Leseprobe Loud Heartbeats

Kapitel 1

Dass ausgerechnet ich – Miriam Elizabeth Hemmingway, dreiundzwanzig Jahre, geboren und aufgewachsen in Queens, Tochter eines Bäckers und einer Konditorin – mich einmal darum bewerben würde, im Fernsehen aufzutreten, hätte wohl niemand gedacht. Am allerwenigsten ich selbst.

Doch hier stand ich nun und verdrängte das Bedürfnis, meine verschwitzten Hände zum siebten Mal in zehn Minuten an meinem knielangen Faltenrock abzuwischen.

»Miriam, wie lange arbeiten Sie schon als Konditorin?«, fragte mich die Leiterin des Castings, Moe Sinclair. Ihre kurzen, schlumpfblauen Haare dominierten alles in dem blassen Konferenzraum, der zu einem mittelklassigen Hotel in Manhattan gehörte. Es gab nur einen langen Tisch und drei Stühle, auf denen Moe zusammen mit ihren beiden Castingkollegen Chester Bennett und Bexter Simmons darüber entschied, ob ich an dem neuen Fernsehwettbewerb Flour & Butter teilnehmen würde oder nicht.

Ich schaute in den Camcorder, der vor mir auf einem Stativ befestigt war, und erinnerte mich daran, zu lächeln. Mit einem Lächeln gewinnt man jedes Herz, wie meine Mutter zu sagen pflegte, also tat ich das, so oft ich nur konnte.

»Ich habe mit sechzehn angefangen, in der Bäckerei meiner Eltern zu arbeiten. Nach meinem Schulabschluss bin ich dortgeblieben und habe von ihnen alles gelernt, was man über das Handwerk wissen kann.«

Moe nickte, die Miene so ausdruckslos, dass ich nicht sagen konnte, ob ihr meine Antwort gefiel oder nicht. Das störte mich am meisten an den drei Gesichtern vor mir: Sie waren undeutbar.

»Arbeiten Sie viel?«, schob Bexter nach und zwirbelte dabei seinen dünnen Schnurrbart, der ihm etwas Französisches verlieh.

Ich nickte. »Viel ist relativ, aber es kommen hin und wieder Überstunden vor.«

»Hätten Sie denn die Möglichkeit, für mehrere Wochen eine Auszeit zu nehmen?«

Mehrere Wochen? Nein. Eigentlich nicht. Mein Dad war für Brote und Brötchen jeder Art verantwortlich, meine Mom für die Büroarbeit und den Verkauf und ich kümmerte mich um die Kuchen und bestellten Torten für Familienfeiern. Wenn ich ausfiel, mussten sich meine Eltern meine Arbeit aufteilen, so wie früher, als sie noch jünger und deutlich gesünder waren.

Aber hatte ich denn eine Wahl? Wir tanzten sprichwörtlichen am finanziellen Abgrund. Die Kundschaft war seit Jahren die gleiche und sie alterte und starb mit der Zeit langsam aus. Die jungen Gäste liefen lieber zu einer der hundert neuen Franchise-Kaffeeketten, die in Queens an jeder Straßenecke im Wochentakt eröffneten. Mit der Beliebtheit unseres Viertels stiegen auch in aller Regelmäßigkeit die Mieten, und Gott bewahrte, dass eine der Maschinen kaputtging. Allmählich fraßen uns die Kosten für die Bäckerei auf.

»Das wird sich arrangieren lassen«, stimmte ich Bexter wie ein braves Schulmädchen zu. Ich konnte mir nicht die Chance auf fünfundsiebzigtausend Dollar Preisgeld entgehen lassen, die der erste Platz bei Flour & Butter mitbrachte. Mir graute es davor, im Fernsehen aufzutreten – ich arbeitete nicht umsonst lieber in ruhigen, abgeschotteten Backstuben –, aber die Chance war einmalig. Zehn Kandidaten, neun Livesendungen und Mottos stets am Mittwochabend, eine unsagbar große Menge Geld, die wir in neue Werbung, modernere Maschinen und unser Sicherheitspolster für noch schlechtere Zeiten investieren konnten. Auch wenn sich alles in mir zusammenzog, sobald ich nur daran dachte, wie viele Menschen mir beim Backen zusehen würden – ich musste es tun. Für meine Eltern, für die Bäckerei, für meinen eigenen Wunsch, die Hemmingway Bakery eines Tages weiterzuführen. Ohne sie platzte mein Traum.

Moe räusperte sich und schob einen Stapel Papiere zusammen. »Okay, danke, Ms Hemmingway. Es wird ein paar Tage dauern, bis wir das Material aller Bewerber durchgesehen haben. Wir melden uns bei Ihnen.«

»Was ist mit den Muffins?« Ich deutete auf die Tupperdose mit sechs Blaubeer-Bananen-Muffins, die ich extra zur Verkostung vorbereitet hatte. »Möchten Sie keinen probieren?«

»Das ist nett gemeint, aber würden wir von jedem potenziellen Kandidaten Gebäck essen, müsste ich die nächsten zehn Jahre eine Null-Diät machen«, wandte Chester mit seiner verschnupften Stimme ein.

»So etwas könnte niemand ertragen«, murmelte Bexter grinsend.

Ich sah verwirrt zu Moe, der einzigen Person in diesem kargen Raum, der ich zutraute, mir eine normale Antwort zu geben. »Woher wollen Sie wissen, ob ich kann, was ich verspreche, wenn Sie nichts versucht haben?«

»Wir vertrauen darauf, dass Ihre Angaben stimmen. Sollten Sie falsch sein, blamieren Sie sich im landesweiten Fernsehen, nicht wir.«

Chester lachte. »Stimmt. Wir freuen uns dann nur über die Quoten.«

Ich nickte, auch wenn ich nicht wirklich wusste, was hier gerade ablief. Bevor ich mir jedoch weiter darüber Gedanken machen konnte, verabschiedete ich mich höflich von den dreien und verließ das Zimmer. Vorsichtig zog ich die Tür hinter mir zu. Meine Beine fühlten sich wie Wackelpudding an, als ich den Hotelkorridor hinunterlief und mich an der nächsten Ecke an die kühle Wand lehnte.

»Himmel«, seufzte ich und schloss die Augen. Kein Laut in dieser Etage konnte das Rauschen in meinen Ohren übertönen, weder das Geräusch von Staubsaugern noch Stimmengemurmel aus den naheliegenden Zimmern. Die Anspannung des Tages fiel von mir ab und ließ mich als mentales Wrack zurück.

Ich öffnete die Augen und holte tief Luft.

Einatmen, ausatmen.

Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich mich aktiv für etwas bewerben müssen. Der Vorteil, wenn man sein Geld im Familienbetrieb verdiente, war der halbwegs sichere Arbeitsplatz. Außerdem ersparte es mir das leidliche Prozedere, Fremde davon zu überzeugen, dass ich die richtige Person für sie war. Allerdings hätte mich das womöglich etwas darauf vorbereitet, was mich in diesem Casting erwartet hatte. Ich hatte über diverse persönliche Bereiche meines Lebens Auskunft erteilen müssen, aber über eine mögliche Verkostung hatten sie gelacht?

Siedend heiß fiel mir ein, dass ich die Tupperdose drinnen hatte stehenlassen. Ein leises Stöhnen kam mir über die Lippen, aber ich durfte mich jetzt nicht fertigmachen. Vielleicht würden sie meine Muffins doch noch kosten und mir dafür Pluspunkte geben. Die ich vermutlich dringend benötigte. Ich musste kein Profi sein, um zu erkennen, dass ich nicht gerade ein showtaugliches Verhalten an den Tag gelegt hatte. Zu ruhig, zu unscheinbar – Miriam Hemmingway eben. Früher war ich wild und draufgängerisch gewesen, hatte meine roten Haare schwarz gefärbt, zerrissene Jeans getragen und war sogar ein paar Mal in Schulbüros ein- oder hatte Autos aufgebrochen. Diese Miriam wäre wie fürs Fernsehen gemacht gewesen.

Aber Jahre später war ich nicht mehr wie sie. Heute dachte ich mir oft meinen Teil, trug die schönsten Kleider und High Heels und war bei meinen Nachbarn dafür bekannt, dass es aus meiner Wohnung immer herrlich nach frischen Waffeln duftete und ich nie die Musik zu laut aufdrehte. Ich war ein netter, gesellschaftsfähiger Mensch geworden. Im normalen Leben angenehm und unaufgeregt, im Fernsehjargon aber wohl eher langweilig. Wenn sie meine Fähigkeiten nicht überzeugten, dann gab es nichts anderes, mit dem ich angeben konnte.

Ich zupfte meinen schwarzen, knielangen Faltenrock zurecht, straffte die Schultern und stieß mich von der Wand ab, um den Heimweg anzutreten. Das Casting war vorbei und die Würfel damit gefallen. Nun musste das Schicksal entscheiden, ob ich auf diesem Weg alles, was meine Eltern aufgebaut hatten, erhalten konnte oder nicht. Diese Backshow war meine letzte Hoffnung und sie war beängstigend klein.

Alles wird gut. Das sagte ich mir wie ein Mantra immer wieder. Alles wird gut. Alles wird gut. Alles wird …

»Miriam?« Ich warf einen Blick über die Schulter und sah in das Gesicht eines attraktiven Mannes, dessen Erscheinung in der ersten Sekunde ein Gefühl von Vertrautheit in mir auslöste. Er wirkte überrascht und zugleich erfreut, mich zu treffen. »Miriam Hemmingway, richtig?«

Braune Augen, so dunkel, dass sie fast schwarz wirkten, betrachteten mich flüchtig vom Scheitel bis zu den roten High Heels. Obwohl er mich direkt erkannt hatte, brauchte ich etwas länger, bis der Groschen fiel.

»Henry«, stieß ich aus und ließ mich in eine Umarmung ziehen. Der Duft von Kaffee sowie eines dezenten Aftershaves stieg mir in die Nase. Obwohl er ganz anders aussah als früher – erwachsener und männlicher, was vielleicht an dem Dreitagebart lag – roch er immer noch gut.

Seine Arme hielten mich fest umschlossen, während ich ein weiteres Mal tief einatmete. Sofort fühlte ich mich wieder wie meine sechzehnjährige Version – mit mehr Anstand und einem besseren Kleidungsstil, aber demselben Chaos im Kopf.

Nachdem wir uns voneinander gelöst hatten, steckte er die Hände in seine Jackentaschen und betrachtete mich neugierig.

»Was für ein Zufall«, stellte er mit einem Blitzen in den Augen fest, das zu ihm gehörte wie der Duft, der ihn umhüllte. Wie oft hatte ich all das an ihm verflucht? Zu oft. »Was treibt dich hierher?«

Aus einem alten Instinkt heraus schob ich mir eine Haarsträhne hinters Ohr und blickte zu ihm auf. »Ich bin zu einem …« Was sollte ich sagen? Sollte ich das Casting erwähnen oder würde das lächerlich rüberkommen? »Ich war bei einem Vorsprechen.«

»Für diese Backshow? Flour & Butter

»Ja. Du hast davon gehört?«

Er zog einen zusammengefalteten Zettel aus der Gesäßtasche seiner dunklen Jeans, die ihm ebenso gut stand wie sein weißes Shirt, und hielt mir die Einladung zum Vorsprechen hin. »Ich werde sogar daran teilnehmen.«

»Du kannst backen?« Eigentlich hätte ich lieber gefragt, warum er sich der Zusage bereits sicher war, aber ich erinnerte mich, dass ich hier mit Henry Adler sprach. Niemand strotzte bereits seit seiner Kindheit so vor Selbstüberzeugung wie er.

Er und ich hatten damals dieselbe Highschool in Queens besucht und zu einer Clique aus Emo- und Grunge-Kids gehört, die gegen alles rebellierten. Einfach aus Prinzip, weil unsere pubertären Hormone von heute auf morgen entschieden, dass wir viele Dinge besser wussten. Wir hörten nicht auf Lehrer, Eltern oder andere Obrigkeiten, die älter als achtzehn waren. Henry hatte früher schon mehr Selbstbewusstsein ausgestrahlt als wir alle zusammen und sich damit zu einer Art Anführer berufen gefühlt.

Der Anführer der Außenseiter, und wir hatten ihn als solchen ausnahmslos akzeptiert.

Auch wenn ich eine der Harmloseren in unserem Freundeskreis gewesen war, hatten wir eine Menge Mist gebaut, für den ich mich heute noch schämte.

Henry lachte, und auch dieser tiefe, raue Klang war mir so vertraut, dass er drohte, mich zurück in die Vergangenheit zu katapultieren. »Nein, Backen gehört nicht unbedingt zu meinen Stärken, aber ich habe andere Fähigkeiten.«

»Davon bin ich überzeugt.« Ich dachte an all die Gerüchte, die damals an unserer Schule über ihn kursiert hatten. Von Schlägereien mit Kleinkriminellen wie den Delgado-Brüdern bis hin zu äußerst flüchtigen Liebschaften mit diversen Mädchen war so ziemlich alles dabei gewesen. Manches stimmte, manches nicht. Hin und wieder hatte er auch gern Alleingänge hingelegt, daher fiel es selbst uns, die ihn etwas besser kannten, schwer zu sagen, was der Wahrheit entsprach. Henry war bereits damals mit vielen fragwürdigen Qualitäten und Talenten gesegnet gewesen, warum sollte sich daran etwas geändert haben?

»Warst du schon dran?«

Ich nickte langsam, da meine Gedanken zwischen damals und heute festhingen. »Gerade eben.«

»Und was denkst du?«

»Worüber?«

»Über das Casting.« Seine Mundwinkel zuckten, als würde ich ihn amüsieren. »Oder die Sendung allgemein.«

»Über die Sendung kann ich nicht viel sagen«, gab ich zu. »Aber ich finde es seltsam, dass sie nichts vorkosten. Als wäre ihnen egal, ob wir wirklich gut sind oder nicht.«

Wie Moes Kollegen gesagt hatten: Am Ende blamierten wir uns vor der Kamera und sie heimsten die Quoten ein, weil sich alle über uns totlachten. Ein furchtbares Szenario.

»Das kann nur gut für mich sein.« Henry schob sich das dichte, braune Haar nach hinten und schmunzelte. »Dann wünsch mir mal Glück.«

Dieses Mal lachte ich. »Wofür? Du klangst ziemlich davon überzeugt, längst weiter zu sein. Du benötigst doch gar keine gedrückten Daumen.«

»Wenn ich es mir überlege«, er beugte sich zu mir vor, »dann kann es bei der Konkurrenz nicht schaden.«

Sein warmer Atem streifte meinen Hals. Ich kämpfte gegen die Hitze an, die drohte, meinen Körper wie eine Welle zu überschwemmen. Dass er es immer noch schaffte, mich dermaßen aus dem Konzept zu bringen, überforderte mich. Als mittlerweile erwachsene Frau sollte es mehr brauchen, um mich zu beeindrucken, aber hier stand ich und verwandelte mich innerlich zurück in den naiven Teenager, dessen geheime Gefühle unerwidert blieben.

Henry war mir so nah, ich entdeckte sogar die kleine Narbe an seinem Kinn, die mich früher schon immer abgelenkt hatte. Der Bart hatte sie nur ein bisschen versteckt.

Ich holte tief Luft, trat einen Schritt nach hinten und brachte so etwas Distanz zwischen uns.

»Dann alles Gute«, sagte ich und hob kurz die Hand.

Henry deutete ein Lächeln an und ging. Ich sah noch eine Weile in die Richtung, in die er verschwunden war, ehe ich mich ebenfalls in Bewegung setzte. Ich sollte wirklich nach Hause fahren, ehe mein Kopf anfing, sich mit dem, was ich in der letzten halben Stunde hier erlebt hatte, detailreich auseinanderzusetzen.

Mit dem Casting, der Zukunft der Bäckerei und vor allem mit Henry Adler.

***

Zwei Tage später stand ich abends in der Backstube und tappte immer noch im Dunkeln, ob ich an der Show teilnehmen würde oder nicht. Obwohl ich das Handy inzwischen überall mit hinnahm und bei jedem Mucks aufsprang, blieb der erhoffte Anruf aus. Jaina, eine meiner besten Freundinnen, die sich durch ihren Job als Bloggerin besser mit solchen Medienprozessen auskannte, erinnerte mich jedes Mal daran, dass die Sichtung von Castingunterlagen einige Zeit in Anspruch nahm. Schließlich bewarben sich viele Menschen auf nur zehn Plätze.

Das forderte eine Menge Durchhaltevermögen von mir. Geduld gehörte zwar zu meinem Job als Konditorin und Bäckerin dazu, wenn ich jedoch mitbekam, wie meine Eltern ihre Probleme vor mir zu verheimlichen versuchten, wusste ich, dass mir die Zeit davonlief.

Ich band mir die mehlbefleckte Schürze ab und hängte sie über einen der weißen Holzstühle, auf denen tagsüber unsere Gäste saßen. Wir hatten mittlerweile geschlossen und wie jeden Abend hatten sich meine Eltern in das kleine Büro neben der Backstube zurückgezogen, um den Arbeitstag zu beenden. Meine Aufgabe war es, nun die Tische und die Verkaufstheke zu säubern. Krümel von Törtchen und dunkle Ringe von Kaffeetassen klebten auf den Oberflächen. Ich wischte mit einem feuchten Lappen darüber und reinigte alles penibel. Unsere Kunden sollten sich hier, im schönen Ambiente, entspannen und ihren Alltag vergessen können. Das gehörte für mich einfach zu unserer Bäckerei dazu und hob uns immer noch von anderen ab. Ich wünschte mir nur, alle würden das so sehen.

Im Hintergrund führte die Siebträgermaschine leise eine Selbstreinigung durch. Dad hatte das teure Gerät extra angeschafft, um mit all den Coffeeshops mitzuhalten, die seit Monaten an jeder Ecke unseres Bezirks aufpoppten. Dass diese Franchise-Filialen mit ihren schlecht schmeckenden Kaffees und Fertigkuchen aus irgendeiner Fabrik überhaupt noch Kundschaft hatten, entzog sich meinem Verständnis.

Dabei waren ihre Coffee-to-gos und überfetteten Produkte nicht einmal günstiger. Die Gäste bezahlten dieselben Preise wie bei uns – teilweise sogar höhere – für schlechtere Qualität und Service ohne Herz. Unser größter Fehler war, dass die Hemmingway Bakery nicht Starbucks hieß. Normalerweise erfüllte mich das mit Stolz, aber wenn man kein Trendlokal führte, besaß man im Grunde nichts. Nur einen kleinen, unbedeutenden Laden in Queens, dem das Aus drohte, weil ihm die Kunden wegrannten und Mieten und Reparaturkosten immer weiter stiegen. Es kam, trotz viel Arbeit, nicht genug Geld rein, um das auszugleichen, was rausging.

Mom und Dad glaubten offenbar, ich bekäme ihre sorgenvollen Mienen nicht mit. Jeden Abend zogen sie sich in das winzige Büro neben der Backstube zurück, saßen einander gegenüber und diskutierten mit gedämpften Stimmen, damit ich bloß nichts hörte. Sie wollten mir die Wahrheit ersparen und dafür liebte ich sie, aber ich kannte die Rechnungen, die sie im obersten Schubfach des Schreibtisches vor mir versteckten. Es hatte ein bisschen gedauert, ehe ich begriff, dass sie nicht mehr Herr über die offenen Zahlungen waren, die inzwischen häufiger mit einem dicken Mahnungsstempel versehen eintrudelten.

Das war nicht fair. Meine Eltern lebten für dieses Geschäft und zwischendurch lief es unfassbar gut. Sie träumen sogar davon, es mir eines Tages zu vermachen. Selbst ich wünschte mir das seit ein paar Jahren. Ich arbeitete gerne in der Bäckerei und der Job erfüllte mich. In diesem Laden steckten viele Erinnerungen und Liebe. Ich war bereits als Kleinkind hier herumgelaufen und hatte unsere Gäste mit meinen ersten Sprechversuchen begeistert. Wenn ich meinen Blick jetzt durch den Raum wandern ließ, entdeckte ich viele Details, die ein warmes Gefühl in mir auslösten. Bilder von berühmten Besuchern oder Stammkunden, zahlreiche Pflanzen, die beinahe so alt waren wie ich. Die große Tafel, die normalerweise vor der Tür stand und auf die meine Mutter in kunstvoller Kalligrafie das Angebot des Tages schrieb. Schon als Baby war ich über den alten Dielenboden gekrabbelt und hatte mit meinen haselnussbraunen Augen die Kuchenauslage hinter der Glastheke bestaunt. Wenige Jahre später hatte ich regelmäßig vom Kuchenteig genascht.

Und das waren nur meine Erinnerungen. Meine Eltern hatten hier noch so viel mehr erlebt. Ich durfte nicht zulassen, dass sie die Bäckerei schlossen, und genau deswegen kam mir Erins Mail vor einigen Tagen und alles, was daraufgefolgt war, wie ein Wink des Schicksals vor.

Seit Kurzem arbeitete meine Freundin als Sekretärin für Donovan Records, einem äußerst erfolgreichen Plattenlabel. Ihr Freund Adam – zeitgleich auch ihr Chef, aber ich mochte ihn, weil er wirklich nett war – hatte für eine Klientin die Anfrage erhalten, als Promigast an Flour & Butter teilzunehmen, damit sie dort ihr neues Album bewarb. Da es thematisch nicht passte, lehnte er das Angebot ab. Erin dachte wiederum an mich und erzählte mir davon. Sie konnte ja nicht ahnen, dass ich kaum eine Stunde zuvor meine Mom dabei beobachtet hatte, wie sie ihre Tränen wegwischte, um ihren Kummer vor mir zu verbergen.

Im Fernsehen aufzutreten oder generell im Rampenlicht zu stehen, gehörte nicht zu meinen Lebenszielen. Wirklich nicht. Es reichte mir schon, wenn Gäste nach mir verlangten, weil sie mir sagen wollten, wie gut ihnen meine neueste Kreation schmeckte. Am liebsten stand ich mit Dad hinten in der Backstube und versank mit den Gedanken komplett in der Arbeit. Andere machten Yoga oder putzten dreimal täglich die Wohnung – ich backte Torten, Plunderteilchen und Muffins. Manchmal auch Donuts, Macarons, verschiedenste Brote, Körnerbrötchen und Laugenstangen. Einfach alles, was sich aus Teig zaubern ließ. Wenn die Kunden uns mit einem Lächeln verließen, erfüllte das mein Herz mit so viel Freude, dass es für den nächsten und den übernächsten Tag ausreichte.

Aber meine Arbeit versprach mir kein Preisgeld von knapp fünfundsiebzigtausend Dollar, sollte ich den ersten Platz erreichen.

Ich seufzte und schob den letzten Stuhl an den Tisch. Fertig. Die Oberflächen glänzten im Licht der untergehenden Abendsonne, eine zarte Note des Bio-Zitronenreinigers hing in der Luft und Stille legte sich über den Anblick. Ich sah mich um und stellte fest, dass nur noch Dad im Büro saß.

Seit ich denken konnte, war er ein Bär von einem Mann. Ausgestattet mit einem gut genährten Körperumfang und kräftigen Oberarmen vom Kneten und Formen der Teiglinge, warf ihn in meinen Augen einfach nichts aus der Bahn. Keine Mahnungen, Drohungen oder andere Unannehmlichkeiten. Er wirkte wie ein Fels in einem tosenden Meer, das unermüdlich versuchte, ihn fortzuschwemmen.

Leider wurde ich vor ein paar Jahren eines Besseren belehrt und seitdem passte ich auf, dass es ihm gut ging. Heute sah er müde und abgekämpft aus, wie er die Hände in das dünner werdende, dunkelblonde Haar schob und den Blick fest auf etwas gerichtet hielt, das ihm vermutlich eine weitere schlaflose Nacht bescherte.

Sollte ich einen Fuß ins Büro setzen, würde er den Kopf heben, mich anlächeln und unauffällig die Papiere verdecken. Das war die Art, wie wir Hemmingways mit Problemen umgingen. Wir behielten unsere Sorgen für uns, um niemanden damit zu belasten. Schon gar nicht einander.

Während ich Dad beobachtete, schickte ich ein stummes Gebet hinaus in die Welt. Als nicht allzu standfeste Katholikin wünschte ich mir einen Anruf der Produzenten von Flour & Butter. Ich malte mir aus, wie sie mir überschwänglich zur Teilnahme gratulierten und mir ein bisschen Hoffnung schenkten, dass ich die Bäckerei retten könnte. Ich glaubte nicht an Wunder, daher war es die ideale Gelegenheit, um mich vom Gegenteil zu überzeugen.

Irgendeine Möglichkeit musste es geben.

Irgendeine.

***

Zur Ablenkung nahm ich Jainas spontane Einladung für ein Speeddating am Samstagnachmittag an. Joey’s, die Bar, in der die Veranstaltung stattfand, lag nicht weit von der Bäckerei entfernt. Morgens half ich Dad noch beim Backen, danach entschied Mom, dass ich mal Freizeit brauchte. Alles in mir wehrte sich dagegen, denn am Wochenende überfielen die Gäste uns eher als unter der Woche, aber sie bestand darauf. Insgeheim hoffte sie vermutlich, dass ich den Mann meines Lebens kennenlernte. Gutaussehend, charmant, mit einem tollen Job und potent wie der Frühling, um zahlreiche Babys zu zeugen. Ihre bescheidenen Wünsche brachten mich oft zum Lachen, denn wenn es so leicht wäre, einen Partner mit all diesen Qualitäten zu finden, dann wäre er mir längst in die Arme gelaufen.

Im Joey’s würde ich ihn bestimmt nicht finden, das war mir bereits nach fünf Minuten klar, in denen Jaina und ich uns Drinks besorgt hatten. Es war eine dieser durchschnittlichen Tagesbars in einer Nebenstraße, in der es eine große, gut gefüllte Theke, versteckte Lautsprecher und diverse Sitzplätze mit runden Tischen gab, die heute in einem Kreis angeordnet waren. Um uns herum wimmelte es nur so von Menschen. Manche gaben sich betont cool und lässig, andere erweckten den Eindruck, als bräuchten sie jeden Moment eine Papiertüte. Von jung bis alt schien alles dabei zu sein, aber das hielt offenbar niemanden davon ab, bereits vor Beginn neue Bekanntschaften zu schließen. Die Lo-Fi-Musik, die leise im Hintergrund lief, ging in dem Stimmenchaos unter.

»Gott sei Dank muss ich mir das nicht allein geben.« Ich hörte Jainas Augenrollen aus ihren Worten heraus.

»Dabei wolltest du doch herkommen«, erinnerte ich sie schmunzelnd. Im Gegensatz zu ihr hielt ich mich an einem eiskalten Orangensaft fest. Kurz vor zwei am Nachmittag war mir viel zu früh für Alkohol.

»Wollen.« Sie schüttelte den Kopf. Die Spitzen ihrer kinnlangen, eisblonden Haare flogen energisch mit. »Mich würden keine zehn Pferde dazu bringen, das hier freiwillig zu besuchen, aber das Honorar ist verboten gut.«

»Worüber schreibst du genau?«

»Über das wilde Datingleben in der Großstadt – alte Trends und neue.« Sie zog ihr Handy aus der Hosentasche und zeigte mir eine App. »Daily Dating ist quasi das Tinder speziell für New Yorker und sie bezahlen mich für einen Artikel, in dem ich verschiedene Methoden als Großstadtsingle durchteste.«

Ich lachte angesichts der Ironie, dass ich Jaina in den zweieinhalb Jahren, die wir nun befreundet waren, noch nie auf der Suche nach einem Mann erlebt hatte. Manchmal traf sie jemanden für eine Nacht, aber aktiv auf der Jagd zu sein, passte nicht so richtig zu ihr.

Vorsichtig stieß ich ihr den Ellenbogen in die Seite. »Vielleicht triffst du deine große Liebe.«

»Nur über meine Leiche.«

Lachend ließ ich meinen Blick erneut durch die Bar wandern und fragte mich, was genau uns erwartete. Es handelte sich um ein offenes Speeddating-Event, was wohl bedeutete, dass meine Gesprächspartner sowohl männlich als auch weiblich oder divers sein konnten. Da ich bei einer solchen Veranstaltung noch nie teilgenommen hatte, hatte es irgendwie witzig geklungen. Doch jetzt überkam mich eine leichte Unruhe. Vom ersten Eindruck ausgehend, sprach mich niemand an, aber das musste nichts heißen. Ein paar Teilnehmer waren durchaus attraktiv und auch ungefähr in meinem Alter, aber für mich gehörte mehr dazu als ein hübsches Lächeln und volles Haar. Am Ende war das alles sowieso irrelevant, denn mit meiner Arbeit in der Bäckerei hatte ich keine Zeit für Romantik und so schnell würde sich daran nichts ändern.

Mit dem lauten Gong, der durch den großen Raum hallte, kehrte schlagartig Ruhe ein. Eine junge Frau mit dichten, dunklen Locken und spitzer Nase schnappte sich ein Mikrofon.

»Hallo, schön, dass ihr heute hergekommen seid.« Sie klang wie eine Entertainerin und verbreitete mit ihrer Art direkt gute Laune. Kurzerhand erklärte sie uns, wie alles ablief, dann ging es los.

Jaina und ich suchten uns zwei freie Plätze nebeneinander, unabhängig davon, wer uns gegenübersaß. Ich erwischte einen Mann mit offenbar südländischen Wurzeln. Sein schwarzes Haar war kurzgeschoren, sein Gesicht sah ein bisschen eingefallen aus und seine Haut war so braun, als hätte die Sonne ihn höchstpersönlich geküsst. Er lächelte und begutachtete mich, als wäre ich ein Pferd auf einer Versteigerung. Mir gefiel er nicht, auch wenn er noch kein einziges Wort gesagt hatte, um sich meine Abneigung zu verdienen. Es lag etwas in seinen Augen, das mich verunsicherte. Eine Art Hunger womöglich.

Ich erschauderte.

»Viel Erfolg«, flüsterte Jaina mir zu. Ich nickte und sah zu ihrem Gesprächspartner. Brillenträger mit etwas Übergewicht. Mitte dreißig, schätzte ich. Seine Schultern wirkten angespannt, und sofort musste ich an eine Schildkröte denken, die sich in ihren Panzer zurückzog. Armer Kerl. Er war bereits völlig von Jaina eingeschüchtert.

Der Gong erklang erneut und mein Gegenüber beugte sich mit zusammengefalteten Händen über den Tisch. Sein Blick fixierte mich unbehaglich. »Du bist hübsch«, stellte er unverblümt fest.

»Danke.«

»Ich bin Ramon«, fuhr er fort.

»Miriam.«

Er lächelte abermals und leckte sich über die Unterlippe. »Schöner Name. Und ich mag rote Haare.«

Dann hat wenigstens einer von uns einen Glücksgriff gelandet. Doch das behielt ich für mich, wie so oft. Ich hatte mir vor einer Weile angewöhnt, dass das Leben deutlich entspannter verlief, wenn man nicht immer sofort sagte, was man dachte. Stattdessen brachte ich ein verkrampftes Lächeln zustande und schwieg. Wie lange konnten sieben Minuten eigentlich sein? Wie viel war bereits rum? Hilfe?

»Du redest nicht gern, hm?« Er gab ein Schnaufen von sich. »Nicht schlimm. Du bist sicher ein Engel in der Küche und ein Teufel im Bett.«

Kalte Gänsehaut lief mir über die Unterarme. Das würde ihm gefallen. Ich sah zur Seite, wo sich Jaina angeregt Notizen machte, während das Gesicht ihres Gesprächspartners die Farbe einer Tomate annahm. Immerhin war ich nicht die Einzige, die sich unwohl fühlte.

»Weißt du, was man über Rothaarige sagt?«

Ich blickte zurück zu Ramon und hob eine Augenbraue. Ich kannte einige dämliche Sprüche und war gespannt, welchen er parat hatte. »Wir werden häufiger von Bienen gestochen?«

Sein Lachen klang hohl, irgendwie kratzig und war ähnlich unsympathisch wie sein Besitzer. Nicht jeder kann klingen wie Henry. Der Gedanke erwischte mich völlig unvorbereitet, sodass mir Ramons Erwiderung beinahe erspart geblieben wäre.

Er grinste schmierig über den Tisch hinweg. »Wenn das Dach rostet, ist der Keller feucht.«

Oh Jesus. »Meine Mutter würde dich lieben«, flüsterte ich leise und wandte demonstrativ den Blick ab. Ramon redete noch weiter auf mich ein, aber ich schwieg mich aus, bis endlich der erlösende Gong erklang und ich einen Platz weiterrutschte. Nun musste sich Jaina mit ihm herumschlagen und ich hoffte, er bekam in ihrem Artikel für sein Fingerspitzengefühl eine ganz besondere Erwähnung.

Danach traf ich auf eine Frau mit weichen Gesichtszügen und Haarsträhnen in allen Farben des Regenbogens. Wir plauderten kurz über unsere erste Runde, wobei mir auffiel, dass Ramon neben uns herumzappelte wie ein Fisch auf dem Trockenen. Jaina schien ihn noch mehr zu erregen als ich.

»Und?« Jess verschränkte die Arme auf der Tischplatte. Sie musterte mich interessiert aus ihren azurblauen Augen. »Stehst du auf Frauen?«

Ich lächelte höflich und schüttelte den Kopf. »Nein, tut mir leid.«

»Wie schade.«

Danach verfielen wir in oberflächliches Geplauder, ehe das Signal zum Wechsel erklang. Ich seufzte erleichtert, als ich auf dem Stuhl mir gegenüber einen gutaussehenden, dunkelblonden Mann vorfand, dessen freundliches Lächeln strahlendweiße Zähne zeigte.

»Du siehst erleichtert aus«, stellte er mit einem süßen, britischen Akzent fest.

»Wenn du Ramon kennengelernt hättest, wärst du das auch.« Er schaute zur Seite und erblickte den Casanova vom Dienst. »Ja«, stimmte er gedehnt zu. »Da würde ich auch lieber mit mir reden.«

Ich reichte ihm die Hand und wir stellten uns einander kurz vor. Sein Name war John und er studierte an der NYU. Obwohl er ein gutes Jahr jünger war als ich, wirkte er deutlich reifer und älter als manch anderer hier. Wir unterhielten uns in der Zeit, die wir hatten, und bevor der Gong erklang, bot er mir seine Nummer an.

»Das ist nett von dir«, begann ich verlegen.

»Oh oh.« Er grinste. »Klingt nach einem Korb.«

Ich lachte leise. »Tut mir echt leid. Ich denke, jemand hier wird sich bestimmt darüber freuen, mit dir auszugehen, aber mir fehlt dafür die Zeit. Ich begleite eigentlich nur meine Freundin.«

»Schade, aber wenn es lediglich an der Zeit liegt – das ist nur eine Frage der Priorität.«

»Das stimmt.« Ich lächelte entschuldigend. »Aber meine liegt momentan wirklich woanders.«

Er nickte, und als es an der Zeit war, weiterzuziehen, winkte er mir gut gelaunt zu. Wären alle Männer wie er, hätte New York erheblich weniger Singles.

Drei weitere Runden folgten und allmählich verlor ich endgültig die Lust an der Veranstaltung. Außer John fand ich kaum jemanden so richtig sympathisch. Entweder strotzten die anderen vor Überheblichkeit – nicht auf eine witzige, charmante Weise – oder sie bekamen kaum ein Wort heraus. Einer war ganz nett, sah aber aus, als würde er noch die Highschool besuchen.

Erschöpft und lustlos setzte ich mich dem nächsten Kandidaten gegenüber, einem glatzköpfigen Mann, der etwas knochig wirkte. Seine kantigen Gesichtszüge machten es mir schwer, sein Alter einzuschätzen, und er schaute mich so grimmig an, dass ich unruhig mit dem Fuß den Takt der leisen Musik mittippte.

»Ich stehe nicht auf Frauen«, sagte er unverwandt.

»Okay«, erwiderte ich und nippte an meinem Orangensaft.

Sollte mir recht sein. Wenigstens ein Mann, der sich nicht über meine Haarfarbe ausließ, meine Brüste anstarrte oder mich fragte, ob ich etwas dagegen hätte, wenn wir im Haus seiner Mutter und ihren drei Mardern lebten.

Typisch New York eben. Kein Stein glich dem anderen.

»Frauen sind furchtbar«, fuhr der Fremde fort.

Ich runzelte die Stirn. »Wieso?«

»Weil sie uns Männer immer wie Monster aussehen lassen. Dabei halten sie die Zügel in der Hand. Wir sind nur ihre Tarnung.«

Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und schloss ihn wieder, weil ich mich dagegen entschied. Die Auszeichnung für den schrägsten Kandidaten im Joey’s ging eindeutig an ihn. Aber er war mit seiner Rede noch nicht am Ende. Nach weiteren Sätzen darüber, dass Frauen in Führungspositionen der Untergang unserer Zivilisation wären, schaltete ich endgültig auf Durchzug. Sechs Runden. Ich musste nur noch sechs Runden durchhalten.

Jaina tippte mich von der Seite an. »Dein Handy klingelt.«

»Oh.«

Nachdem ich mich aus dem Gespräch ausgeklinkt hatte, hatten sich alle Geräusche um mich herum zu einem Einheitsbrei vermischt. Hektisch griff ich nach meiner Handtasche und suchte mein Telefon.

»Wie unhöflich«, murrte der Frauenhasser, aber ich ignorierte ihn. Stattdessen starrte ich mit trockener Kehle auf die unbekannte Nummer auf dem Bildschirm. Das mussten sie sein. Die Produzenten der Show.

Ich holte tief Luft und nahm das Gespräch an.

»Ms Hemmingway?« Ich erkannte die geschäftliche Stimme sofort.

»Ja?«

»Moe Sinclair vom Casting letzten Montag.« Sie pausierte, als wollte sie mir Zeit geben, mich zu erinnern. Dabei dachte ich kaum an etwas anderes. »Ms Hemmingway, wir haben uns noch einmal das Material angesehen und freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass wir Sie sehr gerne für Flour & Butter dabeihätten.«

Mir blieb fast das Herz stehen, und ich fühlte mich so wach wie schon lange nicht mehr. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken.

Ich durfte an der Show teilnehmen. Das war meine Chance auf fünfundsiebzigtausend Dollar. Geld, das meine Eltern dringend benötigten, und ich könnte es gewinnen.

Vielleicht hatte ich mich bisher geirrt. Vielleicht gab es wirklich einen Gott.

»Ms Hemmingway? Hallo?«

Moe riss mich aus meiner Starre. »Ja«, rief ich etwas zu laut und räusperte mich. »Ich meine, vielen herzlichen Dank.«

»Bedanken Sie sich, wenn Sie das Preisgeld in den Händen halten.«

Irrte ich mich oder hörte ich aus ihren Worten ein Lächeln heraus?

»Wir schicken Ihnen unter der angegebenen Adresse einen Umschlag mit dem Vertrag und allen weiteren Informationen zu. Richten Sie sich bitte darauf ein, ab dem zehnten Mai für die Dreharbeiten in Long Island zur Verfügung zu stehen.«

Ich nickte sinnloserweise und verabschiedete mich von ihr. Mit einem breiten Lächeln saß ich dem Frauenhasser gegenüber und strahlte vermutlich wie eine Glühbirne.

»Sie sind furchtbar«, maulte er. Bestimmt war er eingeschnappt, weil ich mir sein Geschimpfe nicht angehört und es gewagt hatte, zu telefonieren.

»Damit kann ich sehr gut leben«, sagte ich und atmete zufrieden aus. »Denn ausnahmsweise ist es mir völlig egal.«

Kapitel 2

»Ich werde jeden Mittwoch einschalten«, versprach Erin, die auf meinem Bett saß und die Sachen, die ich ihr reichte, in meinen Koffer sortierte.

»Und ich behalte die Onlinewelt für dich im Auge.« Als wollte sie ihre Ansage untermalen, klebte Jainas Blick auf ihrem Smartphone.

»Ihr seid süß.« Ich hörte seit dem Anruf von Moe nicht mehr auf zu lächeln. Schlagartig rissen die Wolken über meiner Familie auf und ließen ein paar warme Sonnenstrahlen durch.

Zugegeben, die vergangenen Tage waren nicht so einfach gewesen. Meine Eltern hatten nichts von meinem Vorhaben gewusst, und als ich es ihnen nach der Zusage erzählt hatte, wurde mein Dad richtig wütend. Er verstand nicht, wieso ich ihm nicht zutraute, den Karren allein aus dem Dreck zu ziehen.

Seine Worte, nicht meine.

Inzwischen hatte sich die Stimmung in der Bäckerei gebessert und Dad machte es sich zur Aufgabe, mir einzubläuen, dass ich mich auf nichts einlassen sollte, was gegen meine – und damit im Grunde gegen seine – moralischen Werte sprach. Für ihn glich das Fernsehen einem Sündenpfuhl und ich verstand seine Sorgen. Es käme einer Lüge gleich, wenn ich behauptete, nicht nervös zu sein. Meine Freude überwog allerdings trotzdem.

»Das Taxi kommt morgen Früh?«, fragte Erin. Sie stapelte mein Lieblingskleid auf zwei meiner Röcke.

»Um zehn fährt es vor und bringt mich nach Woodbury.«

»Das ist ja gleich um die Ecke.«

Jaina stieß ein lautes Als ob! aus.

»Sie könnte auch nach San Fran müssen«, entgegnete Erin und verzog das Gesicht zu einem Grinsen.

»Eine Dreiviertelstunde mit einem Taxi ist trotzdem nicht unbedingt nebenan.«

Sie würden mir beide fehlen.

»Es reicht, um euch an den wenigen Tagen zu besuchen, die ich frei habe«, wandte ich ein. »Außerdem wohnen und drehen wir auf einem Anwesen, das wirklich toll aussieht.«

Auf Woodbury Manor heirateten und feierten im Anschluss normalerweise jede Woche zahlreiche Paare, doch dieses Jahr gehörte die beste Saison allein Flour & Butter. Es fiel mir schwer, mir eine Showküche in den holzvertäfelten Räumen vorzustellen, die ich auf Fotos gesehen hatte, aber die Produzenten wussten schon, was sie taten.

Jaina hob den Kopf und kniff die Augen zusammen. »Sie drehen auf einem Anwesen?«

»Nach allem, was ich weiß, ja«, sagte ich. »Soweit ich es den Unterlagen entnommen habe, wollen sie ein Setting in einer ländlicheren, aristokratischeren Umgebung als New York. Vermutlich wäre Großbritannien besser gewesen, aber es ist eine amerikanische Show, daher nehmen sie, was verfügbar und in der Nähe ist.«

Ich musterte meinen Kleiderschrank und überlegte, was ich noch mitnehmen sollte. Es war nicht gewünscht, dass wir das Anwesen öfter verließen als unbedingt notwendig, daher könnte ich nicht einfach nach Hause fahren, um meine Kleider auszutauschen.

»Ja, die ganze Crew und die Kandidaten ins Ausland zu fliegen, nur um in irgendeinem Downton-Abbey-Schloss zu drehen, ist schon etwas teurer.« Jaina lachte. »Aber warum müsst ihr unbedingt alle an einem Ort wohnen?«

»Weil Kandidaten aus anderen Bundesstaaten anreisen und sie nebenher Material für die Show drehen wollen. Irgendetwas mit Einspielern, Fototerminen und Interviews stand in den Papieren«, sagte ich.

»Hm«, brummte Jaina, als müsste sie die Informationen erst einmal sacken lassen.

Wenn ich nicht für längere Zeit in Woodbury bleiben müsste, hätte ich weiterhin meinen Eltern in der Bäckerei helfen können. Gleichzeitig wurde ich ganz hibbelig, wenn ich daran dachte, ein paar Wochen aus meinem Alltagstrott zu kommen. Zwar quälte mich das schlechte Gewissen, aber so aufregend wie aktuell war mein Leben schon lange nicht mehr gewesen.

Entschlossen machte ich mich daran, Schuhe rauszusuchen, die zu den meisten meiner Sachen passten. Das Geheimnis einer abwechslungsreichen Garderobe lag darin, alles miteinander kombinieren zu können. Das sparte Platz im Koffer.

»Na ja, Hauptsache wir sehen dich noch. Wenigstens digital«, sagte Jaina, kam auf mich zu und streckte mir ihr Handy entgegen.

Ich kniff die Augen zusammen, um zu erkennen, was sie mir da so stolz präsentierte. »Hast du mir etwa ein Instagram-Profil erstellt?«

»Klar. Sobald dich die Zuschauer im Fernsehen entdecken, werden sie deinen Namen googeln. Dann landen sie auf deinem Profil, stellen fest, wie authentisch, kreativ und bezaubernd du bist, und folgen dir. Wenn die Show gut läuft, dürftest du schnell einige Tausend Follower bekommen.«

Hilfesuchend sah ich zu Erin, von der ich wusste, dass sie von Social Media ähnlich viel hielt wie ich. Mir fehlte die Zeit, um mein Leben in quadratischen, digitalen Bildern festzuhalten. Außerdem mangelte es mir eindeutig an spannenden Geschichten. Wer interessierte sich schon dafür, dass ich in aller Herrgottsfrüh in der Backstube stand und Teig knetete?

»Bringt mir das denn irgendetwas außer … mehr Arbeit?«, fragte ich.

»Kommt ganz darauf an.« Jainas Augen leuchteten. Sie liebte ihren Job in der Onlinewelt, das merkte ich in solchen Momenten umso mehr. »Du musst dich natürlich thematisch positionieren. In deinem Fall das Backen. Du könntest deine Kreationen zeigen und den Standort der Bäckerei angeben, dann besuchen euch vielleicht deine Fans, um mal etwas zu kosten.«

Ich ließ von den silberfarbenen Riemchenpumps ab und wiederholte ihre Worte in meinem Kopf. »Das wäre gute Werbung, oder?«

Sie nickte und musterte mich eingehend. »Und sie ist kostenlos.« Ich hatte weder ihr noch Erin erzählt, wie schlecht es um die Hemmingway Bakery stand, aber etwas sagte mir, dass die beiden es trotzdem ahnten. »Miriam, du solltest die Aufmerksamkeit der Sendung für dich nutzen. Wenn die Leute dich mögen und dir folgen, lockst du möglicherweise auch Firmen an, die mit dir arbeiten wollen. Sie könnten die Bäckerei mit Geräten sponsern, euch Aufträge erteilen und vielleicht darfst du für einen Verlag ein Kochbuch schreiben.«

Die Türen, die sich vor mir auftaten, überforderten mich. »Das klingt alles toll, wirklich, aber …«

»Aber?«

Ich sah hilfesuchend von Jaina zu Erin. »Ich habe von so was keine Ahnung. Und auch keine Zeit dafür. Wenn die Show vorbei ist, werde ich wieder von morgens bis abends in der Bäckerei stehen.«

»Lass uns einen Deal machen«, schlug Jaina immer noch voller Euphorie vor. Darum beneidete ich sie wirklich. Selbst wenn etwas unmöglich erschien, strotzte sie vor Energie. »Solange du Kandidatin bist, kümmere ich mich um den Account. Alles, was du tun musst, ist mir Fotos während deiner Zeit dort zu schicken.«

»Klingt nicht schlecht«, sagte Erin. »Allerdings sollte der Account nicht zu erfolgreich werden. Am Ende wollen so viele zur Bäckerei, dass für uns nichts mehr übrigbleibt.«

Jaina wackelte zustimmend mit den Augenbrauen.

»Das geht natürlich nicht«, sagte ich und ging wieder in die Hocke, um mich meinen Schuhen zu widmen. Ich besaß eindeutig eine zu große Auswahl. »Aber die Idee ist gut. Ich kann es mir zwar noch nicht richtig vorstellen und ein wenig macht mir das auch Angst, dass mir all diese Menschen folgen könnten, doch … es ist kostenlose Werbung für die Bäckerei.« Das nicht wahrzunehmen, wäre dumm.

Jainas Wangen glühten vor Freude. »Ich liebe Projekte.«

»Danke dir. Euch beiden. Wirklich.«

»Du wirst das schaffen.« Erin schob sich lächelnd eine Haarsträhne hinters Ohr. »Und wenn du eine berühmte Bäckerin mit eigenem Buch bist, kommst du zu Donovan Records und wir gucken, ob in dir auch musikalische Talente schlummern.«

»Armer Adam.« Ich schüttelte den Kopf. »Ihm bluten die Ohren, sobald er mich singen hört.«

»Er weiß, wie ich unter der Dusche klinge. Glaub mir, er kann unmöglich noch lauter lachen.«

Jaina, die schon wieder auf dem Handy herumtippte, nickte, ohne aufzusehen. »Stimmt. Erin klingt wie ein Wurf gequälter Hundewelpen, wenn sie zu Shawn Mendes singt.«

Damit flog das erste meiner Dekokissen durch den Raum.

***

Am nächsten Morgen stand das Taxi pünktlich vor der Tür. Der Fahrer lud mein Gepäck ein – immerhin nur zwei Koffer, die dafür bis zum Bersten gefüllt waren – und fuhr mich nach Woodbury auf Long Island. Auf dem Weg dahin schlug mein Puls so schnell, dass ich kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Ich schrieb ein wenig mit Erin und Jaina, aber das lenkte mich nicht von dem ab, was mir bevorstand. Es gab zu viele offene Fragen.

Werde ich die Erste vor Ort sein? Bitte nicht!

Bin ich spät dran? Gut möglich. Die Dreiviertelstunde Puffer, die ich eingeplant hatte, fiel dem dichten Vormittagsverkehr zum Opfer.

Sind die anderen Kandidaten nett? Ich hoffte es.

Jaina hatte noch am Vorabend versucht, über die richtigen Suchworte einige meiner Mitbestreiter im Internet ausfindig zu machen, aber sie war gescheitert. Ich vermied es, ihr gegenüber Henry zu erwähnen. Nach meiner eigenen, kleinen Recherche wusste ich, dass er sich jobtechnisch mit vielen Dingen über Wasser hielt, vor allem aber mit der Schauspielerei. Er hatte schon in dem einen oder anderen Werbespot mitgespielt, aber auch ein paar Wochen als Barista gearbeitet. Er wohnte laut seinem Facebook-Profil außerhalb von New York und ich vermutete, dass irgendein Bekannter aus der Branche ihm von dem Casting erzählt hatte. Was er bei einer Backshow wollte, war mir nach wie vor ein Rätsel, aber diese ersten Informationen reichten mir, um meine Neugierde vorerst zu befriedigen. Ich wollte, wenn möglich, nicht an ihn denken und mich permanent fragen, ob er heute auftauchen würde oder nicht.

Die für mich schlimmste Frage war jedoch, ob ich gewinnen konnte. Sie spukte wie ein Schatten durch meinen Kopf und hielt mich beinahe die ganze Nacht wach. Handwerklich rechnete ich mir durchaus Chancen aus, doch wenn noch andere Faktoren eine Rolle spielten? Zwar verrieten die Unterlagen, die wir vorab bekommen hatten, nichts darüber, aber das Casting und Henrys Bewerbung hatten in mir Zweifel geweckt, wie wichtig meine Fähigkeiten für diesen Wettbewerb wirklich waren. Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Fernsehsendung nicht das war, was sie vorgab zu sein. Aber darüber hätte man mich informiert, oder?

Woodbury Manor lag mitten im Stillwell Woods Park. Ich kannte die Gegend nicht, aber als wir die Hauptstraße verließen und vor einem hohen, schmiedeeisernen Tor mit einer langen Auffahrt dahinter ankamen, bemerkte ich die Ruhe an diesem Ort. Sofort ließ ich die Scheibe runter und streckte meinen Kopf aus dem Fenster. Keine Sirenen durchschnitten die Gesänge der Vögel, kein Abgasgeruch unterdrückte die herrlich duftenden Frühjahrsblüher. Die rote Ziegelsteinmauer, die das Grundstück umschloss, wurde von lilafarbenen Büschen flankiert. Bienen summten hektisch in den Blütenköpfen, als bekämen sie gar nicht genug davon.

Ein Wachmann trat vor und wechselte einige Worte mit dem Taxifahrer, die ich nicht mitbekam, weil ich damit beschäftigt war, die warmen Strahlen der Maisonne und die klare Luft zu genießen. Kurz darauf öffnete sich das Tor und gab den Weg frei.

Kies knirschte unter den Reifen, während wir die Auffahrt hoch zum Anwesen nahmen. Laut der Website war das Herrenhaus im späten neunzehnten Jahrhundert mit damals noch achtzehn Zimmern sowie Stallungen erbaut worden. Bis heute wanderte es durch diverse Hände und erlebte einige Umbauarbeiten. 2005 ging es an seinen heutigen Besitzer über, der es restaurierte, um den Charme einer längst vergangenen Zeit für die Nachwelt zu erhalten. Das reichte von Backsteinsäulen mit Kalkstein-Ornamenten bis zu Gaslaternen, die die Zufahrt säumten.

Ich entdeckte eine großzügige Gartenanlage – eine von sechs, soweit ich mich erinnerte. Es gab Teiche, Pavillons und Wasserfälle. Saisonale Pflanzen wie Geranien, Petunien und Lavendel bereicherten den Anblick. Der Ort entsprang einem Traum. Einem viktorianisch angehauchten Traum. Kein Wunder, dass Paare hier heirateten.

Meine Aufmerksamkeit glitt von dem zweistöckigen Anwesen zu einer Gruppe Menschen vor der breiten Eingangstür. Als das Taxi zum Halten kam, drehten sie ihre Köpfe in meine Richtung und ich spürte, wie mich das Gewicht ihrer Neugierde erdrückte.

Tief durchatmen. Ein, aus. Ein, aus.

Ich musste hier keine Freunde finden. Schön wäre es trotzdem, wenn sich die anderen als nett herausstellten.

Ein letztes Mal strich ich mein Kleid glatt, was nach über einer Stunde Fahrzeit zwecklos war. Dank des bunten Blumenmusters fielen die kleinen Falten aber nicht allzu sehr auf und die zitronengelbe Strickjacke, die ich trug, verdeckte hoffentlich das knittrige Chaos auf meinem Rücken.

Ich stieg aus und zählte acht Kandidaten und Kandidatinnen. Bereits aus dem Casting wusste ich, dass es zehn Teilnehmer geben würde, die um das Preisgeld kämpften. Das hieß also, ich war nicht die Letzte – außer die fehlende Person hielt sich bereits drinnen auf.

Für mich gab es kaum Unangenehmeres, als zu einer großen Gruppe hinzuzustoßen. Die anderen mochten sich noch nicht allzu lange kennen, aber sie hatten schon ein paar Minuten miteinander verbracht, um sich zu beschnuppern. Nun starrten sie mich abwartend an, daher hob ich unbeholfen lächelnd die Hand.

»Hey.« Ich klang viel zu nervös. »Ich bin Miriam.«

Das brach den Bann des Schweigens. Gefühlt alle stellten sich auf einmal vor. Kurze Zeit später kannte ich meine Mitstreiter unter den Namen Elaine, Sam, Taylor, Kyle, Cheryl, witzigerweise gleich zwei Emilys – Emily R. und Emily C. – sowie Gordon und befürchtete, sämtliche Namen bis zum Ende des Tages wieder vergessen zu haben.

Trotzdem erleichterte mich der warme Empfang und sollte es Konkurrenzgedanken geben, suchte ich sie vorerst vergeblich. Es kam mir eher vor, als lernte ich eine Reisegruppe kennen und dabei gab es auf den ersten Blick schlimmere Menschen als die vor mir. Die Tatsache, dass wir fast alle zwischen achtzehn und achtundzwanzig Jahre alt waren, half ungemein, auch wenn es mich wunderte, dass offensichtlich nicht alle vom Fach waren. Das befeuerte meine Skepsis und Sorge bezüglich des Formates nur noch mehr.

Wir plauderten über unsere Castings, die landesweit stattgefunden hatten, sowie die Anreise. Manche kamen aus Kalifornien, Louisiana oder Utah. Andere wiederum – so wie ich – stammten aus New York und hatten das Glück, dass genau hier gedreht wurde. Es freute mich zu sehen, wie gut sich alle verstanden, und für den Augenblick glaubte ich sogar fest daran, dass es ganz lustig werden könnte.

Das änderte sich, als ein weiteres Taxi vorfuhr und Henry ausstieg. Sein dunkles Haar schimmerte in der Sonne, seine Augen versteckte er hinter einer Brille mit dunkel getönten Gläsern. Völlig untypisch für ihn – zumindest für sein sechzehnjähriges Ich – trug er einen hellen Anzug, der ihm etwas Italienisches verlieh. Soweit ich wusste, hatte er mit Italien so viel gemein wie ich mit China, aber sei es drum. Wen auch immer er damit beeindrucken wollte, es gelang ihm.

Er sieht halt verdammt gut aus.

Nichts Neues, liebes Gehirn.

Ich seufzte, während sich die jungen Frauen um mich herum anscheinend bemühten, nicht in Ohnmacht zu fallen. Leises Tuscheln erklang, als er sein berühmtes Lächeln aufsetzte, das mich damals schon in Schwierigkeiten gebracht hatte. Henry gehörte tatsächlich zu den Teilnehmern, genau wie von ihm vorhergesagt.

»Bin ich zu spät?«, fragte er gut gelaunt in die Runde.

»Nein, wir warten alle noch auf Instruktionen.« Die glockenklare Stimme gehörte einer brünetten Frau, die ungefähr in meinem Alter sein musste. Emily R., wenn ich mich nicht irrte. Sie machte einen netten, fürsorglichen Eindruck und war eine der Ersten gewesen, die mich begrüßt hatte.

Ich trat ein Stück zurück, als auch Henry die Begrüßungszeremonie über sich ergehen ließ. Wir mussten uns einander nicht mehr vorstellen, und wenn es nach mir ginge, wäre mir so wenig Kontakt wie möglich am liebsten. Das Ding mit ihm war, dass er Ärger anzog wie ein Magnet, und das brauchte ich nicht. Nicht hier, nicht sonst wo. Ich hatte genug Aufwand betrieben, damit diese Seite von mir begraben blieb.

Als sich alle vorgestellt hatten, traf sein Blick meinen. Für den Bruchteil von Sekunden verstummte die Welt um uns herum und ich fühlte mich wieder nackt. Seinen dunklen Augen ausgeliefert und schwach gegenüber seinem Lachen.

Die Flügeltüren von Woodbury Manor öffneten sich gerade rechtzeitig und heraus trat eine ganze Armee von Leuten. Dankbar, dass sie mich von meinem möglichen Problem ablenkten, wandte ich mich ihnen wie alle anderen zu. Moe und ihre zwei Kollegen vom Casting befanden sich in der Gruppe, die ausschwärmte und sich wie eine Insektenplage über dem Grundstück verteilte. Zwei Männer trugen schwere Kameras und richteten sie auf uns.

Filmten sie etwa bereits?

Es hatte zwar in den Unterlagen gestanden, dass man uns bei unserer Ankunft und auch immer wieder während unseres Aufenthaltes aufnehmen würde, aber ich hatte gehofft, wir könnten uns erst einmal einfinden, bevor es losging. Ich sah von der ganzen Aufregung bestimmt furchtbar aus, gleichzeitig erinnerte ich mich daran, nicht bei einer Modelsendung, sondern bei einem Backwettbewerb mitzumachen. Meine Optik sollte zweitrangig sein. Theoretisch.

»Liebe Kandidatinnen und Kandidaten«, begrüßte uns eine Frau in einem perfekt sitzenden, dunkelbraunen Kostüm. Ihr schneeweißes Haar, das ihr schmales Gesicht in kleinen, kinnlangen Locken umrahmte, wollte nicht ganz zu ihrem augenscheinlichen Alter passen. »Herzlich willkommen auf Woodbury Manor.«

***

Die Frau, die sich uns als Mrs Eleanore Alderidge vorstellte, entpuppte sich als die Verwalterin des Herrenhauses. Für die nächsten Wochen würde sie unsere Ansprechpartnerin in allem sein, was das Anwesen und dessen Personal betraf. Bestahl uns das Zimmermädchen, konnten wir uns bei ihr beschweren. Schmeckte uns das Essen nicht, ging diese Information direkt an sie.

Ihr gouvernantenartiger Blick ruhte auf uns wie auf einer Horde wilder Kinder, die es zu erziehen galt. Egal was kam – ich würde über nichts und niemanden meckern. Am Ende wäre ich noch dafür verantwortlich, wenn sie gegenüber den Pagen, die sich um unser Gepäck kümmerten, den Rohrstock rausholte. Zuzutrauen wäre es ihr.

Unser Flour & Butter-Abenteuer begann mit einer kleinen Führung durch das Haus, die Mrs Alderidge augenscheinlich liebend gern übernahm. Ich merkte mir nichts von dem, was sie dabei erzählte. In meinem Kopf schwirrten all die neuen Eindrücke wie Kolibris. Vielleicht lag es daran, dass ich nie viel herumgekommen war. Dieses Anwesen wirkte wie aus einem alten Roman gegriffen. Holzvertäfelte Wände, dunkel gemusterte Stofftapeten, gemütliche Sessel vor großen Kaminen. Überall hingen Ölgemälde mit mir fremden Landschaften oder Gesichtern. Frische Blumengestecke auf polierten Kommoden erfüllten die Räume mit einem angenehmen Duft.

Doch nicht nur die neue Umgebung sorgte für mein inneres Chaos. Eine Teilschuld trug auch Henrys Anwesenheit, die ich selbst dann noch spürte, als er am anderen Ende der Gruppe lief, also so weit wie möglich von mir entfernt. Immer, wenn ich zu ihm hinsah, schien er ganz vertieft in die Erzählungen der Verwalterin zu sein. Das passte so gar nicht zu ihm. Er war damals bekannt dafür gewesen, in jedem Schulfach – okay, den Sportunterricht einmal ausgenommen – zu schlafen.

Zuspätkommen und Schlafen hatten zu seinen Markenzeichen gehört. Das und die guten Noten, die er trotz allem schrieb. Die waren auch der Grund dafür gewesen, wieso die Lehrer ihn irgendwann einfach hatten gewähren lassen. Hauptsache, er störte den Unterricht nicht.

Ich wandte den Blick von ihm ab und konzentrierte mich wieder auf Mrs Alderidge. Ihre monotone Stimme lullte mich zunehmend ein, doch als wir den Hauptsaal betraten und dort eine Showküche vorfanden, ergriff mich die Vorfreude.

Zugegeben – noch sah alles ziemlich nach Baustelle aus, nur dass die Handwerker gerade nicht hier herumwirbelten. Das Setting wurde auf einer Art Podest aufgebaut, bestimmt um den alten Parkettboden zu schützen und all die Kabel, die aktuell ein riesiges Chaos bildeten, darunter zu verstecken. Trotzdem erkannte ich, worauf es hinauslief: zehn Theken, je fünf zu meiner Linken und fünf zu meiner Rechten. Das wären unsere Arbeitsplätze. Hier traten wir bald gegeneinander an. Ob danach die Stimmung kippte? Würden wir uns spätestens dann auch außerhalb der Kameras als Konkurrenz betrachten oder behielten wir uns das für die Liveshows vor?

Mrs Alderidges sauertöpfisches Gesicht verriet ihre Meinung zu dem Spektakel. Ich schob es darauf, dass sie sich um das Haus sorgte. So liebevoll, wie sie davon sprach, gefiel es ihr bestimmt nicht, wenn die Handwerker mit ihren schweren Bohrmaschinen auch nur in die Nähe der Wände oder Böden kamen.

Nachdem sie uns durch den Nebenraum geführt hatte, der wie eine Art kleiner Supermarkt oder sehr große Speisekammer aufgebaut war und alles beherbergte, was wir zum Backen brauchten, schob sie uns raus zum Eingangsbereich. »Als Nächstes zeige ich Ihnen unsere preisgekrönten Gärten«, rief sie über den Baulärm hinweg. Ich bildete mir ein, sie schwer seufzen zu hören. Sie mochte wirklich nichts von dem, was hier passierte.

Sie schickte uns durch den langen Korridor, der in der Lobby begann und an einem Salon endete. Von dort aus führte eine große, doppelflügelige Glastür in die hinteren Gärten. Breite Stufen leiteten uns über Steinplatten zu einer Terrasse, neben der ein runder Springbrunnen mit Wasserrosen plätscherte.

Ich hatte zwar einige Bilder von den Grünanlagen gesehen, aber die Realität traf mich trotzdem unvorbereitet. Efeu bedeckte die Mauern, die das Grundstück auf dieser Seite umschlossen, und eine Weide wiegte sich sanft im warmen Wind der Mittagssonne. Überall wuchsen wahllos bunte Blumen, voluminöse Sträucher und Büsche. Bäume, vermutlich Birken – ich erkannte es nicht genau, da sie etwas weiter weg standen –, spendeten den Gästen Schatten.

Schräg zur Seite verlief ein weiterer Steinpfad, über den uns Mrs Alderidge lotste. Maximal zwei Leute fanden hier nebeneinander Platz, der Rest gehörte dichten Stauden, deren Blätter saftig grün leuchteten. Wir erreichten einen Naturteich, auf dem Enten unter einer kleinen Brücke durchschwammen, um vor uns zu fliehen. Die Baumkronen raschelten leise und rosafarbene Kirschblütenblätter sanken auf uns herunter.

Magisch. Mir fiel kein Wort ein, das diesen Ort besser beschrieb. Eines Tages, so schwor ich mir, würde ich hier auch heiraten. Ich würde das Grundstück und das Haus für ein Wochenende, nein, vielleicht sogar für eine ganze Woche mieten, und jemandem versprechen, für immer an seiner Seite zu bleiben, in guten wie in schlechten Zeiten. Danach gäbe es unzählige romantische Picknicks und Lesestunden unter den Bäumen, während Vögel zwitschernd in ihren Tränken badeten und wir Woodbury Manor durch unsere Liebe in den Himmel auf Erden verwandelten.

»Du siehst aus, als würdest du planen, von dem Preisgeld hier ein Zimmer zu kaufen«, hörte ich Henrys raue Stimme hinter mir. Erst jetzt bemerkte ich, wie ich durch meine Begeisterung für die Umgebung hinter der Gruppe zurückgefallen war.

Ich drehte mich um und musterte ihn. Er lehnte an einem Kirschbaum und nahm seine Sonnenbrille ab, um mich mit einem vagen Lächeln auf den Lippen zu beobachten.

»Du solltest aufpassen«, sagte ich und deutete fahrig auf seinen hellen Anzug. »Der bekommt sonst noch Flecken.«

Betont gleichmütig zuckte er die Schultern. »Du hast doch die Worte des alten Drachen gehört – sie haben eine ausgezeichnete Wäscherei im Keller.«

Das hatte ich ehrlich gesagt nicht mitbekommen, aber trotz dieser Info stieß sich Henry vom Baum ab. Er schob eine Hand in die Hosentasche und kam auf mich zu. Vereinzelte rosa Blütenblätter regneten auf uns herab.

»Du hast es also in die Show geschafft.«

»Offenbar«, erwiderte ich und hielt seinen Blick fest. Ich konnte nicht den Finger darauflegen, aber etwas an seiner Art hatte mich immer schon gereizt. Nicht auf die verliebte Weise, sondern auf eine, die mein Blut vor Wut hochkochen ließ. In allem, was seine schmalen, geschwungenen Lippen verließ, schwang oft viel Provokation mit, und aus irgendeinem Grund fiel es mir schwer, in seiner Nähe Ruhe zu bewahren.

»Wundert mich nicht.« Sein Lächeln verzog sich zu einem Grinsen. »Du sollst eine ausgezeichnete Konditorin sein.«

Wachsam musterte ich ihn. »Woher weißt du das?«

»Deine Mom hat es mir erzählt.« Mir fiel fast die Kinnlade runter, was ihn sichtbar amüsierte. »Sie hörte gar nicht mehr auf, von ihrer überaus talentierten und bildhübschen Tochter zu schwärmen.«

»Wann … Ich meine, wieso …« Ich bekam keinen vernünftigen Satz zustande. Hatte er mich gerade tatsächlich bildhübsch genannt?

Nein. Mom hatte das getan und sie musste das sagen. Schließlich verdankte ich einen Großteil meines Aussehens ihren Genen.

»Letztes Jahr. Ich war zufällig in der Gegend, bin an der Bäckerei deiner Eltern vorbeigekommen und dachte mir, ich schaue mal hinein. Leider warst du nicht da.«

Ich spürte ein nervöses Flattern im Magen. »Ganz zufällig, ja?«

»Natürlich.« Er hob die Hand zum Schwur. Ich erkannte nicht, ob er log. Eine seiner vielen Fähigkeiten. »Heute wäre das weniger ungeplant, aber damals …«

»Weil wir jetzt Konkurrenten sind.«

»Gut geschlussfolgert, Watson.«

Ich schnaubte und sah mich um. Unsere Gruppe war längst verschwunden. Hoffentlich verpasse ich nichts Wichtiges. »Henry, was willst du?«

»Da musst du schon genauer werden.«

Vertrauter Frust stieg in mir auf. »Ich meine hier. In der Show. Kannst du überhaupt backen?« Eigentlich hätte meine Frage anders gelautet: Kannst du den Kühlschrank öffnen, ohne dass er explodiert? Oder: Du wusstest damals noch nicht einmal, was der Unterschied zwischen Umluft und Ober- und Unterhitze ist! Doch das alles hätte die alte Miriam gesagt. Heute riss ich mich zusammen.

»Man sagt mir, ich mache ausgezeichnete Chocolate Chip Cookies.«

Fast hätte ich gelacht, entschied mich aber für ein Räuspern. »Ich glaube nicht, dass das reichen wird, um zu gewinnen.«

»Wer weiß.« Das wissende Lächeln auf seinen Lippen strahlte etwas Gefährliches aus. Vorsicht. Er hatte immer ein Ass im Ärmel. »Ich sagte ja, dass ich noch andere Qualitäten besitze, die offenbar begeistern.«

Na sicher doch. »Ja, ich erinnere mich.« Abermals schaute ich in die Richtung, in die unsere Gruppe verschwunden war. »Wir sollten besser weiter, bevor wir etwas Wichtiges verpassen.«

Ich wollte gehen, als Henry nach meinem Handgelenk griff. »Warte mal.«

Mit klopfendem Herzen blieb ich stehen und drehte mich um. Er stand so nah, dass sein warmer Atem meine Wangen streifte. »Was ist?«, fragte ich leise.

Für einen Augenblick betrachtete er mich schweigend. Das dunkle Braun seiner Augen verschmolz mit seinen Pupillen, und als er die Hand hob, hielt ich vor Anspannung die Luft an.

»Du hast da was.« Behutsam zupfte er mir ein rosafarbenes Blütenblatt aus dem Haar und zeigte es mir mit einem Lächeln, das nicht wie sonst vor Selbstgefälligkeit strotzte. Es unterschied sich von diesem wie Tag und Nacht

Etwas Undeutbares.

»Danke«, murmelte ich und wandte den Blick ab, um auf seine langen, schlanken Finger zu schauen, mit denen er sich früher auf Mauern hochgezogen oder Schlösser geknackt hatte.

Er ließ das Blatt los. »Und nun wieder zurück zu deiner Herde, du braves Lämmchen.«

Der Satz wirkte wie ein Kübel Eiswasser, das er mir über den Kopf kippte. Was sollte das heißen? Machte er sich über mich lustig? Bevor ich die Gelegenheit bekam, ihn zu fragen, ging er bereits davon.

Ich rannte ihm nicht hinterher. Warum auch immer er das gesagt hatte, ich würde mir nicht die Blöße geben und ihn zur Rede stellen. Vermutlich hatte er sich dabei nichts gedacht. Oder er hielt mich wirklich für ein dämliches Schaf, das blind und blökend dem Herdentrieb folgte.

Egal. Henrys Meinung interessierte mich nicht. Nicht mehr. Er spielte seine Spielchen und ich würde mich zurückhalten, um aus der Stille heraus den Sieg zu holen.

Henry entfachte mit seinen Provokationen eine alte Flamme in mir, die ich lange Zeit verdrängt und vergessen hatte. Meinen Kampfwillen. Ich würde gewinnen, um meinen Eltern das Leben leichter zu machen – und um Henrys Gesicht zu sehen, wenn ihm dämmerte, dass er verloren hatte.

Ausgerechnet gegen mich. Sein braves Lämmchen, das er unterschätzt hatte.