihr klingt, als wäret ihr alle nicht sehr brav gewesen in diesem Jahr“, sagt er mit gespielter Strenge in der Stimme und lässt seinen Blick durch die Runde gleiten, wobei er bei meinem Gesicht deutlich länger verharrt als bei denen der anderen.

Er hat zwei verschiedenfarbige Augen, stelle ich fest: ein grünes und ein hellbraunes, beide mit dichten, dunklen Wimpernkränzen umrandet. Wie außergewöhnlich. Fast hypnotisierend. Unter seiner roten Weihnachtsmütze kräuseln sich lange, dunkelblonde Haarsträhnen. Ein künstlicher Rauschebart verdeckt einen Großteil seines Gesichts, doch das kleine Bisschen, was ich von ihm sehen kann, wirkt attraktiv und irgendwie interessant.

Ich erwidere seinen Blick, der immer noch auf meinem Gesicht haftet, dann spüre ich, dass ich rot anlaufe und wende mich meinem schon wieder leeren Glas zu. Mir ist mit einem Mal ganz schön schummrig zumute.

Zum Glück sind die anderen schon viel zu betrunken, um es mitzubekommen. Kichernd und mit wilden Gesten diskutieren sie gerade darüber, wer von uns in diesem Jahr am wenigstens brav war.

„Ich nominiere Chris“, höre ich mich selbst sagen und spüre den Blick des hübschen Santa Claus auf meinem Gesicht. „Er steht auf der Unartigen-Liste ganz weit oben.“

Chris tut erst empört, lacht dann und nickt schließlich zustimmend. Der hübsche Halbitaliener ist für seine ständig wechselnden Freundinnen bekannt – ganz im Gegenteil zu seinem ruhigeren Bruder Dave, der zwar viele Frauengeschichten zum Besten gibt, aber nie tatsächlich eine Freundin vorweisen kann.

„Dicht danach kommt Harper“, führt Leah fort, und man hört bei jedem Wort, wie schwer es ihr nach dem Alkoholgenuss fällt, zu sprechen. „Sie ist ein Maneater.“ Es klingt so komisch aus ihrem Mund, dass wir in den nächsten Lachflash verfallen.

Der Weihnachtsmann-Imitator hat sich von irgendwoher einen Stuhl organisiert und sitzt inzwischen neben mir und das so nah, dass ich seinen warmen Atem auf der Haut über meiner schulterfreien roten Bluse spüre. Sein Arm befindet sich nur Millimeter neben meinem. Berührungsängste scheint er keine zu haben.

„Ich bin Jasper“, sagt er sanft. Er hält ein Glas in der Hand, wo auch immer er das so schnell hergenommen hat, und schlägt es ganz sanft gegen meines.

„Skadi“, nuschle ich. „Skadi Baker.“

„Freut mich, Skadi.“ Der Blick aus seinen verschiedenfarbigen Augen lässt es in meinem Bauch sanft kribbeln. Dieses Gefühl habe ich ewig nicht gehabt. Ich bin mir unsicher, ob ich es gut oder schlecht finden soll.

Der getrunkene Alkohol der letzten Stunden scheint in diesem Moment seine gesamte Wirkung zu entfalten und sich explosionsartig in meinem Körper auszubreiten. Habe ich mich bisher noch relativ nüchtern und klar im Kopf gefühlt, wird mir in diesem Augenblick bewusst, dass dem nicht so ist ‒ im Gegenteil. Ich fühle mich beim Blick in Jaspers Augen mit einem Mal, als müsste ich lachen, weinen, kotzen und tanzen gleichzeitig, was eine ziemlich skurrile Vorstellung ist. Und wahrscheinlich würde man dafür selbst in Las Vegas Hausverbot bekommen.

Dave und Chris diskutieren lallend, ob Dave oder Leah unartiger waren, während ich alle Hände voll damit zu tun habe, einigermaßen normal auf meinem Stuhl zu sitzen. Der Boden scheint sich in wellenartigen Bewegungen jäh unter mir zu regen. Kurz habe ich das Gefühl, dass mir der Inhalt des letzten Glases wieder hochkommt, dann beruhigt sich mein Magen binnen Sekundenbruchteilen wieder.

„Das lenkt alles nur von meiner Frage nach einem Spiel ab!“, unterbricht Chris auffallend laut die Zwischengespräche am Tisch. Er hat sich hingestellt und klopft mit seinem Glas auf die Tischplatte, während er sich mit der anderen Hand an derselben festhält. Er schwankt ein wenig.

„Was hat der Kerl nur ständig mit seinem Spiel?“ Harper verdreht die Augen. „Spiel hier, Spiel da.“

„Also ich habe Hunger“, höre ich mich selbst sagen, und Harper stimmt mir mit leuchtenden Augen zu, während Leah mit glasigen Augen vor sich hin kichert.

„Ja, lasst uns was essen gehen! Hier ist es langweilig“, sagt Harper im Befehlston und klingt nicht annähernd so betrunken, wie sie eigentlich sein müsste. Sie hält mir ihren Arm hin. Leicht wankend stehe ich auf und hake mich bei ihr unter.

Auf der anderen Seite spüre ich einen weiteren Arm, der mir Halt gibt, und stelle überrascht fest, dass es nicht Dave ist, sondern Jasper. Wie selbstverständlich schließt er sich uns an, und niemand kommt auf die Idee, ihm dies auszureden. Chris übernimmt die Rechnung, und schon stehen wir zu sechst vor der Bar und atmen die erstaunlich warme, aber klare Nachtluft ein. Alles um uns herum glitzert.

Zwischen Harper und Jasper fühle ich mich nach einigen Schritten gar nicht mehr so schwindlig, sondern fast schon beflügelt. Jude und seine Sekretärin rücken in meinem Kopf weit in den Hintergrund, so weit, dass ich den Gedanken an die beiden nur noch wie einen schwachen Schatten wahrnehme, wie einen üblen Nachgeschmack, der allmählich durch etwas anderes ersetzt wird.

Es ist Weihnachten und ich bin in Las Vegas – mit den vier für mich wichtigsten Menschen. Und einem als Santa Claus verkleideten Schönling, der aus irgendeinem paradoxen Grund nur Augen für mich hat. Das Leben ist leicht, das Leben ist gut, und das Leben ist vor allen Dingen jetzt. Von einer plötzlichen Welle der Euphorie und Sentimentalität erfasst, löse ich mich von Jasper und umarme nacheinander all meine Freunde, was, da wir weiterhin vorwärts laufen, zu einem ziemlichen Tumult führt. Leah heult, Harper klopft mir auf den Rücken und erwidert meine Liebesbekundungen lautstark, und Chris entgegnet auf mein Dich liebe ich auch, Chris! mit einem lallenden Aber ich bin doch Dave!, während der tatsächliche Chris über meine Füße stolpert, da ich rückwärts laufend immer noch an Daves Hals hänge.

Lachend – und teilweise auch weinend – erreichen wir, zu einem großen Knäuel zusammengedrückt, eine Cocktailbar, von der Jasper behauptet, dass die Cocktails köstlich seien und das Essen ein Genuss. Ich glaube, dass es uns inzwischen relativ egal ist, ob das Essen gut oder nur mittelprächtig schmeckt, denn die Hauptsache scheint mit einem Mal, dass wir nicht weiter laufen müssen.

Wir stolpern hinein und werden von Lichterketten und einem pinkfarbenen Minitannenbaum empfangen. Die Bedienungen tragen Rentier-Geweihe auf dem Kopf und wirken ziemlich gestresst.

„Reißt euch ein bisschen zusammen, dann besorge ich uns einen Tisch“, raunt Jasper uns zu und verschwindet von meiner Seite, woraufhin ich leichte Probleme entwickle, gerade zu stehen. Alles scheint ein bisschen zu schaukeln, als würden wir uns auf einem Schiff befinden statt auf Festland. Mein Magen meldet sich zu Wort. Grummelnd, stechend und ein wenig schmerzhaft zieht er sich zusammen. Ich presse die Hand auf meinen Bauch und bereue es plötzlich, vorher am Tag so wenig gegessen zu haben. Aber es ging alles so schnell: das mir überraschend überreichte Flugticket am frühen Morgen, das daraufhin überstürzte Packen, die verrückte Fahrt zum Flughafen – diese extravagante Clique ist einfach immer für Überraschungen gut. Normalität ist hier ein Fremdwort. Das Leben ist eine einzige große VIP-Lounge für uns.

Eine Art Ruck geht durch die Gruppe, eine Hand legt sich in meinen Rücken, und wir werden an einen kleinen Tisch geführt. Dankbar lasse ich mich auf den schmalen hölzernen Stuhl sinken, der mit einer rot-weiß-karierten Husse überzogen ist.

Wenig später lehne ich mich nach einem großen Salat mit Garnelen satt zurück und rühre zufrieden lächelnd mit einem Stück Sellerie in meiner Bloody Mary. Ich fühle mich viel besser, und ein Blick in die Runde zeigt zweifelsohne, dass es den anderen genauso geht. Dave tätschelt seinen vollen Bauch, Leah tupft sich mit einer Serviette den rot geschminkten Mund ab, und Harper rülpst leise in ihre hohle Hand. Chris und Jasper sind aufgestanden, um an der Theke Nachschub zu ordern. Es scheint geradezu, als hätte das Essen den Alkohol in meinem Inneren aufgesogen wie ein Schwamm. Ich fühle mich immer noch angeheitert, aber nicht mehr betrunken.

„Ich muss pinkeln“, verkündet Harper, schiebt geräuschvoll ihren Stuhl zurück und wirft einen auffordernden Blick in die Runde. „Wer kommt mit?“

Leah und ich erheben uns synchron. Harper ist die ungekrönte Königin dieser Gruppe. Sie ist wie eine Leitwölfin. Wenn sie pinkeln gehen muss, geht das ganze Rudel mit.

Als wir an der Theke vorbei zur Damentoilette gehen, treffen sich Jaspers und mein Blick. Ich frage mich unwillkürlich, ob ihm nicht allmählich warm wird in diesem Ganzkörperanzug, mit der schweren Mütze und dem Rauschebart. Und wie er wohl ohne aussehen würde – ohne alles. In meinem Nacken prickelt es.

Den Blickkontakt immer noch haltend spüre ich plötzlich einen dumpfen Schlag in Brusthöhe, gefolgt von einem so lauten Scheppern, dass die gesamte Bar einen Augenblick lang die Luft anzuhalten scheint. Verwirrt starre ich die unmittelbar vor mir stehende und säuerlich dreinblickende Bedienung an, die ein leeres Tablett in den Händen hält. Ich blicke zu Boden. Alles ist voller Scherben und glitzert feucht. Erst jetzt dämmert mir, dass ich sie einfach umgerannt habe und das nur, weil ich diesem geheimnisvollen Jasper zu lange in die Augen gesehen habe!

Peinlich berührt stammle ich eine Entschuldigung und trabe mit hochrotem Kopf zu Leah und Harper hinüber, die bereits an der Toilettentür angelangt sind und sich vor Lachen biegen.

„Nicht witzig!“, fauche ich und stolziere hoheitsvoll an ihnen vorbei. Na ja, so hoheitsvoll wie man eben sein kann, wenn man sich gerade vor etwa fünfzig Menschen als tollpatschiges Trampeltier geoutet hat.

Als ich die Toilettenspülung betätigt habe und die kleine, nur spärlich beleuchtete Kabine verlasse, wartet Harper bereits am Waschbecken auf mich. Sie zieht sich gerade den Kajalstrich nach und betrachtet neugierig mein Spiegelbild, das immer noch feuerrot glühende Wangen hat. Ich wasche mir die Hände und greife in meine Zweitausend-Dollar-Handtasche (eines der letzten Geschenke von Jude) um mein Make-up ebenfalls ein wenig aufzufrischen. Im Gegensatz zum Licht in der Kabine ist das über den Spiegeln und Waschbecken fast schon aufdringlich grell. Die Schminke, die vor unserem Aufbruch in die erste Bar noch perfekt saß, sieht nun aus, als wäre sie schon seit ein paar Tagen in meinem Gesicht. Mir kleben schwarze Mascara-Reste unter den Augen.

„Der Weihnachtsmann hat’s auf dich abgesehen“, stellt Harper sachlich fest.

„Quatsch!“ Ich entferne die schwarzen Flecken mit einem Pinsel und trage ein wenig Puder auf, um das leuchtende Rot auf meinen Wangen zu überdecken. Meine Sommersprossen leuchten durch die gesamte Maske aus Foundation, Puder, Rouge und Concealer einfach durch. „Außerdem – selbst wenn es so wäre, hält er mich wahrscheinlich für irgendein lebenslustiges, sich selbst finanzierendes stinkreiches It-Girl und nicht für … na ja … das, was ich eben eigentlich bin.“ Ich zucke mit den Achseln, als wäre es egal, und tupfe farbloses Gloss auf meine Lippen. Meinen Mund mag ich am liebsten an mir. Er sieht ein wenig so aus, als hätte ich mir die Lippen aufspritzen lassen – habe ich aber nicht. Sie sind von Natur aus prall und voll, und eindeutig das Markanteste an meinem Gesicht. Der Rest ist eher Durchschnitt.

„Sprich nicht so verdammt abwertend über dich selbst!“, rügt Harper mich streng, während sie ihre dunklen und ich meine blauen Augen synchron mit Mascara tusche. „Du arbeitest immerhin für die angesagteste Zeitung des Landes!“

Ich lache unfroh. Arbeiten ist übertrieben. Ich bin eine Aushilfe. Und darf kaum mehr als Kaffee kochen, den Müll rausbringen und die Post sortieren. Aber mehr kann ich wohl nicht erwarten, nachdem mein ehemaliger Chef auch mein ehemaliger Freund ist und mich nach der Trennung nicht nur vor die Tür seiner Luxuswohnung, sondern auch vor die Tür seiner Firma gesetzt hat. Nach einer Schonfrist hat mein Vater unter Androhung, mir den Geldhahn zuzudrehen, darauf bestanden, dass ich mir einen neuen Job suche.

Harper sieht mir an, dass ich betrübt dreinblicke und packt ihre Schminke zurück in die Handtasche, bevor sie mir eine Hand auf die Schulter legt. „Kopf hoch, Süße“, sagt sie rau.

Ich räume mein Make-up zurück in die Tasche und nicke.

„Krone richten und stolz auf dich sein“, verlangt Harper beschwörend und lässt ihre krallenartigen roten Fingernägel auf meiner Schulter tanzen. „Und wenn du Santa Claus heute Nacht vögeln willst, dann …“

„Harper!“, falle ich ihr empört ins Wort.

„Wieso denn nicht? Weil du noch nicht über Jude hinweg bist?“, fragt sie und hebt eine ihrer perfekten Brauen.

„Weiß nicht.“ Ich wiege unsicher den Kopf hin und her. „Ich glaube, ich habe vorerst einfach die Nase voll von Männern. Die letzten waren alle Reinfälle. Erinnerst du dich an den, der nur mein Geld wollte? Und der andere, der ständig Leah angebaggert und versucht hat, mich dazu zu überreden, dass ich mir die Haare blond färbe und zum Pixie Cut schneiden lasse, weil ihm meine brustlangen, straßenköterbraunen Wellen zu langweilig waren? Der, der mir verbieten wollte, mit euch feiern zu gehen und Kleider mit Ausschnitt zu tragen?“, zähle ich an meinen Fingern ab und rümpfe die Nase. „Und dann Jude, von dem ich dann echt gedacht hatte, dass er der Richtige ist … nein. Wirklich nein.“ Ich schüttle entschieden den Kopf. „Ich habe für mindestens fünf Jahre genug von Männern.“

„Ganz wie du meinst“, sagt Harper – und dann dreht sie sich um und brüllt durch die gesamte Damentoilette: „Leah, sag mal, kommst du endlich oder kackst du immer noch?“

Als wir uns zu dritt den Weg durch die Tische zurück an unseren bahnen, ist Jasper von der Theke verschwunden und sitzt mit den Zwillingen am Tisch, als würden die drei sich schon ewig kennen. Unwillkürlich bekomme ich weiche Knie, als wir uns zu ihnen setzen und er mich mit intensivem Blick ansieht. Hat Harper recht? Gefalle ich ihm? Und was viel wichtiger ist – gefällt er mir?

Ich nippe an meiner Bloody Mary und wende den Blick ab. Wahrscheinlich gefällt ihm nur das, was er sieht. Das, was ich vorgebe zu sein. Eine reiche, aufgedonnerte Frau mit langen Haaren und teurer Kleidung, die sich und ihr beachtliches Leben feiert. Genau wie Chris und Dave, die ein Vermögen mit dem Erstellen von Videospielen verdienen. Wie Harper, die seit einem Jahrzehnt erfolgreich Versicherungsunternehmen ihrer Mutter leitet. Wie Leah, die kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag eine beträchtliche Summe von ihrem verstorbenen Großvater geerbt hat, aktuell Jura studiert und nebenbei online sehr erfolgreich selbstgemachten Schmuck verkauft.

Wer ich tatsächlich bin, sieht er nicht. Wie auch? Ich verstecke mich gewissermaßen. Er sieht nicht, dass ich in knapp eineinhalb Monaten Geburtstag habe und dreißig Jahre alt werde. Die magische Dreißig. Ebenso wenig sieht er, dass es immer mein Traum war, noch vor meinem dreißigsten Geburtstag zu heiraten und eine Familie zu gründen. Dass ich eine schwierige, wenn nicht sogar distanzierte Beziehung zu meinem Vater führe, der mein teures Leben finanziert. Geld ist nicht alles, wird immer gesagt. Doch Geld ist alles, was ich je von ihm bekommen habe. Und auch wenn ich mich tief im Inneren beschämt fühle, es weiterhin anzunehmen und mich nach seinen Regeln zu richten, liebe ich das Reichsein doch zu sehr, um diese schwierige Beziehung zu kappen.

Und Jasper sieht nicht, wie oft ich in den letzten vier Monaten geweint und an mir selbst gezweifelt habe, weil mein Herz auf eine Weise gebrochen worden ist, die es schwer bis unmöglich machen wird, es wieder zu heilen.

Aus den Boxen neben der Theke dringt ein Weihnachtssong nach dem anderen. Als ich mein Glas fast geleert habe und Last Christmas ertönt, geschieht etwas mit den Besuchern der Cocktailbar – ein Großteil der Anwesenden stöhnt genervt auf, während einige wenige klatschen oder gar mitzusingen beginnen. Dieses Lied spaltet einfach die Menschheit. Man liebt oder man hasst es. Ich gehöre definitiv zum ersten Teil.

„Ich liebe diesen Song!“, platzt es aus mir heraus, was mir einen skeptischen Blick der Zwillinge und eine erhobene Augenbraue von Harper einbringt.

Nur Leah sagt nichts. Sie spielt gedankenverloren mit ihrer Kette.

„Auf diesen Song“, sagt Jasper und hält mir ein Glas hin.

„Oh. Danke!“ Ich nehme es überrascht an mich und trinke einen Schluck. Es brennt im Hals.

Jasper wirkt kurz überrascht, dann fängt er an zu lachen. Die anderen am Tisch fallen mit ein. Was habe ich jetzt schon wieder gemacht?

„Kein Problem, wir teilen“, sagt er, nimmt mir das Glas wieder aus der Hand und trinkt den Rest aus.

Es dauert einen Augenblick, bis mir klar wird, dass er bloß mit mir anstoßen wollte und ich ihm gerade sein Glas geklaut habe. Eine Blamage nach der anderen! Mit glühenden Wangen lache ich mit, obwohl ich am liebsten im Erdboden versinken würde.

„Ich gehe noch mal zur Theke“, sagt Jasper schließlich, als das Gelächter endlich abebbt, und wendet sich mir mit schief gelegtem Kopf zu. „Kommst du mit, Skadi?“

„Oh … ich glaub’ nicht“, antworte ich unsicher.

Irgendjemand versetzt mir unter dem Tisch einen Tritt gegen das Schienbein, und Harper blickt mich durchdringend an.

„Gut.“ Ich unterdrückte ein Aufseufzen. „Meine Meinung wurde gerade offensichtlich geändert.“

Wir schlendern zur Theke und setzen uns auf zwei Barhocker, während die Bedienung noch damit beschäftigt ist, Gläser zu spülen.

„Was möchtest du trinken?“, fragt Jasper. Sein Blick ist so intensiv, dass ich ihm nicht lange standhalten kann. Verlegen betrachte ich die roten High Heels an meinen Füßen, die Jude mir zum letzten Geburtstag geschenkt hat.

„Oh, ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt noch was trinken sollte“, antworte ich wahrheitsgemäß. „Ich hatte schon eine ganze Menge.“

„Jep, ich auch. Darf ich dir ein Geheimnis verraten?“ Jasper blickt sich kurz mit zusammengekniffenen Augen in der Bar um, bevor er mir ganz nah kommt und kurz den Rauschebart herunterzieht. „Ich bin nicht der echte Weihnachtsmann!“

„Nein!“, tue ich erstaunt und schlage die Hände über dem Kopf zusammen.

„Nicht so laut!“ Er kommt mir noch näher und legt mir einen Finger auf die Lippen. „Wenn das rauskommt, muss ich in Zukunft all meine Drinks selbst bezahlen!“

Ich kichere. Seine Nähe elektrisiert mich irgendwie. Und er riecht gut. Dezent, frisch und irgendwie ein wenig erdig.

„Wenn ich der echte Weihnachtsmann wäre, würden wir beide, du und ich, uns ja auch schon kennen“, murmelt er. Und wieder dieser intensive Blick, der bis in meine Seele zu dringen scheint.

Ich runzle die Stirn. „Wieso das denn?“

„Der echte Weihnachtsmann kennt natürlich alle seine Engel“, erklärt er lässig und zwinkert mir zu.

Ich rümpfe die Nase, muss aber lachen. „Der war schlecht. Der war richtig, richtig schlecht.“

„Auf einer Skala von Null bis Zehn, wenn Null das Beste und Zehn das Schlechteste ist?“, fragt er schlagfertig. „Nur für meine persönliche Statistik.“

„Zehneinhalb“, antworte ich.

„Autsch!“ Mit gespielter Betroffenheit legt er eine Hand auf die Stelle, an der unter dem dicken Weihnachtsanzug sein Herz schlagen muss.

Ich fange an zu lachen, und er fällt mit ein. Und plötzlich sind wir uns noch viel näher als zuvor. Seine Hände nehmen meine Haare aus dem Gesicht und legen sie im Nacken zusammen, bevor seine Lippen leicht meine Wange streifen. Ein unerwarteter Schauder durchläuft meinen gesamten Körper, während eine ganz leise Stimme in meinem Inneren leise mit Ihr kennt euch aber doch gar nicht gegen das protestiert, was hier gerade geschieht. Aber ich ignoriere sie. Ich will sie jetzt einfach nicht hören, diese kleine motzende Stimme in meinem Kopf, die ständig alles schlechtredet, was ich tue. Vielleicht ist es dumm, vielleicht ist es falsch – aber es ist mir egal.

Für einen Moment schließe ich die Augen, halte inne und blende alles aus, was uns umgibt. Es gibt keine Cocktailbar mehr, keine Bedienung, keinen Chris, keinen Dave, keine Harper und keine Leah. Es gibt kein Las Vegas und keinen Heiligabend mehr. Blind finden meine Lippen seine, ganz sanft und bedächtig. Er hat den künstlichen Bart auf der Theke abgelegt wie ein leergetrunkenes Glas. Seine Hände befinden sich immer noch in meinem Nacken, seine Finger sind warm und ziehen mich mit leichtem Druck immer näher an ihn heran. Seine Lippen trennen meine, seine Zunge schmeckt nach Abenteuer, Lust und Sekt.

Nach einer gefühlten Ewigkeit lösen wir uns voneinander, und als würde eine Welle über uns hereinbrechen, ist plötzlich alles wieder da: Las Vegas, die Menschen, die Weihnachtsmusik, die aus den Boxen neben der Theke dringt, und auch meine Freunde, die peinlicherweise alles beobachtet haben und nun lautstark pfeifen.

Jasper lacht und reicht mir eine Hand. Mit leicht zittrigen Beinen (ob vom Kuss oder vom Alkohol kann ich nicht sagen) steige ich vom Barhocker herunter und gehe mit ihm gemeinsam zurück zum Tisch. In der freien Hand balanciert er ein Tablett mit sechs kleinen durchsichtigen Bechern, die mit einer roten Flüssigkeit gefüllt sind. Keine Ahnung, wann er diese Bestellung aufgegeben hat. Und wieso sie ihm ein Tablett mitgegeben haben. Den Bart lässt er auf der Theke liegen.

„Um noch mal zurück auf die Spiele zu kommen …“, sagt Chris, und alle stöhnen genervt auf, „… ich habe da so eine Idee.“

„Dann mal raus mit der Sprache“, ermuntert sein Bruder ihn, während Jasper die kleinen Becher verteilt.

Wir prosten einander zu und vernichten die süßliche Flüssigkeit mit einem Schluck.

„Es ist eine Art Wette“, beginnt Chris, senkt die Stimme und lehnt sich vertrauensvoll über den Tisch, als würde er uns gleich ein großes Geheimnis anvertrauen. „Eine Wette der Superlative mit der Voraussetzung, legendär zu werden.“

Dem Rest seiner Worte lausche ich nur noch halbherzig, denn Jasper hat unter dem Tisch eine Hand auf mein Bein gelegt, und mir wird heiß und kalt zugleich.

 

Stechender Kopfschmerz weckt mich. Ich stöhne schmerzerfüllt auf und wälze mich von der Rücken- in die Bauchlage, sodass ich mein Gesicht ins Kissen drücken kann und das unangenehm helle Licht nicht ertragen muss. Das ist definitiv der Kater meines Lebens, so viel weiß ich jetzt schon. Ich muss unbedingt eine Tablette nehmen und ein Glas Wasser trinken.

Gequält drehe ich den Kopf leicht zur Seite und blinzle in das grelle Licht, als mir drei Dinge zugleich bewusst werden.

Erstens: Das grelle Licht ist die Sonne.

Zweitens: Ich bin splitterfasernackt.

Drittens: Das ist nicht mein Bett!

Mit pochendem Kopfschmerz versuche ich die vorige Nacht zu rekonstruieren. Doch nur bruchstückhafte Bilder und Worte kommen mir in den Sinn ‒ wie Puzzlestücke, die ich nicht verbinden kann. Ein Flugticket. Las Vegas. Casinos und Kapellen. Die Bar. Bloody Mary. Last Christmas. Santa Claus.

Verdammt. Das ergibt alles überhaupt keinen Sinn! Mein Kopf fühlt sich an, als hätte jemand die Erinnerungen aus ihm herausgenommen, sie wahllos durcheinandergewirbelt und wieder hineingefüllt.

Ich versuche mich besser zu konzentrieren, als sich neben mir etwas regt. Oder eher gesagt jemand. Instinktiv halte ich den Atem an. Großer Gott, ich habe die Nacht nicht allein verbracht? So betrunken war ich? Aber mit wem? Jude? Unwahrscheinlich, er war mit seiner Sekretärin alias Freundin in Paris. Chris? Hoffentlich nicht! Dave? Der steht doch nicht mal auf Frauen!

Mit einer ruckartigen Bewegung und dem Gefühl, dass mein Kopf explodiert, drehe ich mich auf die andere Seite und finde mich Auge in Auge mit Santa Claus, beziehungsweise Jasper wieder. Er sieht aus, als ginge es ihm mindestens genauso mies wie mir und blinzelt mit zu schmalen Schlitzen verengten Augen ins Sonnenlicht. Sein Weihnachtsoutfit hat er komplett abgelegt. Und wenn ich komplett sage, dann meine ich komplett. Schnell wende ich den Blick ab.

„Guten Morgen“, sagt er mit rauer Stimme.

„Guten Morgen.“ Ich sehe angestrengt weg.

„Ähm … Sandy?“, rät er meinen Namen.

„Skadi!“ Ich halte mir die Augen zu, angele mit den Füßen nach der großen Decke und werfe sie über seinen und meinen Körper. „Skadi Baker.“

„Nicht ganz richtig.“ Er fährt sich mit beiden Händen über das Gesicht und streckt sich anschließend ausgiebig. Er hat einen hellen Dreitagebart und lange dunkelblonde Haare, die ihm in Wellen ins Gesicht fallen – und sieht ohne Kostüm deutlich heißer aus als mit.

„Was soll das bedeuten?“, frage ich skeptisch. Mein Kopf bringt mich um.

„Ob du Sandy oder Skadi heißt – keine Ahnung“, antwortet er, greift nach meiner linken Hand, hält sie ins Sonnenlicht und offenbart einen feinen silbernen Ring mit einem kleinen Edelstein. „Aber Baker heißt du definitiv nicht mehr. Du heißt jetzt Morrisson.“