Leseprobe Liebe, Eis und Himbeerstreusel

Kapitel 1

L wie Lügen

Limetten-Eis

Fruchtige Säure umgarnt süßes Rahmeis, durchzieht das cremige Weiß mit saftigem Grün, umarmt uns in einem Rausch vollen, süßen Glücks.

 

Gibt es etwas Magischeres als den Frühlingsanfang? Außer cremigem Vanilleeis natürlich. Und Schokoeis. Himbeer-Mascarponeeis. Honig-Mirabellen-Rahmeis. Na gut, und noch Zillionen anderer unwiderstehlicher Eissorten. Aber davon einmal abgesehen ist der Frühlingsanfang doch einfach das Größte.

Der imposante Lindenbaum vor dem Schneeflöckchen streckt sich einem strahlend blauen Märzhimmel entgegen, seine neuen Knospen sprenkeln saftig grün die uralten Äste, auf denen sich Amseln zwitschernd gegenseitig die kleinen Seelen zu Füßen legen. Die klare Luft streicht mir sanft über die Haut, während Sonnenstrahlen Millionen von Sommersprossen auf lächelnden Gesichtern erwecken. Komm Welt, lass dich umarmen.

Zusammen mit meiner guten Laune breite ich auf den Tischen inmitten der heidelbeerblauen Stühle pink-rosa-weiß karierte Tischtücher aus. Ab heute werden sich meine Gäste ihr Lieblingseis auch wieder draußen schmecken lassen.

»Du hast deine doppelte Portion Optimismus wohl schon zum Frühstück genossen, meine liebe Sunny!«

Mit Schwung streiche ich die letzte Falte aus dem Stoff und drehe mich zu Beatrice herum. Bis zur Nasenspitze in ihren Mantel eingemummelt, steht meine Nachbarin vor mir und blickt mit gerunzelter Stirn auf mein einladendes Meisterwerk.

»Heute ist Frühlingsanfang«, strahle ich sie an.

»Mag sein, heute sind es aber auch bescheidene 1,3 Grad Celsius, gefühlt würde ich sogar noch ein Minus davor setzen.«

»Aber die Sonne scheint.« Um Beatrice darauf aufmerksam zu machen, zeige ich auf die wundervolle gelbe Königin über uns.

»In der Tat scheint Klärchen heute prächtig, nur leider vergaß sie, ihrem Licht auch ein wenig Wärme mitzugeben.« Ihren Worten Nachdruck verleihend, richtet Beatrice den sibirischen Fellhut auf ihrem Kopf, sodass nur noch ihr grauer, geflochtener Zopf herauslugt.

Ich gebe es ja zu, ein wenig recht hat sie vielleicht. Meine Nasenspitze fühlt sich ein klitzekleines bisschen so an, als hätte ich sie über Nacht im Eisschrank vergessen. Selbst Beatrices Dalmatinerdame Flora verweigert den Gang vor die Tür und steht lieber warm und trocken in der Kunstgalerie neben der Eisdiele.

Aber bitte, wer wären wir, wenn wir uns dem Wetter beugten! Ich unterdrücke den Impuls, meine Arme wärmend um mich zu schlingen, und stecke die Hände in die Jeanstaschen am Po. »Warte kurz, ich hole dir ein Eis, das den Frühling in dir zum Glühen bringt.«

»Ein Eis!«, quiekt Beatrice. »Kind, du weißt, ich liebe dein Eis, aber im Moment will ich nichts mehr als eine heiße Schokolade, und das im Inneren deiner Eisdiele.« Ihr Blick gleitet von mir zu der weit offenstehenden Tür, die in mein Eisparadies führt, und weiter zu den offenen Fenstern, die ebenso den Frühling einlassen. »Und das bitte bei geschlossenen Türen und Fenstern!«

Lachend gehe ich ins Schneeflöckchen und kann es nicht verhindern, dass mich ein Schauer unter meinem erdbeerroten und leider kurzärmeligen Shirt erzittern lässt. Brrr, mich fröstelts.

Beatrice folgt mir und lässt es sich nicht nehmen, persönlich Tür und Fenster zu schließen. Und die Heizung wieder aufzudrehen, die ich gestern Abend in Erwartung des Frühlings abgestellt habe. »Kind, Kind, wie konntest du bisher nur so groß werden«, murmelt sie derweil vor sich hin.

In Erwartung des großen Tages war ich heute schon besonders fleißig und habe neben den aktuellen Sorten zwei wunderbare neue Eissorten kreiert, die meine Gäste dahinschmelzen lassen werden. Von einer nehme ich eine perfekte Eiskugel und richte sie in einem langstieligen Glasbecher für Beatrice an. Herbsüß duftet das Eis in der Farbe von frischem Birnensorbet und lädt dazu ein, genüsslich verspeist zu werden.

Beatrice setzt sich auf einen der hohen Hocker vor der Eisbar, und ich sehe, wie ihr Wunsch nach einer heißen Schokolade sich in Wohlgefallen auflöst bei dem Anblick des wunderschönen Eises.

»Lass es dir schmecken.« Ich gönne mir ebenfalls ein halbes Kügelchen, denn ich kann ja nicht wissen, ob es jetzt noch genauso gut schmeckt wie vorhin, als ich es in die Eistheke gestellt habe.

Fest starrt Beatrice auf die zartgelbe Köstlichkeit vor sich, während sie sich die Mütze vom Kopf zieht und auf ihrem Schoß drapiert. Mit einem Seufzen greift sie nach dem Löffel und taucht ihn in die Eiskugel. Sie leckt sich genießerisch über die Lippen, kostet, rollt mit den Augen und schließt sie kurz. Löffel um Löffel schleckt sie das Eis auf.

»Oh Sunny, ich weiß, ich sage das jedes Mal, aber du hast dich wieder selbst übertroffen. Und du hast recht, es ist völlig egal, dass da draußen arktische Temperaturen herrschen, was nebenbei gesagt einem Skandal um diese Zeit des Jahres gleichkommt. Dein Eis schmeckt nach Frühling.« Während sich Beatrice mit der einen Hand Luft zufächelt, öffnet sie mit der anderen den Mantel. »Und entweder hast du sämtliche Sonnenwärme hineingezaubert oder ich habe schon wieder eine Hitzewallung. Wobei letzteres nicht sein kann, da ich heute nette dreiunddreißig Jahre bin und weit von hitzigen Wellen entfernt.«

»Mit deinen Hitzewallungen habe ich nichts zu tun. Aber mit den Sonnenstrahlen hast du recht.« Ich lehne mich über die Eistheke und zeige durch die bodentiefen Fenster hinaus in die strahlende Märzsonne. »Dieses außergewöhnliche Eisrezept habe ich vor ein paar Tagen in einem uralten, mythischen Buch gefunden, das Generation um Generation von dem irischen Feenvolk gehütet wurde. Doch je kälter unsere Winter wurden, desto mehr geriet das Buch in Vergessenheit, und eines Tages ließ es das Feenvolk einfach liegen. Es wurde von einem armen Bauernmädchen gefunden, das damit sein Glück in der Stadt versuchte und siehe da, die Rezepte fingen das Sonnenlicht ein. Mit allerlei Speisen daraus machte das Mädchen die Menschen glücklich. Das Buch wanderte nach und nach durch viele Hände und landete schließlich bei mir. So war ich heute früh in der glücklichen Lage, die ersten Frühlingsstrahlen zu pflücken und zusammen mit cremigem Rahm und spritzigen Limetten in diesem Eisgenuss zu vereinen, der dich jetzt so wohlig von innen wärmt.«

Mein Blick wandert von den saftig-grünen irischen Hügeln meiner Vorstellung zurück in meine Eisdiele inmitten Berlins, und ich lächele Beatrice an, die mich mit glasigen Augen ansieht.

»Dieses Eis schmeckt nicht nur nach Frühling, es ist der Frühling.«

»Oder einfach eine gut dosierte Portion Ingwer, um dem Eis die warme Würze zu verleihen.«

Ich zucke leicht zusammen und drehe mich um. Hinter mir steht meine Cousine Alma mit schief geneigtem Kopf und einem schelmischen Grinsen. Während ich mit Beatrice in Irland weilte, muss Alma von hinten durch das Eislabor hereingekommen sein. Manchmal lässt meine Aufmerksamkeit doch ein wenig zu wünschen übrig.

Aber wie auch immer, nun, da Alma den Bann gebrochen hat, rappelt sich Beatrice auf und greift nach ihren Kleidungsstücken. »Ich sollte dann auch mal so langsam starten. Flora wird die Galerie nicht allein öffnen. Bis nachher, Mädels.«

Und kaum öffnet sie die Tür des Schneeflöckchens, strömen schon die ersten Gäste des Tages herein und der vormittägliche Eissturm beginnt.

 

Nach gefühlten siebenhundert Kugeln Eis in den Sorten Vanille, Schokolade, Erdbeer, Zitrone, Kiwi und Co. lasse ich mich auf dem Hocker hinter der Theke nieder, um ein paar Eisideen zu notieren, die mir im Lauf des Vormittags durch den Kopf geflattert sind. Feine Gänsehaut überzieht meine Füße in den Sandalen, trotz der Tatsache, dass ich mich in den letzten vier Stunden ziemlich aktiv auf ihnen mal hierhin und mal dorthin bewegt habe. Nun gut, vielleicht sollten es morgen doch lieber wieder feste Schuhe sein.

Außer die Temperatur klettert über Nacht noch in Höhen, in die sie im Frühling hingehört.

Fest wickele ich die Beine umeinander, um meine kalten Füße zu wärmen, und nehme den Buntstift aus dem Mund, den ich schon wieder aufknabbern will. Dieser Moment ist einer derjenigen im Schneeflöckchen, der mich am glücklichsten macht. Gibt es etwas Magischeres als lächelnde Gäste, die ihre köstlichen Eisbecher genießen und mit sich und der Eiswelt zufrieden sind, während ich mir neue Eisbilder ausdenken darf?

Vier der sechs Tische sind besetzt, frei ist nur der karibiktürkise und der mohnblumenrote. Draußen auf dem Vierwaldplatz vor der Eisdiele ist es ruhig, wie gewöhnlich für einen frühen Dienstagnachmittag. Der Springbrunnen in der Mitte des Platzes, der wie eine uralte Eiche dort thront, funkelt im kalten Sonnenlicht, wenn auch aus seinen Zweigen noch kein Wasser sprenkelt. Erst zu Ostern würde es wieder plätschern.

Eben rumpelt Alma am Brunnen vorbei und schiebt ein Wägelchen, vollbeladen mit Vanilleeis und Himbeerstreuseln, zum Hotel Zum Vierwaldplatz schräg gegenüber. Die Hotelgäste dürfen sich heute Abend auf ein famoses Dessert freuen. Die Himbeerstreusel habe ich extra mit einer nicht unbeträchtlichen Portion Waldhimbeer-Likör verfeinert, weil mir einfach danach war.

Ich konzentriere mich wieder auf das regenbogenbunte Papier vor mir und versuche eine Waffel in Form einer Erdbeere zu zeichnen, da klingelt sanft das Schlittenglöckchen über der Tür und kündigt mir weitere Gäste an. Flott springe ich vom Hocker und begrüße die Neuankömmlinge mit einem Lächeln.

Das Lächeln der Dame vor mir ist recht spitz, was mir bei ihrem verkniffenen Mund auch nicht anders machbar scheint. Der Mund des Jungen an ihrer Hand steht hingegen kugelrund offen.

»Was darf ich dir Gutes tun?« Mit meinem Lieblings-Eisportionierer mit dem Eiswaffelgriff in der Hand strahle ich meinen jungen Gast an.

Doch seine Begleitung kommt ihm zuvor. »Eine Kugel Avocadoeis im Becher zum Mitnehmen, bitte.«

»Darf ich bitte lieber eine Kugel Schokoeis haben, Mami?« Der Blick des Jungen klebt an dem Begehrten und sein Finger stupst gegen die Glaswand der Kühltruhe, als würde er ihn am liebsten in die Leckerei stecken. Was ich voll und ganz nachvollziehen kann. Mein Avocadoeis ist eine cremige Verführung aus aromatischen Luna Avocados, verbunden mit sahniger Kokosmilch aus Sri Lanka. Abgerundet durch karamelligen Kokosblütenzucker und einige Krümel Meersalz. Eine Leckerei ganz nach meinem Geschmack und dem meiner Gäste. Aber Schokoeis ist nun mal Schokoeis, vor allem, wenn man erst vier Jahre alt ist.

Der Eisportionierer schwebt bereits über dem dunklen, glänzenden Braun, doch die erwartete Zustimmung von Frau Mama bleibt aus.

»Wilhelm, nein. Du weißt, da ist viel zu viel böser Zucker darin.«

Welch eine Frechheit! In keiner meiner Sorten ist auch nur annähernd etwas Böses drin! Okay, ganz ruhig Sunny, durchatmen. »In meinem Eis ist nichts Böses! Schon gar kein Zucker.«

Die Augenbrauen der Spitzmund-Mama heben sich in ungeahnte Höhen. »In Ihrem Eis befindet sich kein Zucker?«

Ähm, nicht ganz. »Selbstverständlich benutze ich Zucker. Allerdings handverlesenen Muscovado und feinen Kokosblütenzucker, immer in genau der richtigen Menge für jede Sorte.«

»Eine Kugel Avocadoeis im Becher zum Mitnehmen, bitte.«

Ich könnte Miss Avocadoeis ablenken und dem kleinen, zuckerlosen Kerl stattdessen ein Kiwieis in den Becher legen. Die dunklen Kernchen könnte ich als geröstete Sesamkerne ausgeben. Wobei Kiwieis nun auch nicht gerade Schokoeis ist.

Nach einem letzten Blick zu der Dame forme ich eine wunderschöne, extragroße Kugel Avocadoeis und fülle sie in einen himmelblauen Pappbecher, dann stecke ich ein rotes Lichtschwertlöffelchen hinein.

Avocadoeis ist definitiv kein Schokoeis, aber es wird dem kleinen Mann trotzdem schmecken.

Nach dem Bezahlen begleite ich Mutter und Söhnchen nach draußen, um die Tischdecken von heute Morgen wieder abzunehmen, denn mittlerweile frischt der Wind auf und die Decken sind kurz davor, von dannen zu segeln. Wenigstens habe ich mir dieses Mal die Jacke vom Haken neben der Tür geschnappt.

»Könnten Sie wohl einen Moment auf meinen Wilhelm aufpassen, dann kann ich kurz in der Bäckerei Brot holen?«, wendet sich Avocadoeis-Mama an mich. »Mit so einem Klebeeis gehört es sich schließlich nicht, in einen Laden zu gehen.«

Na, wenn das so ist und sich dies nicht gehört, komme ich ihrer Bitte doch gern nach. »Selbstverständlich, Wilhelm kann sich gern hier zu mir setzen und in Ruhe sein Eis futtern.«

»Nein, bitte nicht hinsetzen, dazu ist es zu kalt. Sie wissen schon, Blasenentzündung und so.«

Ähm, nein, das weiß ich eigentlich nicht.

Einträchtig stehen Wilhelm und ich nebeneinander und sehen seiner Frau Mama hinterher, während ich überlege, wie ich ihm einen Happs Schokoeis in seinen Becher schummeln kann. Da sieht er mich mit großen Augen an. »Das Eis ist so letter. Das will ich jetzt immer.« Ich muss gar nicht darüber sinnieren, ob das Wort letter für lecker steht, denn er löffelt das Eis schwungvoll in sich hinein. Fast ein wenig zu schwungvoll – und da ist es auch schon geschehen. Die bedenklich in Schieflage geratene Kugel verliert ihren Halt, als der kleine Kerl seinen Löffel hineinbohrt, und klatscht auf das Kopfsteinpflaster.

Das Gesicht des Kleinen verzieht sich zu einer Grimasse des reinsten Unglücks und mit Überdruck sprudeln Tränen aus seinen Augen. »Mein sönes Eis!«

»Hey, Wilhelm, das ist doch gar nicht schlimm.« Was für ein blöder Satz, natürlich ist ein heruntergefallenes Eis schlimm! »Obwohl, du hast recht, das ist wirklich schlimm.«

Bei meiner rationalen Einschätzung der Lage weint der Junge leider nur noch mehr. Und nun?

»Weißt du was, Wilhelm, du hast gerade eine ganz großartige Heldentat vollbracht.« Ich knie mich vor den Jungen und sehe ihn ernst und, wie ich hoffe, dankbar an.

Und es scheint zu wirken, denn für den Moment hört er auf zu schluchzen. »Habe ich?«

»Aber sicher!« Nachdrücklich nicke ich, sodass mein kurzer Zopf bedeutungsvoll hin und her schwingt. »Siehst du all die Ritzen zwischen den Steinen hier überall?«

Wilhelm blinzelt mehrfach, wobei sich seine Stirn kräuselt. Die Tränen glitzern noch in seinen Augen, aber es scheinen keine neuen nachzukommen. Gut so.

»In diesen Ritzen leben ganz viele Tierchen wie Ameisen und Käfer und Spinnen, und die lieben Eis und freuen sich jetzt ganz doll darüber, dass du ihnen ein so leckeres Avocadoeis schenkst.«

»Mami sagt, ich soll teine wilden Tiere füttern, weil die vom Menschenessen danz trant werden.«

»Wilde Tiere?« Plötzlich sehe ich Ameisen in der Größe von Kaninchen aus den Ritzen krabbeln und Spinnen, die sogar Harry Potter das Leben schwermachen würden. Na schönen Dank, heute Nacht werde ich bestimmt gut schlafen.

Doch für nähere Fantasien habe ich keine Zeit, denn der kleine Rasensprenger vor mir dreht wieder auf. »Mein sönes Eis!«

Nun gut, keine wilden Tiere, die mit gezähmten Nahrungsmitteln gefüttert werden. Was dann? »Nein, nein, nein, nicht weinen, Wilhelm, das ist noch nicht alles! Das Beste kommt noch.«

Skeptisch wie ein alter Kater sieht er mich an.

»Die kleinen, gar nicht wilden Tiere wollen das Eis nicht selbst verspeisen. Sie freuen sich so sehr darüber, weil sie es dem Volk unter den Pflastersteinen schenken. Hier auf dem ganzen Platz lebt unter jedem Stein ein magisches Wesen. Diese sorgen dafür, dass sich im Sommer die Steine warm unter unseren nackten Füßen anfühlen und dass im Winter die wunderschönsten Schneeflocken darauf liegen bleiben. Des Nachts, wenn wir schlummern, schweben sie empor und wispern mit dem Wind Gute-Nacht-Lieder für uns.«

Ganz ruhig sieht mich Wilhelm an, die linke Hand, die vermutlich gerade auf dem Weg zu seiner Schnuddelnase war, verharrt in der Luft. Selbst das Tränchen auf seiner Wange fließt nicht weiter. Ich könnte mir einreden, er würde völlig aufgehen in meiner Geschichte, aber dazu sieht er zu starr aus.

»Ist das Eis etwa heruntergefallen?« Frau Mama kommt zu uns und betrachtet die Schererei zu unseren Füßen. »Wilhelm, ich habe dir schon hundert Mal gesagt, du sollst vorsichtig …«

Doch wie es aussieht, will Wilhelm keine einhundertundeinte Lektion in Vorsichtigkeit, denn er heult schrecklich auf und schnappt verzweifelt nach Luft. »Die Frau hat desat … hat desat … hier sind Deister in den Steinen … Mami, ich will teine Deister …«

Erschrocken springe ich auf, derweil die Mutter in die Knie geht und Wilhelm fest in die Arme zieht. Liebevoll küsst sie ihm die Tränen von den Wangen und flüstert im ins Ohr.

Sie erhebt sich schließlich mit dem Kleinen auf dem Arm. Wilhelm verbirgt das Gesicht in ihrem Schal und klammert sich an ihrer Jacke fest. Mir gelingt es nicht mehr, einen Blick von ihm zu erhaschen. Dafür sieht mich die Mutter streng wie eine Ordensvorsteherin an und lässt mich kopfschüttelnd neben dem Avocadoeishäufchen stehen.

Es dauert zwei Minuten, ehe ich mich aufraffe und umdrehe, um ins Schneeflöckchen zu gehen. Schließlich ist es an mir, das Eis wegzuwischen, und nicht an irgendwelchen Ameisen oder magischen Wesen.

»Ein neues Eis hätte es auch getan.«

Ich sehe von meinen bläulich schimmernden Füßen in den silbernen Sandalen auf und zu Tom hin, der in der offenen Tür seines Radladens lehnt, der direkt an die Eisdiele grenzt, nur getrennt durch ein Mäuerchen, das ins Nichts der Hauswände führt.

Spöttisch mustert er mich und zwinkert mir zu, während er sein breites Grinsen ungeniert zur Schau stellt. Er tippt sich wie zum Gruß an einen nicht vorhandenen Hut auf den schwarzen Haaren und geht zurück ins Veloziped.

Genervt stoße ich die Tür zum Schneeflöckchen auf und mit mir stürmt Alma hinein, die von ihrer Hotellieferung zurückkommt. »Draußen sieht es schon wieder nach einem Eisunfall aus, das wäre dann schon der zweite in dieser Woche. Vielleich sollten wir anfangen, das Eis mit Schokolade festzukleben.«

»Das kannst du gern jetzt machen. Ich gehe ins Eislabor und fange mit dem Herzkirscheis an.«

Mehr, als dass ich es sehe, spüre ich Almas Blick in meinem Rücken, doch sie versteht und lässt mich den Rest des Nachmittages allein im Eislabor werkeln.

Bald schon gewinnt meine Ausgeglichenheit wieder die Oberhand, und zum Feierabend hin überrasche ich meine Cousine mit einem Herzkirschensorbet, das nicht nur unsere Zungen, sondern auch unsere Herzen streichelt.

Gemeinsam sitzen wir an der Eistheke und genießen den fruchtigen Traum, dabei erzähle ich Alma von dem Wilhelm-Desaster.

Sie lacht so sehr, dass sie sich den Bauch hält. »Ach Sunny, ohne dich und deine magischen Wesen unter den Pflastersteinen wäre das hier ein echt langweiliger Platz mit zwar großartigem Eis, aber großartigem Eis ohne Seele.«

»Das sah mir vorhin nicht so aus.«

»Na ja, manchmal wäre der direktere Weg vielleicht die bessere Wahl, aber da du Umwege über deine Fantasie nun mal so liebst, ist es halt, wie es ist.«

War das nun ein Kompliment oder doch eher Kritik? Aber Kritik kann doch auch ein Kompliment sein. Also ist es beides, oder?

»Apropos Umwege«, unterbricht Alma meine Gedanken. »Rate mal, wen ich heute gesehen habe?«

»Das weiße Kaninchen? Hat es sich mal wieder verlaufen auf dem Weg zur Teeparty beim Hutmacher?«

»Nö, das ist dieses Mal auf direktem Weg ins Wunderland geplumpst.«

Da Alma nicht weiterspricht, sehe ich sie mit hochgezogenen Brauen an. »Und? Wen hast du nun gesehen?«

»Leo. Gestern Abend, am Potsdamer Platz.«

Kapitel 2

I wie Ineinander

Ingwer-Eis

Eisige Kälte und warme Würze treffen sich in einer Cremigkeit aus Rahm und Ingwer, umschmeicheln einander und uns.

 

»Meinen Leo?« Passen die beiden Worte nicht wunderschön zusammen? Wie Bonnie und Clyde oder Romeo und Julia. Obwohl, das sind keine guten Beispiele, lieber wie Susi und Strolch.

»Na ja, wenn wir von dem Leo reden, den wir beide kennen, würde ich nicht unbedingt von deinem Leo sprechen.« Alma wackelt mit dem Zeigefinger vor meinem Gesicht herum und schenkt mir einen ihrer seriösen Erwachsenenblicke. »Leo ist seit zwei Jahren nicht mehr dein Leo!«

Nachdrücklich schnipse ich gegen ihren belehrenden Finger. »Das ist so nicht ganz korrekt, meine liebe Alma.«

»Ach ja? Dann kläre mich doch bitte auf, meine liebe Sunny.« Sie reibt sich mit vorwurfsvollem Blick den Finger. »Und wenn machbar bitte ohne allzu viel Grünzeug und Schleifchen rundherum.«

»Wir sind füreinander bestimmt!« Das ist doch vollkommen klar!

»Und?«

»Nichts und.«

»Warum hast du ihm dann vor zwei Jahren den Laufpass gegeben?«

Entschieden schüttele ich den Kopf, dabei löst sich die Spange, die meinen Zopf zusammengehalten hat. Mit einem Klirren fällt sie zu Boden. »Wir sind doch nicht beim Militär! Ich habe Leo keineswegs den Laufpass gegeben. Ich habe ihn freigegeben.«

Alma bückt sich nach der Spange und hebt sie auf. »Und freigegeben ist nicht zufällig das Gleiche wie jemandem den Laufpass geben?« Sie hält sich die Spange an ihre langen weichen Haare, die dieselbe Farbe haben wie unser Portweineis, schüttelt leicht den Kopf und schiebt sie mir dann hin. »Oder lass mich die Frage lieber selbst beantworten. In deiner Welt gibt es da natürlich monströse Unterschiede, nicht wahr?«

So entschieden, wie ich gerade den Kopf geschüttelt habe, nicke ich jetzt. »Den Laufpass geben heißt ja, dass ich ihn nicht mehr will. Aber Leo freizugeben zeigt ihm meine Liebe. Es ist schließlich die nobelste aller Gesten, den geliebten Menschen freizugeben. Denn gibt es etwas Magischeres als die Verbundenheit zweier ferner Seelen?«

»Oh Sunny, entschuldige bitte, ich würde an dieser Stelle sehr gern heftig mit den Augen rollen, aber ich habe Angst, mir dabei so richtig wehzutun!«

Ich springe vom Sitz und räume laut klirrend die leeren Eisbecher zusammen. Es hätte mir klar sein müssen, dass meine vernunftüberbegabte Cousine für die hehre Liebe kein Verständnis hat. Sie tänzelt von Blümchen zu Blümchen. Wobei Blümchen es nicht ganz trifft, sie tänzelt von Eiche zu Eiche und küsst mal hier und mal da. Vielleicht besinnt sie sich ja auf die echte Liebe, wenn ich ihr beweise, wie beeindruckend meine Geste Leo gegenüber unser beider Leben Glanz verleiht.

Mit Schwung stelle ich die Eisbecher zurück auf die Theke und sehe Alma tief in die Augen. »Ich habe Leo vor zwei Jahren klipp und klar gesagt, dass ich ihn freigebe und er hinausziehen soll in diese Welt, um Menschen zu retten und Edles zu vollbringen …«

»Und du meinst, unser lieber Herr Doktor Rationalius hat das gleiche Verständnis von Freigeben wie du?«, unterbricht mich Alma und zieht die linke Augenbraue beeindruckend nach oben. Dass sie aber auch immer alles so nüchtern betrachten muss!

»Aber sicher doch!« Denke ich zumindest. Immerhin kannte er mich zu diesem Zeitpunkt schon eine Weile, wir waren schließlich zwei Jahre lang ein Paar. Vielleicht nicht immer so ganz einer Meinung mit unseren Ansichten über die Welt, aber in dem einen oder anderen ergänzten wir uns ziemlich gut. Ich probiere gern verschiedene Wege aus oder suche mir Strecken, wo noch kein Weg ist, er hingegeben schnappt sich die Gebrauchsanleitung und studiert diese gründlich von Seite eins bis siebenundneunzig. Und wieder zurück. »Du kannst deine Augenbraue wieder herunterziehen!«

Da schnellt auch Almas zweite Augenbraue in ungeahnte Höhen. »Warum ist Leo dann nicht hier?«

 

So sehr ich es liebe, in meinem Schneeflöckchen zu sein, so sehr liebe ich auch meine freien Mittwoche. Ausschlafen steht an diesen Tagen an erster Stelle. Allerdings muss ich mir regelmäßig sagen lassen, dass es nicht als Ausschlafen gilt, morgens um sieben Uhr frisch und munter aus dem Bett zu hüpfen. Ich finde schon. Der Tag liegt weiß und klar vor einem, die Stunden warten darauf, gefüllt zu werden, alles ist möglich, alles in Reichweite.

Die Stunden nach dem Frühstück verbringe ich meist damit, ein wenig Ordnung in der Wohnung zu schaffen. Denn so wichtig mir auch die Hygieneregeln in der Eisdiele sind, so wichtig ist es mir, in meiner Wohnung herumzuschlumpern. Warum sollte alles einen festen Platz haben? Wieso sollte sich die Enzyklopädie Gelatino immer im dritten Fach von rechts im Bücherregal langweilen? Weshalb das orangene Sofakissen stets neben dem apfelgrünen faulenzen? Das Ordnung schaffen erschöpft sich meist auch ganz schnell darin, den Geschirrspüler zu füllen – und vergessen anzustellen – oder die Waschmaschine zu füttern und bis zum nächsten Mittwoch völlig zu vergessen, weil ich dringend irgendwohin muss.

Die meisten Mittwoche vergehen so schnell wie sie anfangen, doch sie alle eilen zum späten Nachmittag hin auf einen Höhepunkt zu. Abwechselnd bei mir oder meiner Mutter – bis vor einem halben Jahr drehten sich in diesem Rad auch meine Tante Marietta und Alma mit – treffen wir uns zum Filme gucken. Ich liebe Filme! Egal ob schwarzweiß und von 1927 oder knallbunt aus dem Jahr 3017, ob auf Deutsch, Englisch oder Walisisch, ob gezeichnet, geschauspielert oder getrickst, ich mag sie alle.

Heute darf meine Mutter den Film der Woche wählen, und bis zur Nasenspitze gefüllt mit Neugier reiße ich die Wohnungstür auf, um sie hereinzulassen.

»Tada!« Mit einem breiten Grinsen hält sie eine Blu-Ray hoch, auf der ein stattlicher Mann in roter Jacke prangt. »Darf ich vorstellen: Mister Hugh Jackman alias P.T. Barnum.«

Bei uns Spatz-Frauen kommen noch echte Filme auf echten silbernen Scheiben ins Haus. Wir streamen nicht, wir playen. Schließlich möchte ich die Filme mit ihren großartigen Covern nach dem Ansehen hübsch ins Regal stellen – oder zumindest im Wohnzimmer verteilen. Aber definitiv nicht in den digitalen Weiten irgendeiner Wolke verlieren.

»Der Greatest Showman! Wo hast du den denn schon wieder her? Den gibt es doch noch gar nicht zu kaufen.«

»Tja, es geht nichts über gute bis hervorragende Kontakte, mein liebes Kind. Aber möchtest du mich nicht hereinbitten? Oder wollen wir den Film stattdessen im Flur ansehen?«

Ich beuge mich hinunter und umarme meine Mutter herzlich. Ihre wilden Locken kitzeln mich dabei wie immer im Gesicht. Mein süßes Sonnenblumenhonigeis mit Mascarponekern hat exakt dieselbe Farbe wie unsere Haare. Nur wurden bei meiner Mutter alle verfügbaren Locken ausgeschüttet, wohingegen es bei mir nicht eine einzige auf den Schopf geschafft hat. C’est la vie.

»Nimm Platz, ich hole nur noch schnell das Espresso-Marzipan-Eis, das du unbedingt kosten sollst.« Ich helfe meiner Mutter aus dem Mantel und weise in Richtung Wohnzimmer. »Ach, und die Zeitschriften auf dem Sofa leg einfach auf den Boden, ich wollte vorhin anfangen sie zu sortieren, aber dann …«

»… fiel dir wie immer etwas Besseres ein. Ich weiß, mein Kind, ich weiß.«

»Na, wenn Espresso und Edelmarzipan in Form einer Eiskugel nicht etwas Besseres ist, dann weiß ich auch nicht.« Schnell husche ich in die Küche, nicht, dass mich noch der Hauch eines schlechten Gewissens einholt, weil ich wieder nicht so richtig aufgeräumt habe.

Zwei Eisgläser stehen schon bereit und ich betupfe sie nur noch mit einem Hauch Mandelsirup und wenigen Tropfen Kona Espresso. Zufrieden mit mir und der Eiswelt gehe ich zu meiner Mutter ins Wohnzimmer, die ganz mütterlich mit flinken Bewegungen Ordnung in mein buntes Chaos bringt. Wie sie das immer hinbekommt! Für ihr Ergebnis würde ich Wochen brauchen.

Gemeinsam sinken wir auf das wieder aufgetauchte, erdbeerrote Sofa und schnuppern an den Eisbechern. Gespannt beobachte ich meine Mutter, wie sie den ersten Löffel zum Mund führt – und die Augen für einen langen Moment schließt. »Himmlisch. So einen kräftigen Espresso mit einer solch zarten Marzipancreme harmonisch in einem Eis zusammenzubringen gelingt nur dir.«

»Alma brachte mich gestern auf den Gedanken, als ihr ein Klecks Marzipaneis in den Espresso plumpste. Es sah so wunderschön aus, wie sich dieses transparente Cremegelb in das herrlich dunkle Mokkabraun gemischt hat und die Crema ein feines Blumenmuster darum zog. Alma meinte zwar, es schmecke nach Marzipanbrot in Kaffeepulver getunkt, aber im richtigen Verhältnis sind die beiden Komponenten doch wie geschaffen füreinander. Das war Eisliebe auf den ersten Blick.«

Der Blick meiner Mutter wandert zu ihrem Eisbecher, gerade so, als wolle sie das zartbeige Eis mit den Espressoschlieren darin zum Schmelzen bringen. »Apropos Alma, Marietta lässt sich für heute entschuldigen.«

Genau wie schon die Woche davor und die Woche davor und den Monat davor und die vier Monate davor ebenso. Und meine Mutter tut weiterhin stur so, als wäre das alles nur eine Lappalie. Was ich ihr ja auch gern durchgehen lasse, Hauptsache wir reden nicht darüber. Aber so langsam mag ich das Schweigen nicht mehr hinnehmen. »Meinst du nicht, es ist endlich an der Zeit …«

»Entschuldige mich bitte einen Moment, liebe Susanna, ich möchte mich kurz frisch machen.« Betont langsam und gründlich stellt meine Mutter ihren Eisbecher auf den Sofatisch, steht auf und schlendert aus dem Wohnzimmer.

Es dauert eine Weile, ehe das Rauschen und Klappern im Bad aufhört. Vermutlich ist jetzt auch mein Seifenspender wieder aufgetaucht. Das herrliche Espresso-Marzipan-Eis im Glas meiner Mutter schmilzt indessen einsam vor sich hin.

»Stell dir vor, wen ich heute Vormittag getroffen habe!« Als hätte meine Mutter mir vor gut einer Viertelstunde nicht den Satz abgewürgt, kommt sie zurück ins Wohnzimmer, nimmt ihren Becher und löffelt die Eissoße genüsslich aus.

»Tante Marietta?« Die Worte entschlüpfen mir, ehe ich es verhindern kann. Erschrocken lege ich mir die Hand auf den Mund.

»Leo.«

Oh! Prima! Das nenne ich eine geglückte Retourkutsche.

Ich räuspere mich und zupfe mir den Haargummi vom Zopf. Leicht massiere ich die Stelle, wo er zu stramm gesessen hat. So ist es viel besser. »Leo ist wieder da, ich habe es schon gehört. Alma hat ihn gestern am Potsdamer Platz gesehen.« Da ist eine Fluse auf meiner Jeans. Das geht aber nicht, bedächtig zupfe ich sie ab. »Und? Hast du mit ihm gesprochen?«

»Ich habe ihn nur aus dem Auto heraus gesehen. Du kennst doch diese unmögliche Ampel an der Birnenallee, die, die für Autofahrer immer nur fünf Sekunden grün ist. Er ging vor mir über die Straße und hat mir zugewunken und ich ihm.«

»Dann wird er ja sicher bald mal im Schneeflöckchen vorbeikommen.«

Kopfschüttelnd sieht mich meine Mutter an. »Warum sollte er? Er war doch bereits abgereist, als du die Eisdiele eröffnet hast, und außerdem hast du ihm damals den Laufpass gegeben.«

Nun ist es an mir, das Zimmer zu verlassen. Das mache ich mit wesentlich mehr Trotz als meine Mutter vorhin: Ich springe auf und stürme hinaus, aber nicht, ohne sie vorher über ihren Irrtum lautstark aufzuklären. »Ich habe Leo nicht den Laufpass gegeben! Ich habe ihn freigegeben!«

 

»Guten Morgen, mein Herz.«

»Tante Marietta! Das ist ja eine Überraschung am frühen Morgen.« Vorsichtig stelle ich den Behälter mit dem cremigsten aller Haselnusseise in die Kühltheke. Hellgold glänzt es als schöner Kontrast zu dem tiefroten Cranberryeis daneben.

»Ich dachte, du kannst heute einen netten Kuchen im Schneeflöckchen gut gebrauchen. Schau dir mal dieses Prachtexemplar von einem Gugelhupf an. Dazu eine Kugel von deinem fantastischen Vanilleeis, und die Welt ist ein Ponyhof.«

Genießerisch schnuppere ich an dem dick mit Puderzucker bestäubten Gebäck. »Mmh, wie der duftet. Den muss ich gleich selbst probieren. Was darf ich dir anbieten?«

»Mach dir meinetwegen bitte keine Umstände, ich weiß ja, dass du zu tun hast.«

»Alles gut, die letzten beiden Eissorten werden gerade von Hanni und Nanni gerührt und der Rest ist fertig. Der Eistag kann starten.« Fest drücke ich mit den Händen meinen Rücken durch, um mich ausgiebig zu strecken.

»Ach Herzchen, dein Eistag hat doch bestimmt schon vor Stunden begonnen.«

Ich nicke leichthin und bereite meiner Tante und mir einen doppelten Espresso zu. Die Arbeit in meinem geliebten Schneeflöckchen ist für mich keine Arbeit. Die Zeit hier ist Teil meines Lebens, wie atmen, essen, lachen, lieben. Schon mit der ersten Kugel Eis, die ich schlecken durfte, hat sich dieser besondere Zauber über mich gelegt. Diese Süße auf meiner Zunge, leicht betäubt von der Kälte, eine Explosion von Geschmäckern in meinem Mund, die zarte Seidigkeit der Vanille, die Cremigkeit frischer Sahne.

Seit zwei Jahren bin ich die stolzeste Eisdielenbesitzerin der ganzen Welt. Erst allein, doch kurze Zeit später kam Alma dazu, für das Papierene, wie sie es gern ausdrückt. Sie liebt es, mit Zahlen zu jonglieren, so wie ich es liebe, mit Milch und Zimt und Nüssen zu jonglieren. Und beide lieben wir unsere Gäste hier im Schneeflöckchen.

Zu dem Espresso schneide ich uns jeweils ein Stück von dem großartigen Gugelhupf ab und kröne diese mit Vanilleeis und Klecksen dicker Schlagsahne. Wenn das kein willkommenes zweites Frühstück ist.

»Wie kommt es, dass du heute bäckst? Das MaMa hat doch sonntags geschlossen.«

Versonnen betrachtet Tante Marietta ihre Kuchengabel, auf der sich Gugelhupf, Vanilleeis und Sahne stapeln, dabei streicht sie sich eine ihrer wilden Locken hinter das Ohr. »Letzte Woche war so unglaublich viel zu tun im Geschäft. Es ist, als würden die Leute aus ihrem Winterschlaf erwachen und hätten nun Appetit auf feine Delikatessen. Ich glaube, es lässt sich keine einzige Kalamata Olive mehr im Umkreis von drei Kilometern vom MaMa finden. Außer auf den Gabeln unserer Kunden.«

Gründlich kratze ich die Reste auf meinem Teller zusammen. »Dann solltest du über einen freien Sonntag doch erst recht froh sein.«

»Ich wollte dieses Rezept schon die ganze Woche ausprobieren, aber dazu fehlte mir die Zeit. Und da Marie nächste Woche im MaMa arbeitet, passt es heute am besten.«

»Es ist noch nicht lange her, da habt ihr zusammen im Deli gearbeitet.«

»Sunny, da fällt mir ein, ich muss unbedingt auf die Toilette.« Damit steht Tante Marietta auf, nickt mir zu und läuft in den Flur, der zum Waschraum führt.

Das gibt es doch nicht! Als hätte ich gerade eben nichts gesagt! So langsam wird es echt lächerlich. Man muss nun wirklich nicht immer einer Meinung sein und es darf gern auch mal krachen, aber das, was meine Mutter und meine Tante veranstalten, geht zu weit. Die beiden sind Zwillingsschwestern und waren bis vor Kurzem ein Herz und eine Seele. Schon immer. Sie teilen sich nicht nur dieselbe Mutter, sondern auch ihre Leidenschaften und ihr Aussehen. Wobei die meisten Menschen die beiden nur anhand ihrer Kleiderwahl auseinanderhalten können. Meine Mutter bevorzugt es wild und bunt, Tante Marietta hingegen liebt es schwarz und weiß. Dass sie aber an denselben Tagen dieselben Modelle tragen, kommt regelmäßig vor. Wie gut, dass es dann die Farbvariationen gibt.

Genervt räume ich das Geschirr ab, welches empört klappert. Es ist an der Zeit, einzugreifen. Ich – und eigentlich die ganze Familie – hat sich lange genug anstandsvoll herausgehalten. Wir müssen handeln.

»Guten Morgen.« Schwungvoll kommt Alma zur Tür herein und erreicht mich zusammen mit einem Schwall kalter Luft. An den Frühlingstemperaturen muss sich auch dringend etwas ändern!

»Alma! Wir müssen handeln.«

Lachend entledigt sich Alma ihrer Jacke. »Aber sicher doch, Chefin. Was soll ich zuerst machen? Die Böden mit einer Zahnbürste schrubben, die Fenster mit Zeitungspapier wienern, bis meine Finger schwarz sind, oder lieber Rosinen aus dem Rumeis picken?«

»Genau. Für diese Arbeiten bist du in deinem feinen Hosenanzug auch genau die Richtige.«

»Dir wäre wohl ein Typ in Jeans und T-Shirt deutlich lieber, nicht wahr?« Alma verpasst mir einen Nasenstüber und grinst mich breit an.

»Was hat Tom damit zu tun?« Ich drängele mich an ihr vorbei und schiebe auf dem türkisenen Tisch die beiden Eiskarten gerade. Was irgendwie nicht so viel bringt, da der Tisch rund ist.

»Habe ich etwas von Tom gesagt?« Almas Stimme ist ein Flüstern in meinem Nacken und sorgt dafür, dass mir ziemlich warm wird. »Die rote Farbe in deinem Gesicht steht dir, Cousinchen, du bist sonst immer so blass.«

»Alma! Du bist ja auch schon hier. Grüß dich, mein Kind.« Herzlich nehmen sich Alma und ihre Mutter in den Arm. Wir mögen uns alle ziemlich doll in unserer Familie – eigentlich. »Ich muss auch schon wieder los. Habt einen schönen Sonntag, Kinders.«

Während Alma in das Büro geht, um ihre Sachen zu verstauen, begleite ich meine Tante zur Tür. »Gehst du heute mit Onkel Ole wieder zum Singen?«

»Aber sicher doch, das lassen wir uns nicht entgehen. Ach, da fällt mir ein, weißt du, wen ich am Donnerstag im Konzerthaus gesehen habe?«

Oh, oh, mir schwant schon, wen sie meint, doch noch ehe ich eine flapsige Antwort parat habe, posaunt meine Tante es schon heraus. »Leo! Stell dir vor, er ist wieder in Berlin. Und gut sieht er aus. Ich meine, er sah schon immer zum Anbeißen aus, aber jetzt mit dieser Bräune geht kein Frauenblick mehr an ihm vorbei. Ein Jammer, Sunny, dass du ihm damals den Laufpass gegeben hast. Das verstehe ich bis heute nicht.«

 

Noch Stunden später knirsche ich mit den Zähnen. Ich knirsche mit den Zähnen, während ich einen I-Almost-Do-Becher anrichte und ich knirsche mit den Zähnen beim Füllen eines Zuppa-Inglese-Bechers. Genauso wie beim Espresso brühen und vor allem beim Schneiden des Tante-Marietta-du-hast-ihm-den-Laufpass-gegeben-Gugelhupf.

Trotz des kalten Wetters finden Gäste über Gäste den Weg ins Schneeflöckchen, und wie es aussieht, bin ich nicht die Einzige, die den Frühling so genießen möchte, wie es sich gehört: mit Wärme, Sonne und Eis. Zur Not halt auch ohne Wärme.

»Eine Kugel Vanilleeis bitte«, haucht der Jüngling vor mir und blickt konsequent auf einen Punkt am Ansatz meiner Haare. Wenn ich nicht ziemlich genau wüsste, dass dort alles in Ordnung ist, wäre ich für einen Moment verunsichert. Aber so schiebe ich es lediglich auf eine ausgeprägte Ader an Schüchternheit.

»Gern. Mit Sahne?«

»Wie viel kostet das?«

»Die Sahne kostet 80 Cent zusätzlich.«

Er öffnet seine rechte Faust und zählt verstohlen die Münzen darin. »Nein, danke«, flattert schließlich ein Murmeln in meine Richtung.

Zurück hinter der Eistheke richte ich das Vanilleeis für den Jüngling an. Irgendwie kommt er mir bekannt vor. Verloren hockt er an dem mandarinenorangen Tisch und starrt hinaus auf den belebten Vierwaldplatz, wo heute besonders die Touristen von unserem schönen Standesamt angezogen werden. Die Schlange vor dem Eingang reicht fast bis zu dem Hotel an der Ecke, welches sich imposant neben dem Restaurant Le Meilleur in den blauen Himmel reckt.

Da der arme Kerl so einsam wirkt und doch äußerst auf den Cent bedacht sein muss, streue ich ihm über das herrliche Vanilleeis großzügig Himbeerstreusel. Rosa besprenkeln diese das zartgelbe Eis und der Duft nach Glück umfängt meine Nase. Genauso muss es sein.

Nach dem Servieren setze ich mich an den kornblumenblauen Tisch zu ein paar Stammgästen und lausche den Neuigkeiten aus unserem Viertel.

In meinem Blickfeld sitzt der verschüchterte junge Mann und löffelt mit verzücktem Blick sein Vanilleeis mit Himbeerstreuseln. Und ich kann es ihm an der Nasenspitze ansehen, er hat sich verliebt. Und diese Liebe wird für immer halten.

Kapitel 3

E wie Ex

Erdbeer-Eis

Erdbeeren verführen uns mit ihrer Süße, ihrem Duft, ihrer Farbe, ihrem ganzen Selbst. Umarmt von Sahne und Mascarpone entsteht so Eisliebe für die Ewigkeit.

 

Die meisten Tage im Schneeflöckchen starten damit, dass ich acht verschiedene Eissorten herstelle. Meine Eiskarte enthält zwar ein paar fixe Sorten wie Vanille und Erdbeer und Schokolade, aber den Rest mische ich frei nach Lust und Laune und Sonnenschein – und mit den besten Zutaten, die es gerade gibt.

Für heute rühre ich ein paar Extraportionen an, die ich gleich hinüber in das Standesamt bringen werde, wo Herr Sonthofen eine seiner stolzen Führungen für Schüler und Kitakinder veranstaltet.

Nur leider kämpft er regelmäßig damit, dass nicht jedes Kind so begeistert auf seine Vorträge über Buntglasfenster und Standesamtrituale reagiert, wie er es sich wünscht. In seiner Leidenschaft lässt er sich doch gern zu längeren Monologen hinreißen, was dann nicht nur die Kinder nach Fluchtmöglichkeiten suchen lässt, sondern auch so manch einen Lehrer und Erzieher. Aber er meint es nur gut. Und hier komme ich ins Spiel.

Etwa vor einem Jahr, vor einer Führung, ließen sich ein paar Schüler bei mir ein Eis schmecken und hörten sich anschließend die Führung glücklich und völlig mit sich und dem Standesamt zufrieden an. Es gab wohl sogar die eine oder andere Zwischenfrage – zum Thema und nicht dazu, wo sich die nächste Toilette zum Verstecken befände.

Seit diesem Zeitpunkt bringe ich regelmäßig vor den Führungen Eis für die Gäste ins Standesamt und sorge in ihrem Interesse dafür, dass auch Herr Sonthofen ein Kügelchen nascht. So sind alle bestens aufgelegt und die Führungen mittlerweile stadtbekannt und gern besucht.

Für heute hat sich eine Kindergartengruppe angemeldet, und dementsprechend bunt wähle ich die Papphüllen für die Waffeln aus, die ich heute Morgen frisch gebacken habe.

Jetzt fehlen nur noch die Himbeerstreusel. Gestern habe ich die herrlich süße Masse mit dem unwiderstehlichen Himbeerduft zubereitet und über Nacht in feinsten Linien trocknen lassen. Nun muss ich sie nur noch gleichmäßig in Form schneiden und in eine Schüssel füllen – köstlich.

Gibt es etwas Magischeres als aromatische, saftige, edle Goldkind Himbeeren, die sich in rosafarbene Zuckerstreusel verwandeln?

»Eine Himbeere für deine Gedanken.«

Aufgeschreckt stelle ich die Schale mit den Himbeerstreuseln unbeabsichtigt heftig auf den Tisch vor dem Schneeflöckchen. »Tom! Musst du dich immer so anschleichen!«

»Wenn du in deinem Eisland wandelst, muss ich mich gar nicht anschleichen, dann könnte ich auch mit einer Dampflok an dir vorbei rattern und du würdest mich nicht zur Kenntnis nehmen.« Breitbeinig und mit verschränkten Armen steht er vor dem Veloziped und grinst mich an. Sein Steinzeitfahrrad lehnt lässig an seiner Hüfte.

»Als wenn du etwas anderes fahren würdest als dein Klapperding da.«

»Nun beleidige mal bitte nicht Charly, das ist immerhin das zuverlässigste und beste Fahrrad weit und breit.« Er klopft wohlwollend auf den knautschigen Ledersattel.

Ich schlendere die fünf Schritte zu dem Mäuerchen zwischen unseren Läden, das stufenförmig in ein Nichts an der Hausfassade führt. Ein wenig wie das Gleis 9 3/4. »Und warum muss der gute alte Charly dann immer brav zu Hause im Stall bleiben, wenn du mit deinen coolen Radbuddys auf Touren gehst?«

Tom zuckt leichthin mit den Schultern. »Weil die jungen Wilden für die rasanten Fahrten in mallorquinischen Bergen und auf französischen Alpenpässen besser ausgebildet sind. Wann hast du denn das letzte Mal auf einem Fahrrad gesessen? Vermutlich, als du noch Stützräder brauchtest.«

»Ich«, flink klettere ich auf die zweite Stufe des Mäuerchens, um mit Tom auf Augenhöhe zu sein, »komme bestens ohne Rad zurecht. Schließlich habe ich zwei gesunde Füße.«

Tom beugt sich zu mir herüber und kommt mir dabei ausnehmend nah. Sein Blick trifft meinen. Wie jedes Mal, wenn ich in seine blauen Augen sehe, glaube ich, das süße Heidelbeereis zu riechen, an das mich ihre Farbe erinnert. »Und ein vielbeschäftigtes Auto.«

Mein Herz tanzt Freestyle in meiner Brust, während mein Puls sich an einem Rock ’n’ Roll versucht. Hat er mir gerade eine freche Antwort gegeben? Wahrscheinlich, weil er das immer macht, aber … was wollte ich noch gleich?

Egal. Elegant, wie es eine solche Situation erfordert, hüpfe ich von der Mauer und winke Tom nonchalant zu. »Salut.«

Mit einem schiefen Grinsen nimmt er sein Rad und geht zum Eingang des Velozipeds.

Ein Klopfen hinter mir an der Scheibe des Schneeflöckchens reißt meinen Blick von Toms Schultern los und lenkt ihn zu einer wild gestikulierenden Alma. Sie zeigt auf ihre Armbanduhr und ich sehe hinüber zu der Turmuhr auf dem Standesamt. Ich habe noch genau siebenunddreißig Sekunden.

Schnell rolle ich den Wagen, den wir immer zum Transportieren nehmen, unter dem Tisch hervor und stelle die drei schweren Eisbehälter darauf. Mist! Gestern ist der falsche Wagen aus dem Hotel zurückgekommen. Dieser hier hat nur eine Ebene, wo soll ich nun mit den Waffeln und Himbeerstreuseln hin? Ein Blick ins Schneeflöckchen lässt Alma als Tragehilfe ausscheiden, denn sie hat alle Hände voll zu tun, die Gäste zu bedienen. Ich könnte zwei Mal laufen …

»Tom!«

Tom will eben die Tür zum Radladen schließen und steckt noch einmal seinen Kopf heraus. »Ist etwas mit deinen zwei gesunden Füßen?«

»Ja. Und zwar, dass ich noch ein weiteres Paar gut gebrauchen könnte.« Ich klimpere mit den Wimpern und lächele ihn so süß an, wie mein goldenes Honigmeloneneis schmeckt. »Und zwei starke Arme.«

Sein Blick wandert von meinen Armen zum Wagen und weiter zu den Schüsseln auf dem Tisch. »Du willst mal wieder die Kinder bestechen, damit sie Oskar über unser Wunderbauwerk von Standesamt lauschen?«

Ich nicke und schlucke schwer an einer pampigen Erwiderung seiner Unterstellung, ich würde hier kleine Kinder bestechen wollen.

»Kannst du nicht einfach zweimal laufen, ich meine, es ist ja nun keine Marathondistanz. Es ist nicht einmal Kurzstrecke, und ich muss in den Laden.«

»In dem Jan schon seit zwei Stunden an den Rädern schraubt. Komm schon, bitte, du sagst selbst, es ist nicht einmal Kurzstrecke. Du bist in drei Minuten wieder da.«

Daran, wie Tom seinen Mund verzieht, sehe ich, dass ich gewonnen habe. Einen Moment später ist es auch ihm bewusst.

»Danke, du bist ein Schatz.« Ich schiebe den Wagen um das Mäuerchen herum zu ihm und gehe zurück, um mir die beiden Schüsseln unter die Arme zu klemmen. »Und los. Wir sind schon spät dran.«

»Wir?« Tom verzieht den Mund kurz in die andere Richtung, was mich fast an meinem Sieg zweifeln lässt, aber dann setzt er sich doch in Bewegung.

 

Oskar Sonthofen fliegt uns auf den Stufen zum Standesamt entgegen. »Ihr Lieben, ihr Lieben, nun aber bitte schnell. Die Kinder warten bereits im Kleinen Salon. Was gibt es denn heute Schönes? Die Kinder sind schon eminent aufgeregt, das wird eine grandiose Führung. Haben Sie auch wieder Ihre weltberühmten Himbeerstreusel mitgebracht, liebe Sunny?«

»Selbstverständlich. Für die Kinder und Sie packe ich nur das Beste ein.« Ich drücke Oskar Sonthofen die Schüsseln in die Arme und schleppe zusammen mit Tom den Wagen die fünf Eingangsstufen empor. Wobei meine Arme schon kurz vor der dritten Stufe am Boden schleifen. Ich wünschte, Eis wäre so leicht wie Zuckerwatte! Vielleicht, wenn ich ein zartes Sorbet, eventuell auf Basis fruchtiger Limonen, zusammen mit luftigen Zuckerfäden verschmelzen lasse und dann Luft …

»Frau Spatz! Könnten wir die letzte Stufe dann auch noch schaffen? Oder soll Oskar die Kinder herunterbitten und sie bedienen sich selbst, während wir weiterhin rumstehen und Krafttraining mit Eisbehältern machen?«

Das federleichte Limonen-Zuckerwatte-Sorbet löst sich in Luft auf und gibt den Blick auf Toms gerunzelte Stirn frei. Ich kann ein Stöhnen nicht unterdrücken, als ich den Wagen endlich oben abstelle. Zuckerwatte-Sorbet hin oder her, jetzt warten erst einmal die kleinen Gäste darauf, sich erdbeerig verwöhnen zu lassen.

Oskar Sonthofen hält mir die imposante Tür auf, die einem kunstvoll geschnitzten Schlosstor gleicht, und ich schreite mit meinem Wägelchen erhobenen Hauptes hindurch. Ein jedes Mal fühle ich mich ein klitzekleines bisschen wie eine der wunderschönen Bräute, die hier regelmäßig hineinspazieren und auf Händen getragen, bejubelt und bestaunt wieder hinausgetragen werden.

Mein Kleid wäre mindestens genauso märchenhaft wie …

»Bis nachher, Sunny.«

Toms Talent, meine Gedanken zu stören, kommt heute besonders ausgeprägt zur Geltung.

»Tom!« Oskar Sonthofen hält ihn am Arm zurück und betupft sich mit seinem neongelben Einstecktuch die Stirn. »Sie sollten vielleicht noch ein wenig zum Tragen zur Verfügung stehen. Ähm, die Paternoster, Sie wissen schon …«

»Nein, weiß ich nicht.« Tom sieht gemeinsam mit mir auf die beiden Paternosteraufzüge, die sich nicht bewegen, und dann zu der wundervoll geschwungenen Treppe daneben, die mit vielen glänzenden Marmorstufen nach oben führt in die erste Etage und von dort weiter in die zweite und selbstverständlich auch in die dritte, wo sich das beliebte Vermählungszimmer mit seinen großartigen Buntglasfenstern und kunstvollen Bleispiegeln sowie der Kleine Salon befinden.

»Der ist halt schon ziemlich in die Jahre gekommen und benötigt hin und wieder ein Päuschen.« Oskar Sonthofen macht sich gar nicht erst die Mühe, das Einstecktuch zurückzustecken, und betupft sich neben der Stirn auch die Nase, den Nacken und seine roten Wangen.

»Können wir die Kinder nicht einfach herunterbitten? Hier unten ist doch der hübsche Warteraum und dort gibt es Tische und Stühle.« Mit Schwung schiebe ich den Eiswagen in Richtung des besagten Warteraumes. Doch ein Aufschrei von Oskar Sonthofen lässt mich in meiner Bewegung einfrieren.

»Sunny! Keine meiner Führungen beginnt in dem Wartezimmer! Wo kämen wir denn da bitte hin! Meine Ansprachen und Ausführungen wurden in jahrelanger, detaillierter Feinstarbeit zu einem großen Ganzen von mir höchstpersönlich zusammengefügt und dulden keinerlei Abweichung. Der Rundgang mit den Kindergartenkindern beginnt im Kleinen Salon neben dem Trauzimmer! Und wenn ich selbst jedes Löffelchen Eis einzeln hinauftragen muss!«

»Na, dann kann ich ja endlich zu meiner eigenen Feinstarbeit gehen.« Tom tippt sich zum Gruß an den schwarzen Haarschopf und wendet sich zum Gehen.

»Sie mit Ihren trockenen Scherzen, mein lieber Tom.« Mit einem lauten Lachen weist Oskar Sonthofen auf die Eisbehälter. »Mit Ihren starken Radfahrerarmen schaffen Sie sicherlich zwei der Behälter auf einmal und Sunny, Sie nehmen den dritten. Sie sind es gewöhnt, die Dinger hin und her zu tragen, das sehe ich an Ihren Oberarmen.«

Tom und ich sehen uns kurz an und entscheiden, über die konfusen Bemerkungen unseres Oberstandesbeamten zu lachen. Wir schnappen uns die zugewiesenen Behälter und erklimmen mit einem letzten Blick in Richtung des Warteraumes die vielen, vielen Stufen.

»Sunny, Sie brauchen gar nicht so sehnsüchtig zum Warteraum schielen. Dort sitzt nämlich obendrein ein in Liebe gebundenes Paar, das gleich zusammen mit Hedwig das Trauzimmer besichtigen wird.«

Oh, wie schön! Gibt es etwas Magischeres als zwei Menschen, die sich gefunden haben und ihr Leben miteinander teilen mögen?

 

Noch bevor wir ganz oben – die Eine mehr schnaufend als der Andere – in der dritten Etage ankommen, hören wir das lustige Geplapper der Kinder. Doch in dem Moment, in dem wir den Kleinen Salon betreten, verstummt selbst das lauteste Gekicher. Ein Dutzend Minimenschen starrt mit kugelrunden Augen zu Oskar Sonthofen, der mit seinem blaurot karierten Anzug einen wahren Anziehungspunkt für die Blicke darstellt.

Erst nach und nach nehmen die Kinder das Eis wahr und das Gezappel nimmt wieder Fahrt auf.

»Wer von euch möchte ein leckeres Erdbeereis?« Lächelnd schaue ich den Kindern dabei zu, wie sie ihre Ärmchen in die Luft recken. Und auch Oskar Sonthofens Arm bleibt nicht unten. »Und wer möchte dazu eine kugelige Portion süßen Schokoeises?« Die meisten Kinder heben nun auch ihren zweiten Arm. »Wenn ihr das alles so gern mögt, schafft ihr dann auch noch etwas von dem cremigen Vanilleeis?«

Quietschende Stimmchen versichern mir nachdrücklich die Machbarkeit.

»Mit Himbeerstreuseln?«

Nun gibt es kein Halten mehr, die Jungs und Mädchen springen auf und drängen sich um mich herum. Oskar Sonthofen schließt die Tür, augenscheinlich um das Paar nicht allzu sehr zu irritieren, welches von Hedwig fröhlich schnatternd zum Trauzimmer geführt wird. Ich kann gerade noch einen Blick auf die schwarze Lockenpracht der zukünftigen Braut werfen, ehe mich die Kinder voll und ganz in ihren Bann ziehen. Die Braut würde wie eine Märchenprinzessin in ihrem weißen Kleid aussehen. Wie wundervoll!

Um der eishungrigen Meute Herr zu werden, ziehe ich aus meiner Gürteltasche zwei Eisformer und drücke einen davon Tom in die Hand, der für einen Moment irritiert auf das pinke Wunderwerk starrt, sich dann aber doch recht schnell seinem Schicksal beugt.

Bald schleckt ein jeder im Raum glücklich ein Eis, Tom eingeschlossen, und ich lächele zufrieden in die Runde.

Ein blondes Mädchen mit einer entzückenden Zahnlücke grinst mich an. »Die Streusel sind so lecker. Kochst du die selbst?«

»Sunny und kochen …« Tom verschluckt sich bei seinem Lachversuch nicht nur an dem Kommentar, sondern auch an einem Löffel Vanilleeis, und ich haue ihm gnädig zwischen die Schulterblätter, um ihm bei seinem Hustenanfall zu helfen. Besonders doll zu helfen.

»Oh nein! Himbeerstreusel werden nicht gekocht, Himbeerstreusel werden herbeigezaubert. Wisst ihr das gar nicht?« Mit großen Augen sehe ich die Kinder an, die heftig ihre Köpfe mit den verschmierten Mündern schütteln. »Soll ich euch erzählen, wo eure Himbeerstreusel herkommen?«

Das Schütteln wandelt sich schnell in Nicken. Leise zieht sich auch Oskar Sonthofen einen Stuhl heran und setzt sich zu den Kindern. Tom neigt nur den Kopf und kräuselt den Mund, dabei lässt er mich keine Sekunde aus den Augen. In dem angenehm warmen Raum wird es still, und das wohlige Aroma des Vanilleeises sowie die fruchtige Süße der Himbeerstreusel verwandelt ihn in eine mit bunten Blumen gesprenkelte Wiese.

»Es war einmal zu einer Zeit, als es noch echte Prinzessinnen in echten Schlössern gab, da lebte unsere Himbeerprinzessin. Sie hieß so, weil bei ihr im Schlossgarten das ganze Jahr über die allerschönsten, die allerprallsten und die allersüßesten Himbeeren wuchsen. Zusammen mit ihrem besten Freund, dem Himbeerprinzen, buk sie aus den Früchten sättigendes Himbeerbrot und presste nahrhaften Himbeersaft. Gemeinsam verteilten die beiden die Gaben an alle in ihrem Volk, die es gerade benötigten.

Doch eines Tages fand der bitterböse Drache Stoneheart den Weg in das wundervolle Himbeerreich und vernichtete aus schierer Gemeinheit alle Himbeersträucher mit seinem Feueratem. Indessen, das war gar nicht das Allerschlimmste, denn er stahl obendrein noch den Himbeerprinzen, der sich ihm tapfer in den Weg stellte und einfach an seinen tiefschwarzen Haaren von dem Drachen mit dessen spitzen Krallen emporgehoben und davongetragen wurde.«

Ich blicke in die Runde, ein wenig vorsichtig durch die Episode mit Klein-Wilhelm. Doch mich starren nur ein Dutzend Mädchen und Jungen mit offenen Mündern an, ohne die winzigsten Anzeichen einer nahenden Angstattacke. Die beiden Erzieherinnen nicken mir unisono wohlwollend zu, und auch aus Toms Gesicht ist alles Stirnrunzeln verschwunden. Sein Blick liegt warm auf mir.

»Und weiter?«, flüstert Oskar Sonthofen, seine halb aufgegessene Waffel fest in der Hand.

»Die Himbeerprinzessin rannte dem Drachen Stoneheart schnell wie der Wind hinterher, doch der Drache war schneller. Sie versuchte sich ebenso in die Lüfte zu erheben, doch es misslang ihr und sie schlug hart auf dem Boden auf. Trotz ihres blutenden Knies stand die Prinzessin auf und rannte und rannte, war dieses Mal schneller als der Wind, und schließlich gelang es ihr: Sie flog hinauf zu Stoneheart und entriss dem Drachen ihren Freund.

Indessen war das Volke angelockt von dem Lärm herbeigeeilt, und gemeinsam verjagten die guten Leute den bösen Drachen.«

»Aber die schönen Himbeeren, sind die jetzt alle weg?« Das Zahnlückenmädchen pult einen letzten Himbeerstreusel von ihrem Eis und zieht eine Schnute.

»Oh ja, die schönen Himbeeren waren alle weg. Auch die Himbeerprinzessin wusste das und stampfte vor Wut auf den Drachen so doll mit ihrem verletzten Bein auf – dort, wo ehemals die feinen Früchte wuchsen. Und das tat ihr so weh, dass ihr Tränen aus den Augen flossen. Doch das waren keine gewöhnlichen Tränen! Nein! Es waren himbeerfarbene, süße Tränen. Und überall, wo diese Tränen hintropften, wuchsen augenblicklich neue, wunderschöne, starke und prächtige Himbeerpflanzen mit den besten aller Früchte. Und zwischen diesen Himbeersträuchern wuchs noch eine andere Pflanze, himbeerrot und über und über bewachsen mit honigsüßen Himbeerstreuseln.«

 

»Auf Wiedersehen, Sunny. Auf Wiedersehen, Tom. Ihr Equipment können Sie gern nachher abholen, ich möchte jetzt meinen jungen Freunden unser wundervolles Standesamt zeigen.«

Kaum treten Tom und ich durch die Tür aus dem Kleinen Salon, schließt Oskar Sonthofen diese auch schon wieder hinter uns. Es ist still in dem Vorraum mit den silberdurchwirkten Wänden, und wir laufen ein paar Schritte auf dem dicken, weichen Teppich, auf dem ich mich immer ein wenig fühle, als könne ich schweben.

Unter der Glaskuppel bleibt Tom stehen und ich mit ihm. Bunte Lichter von den kunstvollen Scheiben über uns tanzen auf seinen Wangen und seine Augen schimmern golden.

»Danke für dieses außergewöhnliche Eis«, raunt Tom, und warm umfängt mich seine Stimme. Ich suche in seinen Augen nach dem Spott, der nun folgen müsste. Und finde ihn nicht.

»Immer wieder gern.«

Tom hebt die Hand und berührt mich sacht am Haaransatz. »Du hast hier noch einen magischen Himbeerstreusel.«

»Ich wollte schon immer einmal mein schnödes Blond gegen himbeerrosa Haare tauschen.« Langsam lege ich meine Hand auf seine und die Wärme, die er mir dabei schenkt, strömt durch meinen Körper.

»An dir ist nichts Schnödes, Sunny.«

Verführt von Toms Wärme und dem leichten Hauch seines Atems sehe ich ihm in die Augen, sehe den Glanz darin, die winzigen hellen Sprenkel.

Nicht nur an mir ist nichts Schnödes.

»Susanna! Was für eine nette Überraschung.«

In Zeitlupe drehe ich mich von Tom weg, für einen Moment wankt die Welt und ich verliere die Orientierung, verliere den Sinn dafür, wo oben und wo unten ist.

»Leo!«