Leseprobe Love and Ocean

1. Kapitel

Alles will gelernt sein

„Okay, Emily. Atme kräftig durch die Kiemen aus. Es darf keine Luft mehr in deinen Lungen sein. Dann versuch’s noch einmal.“

Emily nickte Dathan zu und schloss konzentriert die Augen. „Bll… bll… hal… bll … lo.“

„Super, zwei Silben waren schon dabei. Atme aus, so kräftig du kannst! Und dann noch einmal.“

Sie drückte das eingesaugte Wasser mit aller Kraft durch die Kiemen, sodass sich auch der letzte Rest Luft aus ihren Lungen verabschiedete. Kleine Bläschen stiegen auf.

„Hallo!“, schrie sie dann dermaßen laut, dass sowohl Dathan als auch Anna sich entsetzt die Ohren zuhielten.

„Ah! Emily, nicht so laut!“, rief Dathan nicht zum ersten Mal an diesem Tag. Seit dem Morgen übten sie das Sprechen unter Wasser, damit Emily endlich mehr als ein summendes Blubbern zustande brachte.

„Entsch… bll… Entschuldigung.“

„Ich weiß, am Anfang ist das Schreien leichter.“ Aufmunternd nickte Anna ihr zu. „Versuch’s noch mal. Etwas leiser, bitte.“

„Hallo. Hallo, hallo“, begann Emily zögernd, wobei sie jedes Hallo ein wenig lauter hervorbrachte. „Ha! Es funktioniert!“, brüllte sie begeistert.

Dathan und Anna pressten sich die Hände auf die Ohren und verzogen die Gesichter. „Emily, bitte! Unsere Ohren!“

„Bllmm … Entschuldigung!“ Emily senkte verlegen den Kopf. „Bllmm … tut mir leid.“

„Weißt du was, Emily? Du weißt jetzt, wie es funktioniert. Ich verschwinde eine Weile, bevor du noch mein Trommelfell zerstörst. Bis später“, sagte Anna und verschwand mit zwei kräftigen Flossenschlägen aus der Felsenhöhle, in der Emily seit ihrer Ankunft in Virgeeville untergebracht war. Unwillig zischte der Tausendwedelquokling, der mit seinen unzähligen dünnen Tentaktelfäden den Eingang zur Höhle verschloss, als Anna wenig einfühlsam durch seine Fäden hindurchschoss.

Seitdem der Angriff der Medaner erfolgreich abgewehrt worden war, ging das Leben in Virgeeville seinen gewohnten Gang. Dathan hatte die letzten Verletzungen des Kampfes geheilt und sie hatten keine Verluste zu verzeichnen. Eine Woche war es nun schon her, dass die verwandelte Emily mit Dathan, Sasana, Leander und Anna zum Grund des Meeres getaucht war. Sie lebte mit Sasana und Dathan in deren Höhle und durfte diese nicht verlassen, bis sie all ihre Fähigkeiten unter Kontrolle hatte. Deshalb übte sie wie eine Besessene. In den ersten Tagen hatte sie sich nur auf die Kiemenatmung konzentrieren müssen, damit sie auf keinen Fall in ihre menschliche Reflexatmung zurückfiel. Nun stand das Sprechen auf dem Plan. Emily fühlte sich wie neugeboren, sie sprühte vor Energie und wollte endlich mehr sehen als diese langweilige Felsenhöhle. Die Schmerzen der Verwandlung waren nur noch eine unangenehme Erinnerung, die mit jeder Stunde mehr verblasste. Ihren Eltern hatte sie von einer Verlängerung des Wanderurlaubs mit Dathan erzählt und sich für eine weitere Zeit abgemeldet.

„Machen wir eine Pause“, meinte Dathan, als Anna verschwunden war. „Du hast doch bestimmt Hunger.“

Sofort nickte Emily. Dathan hielt sich so oft er konnte bei ihr in der Felsenhöhle auf, während seine Schwester Sasana ständig auf der Jagd war. Immer wieder schleppte sie Netze voller Fische in die Höhle, denn Emilys Hunger nach rohem Fisch war so groß, dass sie doppelt so viel verputzte wie Dathan.

„Wieso bin … bll … ich so unersättlich?“, fragte sie langsam und konzentrierte sich auf jedes Wort. „Wenn das so weitergeht, sehe ich in … einem Monat aus wie ein Kugelfisch.“

Dathan lachte. „Keine Sorge, das hört bald auf. Anna hat schon angekündigt, dass der Hunger nach der Verwandlung riesig ist. Wenn sich dein kompletter Körper umgestellt hat, wird es besser. Und keine Angst, du wirst nicht dicker. Dein Körper braucht im Moment noch so viel Energie, das gleicht sich aus.“

Seufzend schlug sie die Zähne in einen Breitseitling. Sie hatte sich inzwischen daran gewöhnt, dass ihre Zähne beim Anblick von Nahrung spitz und messerscharf wurden. Auch das anfängliche Zwicken und Drücken bei der Veränderung nahm sie kaum noch wahr. Der Hunger und die Gier nach einem zappelnden Fisch überlagerten die unangenehmen Begleiterscheinungen.

„Wie lange … bll … dauert das alles denn noch?“, fragte Emily ungeduldig.

„Das kommt darauf an, wie schnell sich dein Geist auf die Änderungen deines verwandelten Körpers einstellt. Die wichtigsten Verwandlungen hast du hinter dir, jetzt müssen sich noch einige Automatismen einspielen. Das braucht Energie. Hab Geduld, Emily.“

„Nicht gerade eine meiner …“ Emily verschluckte sich und ein Hustenanfall schüttelte sie.

Sofort war Dathan neben ihr und sah sie besorgt an. Erst als sie sich wieder beruhigt hatte, atmete auch er auf. „Siehst du, genau das meine ich. Du musst noch lernen, während des Sprechens deine Luftröhre komplett zu verschließen und auch geschlossen zu halten. Du bist das Sprechen an Land gewohnt. Aber auch das wird mit der Zeit besser. Alles Gewohnheit.“ Er zog Emily in seine Arme und küsste sie zärtlich. „Das ist übrigens die beste Übung, um deine Kiemenatmung unter Stress zu trainieren. Sollten wir öfter machen.“ Dabei grinste er ein spitzbübisches Lächeln, das Emily sofort ansteckte.

„Dann los! Diese Übung gefällt mir ausgesprochen gut.“

 

***

 

Emily sog Wasser durch die Nase ein und stieß es durch ihre Kiemen hinter den Ohren wieder aus. Es faszinierte sie jedes Mal, wie problemlos das mittlerweile funktionierte. Als sie das erste Mal durch ihre Kiemen atmen sollte, hatte sie vor lauter Panik, zu ertrinken, wild um sich geschlagen und war um ein Haar aus dem Pool in Dathans Keller gesprungen. Doch mit seiner, Sasanas und Annas geduldiger Hilfe hatte sie die Panik in den Griff bekommen und beherrschte die Kiemenatmung Tag für Tag ein wenig besser.

Schlimmer war die Flossenbildung gewesen. Ihre Haut war aufgeplatzt, als sich langsam die Bein-, Arm- und Rückenflossen gebildet hatten. Dathan hatte seine Heilkräfte eingesetzt und sie mit Schmerzmitteln vollgepumpt, um ihr den Verlauf zu erleichtern.

Die Flossen aus- und einzufahren, bereitete ihr immer noch Schmerzen. Die Haut brach bei jedem Ausfahren erneut auf und beim Einfahren quetschten sich die zusammengefalteten Flossen unerbittlich durch die schmalen Hautöffnungen. Das war alles andere als angenehm.

„Das braucht noch eine Weile“, hatte Anna ihr erklärt. „Bei mir hat es über ein halbes Jahr gedauert, bis es schmerzfrei funktionierte. Allerdings habe ich mich auch meistens davor gedrückt und die Flossen einfach draußen gelassen. Das war umständlich beim Schlafen und ich hatte oft Risse in den Flossen. Ich kann nicht mehr zählen, wie oft Dathan sie heilen musste.“

„Ja, er hatte bei Anna einen Fulltime-Job.“

„Leander!“, entrüstete sich Anna. „So schlimm war’s ja nun auch nicht.“

Leander lachte. „Mh … dann frag mal Dathan.“

„Wenn du so weitermachst, kannst du heute in Dathans Höhle schlafen“, drohte sie ihm grinsend.

Seit Emily in Virgeeville war, hatte Dathan sie täglich mehrmals die Flossenübungen wiederholen lassen. Mit der Zeit wurde es einfacher, die Schmerzen verschwanden zusehends und sie wollte ihn nicht mehr dauernd umbringen. Am Ende war sie ihm dankbar, dass er so hartnäckig geblieben war.

„Wann kann ich endlich mit euch jagen gehen?“, nuschelte sie zwischen zwei Bissen eines rosa Breitseitlings. „Mh. Der schmeckt übrigens extrem lecker.“

„Nicht so ungeduldig. Erst musst du deinen Körper und seine neuen Funktionen zu hundert Prozent im Griff haben“, erinnerte Anna. „Sonst könnte eine Jagd für dich sehr unangenehm enden. Das wollen wir doch nicht, oder?“

„Nein, wollen wir nicht. Hast du noch einen Breitseitling im Netz? Ich habe noch Hunger.“

„Nur noch einen Blauen.“

„Gib schon her, der schmeckt auch.“

Die Köstlichkeit verschwand gerade gefolgt von einem Glaswufling in Emilys Mund, da traf Dathan in der Höhle ein.

„Heute machen wir eine Sightseeing-Tour durch Virgeeville“, eröffnete er motiviert.

„Oh ja, endlich!“, antwortete Emily kauend.

„Ich komm auch mit“, sagte Anna sofort. „Dann kann ich dir noch einige Tipps geben.“

Emily schluckte den Rest ihrer Mahlzeit herunter. „Klingt gut! Wann geht’s los? Ich kann’s kaum erwarten, endlich hier rauszukommen.“

„Emily! Bitte hör auf Anna. Du musst noch vorsichtig sein.“

„Dathan“, säuselte sie. „Du machst dir zu viele Sorgen. Ich habe alles im Griff.“

Skeptisch runzelte Dathan die Stirn. Mit einem einzigen Flossenstoß war er bei ihr und schlang die Arme um sie. „Versprich mir, dass du auf uns hörst. Das ist dein erster Ausflug in Virgeeville. Wenn du auch nur einen Moment nicht aufpasst …“

Sie legte die Hände an seine Wangen und küsste ihn zärtlich. „Vertrau mir ein bisschen. Denkst du, ich habe Lust, mich dauernd zu verschlucken?“

„Nein, das denke ich nicht. Aber du bist eben … sehr spontan.“

„Ach, Dathan. Ich liebe dich“, flüsterte sie und schlang ihre Arme noch fester um seinen Nacken.

Er schloss die Augen und legte seine Stirn an ihre. „Ich dich auch. Mehr, als du ahnst. Und ich bin verantwortlich für dich. Für dein Leben. Du brauchst nur einmal unaufmerksam zu sein …“

„… dann gerät Wasser in meine Lungen, die Kiemen schließen sich und du musst mich blitzschnell an die Oberfläche bringen, damit ich nicht ersticke“, vollendete sie seinen Satz mit einem entspannten Lächeln. „Das hast du mir schon tausendmal erklärt.“

„Es dauert eben eine Weile, bis die Kiemenatmung in Fleisch und Blut übergeht. Du hast neunzehn Jahre deines Lebens an Land geatmet und … Ich bleibe die ganze Zeit neben dir, ja?“

Emily sah Dathan tief in seine smaragdgrünen Augen. „Weißt du eigentlich, wie süß du bist, wenn du dich um mich sorgst?“ Sie verschloss seinen Mund mit einem sanften Kuss, schmiegte sich an ihn und fuhr mit den Fingern durch seine langen Haare.

 

***

 

Dathan verengte die Augen und spürte, wie sie sich veränderten. Seine Fingerspitzen sprangen auf und die Spitzen seiner Stacheln drangen hervor. Er stöhnte leise auf. Wenn Emily ihn auf diese Weise küsste, brauchte er seine ganze Selbstbeherrschung, um nicht schwach zu werden. Trotzdem gelang es ihm in diesem Moment nicht, sich von ihr zu lösen. Er legte sein Kinn auf ihre Haare und sog tief ihren Duft ein. Selbst unter Wasser hatte sie nichts von ihrer menschlichen Anziehungskraft verloren. Er schloss die Augen und streichelte sanft über ihren Rücken. Erst als er wahrnahm, wie auch ihr Atem sich beschleunigte und sie ebenfalls begann, ihn zu streicheln, zog er hastig seine Hand zurück. „Äh … ich glaube, ich habe Anna kommen hören.“

„Ja, natürlich.“ Verlegen fuhr sich Emily durch ihre krause Mähne.

Er versteckte seine Hände hinter dem Rücken und wartete, bis sich die Stacheln wieder zurückzogen.

Sie hatten erst zweimal miteinander geschlafen. Beide Male an Land, erst um sie zu verwandeln, und dann kurz bevor die Verwandlung einsetzte. Würden sie es jetzt tun, bevor Emily all ihre neuen Fähigkeiten wirklich beherrschte, könnte es lebensgefährlich für sie sein. Sie befand sich in einem Zwischenzustand, der noch eine Weile andauern würde. Anna hatte ihn ausdrücklich davor gewarnt, seinem Verlangen zu früh nachzugeben, denn sie wäre damals beinahe ertrunken. Er hatte ihre Worte noch genau im Ohr:

„Weißt du noch, wie du mich ins Leben zurückholen musstest, Dathan? Das konnte nur geschehen, weil Leander und ich viel zu früh miteinander geschlafen haben.“

Dathan erinnerte sich mit Schrecken daran, dass Annas Leben damals an einem hauchdünnen Faden gehangen hatte. Er hatte all seine Heilkräfte bündeln müssen, um sie zu retten. Sie war die erste je verwandelte Menschenfrau. Damals hatten sie noch keine Vorstellung davon, wie kompliziert die Nachwirkungen der Verwandlung waren.

„Das Problem ist, dass sie die Kiemenatmung anfangs bewusst steuern muss“, hatte Anna erklärt. „Ihr geborenen Isurianer könnt euch wahrscheinlich kaum vorstellen, wie anstrengend es ist, die menschlichen Reflexe abzuschalten und nur noch durch die Kiemen zu atmen. Zu Anfang arbeitet dein Körper gegen dich, und wenn du etwas Instinktgesteuertes tust, wie zum Beispiel jagen oder dich mit deinem Partner vereinigen, kannst du dich nicht mehr hundertprozentig auf das Atmen konzentrieren und die menschlichen Reflexe setzen ein. Emily muss sich langsam an die Dinge gewöhnen, die für dich selbstverständlich sind. Bevor sie das nicht beherrscht, darfst du dich nicht mit ihr vereinigen, Dathan.“

Sanft, aber bestimmt löste Dathan sich von Emily und legte beruhigend die Arme um sie. Niemals würde er sie bewusst in Gefahr bringen, doch ihre intensiven Küsse brachten ihn an seine Grenzen. Nicht nur der Hunger war nach der Verwandlung verstärkt, auch Emilys Verlangen nach Vereinigung mit ihrem Verwandler nahm mit jedem Tag zu. Er musste Abstand halten und erst sicher sein, dass sie die instinktive Atmung beherrschte.

„Geh mit ihr jagen“, hatte Anna empfohlen. „Lass sie anfangs nur zusehen und Leander mit einer Pressluftflasche in eurer Nähe bleiben, ohne dass sie es merkt. Dann lass sie langsam mitjagen. Sobald sie dabei konzentriert bleibt und sich nicht mehr verschluckt, ist die Verwandlung abgeschlossen.“

Tief sog Dathan ihren Duft ein. Er hätte nie gedacht, dass es so kompliziert werden würde. Aber er liebte sie mehr als sein Leben. Sie würden das alles überstehen.

2. Kapitel

Geheimnisse

Zur gleichen Zeit im Bethakimeer

Im fernen Bethakimeer saß eine imposante Gestalt auf einem Felsbrocken und sah zu, wie der Letzte ihres Volks die Augen aufschlug. Das lange weiße Haar wogte leicht mit der ruhigen Strömung und die Hände lagen bewegungslos auf seinen Knien. Nur das Spiel seiner Miene verdeutlichte, wie angespannt er das Aufwachen der einzelnen Bethakis beobachtet hatte. Erleichtert atmete er nun auf. Niemand war im Erstarrungsschlaf verblieben. Fürsorglich strich er dem Aufgewachten über die Stirn.

„Gebieter“, murmelte dieser und sah mit mattem Blick auf.

„Spar dir deine Worte. Es ist alles in Ordnung. Wach in Ruhe auf. Wir sind endlich erlöst.“ Die Stimme des Gebieters klang sanft und beruhigend.

„Erlöst …“, murmelte der Angesprochene und schloss erleichtert die Augen. „Dann wird bald alles gut.“

Die Gestalt nickte entschlossen. „Ja, das wird es.“

„Gebieter“, erklang eine helle Stimme hinter ihm. „Darf ich Euch etwas fragen?“

„Natürlich. Frag nur, Elinor.“

Besorgt blickte ihn die Meerfrau an und knetete nervös ihre Hände. „Das Volk hat Angst. Sie wollen wissen, ob König Rulvir und Königin Niri noch leben. Was soll ich ihnen sagen?“

Langsam richtete er sich auf und blickte auf sein Volk hinab. „Ich weiß weder, wie lange wir im Erstarrungsschlaf gelegen haben, noch, ob die Tyrannen noch immer die Meere beherrschen. Aber das werden wir herausfinden. Wenn alle ihre vollen Kräfte wiedererlangt haben, senden wir Kundschafter aus. Bis dahin werden wir in dieser Höhle bleiben. Ich werde zu ihnen sprechen, wenn auch der Letzte wohlauf ist.“

„Mir geht es gut, Gebieter“, erklang eine Stimme hinter ihm. „Ich war der Letzte, der aufgewacht ist.“

Er betrachtete den Bethaki forschend. Schließlich nickte er. „Gut. Ruft das Volk zusammen.“

Bald schon waren alle Bethakis versammelt. Der Gebieter, der nun aufrecht über dem erhöhten Felsbrocken schwebte, hob die Hand und alle verstummten.

„Geliebtes Volk! Nun, da ihr alle wieder bei Kräften seid, müssen wir in das Geschehen dieser Welt zurückfinden.“ Die volltönende Stimme des Gebieters hallte durch die Höhle. „Zuerst müssen wir herausfinden, ob König Rulvir und Königin Niri noch über das Volk der Medaner herrschen.“

„Wie wollen wir das herausfinden?“

„Wer soll diese Aufgabe übernehmen?“

„Was geschieht, wenn sie noch leben?“

Dutzende Stimmen schwirrten durcheinander. Sein Volk war nervös. Viele hatten die Terrorherrschaft von Rulvir und Niri noch genau vor Augen und fürchteten jenes Königspaar, das den Erstarrungsschlaf erst über sie gebracht hatte.

„Sorgt euch nicht! Solange ihr die Höhle nicht verlasst, kann euch nichts geschehen.“ Mit ernster Miene deutete er auf drei seiner besten Kundschafter. „Geht auf die Jagd und stärkt euch für die vor euch liegende Aufgabe. Jagt nur in unmittelbarer Nähe der Höhle und kommt so bald wie möglich zurück.“

Gehorsam nickten die drei Angesprochenen und taten, was ihr Gebieter angeordnet hatte. Besorgt sah dieser zu, wie seine Kundschafter mit kräftigen Flossenschlägen aus der Höhle schwammen.

Nachdenklich legte er eine Hand an die Stirn und schloss die Augen. Es gab nur eine Erklärung dafür, dass er und sein Volk aus dem Erstarrungsschlaf erwacht waren: Ein auserwählter Mensch musste in ein Meereswesen verwandelt worden sein. Seine dringlichste Aufgabe bestand nun darin, herauszufinden, wo sich dieses neue Wesen befand. Kein leichtes Unterfangen. Doch er kannte ihren Namen, immer wieder hallte er in seinen Gedanken wider: Emily.

 

***

 

Emily fuhr die Flossen aus und schwamm einige Runden durch die kleine Höhle. Sie freute sich, nach einer langen Woche Höhlenhaft heute endlich etwas anderes zu erleben. Die neue Energie, die sie seit ihrer Verwandlung durchströmte, machte sie ungeduldig und rastlos. Sie wollte sich bewegen. Jagen lernen. Und vor allem wollte sie Dathan spüren und sich ihm hingeben. Sie liebte ihn mit einer Intensität, die ihr fast körperlich wehtat. Alle Gefühle und Bedürfnisse waren seit ihrer Verwandlung noch viel stärker geworden.

„Bereit?“, hörte sie Annas Stimme vor der Höhle.

„Ja. Bereit!“

„Dann komm raus. Aber langsam.“

Beinahe wäre Emily an Anna vorbeigeschossen, hätte sie sich nicht im letzten Moment gebremst.

„Gib mir deine Hand“, sagte Anna.

„Was? Wieso?“

„Emily. Gib mir deine Hand.“

Angesäuert hielt Emily Anna ihre Hand hin. „Ich bin doch kein Kind mehr, Anna“, fauchte sie.

„Es ist wirklich gefährlich, Emily. Du hast jetzt viel Energie in dir, du könntest dich leicht in Gefahr bringen. Glaub mir. Ich weiß, wovon ich rede.“

Emily seufzte. Ja, das wusste sie. „Wo ist Dathan?“

„Hier bin ich“, erklang Dathans wohltönende Stimme. Mit einem kraftvollen Flossenschlag war er neben Emily und umfasste ihre andere Hand. „Auf geht’s!“

Fasziniert folgte Emily den beiden durch Virgeeville und sog die neuen Eindrücke in sich auf. Sie trafen auf verschiedene Isurianer, die sie neugierig beäugten und ihnen freundlich zuwinkten, sich aber ansonsten zurückhaltend verhielten.

Sie betrachtete die unterschiedlichen Höhleneingänge. Bisher kannte sie nur den Tausendwedelquokling mit seinen unzähligen Tentakelfäden vor der Höhle, in der sie die endlos langen letzten Tage verbracht hatte. Nun sah sie, dass jeder Höhleneingang individuell verschlossen war. Einer war zum Beispiel mit dunkelgrünem Meeresgras verhängt und von bunt schimmernden Korallen umrandet. Ein anderer wurde von glitzernden Blauwürmern verschlossen, die sich in ständiger Bewegung befanden. Am faszinierendsten fand Emily einen Höhleneingang, den ein sirrendes Geflecht farblich wechselnder Lichter verschloss. Gerade beherrschte noch ein dunkles Lila mit einem sanften Grün den Eingang, im nächsten Moment dominierte ein leuchtendes Gelb, durchsetzt mit blauen Farbklecksen.

Schließlich erreichten sie einen großen Platz im Zentrum der Stadt. Auf der linken Seite erkannte Emily einen abgetrennten Bereich, an dessen Kopfende ihr fünf aus Fels gehauene, thronähnliche Sitze ins Auge fielen. Über den Platz hinaus reichte rechts ein parkähnliches Gelände, auf dem kurzes Seegras und unzählige bunte Wasserpflanzen wuchsen. Am Ende des Parks erhob sich ein grüner Wald aus wallendem Riesenseegras.

„Dort im Park kommen wir Isurianer oft zusammen, um unsere freie Zeit miteinander zu verbringen. Das dort ist der Versammlungsplatz der Lenker“, erklärte Dathan und deutete auf den Bereich mit den Thronen. „Hier treffen sie wichtige Entscheidungen. Zum Beispiel wurden hier die Pläne für den Kampf gegen die Medaner besprochen. Und hier wurde beratschlagt, ob du nach der Verwandlung herkommen und den genauen Standort von Virgeeville erfahren darfst.“

„Du hast vorher dein Volk gefragt?“, fragte Emily verblüfft.

„Natürlich. Das musste ich, sonst hätte ich dich niemals mitbringen dürfen. Immerhin bist du der erste Mensch, der verwandelt ist und weiterhin an Land leben möchte. Das ist ein enormes Risiko für die Isurianer und die ganze Unterwasserwelt. Darüber mussten die Lenker entscheiden.“

Emily runzelte die Stirn. „Was hättest du getan, wenn sie es abgelehnt hätten?“

„Dann hätten wir beide irgendwo außerhalb des Teldameers leben müssen.“

Erschrocken über diese Worte sog Emily einen Schwall Wasser ein und vergaß für einen Augenblick die Kiemenatmung. Wasser gelangte in ihre Luftröhre. Panisch riss sie die Augen auf und erlag augenblicklich einem reflexartigen Hustenanfall, der ihren ganzen Körper schüttelte.

„Verdammt, Dathan!“, schimpfte Anna und warf einen besorgten Seitenblick auf Emily.

Sofort war Dathan an ihrer Seite, schlug mit seiner Rückenflosse angespannt hin und her und strich der hustenden und rot angelaufenen Emily beruhigend über den Rücken. „Geht’s wieder?“, fragte er besorgt.

Sie hob abwehrend die Hand und atmete mit gesenktem Kopf mehrmals tief durch die Kiemen aus. Nach einer Weile nickte sie. „Alles wieder im grünen Bereich.“

„Wir sollten jetzt zurück. Es reicht für heute“, bestimmte Anna. Sie zog Emily entschieden mit sich und ließ sie erst los, als sie vor Dathans und Sasanas Höhle ankamen.

„Anna, du kannst gern zu Leander schwimmen. Ich bin hier und passe auf sie auf“, bemerkte Dathan, als Anna gerade mit in die Höhle schwimmen wollte.

„Aber es könnte ein weiterer Hustenanfall kommen“, entgegnete Anna kopfschüttelnd. „Das war bei mir oft so. Ich würde lieber noch etwas hierbleiben und sie beobachten.“

„Anna“, mischte sich Emily ein, als sie Dathans angespannten Gesichtsausdruck sah. „Es geht mir gut und Dathan ist ganz sicher in der Lage, auf mich aufzupassen. Du kannst beruhigt zu deiner Höhle schwimmen.“

„Hast du auch kein Kratzen im Hals?“

„Nein.“

„Kein Spannen in den Kiemen?“

„Nein.“

„Oder vielleicht …“

„Nein, Anna. Es ist alles völlig in Ordnung. Keine außergewöhnlichen Empfindungen.“

„Na gut“, meinte sie langgezogen und nicht ganz überzeugt. „Dann bin ich mal weg. Aber versprecht mir, mich sofort zu rufen, wenn irgendetwas passiert.“

Dathan nickte und legte einen Arm um Emilys Schultern. „Versprochen!“

„Na dann … bis später.“

„Bis später“, rief Emily Anna hinterher.

„Puh, das war ganz schön knapp, oder?“, fragte Dathan und schob sie zu dem aus Fels gehauenen, couchähnlichen Vorsprung am Ende ihrer kleinen Höhle. „Geht’s dir wirklich gut oder wolltest du nur Anna loswerden?“

„Mir geht’s wirklich gut.“ Sie umfasste sein Gesicht mit beiden Händen und küsste ihn zärtlich. „Siehst du? Sogar das Küssen funktioniert problemlos. Das Ganze sah wahrscheinlich für euch schlimmer aus, als es für mich war. Ich hab’s doch ziemlich schnell im Griff gehabt. Ihr macht euch zu viele Sorgen.“

„Lieber ein bisschen vorsichtiger als einmal unvorsichtig“, sinnierte Dathan. „Was mir übrigens gerade einfällt … das hatte ich in der Hektik fast vergessen. Ich habe mit meinen Eltern gesprochen. Sie wollen uns morgen besuchen kommen und dich endlich kennenlernen.“

Hatte sie das gerade richtig verstanden? „Du liebe Güte“, murmelte Emily und verließ mit einem kraftvollen Flossenschlag ihren Sitzplatz. „Deine Eltern? Dann … dann muss ich irgendwas für sie vorbereiten. Was essen sie denn am liebsten? Soll ich irgendwelche … Algen pflücken oder so? Haben wir genügend Fische?“

„Hey, bleib ganz ruhig“, rief Dathan lachend, als sie nervös durch die Höhle schwamm. „Du brauchst gar nichts zu machen. Sie möchten dich nur kennenlernen, sie kommen nicht zum Essen. Sie wissen genau, dass du solche Aktionen noch nicht bewältigen kannst.“

„Aber …“

„Nichts aber. Du bist hier in Virgeeville und nicht in Dünensee. Wenn sie uns irgendwann mal dort besuchen sollten, dann kannst du von mir aus vorbereiten, was du möchtest.“

Das wurde ja immer besser. „Heißt das, sie werden uns auch mal in Dünensee in deinem Haus besuchen?“

„Wer weiß …“, antwortete Dathan lächelnd. „So weit sind wir noch nicht. Jetzt leg dich in deine Seegrasmatte und ruh dich aus. Der Tag war anstrengend für dich.“

„Gut, wie du meinst.“ Erschöpft sank Emily auf die weiche Matte, dann sah sie bittend zu ihm auf. „Aber so müde bin ich noch nicht. Kannst du mit mir bitte noch ein bisschen Kiemenatmung mit Küssen üben?“, säuselte sie und klimperte mit den Augen.

Ein lautes, missmutiges Zischen ertönte, als Dathans Mutter am nächsten Tag durch die Fäden des Tausendwedelquoklings in die Höhle glitt.

„Ach, sei doch still! Da habt ihr euch ja was angetan mit dem Quokling. Die sind gerade wohl überaus modern“, sagte sie kopfschüttelnd und wandte sich Emily zu, die schnell auf die Tür zuschwamm. „Hallo, Emily. Wie schön, dich endlich kennenzulernen.“ Ein freundliches Lächeln begleitete ihre Worte.

„Hallo, Savina“, erwiderte Emily schüchtern. „Darf ich Sie so nennen?“

„Natürlich darfst du das, ich habe gar keinen anderen Namen. Und du brauchst nicht Sie zu mir zu sagen. Das kennen wir Isurianer nicht, das ist ein Menschending. Alle duzen sich, wir sind ein Volk.“

Emily spürte, wie ihr Gesicht vor Freude über Savinas Freundlichkeit heiß wurde. Wahrscheinlich leuchtete es gerade in der Farbe einer reifen Kirsche. Sie schien sie wirklich als Partnerin ihres Sohnes zu akzeptieren.

„Hallo, meine Tochter“, donnerte eine dunkle Stimme durch die Höhle. Emily blickte über Savinas Schulter und hätte sich vor Schreck um ein Haar verschluckt. Im letzten Moment gelang es ihr noch, das Wasser durch die Kiemen hinausströmen zu lassen.

Mit stolz gerecktem Kinn und kaum wahrzunehmenden Flossenschlägen schwebte Kronos in die Höhlenmitte. Er war größer als Dathan, hatte noch breitere Schultern als dieser und die gleichen leuchtend grünen Augen, mit denen er sie durchdringend ansah. Lange, dunkle Haare umrahmten sein kantiges Gesicht. Dass Dathan sein Sohn war, erkannte man sofort.

„Äh, hallo …“ Emily räusperte sich verlegen.

„Kronos. Ich heiße Kronos.“

„Ja, ich weiß. Kronos“, stammelte sie.

Es fiel ihr nicht leicht, ihn mit seinem Vornamen anzusprechen und auch noch zu duzen. Ihre Eltern hatten ihr von klein auf den respektvollen Umgang mit älteren Menschen beigebracht, doch hier in Virgeeville herrschten scheinbar ganz andere Regeln.

„Nun, Emily“, setzte Kronos mit seiner volltönenden Stimme an. „Wie geht es dir bisher hier in Virgeeville? Fühlst du dich wohl? Hast du die Verwandlung gut überstanden?“

Schnell nickte sie. „Es wird von Tag zu Tag besser. Es gibt noch die eine oder andere Kleinigkeit, die ich noch nicht zu hundert Prozent beherrsche. Ich war noch nicht jagen. Wegen der Kiemenatmung. Anna meinte, ich würde sie unter Stress vergessen.“

„Ja, das kann gut sein“, stellte Savina fest. „Wir haben ja keine große Erfahrung damit. Anna und du, ihr seid die einzigen Menschen, die bisher verwandelt wurden. Deshalb solltest du unbedingt auf ihre Ratschläge hören.“

„Ich weiß“, murmelte Emily. „Wenn’s nur nicht so lange dauern würde.“

„Du bist viel zu ungeduldig“, warf Dathan ein und bedachte sie mit einem schulmeisterlichen Blick.

„Es wäre gut, wenn du deine Erfahrungen für die Nachwelt festhalten würdest“, brummte Kronos. „Mit Anna zusammen. Falls es noch mal zu einer Verwandlung kommen sollte, wäre es wichtig, dass jemand überprüfen kann, wie diese abläuft.“

„Ja, natürlich, das können wir gerne machen. Ich werde Anna gleich morgen danach fragen … aber wie genau sollen wir hier etwas aufschreiben?“, fragte Emily irritiert.

„Bei uns wird alles, das für unsere Nachfahren erhalten bleiben soll, mündlich von Generation zu Generation weitergegeben. Die wichtigsten Dinge werden jedoch in den Felsen der Thyriagrotte verewigt“, erklärte Kronos. „Wir überprüfen den Zustand der Aufzeichnungen regelmäßig und bessern sie je nach Bedarf aus. So bleiben uns alle wichtigen Informationen über Generationen erhalten. Dathan kann dir die Grotte zeigen und bei der Suche nach einem Schreiber helfen. Wir haben einige, die das Schreiben und Lesen beherrschen.“

„Genug jetzt von der Thyriagrotte“, unterbrach Savina das Gespräch. „Lasst uns über etwas anderes reden. Wie sehen deine Zukunftspläne aus, Emily? Wirst du hier in Virgeeville bleiben? Oder was hast du für die Zukunft geplant?“

Dathan räusperte sich. „Mutter. Findest du nicht, dass du sie ein bisschen überforderst? Sie sollte erst mal lernen, sich problemlos bei uns zu bewegen. Alles Weitere kommt später.“

„Nein, nein“, antwortete Emily. „Ist schon in Ordnung, Savina. Ich habe vor, an Land das Abitur zu machen und danach möchte ich Meeresbiologie studieren. Wenn alles so funktioniert, wie Dathan und ich es überlegt haben, werde ich mein normales Leben in Dünensee weiterführen können. Wir dachten, dass ich am besten in sein Haus einziehe, damit meine Familie nichts von meiner Verwandlung merkt. So fällt es am wenigsten auf, wenn ich des Öfteren mal in Virgeeville bin.“

„Genau. Das ist der Plan, den Emily und ich haben“, warf Dathan ein. „Sie sollte so normal wie möglich in Dünensee ihr Leben weiterführen können. Vor allem ist es mir wichtig, dass sie ihre Familie und ihre Freunde weiterhin um sich haben kann.“

Kronos runzelte die Stirn. „Dathan sagte, du hast einen Bruder. Wird er nichts bemerken?“, fragte er nachdenklich. „Du kennst das Risiko, das wir eingegangen sind, als wir dir Zutritt zu unserer Welt gewährt haben.“

„Ja, Kronos. Ich kenne das Risiko und ich bin euch für eure Erlaubnis unendlich dankbar. Keine Menschenseele wird etwas merken, das verspreche ich. Niemals würde ich euch einer Gefahr aussetzen. In dem Fall müsste ich mich ja auch entweder von Dathan trennen oder mit euch wegziehen und meine Familie verlieren. Ihr seht also, mir ist mindestens genauso viel wie euch daran gelegen, dass niemand etwas von Virgeeville, den Isurianern und meiner Verwandlung erfährt. Marc, mein Bruder, weiß, dass es euch gibt, aber er wird schweigen. Ich habe ihm genau erklärt, was passieren wird, wenn er auch nur eine Silbe über euch verlauten lässt.“

Kurz betrachtete Dathans Vater sie mit einem unergründlichen Blick. Emily hielt den Atem an, bis er schließlich nickte. „Nun gut. Ich sehe, ihr habt gründlich darüber nachgedacht“, resümierte Kronos. „Wichtig ist für uns, dass Dathan nicht noch einmal die Bindung zu unserem Volk verliert und hier in Virgeeville ist, wann immer wir ihn brauchen. Nicht nur, wenn ein Kampf bevorsteht. Isurianer werden auch krank. Vor allem die Kinder, es ist wie bei euch Menschen.“

„Er wird immer für euch da sein“, versicherte sie. „Dafür sorge ich.“

„Das freut uns, Emily. Wie lange wirst du noch bleiben, bevor du wieder an Land gehst?“, fragte Savina.

„Etwa zwei Wochen, denke ich. Bis dahin müsste sie die wichtigsten Dinge beherrschen. Dann enden auch die Ferien und sie muss wieder zur Schule“, beantwortete Dathan die Frage und legte beschützend den Arm um Emilys Schulter. „Ich werde mit ihr nach Dünensee gehen und täglich mit ihr im Meer üben.“

Als Kronos und Savina sich kurz darauf verabschiedet und unter grantigem Zischen des Quoklings die Höhle verlassen hatten, schwamm Emily zu Dathan und sah ihn mit schiefgelegtem Kopf an. „Dein Vater hat Tochter zu mir gesagt. Wieso tut er das?“

„Das ist ein gutes Zeichen.“ Lächelnd legte Dathan die Hände auf ihre Hüfte. „Er hat akzeptiert, dass wir beide verbunden sind. Und wenn das einmal so ist bei uns Isurianern, dann bleibt es ein Leben lang so. Also, meine Süße – du gehörst jetzt zur Familie und hast keine Chance, mir jemals wieder zu entkommen.“

„Wunderbar. Das will ich nämlich auch gar nicht. Komm her und küss mich“, flüsterte sie und schlang die Arme um seinen Nacken.

Am nächsten Tag schwammen Emily und Dathan gemeinsam zur Thyriagrotte. Von außen wirkte diese Grotte wie jede andere, doch hinter dem schmalen Eingang wartete eine völlig andere Welt.

„Oh mein Gott, ist das schön“, flüsterte Emily ergriffen, als sie die in verschiedenen Farben schimmernden Felswände betrachtete. Die Oberfläche der Innenwände funkelten jetzt noch perlmuttfarben, im nächsten Moment schimmerten sie in einem Algengrün, um dann in ein Korallenorange und in ein dunkles Blau zu wechseln. Die Grotte selbst war erfüllt von dem Schwirren eines leisen Tons, vergleichbar mit dem Summen tausender Honigbienen.

Schweigend und mit sanften Flossenschlägen glitten sie durch die lang gezogene Grotte. An manchen Wänden besserten Schreiber alte Aufzeichnungen aus, um diese vor der Auflösung zu schützen. Andere arbeiteten an neuen Texten und Zeichnungen, indem sie diese mit spitzen Raubfischzähnen und Felsstücken, mit denen sie behutsam auf das Werkzeug klopften, in die Felswände einbrachten.

Am Ende der Grotte saßen zwei Isurianerinnen vor der rückwärtigen Felswand, die in einem glänzenden Schwarz schimmerte und in einer beständig fließenden Bewegung zu sein schien.

„Was machen die beiden da?“, flüsterte Emily in Dathans Ohr. Hier am Ende der Grotte herrschte eine eigentümliche Atmosphäre. Fast konnte man sie als andächtig oder feierlich bezeichnen.

„Sie lesen dem Thyria die Texte vor, die als nächstes in die Wände geschrieben werden sollen, und erbitten seine Zustimmung“, gab Dathan leise zurück.

„Dem Thyria?“

Er nickte. „Dieses sich ständig bewegende Etwas, das du vor dir siehst, ist keine Felswand. Es ist der Thyria – ein mächtiges Wasserwesen, das in dieser Höhle herrscht. Ohne seine Zustimmung darf niemand die Felswände berühren, geschweige denn etwas hineinschreiben.“

Fasziniert beobachtete Emily, wie die Frauen mit leiser Stimme vorlasen, was auf den großen hellgrünen Pflanzenblättern auf ihrem Schoß geschrieben stand. Also gab es hier doch so etwas wie Papier.

„Jetzt hast du alles schon einmal gesehen. Komm, lass uns zurückschwimmen“, flüsterte Dathan und ergriff Emilys Hand. Erst als er sie mit sich zog, löste sie sich von dem Anblick der sich bedächtig bewegenden Felswand.

„Wieso bewegt sich der Thyria? Es ist doch bloß Fels, oder?“, fragte Emily vor der Grotte.

Dathan schlug den Weg nach Virgeeville ein. „Alles hier unter Wasser lebt und hat besondere Fähigkeiten. Es gibt noch vieles, das du nicht kennst und das dir ungewöhnlich erscheinen wird. Alle Wände in der Grotte, aber vor allem der Thyria, sind einzigartig. Mit dem summenden Ton, den du eben gehört hast, zeigen sie ihre Zustimmung. Wenn sie verärgert oder einem Text oder einer Aktion nicht wohlgesonnen sind, klingt der Ton ganz anders. Dann wird er so schrill, dass du dir die Ohren zuhalten musst. Auch während die Schreiber arbeiten, summt oder kreischt es, je nachdem, was die Wände empfinden. Die Schreiber können auch nicht jeden Tag an denselben Wänden arbeiten, wir müssen jedes Mal um Zustimmung bitten. Auch das beantworten uns die Wände durch die zwei Tonarten.“

Emily erschauderte. „Was würde denn passieren, wenn eine Wand nicht beschrieben werden will und ihr es trotzdem tun würdet?“

Dathan schmunzelte. „Anfangs passierte das des Öfteren. Als die Grotte entdeckt wurde, hatte kein Isurianer eine Ahnung, was uns hier erwartet. Erst nach und nach wurde alles klarer. Bis dahin hat der Thyria mehr als einmal seinen Ärger durch die Grotte geschrien. Dabei wurde er sehr aktiv und hat uns mehrfach aus der Höhle geschleudert. Die Schwingungen, die du gesehen hast, waren nur ein Bruchteil von dem, wozu der Thyria imstande ist. Wenn er wütend wird, vervielfachen sich die Bewegungen und schleudern alles aus der Grotte raus, was nicht fest mit den Wänden verbunden ist.“

„Das klingt aber gefährlich“, stellte Emily unsicher fest. „Vielleicht sollte ich mich von dort besser fernhalten, nicht dass ich einen Fehler mache und alle werden meinetwegen hinausgeschleudert.“

„Wir kennen mittlerweile die Regeln – ich werde dich schon daran hindern, etwas Falsches zu machen“, versicherte Dathan und griff nach ihrer Hand. „Außerdem sind unsere Aufzeichnungen so auch geschützt vor allen, die nicht zu unserem Volk gehören. Der Fels der Grotte ist aus einem besonderen Material, er überdauert viele hundert, wenn nicht tausend Jahre. Deshalb halten wir an dieser Grotte fest.“

Emily wiegte nachdenklich den Kopf. „Was mich noch interessiert: Können eigentlich alle Isurianer schreiben und lesen?“

„Nein, längst nicht. Früher schickten die Lenker Isurianer an Land, um von den Menschen zu lernen. Dabei lernten diese auch Lesen und Schreiben.“

„Hm. Hat sich denn nie einer dieser Isurianer in eine Menschenfrau oder einen Menschenmann verliebt?“

„Nein. Es wurden immer nur die Schreiber und Schreiberinnen an Land geschickt, die schon mit Partnern verbunden waren. Sie konnten sich nicht mehr verlieben, deshalb gab es in dieser Hinsicht niemals Probleme“, antwortete Dathan und verlangsamte sein Tempo. „Anscheinend werden wir schon erwartet.“

Emily folgte seinem Blick. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie Virgeeville schon wieder erreicht hatten und auf ihre Höhle zuhielten. Anna und Leander warteten davor.

„Hey, ihr zwei“, rief Anna ihnen entgegen. „Ihr habt euch bestimmt die Grotte angesehen, nicht wahr? Emily, ich wollte mit dir besprechen, wie wir am besten unsere Erfahrungen während und nach der Verwandlung erzählen.“

„Klingt gut.“ Emily nickte und schwamm mit Dathan in die Höhle. Der Tausendwedelquokling ließ ein missmutiges Zischen hören.

Dathan grinste breit, als Anna und Leander ihnen folgten und der Quokling laut zu kreischen begann. „Er ist heute extrem schlecht gelaunt“, erklärte er. „Schätze, Sasana hat vergessen, ihn zu füttern.“

„Oh je, der Arme. Dann gib ihm doch was“, sagte Anna. „Ich kann ihn gut verstehen, ich bin auch sehr unleidlich, wenn ich Hunger habe.“

„Wir haben nichts mehr hier. Sasana ist sicher unterwegs, um etwas zu besorgen.“

„Dann lass uns doch auch jagen, während die zwei ihre Geschichte besprechen“, schlug Leander vor. „Da können wir ohnehin nicht helfen.“

„Gute Idee.“ Dathan nickte und war schon fast wieder beim Ausgang, als er noch einmal zurücksah. „Sollen wir euch was mitbringen?“

„Blaue Breitseitlinge“, rief Emily sofort, während Anna den Kopf schüttelte.

„War klar …“ Dathan grinste breit.

„Sei nicht so frech. Ich mag sie nun mal gern“, maulte Emily.

„Ich bin nicht frech, sie sind nur nicht leicht zu fangen. Weißt du was? Wir gehen nächste Woche mal zusammen jagen. Es wird langsam Zeit für dich. Wenn du den ersten blauen Breitseitling allein gefangen hast, dann kannst du wirklich jagen.“

„Klingt gut! So schwer wird das schon nicht sein. Bis später und viel Erfolg beim Jagen!“

Emily winkte Dathan und Leander nach, während Anna sie angrinste.

„Was?“, fragte sie misstrauisch.

„Ach, nichts“, gab Anna zurück. „Fangen wir an.“

In den nächsten drei Tagen trafen Anna und Emily sich immer wieder, um all ihre Erfahrungen auf die großen grünen Pflanzenblätter zu schreiben. Als sie endlich zufrieden waren, schwammen sie mit Dathan und Leander zur Thyriagrotte und gaben die Blätter beim Empfangsschreiber ab. Dieser würde sie dem Thyria zur Genehmigung vorlegen.

„Jetzt will ich blaue Breitseitlinge jagen“, ließ Emily verlauten, als sie aus der Grotte zurückkehrten.

„Sofort?“ Dathan kräuselte die Stirn.

„Am liebsten schon. Spricht irgendwas dagegen?“

„Nein … ja, ähm …“ Dathan wand sich sichtlich.

„Komm schon. Ich will endlich jagen. Ich hab die letzten drei Tage nur in der Höhle verbracht und geschrieben, jetzt brauche ich ein bisschen Action!“

Skeptisch sah Dathan zu Leander, der zustimmend nickte. „Wir jagen in der Nähe unserer Höhle. Dort gibt es einen Ort, wo es von blauen Breitseitlingen nur so wimmelt“, sagte er und lehnte sich dann zu Dathan. „Dann kann ich schnell die Pressluftflasche holen, falls sie gebraucht wird“, flüsterte er in sein Ohr.

Dathan nickte. Seit Emilys Verwandlung hatten sie für Notfälle zwei Pressluftflaschen in Leanders Höhle gelagert und waren sich einig darin gewesen, ihr nichts davon zu sagen. So hatte sie sich mehr angestrengt. „In Ordnung. Dann schwimm vor, Leander.“

So viel Mühe sich Emily beim Jagen auch gab, außer zwei Glasgelgeistern, die träge vor sich hin schwammen, erwischte sie nichts. Die blauen Breitseitlinge veränderten jedes Mal, kurz bevor sie sie packen wollte, in Sekundenschnelle ihre Farbe und verschmolzen mit Seegras, Korallenbänken und Felsformationen.

„Verdammt!“, keuchte sie außer Atem. „Die sind ja schnell.“

„Sagte ich doch. Blaue Breitseitlinge wollen überlistet werden. Aber das lernst du noch. Ich werde dir ein paar Tricks beibringen“, antwortete Dathan schmunzelnd. „Zumindest wissen wir jetzt, dass du die Kiemenatmung auch bei Stress beherrschst. Du lernst wirklich verblüffend schnell.“

„Danke sehr. Als Belohnung könntest du mir zwei fangen. Ich hab irren Appetit.“

Ohne Worte schoss Dathan durch das Wasser und überreichte Emily Minuten später die gewünschten Fische. „Damit du mir nicht verhungerst.“

„Danke“, murmelte sie, biss dem ersten Breitseitling den Kopf ab und verspeiste beide an Ort und Stelle.

„Ich glaube, wir können so langsam daran denken, nach Dünensee zurückzuschwimmen. Was meinst du?“ Dathan sah sie fragend an.

„Ähm … Anna, Leander? Was meint ihr dazu?“

Anna nickte sofort. „Ich habe dich beim Jagen beobachtet. Meiner Meinung nach kannst du bedenkenlos an Land zurückkehren. Alles, was lebenswichtig ist, beherrschst du mittlerweile.“ Lächelnd umarmte sie Emily. „Willkommen in der Welt der Meereswesen.“