Leseprobe Liebe auf verschneiten Pfaden

1

Miss Frederica Whitehouse 

Es war so grässlich kalt;
es schneite und es begann dunkler Abend zu werden.

Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern
Hans-Christian Andersen

Es war so grässlich kalt; es schneite und es begann dunkler Abend zu werden, und Freddie fragte sich, wie so oft in den vergangenen Tagen, wie sie sich nur in diese Lage hatte bringen können. Vorsichtig, um nicht die Kälte unter ihre Decke kriechen zu lassen, streckte sie die Hand aus und schob mit dem Zeigefinger den Vorhang ein Stück zur Seite. Die Nacht war klar und mondhell – ideale Reisebedingungen, wenn der Schneefall nicht gewesen wäre, der etwa eine Stunde nach ihrem Halt in Hockliffe eingesetzt und seither nicht aufgehört hatte. Dicke Flocken wie Gänsedaunen trudelten durch den dämmergrauen Himmel auf sie herab und deckten Bäume, Sträucher und Felder zu. Mühsam quälte die Postkutsche sich vorwärts. In der Ferne waren Lichter zu sehen und ließen Frederica hoffen, dass sie von einer nahen Wohnstatt kündeten. Womöglich waren dies die ersten Häuser von Dunstable, das sie schon vor einer halben Stunde hätten erreichen sollen.

»So ein scheußliches Wetter!«, knurrte der alte Gentleman in dem dicken, dunkelbraunen Pelerinenmantel, der ihr gegenüber saß. »Wenn es weiter so schneit, haben wir zu Weihnachten zwei Meter hohen Schnee.«

Auch wenn Frederica es für eine maßlose Übertreibung hielt, konnte sie sich tatsächlich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal ein so dichtes Schneetreiben gesehen hatte. Mit schlechtem Gewissen dachte sie an den Kutscher, den Wächter und die zwei Männer, die auf den Außensitzen mitreisten, und die noch entsetzlicher frieren mussten als sie.

Was um alles in der Welt hatte sie sich nur dabei gedacht? Sie hätte im Warmen sitzen und vom Frühjahr in London träumen können, von Feiern und Bällen – und von ihrer Hochzeit. Eine Menge Mädchen hätten sie beneidet. Cedric war nicht nur eine gute Partie, weil er vermögend war und einen Titel erben würde. Er war auch ein herzensguter Mensch, der sie um ihrer selbst willen liebte. Sie hätte eine Zukunft als Viscountess Fairford vor sich gehabt und später, wenn Cedric das Erbe seines Vaters antreten würde, als Countess of Hillsborough. Ihre Eltern waren so stolz gewesen. Warum nur hatte sie mit einem einzigen Satz ihre Zukunft ausgelöscht und Cedric das Herz gebrochen? Was war falsch an ihr? Sie begriff es ja selbst kaum. Sicher wusste sie allein, dass es ihr ein tiefes inneres Bedürfnis gewesen war, es auszusprechen, weil es die Wahrheit war. Je länger ihre Verlobung gewährt hatte, desto mehr hatte das Gefühl überhandgenommen, an dieser unausgesprochenen Wahrheit ersticken zu müssen.

Und so war der Satz einfach über ihre Lippen geschlüpft, noch bevor sie ihn zurückhalten konnte, bevor die Angst vor den Folgen dieser nüchternen, sachlichen Feststellung ihre Zunge hätte bremsen können. Wie eine Luftblase waren die Worte geradewegs aus ihrem Herzen aufgestiegen und hinausgeschwebt, hatten eine Weile zwischen ihnen in der Luft gehangen wie die weißen Wölkchen, die ihr Atem nun in die klirrkalte Luft zauberte. Dann jedoch waren sie mit all ihrer Wucht hinabgesunken und hatten von einem Augenblick auf den nächsten ihre glänzende Zukunft als Herrin auf Brayton Abbey zerstört wie überhaupt alles, das sie für selbstverständlich gehalten hatte:

»Ich fürchte, ich liebe dich nicht.«

Alles stand ihr noch lebhaft vor Augen: Cedrics entsetzter Ausdruck, das minutenlange Schweigen. Stumme Tränen, die in seinen blauen Augen aufwallten. sah, und wie sie dann das Messer noch einmal in die Wunde gestoßen hatte, ganz so als habe sie sich selbst jeden Rückweg abschneiden wollen.

»Es tut mir leid Cedric, aber ich kann dich einfach nicht heiraten. Es wäre nicht recht.«

Mit verletztem männlichen Stolz oder gekränkter Ehre hätte sie umgehen können. Vielmehr jedoch sprach aus Cedrics Tränen eine verzweifelte, aufrichtige Liebe, die sie nur zu gern für ihn empfunden hätte. Sein sichtbarer Schmerz ließ sie und ihre Worte kalt und grausam erscheinen. Allein bei der Erinnerung war ihr noch ganz elend. Sie hätte sich gewünscht, Cedric ihrer unverbrüchlichen, immmerwährenden Liebe versichern zu können. Doch obwohl sie ihn sehr gern hatte, empfand sie nichts Derartiges für ihn. So ernsthaft sie auch in ihrem Herzen geforscht hatte, gab es dort nichts außer diesem unbestimmten Gefühl, das tief in ihrem Innern schlief, wo sie es unter Buchwissen, guten Manieren und einem gefälligen Äußeren vergraben hatte. Niemand sollte diese Abnormität sehen. Tief verstörend war es gewesen, als sich dieses unerklärliche Empfinden zum ersten Mal gerührt hatte, und doch so mächtig und überwältigend, dass es sich nicht ignorieren ließ. Jedenfalls nicht für lange. Es war wie ein Splitter, der tief im Fleisch steckte. Man konnte ihn eine Weile vergessen, doch immer wieder spürte man den Schmerz. Insofern war Frederica fest überzeugt, dass sie richtig gehandelt hatte. Cedric war liebenswürdig im eigentlichen Wortsinne. Er verdiente es, ehrlich, aufrichtig und aus tiefstem Herzen geliebt zu werden. Und weil sie das nicht vermochte, war der Bruch der einzig mögliche Weg gewesen. Das war ihr vollkommen klar, auch wenn diese unangenehme Wahrheit, einmal ausgesprochen, ihr Leben für ungewisse Zeit ins Chaos gestürzt hatte. Nun, es war nicht zu ändern. Sie hatte diesen Weg beschritten und konnte nicht zurück. So beängstigend ihre Lage ihr zunächst erschienen war, war dieser Schritt doch in gewisser Weise befreiend. Zum ersten Mal hatte sie die Verantwortung über ihre Zukunft selbst in die Hand genommen.

Für diese Gelegenheit würde sie ihrer Tante Caroline auf ewig dankbar sein. Überhaupt war Caroline, die selbst nie geheiratet hatte, die einzige in ihrer Familie, die sie verstand. Nur sie hatte in dem Aufruhr, den die Lösung der Verlobung losgetreten hatte, die Ruhe behalten. Anstatt wie ein kopfloses Huhn herumzulaufen, sich die Haare zu raufen und Frederica mit Vorwürfen zu überhäufen, hatte Caroline Briefe geschrieben. Und einem dieser Briefe verdankte Freddie es, neben ihrer hervorragenden Erziehung und Ausbildung, dass sie eine Anstellung als Kindermädchen im Hause Lord Fotheringhams bekommen hatte. Ein großes Glück, denn Vater hatte überdeutlich gemacht, dass er nicht finanziell für ihre »Kapriolen« würde aufkommen wollen. Sie erinnerte sich an jedes seiner Worte, und die Erinnerung wühlte sie auf.

»Wenn du es vorziehst, einen guten Mann vor den Kopf zu stoßen, einen, der dir eine gesicherte Zukunft und ein glückliches Leben beschert hätte, wirst du die Folgen dessen gefälligst selbst tragen. Es reicht, wenn mir eine alte Jungfer auf der Tasche liegt. Deiner Tante muss man allerdings zugutehalten, dass sie im Gegensatz zu dir keine Wahl hatte. Es ist schließlich nicht ihre Schuld, dass Gott ihr keine gefälligere Erscheinung gegeben hat. Es will mir nicht in den Kopf! Ein hübsches Mädchen wie du es bist – und so undankbar und halsstarrig!«

Dabei hätte Frederica diese Mischung aus Wut und Scham, die sie bei der Erinnerung empfand, nicht eindeutig benennen können. Am Besten war es, all das hinter sich zu lassen und sich auf das zu konzentrieren, was vor ihr lag: ihr neues Leben als Kindermädchen.

Ein lauter, ungehöriger Fluch riss sie aus ihren Gedanken. Es gab einen Ruck und, ehe sie begriffen hatte, was geschehen war, kippte die Kutsche zur Seite. Die Reisenden schrien auf. Frederica wurde gegen die Seitenwand gepresst und spürte, wie etwas Schweres auf ihr landete. Ihr Kopf schlug gegen das Holz. Die Kutsche musste ins Rutschen gekommen, in eine Schneewehe geraten und auf die Seite gekippt sein.

Der Druck, der auf ihrer Seite gelastet hatte, verschwand. Sie blickte zum geöffneten Schlag hoch, von wo aus der Gentleman, der in Northampton zugestiegen war und den Platz neben ihr eingenommen hatte, sie betrachtete. »Sind Sie verletzt, Miss?«.

»Ich glaube nicht«, gab Freddie zurück und ließ sich von ihm hinaufziehen. Mit Mühe kämpfte sie sich durch den Einstieg und kletterte ins Freie.

Schlotternd stand sie im Schnee und sah dem Gentleman dabei zu, wie er mit Hilfe des Kutschers die übrigen Fahrgäste, eine junge Dame und den schlechtgelaunten älteren Herrn im braunen Radmantel, der ihr gegenübergesessen hatte, aus dem Innenraum befreite.

Die beiden Männer, die auf den Außensitzen gesessen hatten, waren in den Schnee geschleudert worden, rappelten sich auf und betasteten ihre Glieder. Ebenso war es dem bewaffneten Wächter ergangen, welcher die Kutsche auf dem Sitz neben dem Postkasten begleitete. Der verhängnisvolle Schnee, der die Kutsche von der Straße abgebracht hatte, war nun gleichsam zu ihrem Retter geworden, indem er ihren Sturz abgefangen hatte. So schien sich glücklicherweise niemand ernsthaft verletzt zu haben.

Man überlegte, was nun zu tun sei.

»Dort drüben muss jemand wohnen.« Freddie deutete in die Richtung, in der sie noch immer Lichter sehen konnte.

»Ich werde hinreiten«, schlug der Wächter vor.

»Nein.« Der Kutscher schüttelte vehement den Kopf. »Wir sollten weder die Damen noch die Post ungeschützt zurücklassen. Wer weiß, welche Strauchdiebe und Wegelagerer sich nachts hier herumtreiben.«

»Nun verängstigen Sie doch die Damen nicht, Mann!«, schimpfte der alte Herr im Radmantel.

»Ich werde losreiten und Hilfe holen«, bot der Gentleman an, der Freddie aus der Kutsche geholfen hatte. Er hatte ein freundliches Gesicht und machte einen vertrauenswürdigen Eindruck. Der Kutscher schien diesen Vorschlag gutzuheißen, denn er machte sich daran, eines der vier Pferde auszuschirren, um es ihm zu überlassen.

Nachdem der Gentleman sich auf das Pferd geschwungen hatte und in Richtung der flackernden Lichter davongeritten war, versuchten die Männer mit vereinten Kräften, die Kutsche wieder aufzurichten, was jedoch nicht gelingen wollte.

»Wir müssen die Pferde zur Hilfe nehmen«, schlug einer der Männer vor, der auf dem Kutschbock mitgefahren war.

Während also die Männer damit beschäftigt waren, die Pferde seitlich vorzuspannen, um die Kutsche wieder aufzurichten, drängten sich die beiden jungen Frauen in den Windschatten des Gefährts.

»Na, das ist ja mal ein herrlicher Schlamassel, nicht wahr?« Ihre junge Mitreisende trat auf der Stelle und rieb die Hände aneinander, um sich warmzuhalten. Sie mochte vielleicht zwei oder drei Jahre jünger sein als Freddie und hatte ein hübsches, herzförmiges Gesicht, das sie sympathisch erscheinen ließ. »Ich hoffe, das ist kein schlechtes Omen. Das erste Mal, dass ich weiter als bis nach Chester reise und schon passiert so etwas!«

Ihre Sprache war hörbar dialektgefärbt, ein singender Tonfall, wobei sie das »r« rollte und die Laute weit hinten im Mund formte. Freddie musste sich konzentrieren, um sie zu verstehen. Der Kleidung nach zu urteilen schien sie aus einer Familie von bescheidenem Wohlstand zu stammen. Über dem groben grauen Mantel trug sie ein rotes Wolltuch mit Karomuster und auf dem Kopf eine gesteppte, schwarze Haube, unter der haselnussbraunes Haar hervorlugte.

»Dann stammen Sie aus dem Nordwesten?«, mutmaßte Frederica.

»Aus Bangor. Mein Vater betreibt dort einen Schieferhandel. Miriam Pritchard. Also, na ja, das ist mein Name. Miss Miriam Pritchard.«

»Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen, Miss Pritchard. Auch wenn die Umstände weniger erfreulich sind. Mein Name ist Frederica Whitehouse.« Ihrer Erziehung gemäß hätte es ihr widerstrebt, sich mit der jungen Frau, die einer anderen sozialen Klasse angehörte, gemein zu machen, doch in diesem Augenblick wurde Freddie klar, dass sie die Arroganz ihres Standes ablegen musste. Sie war nicht länger die zukünftige Viscountess Fairford. Sie war Miss Whitehouse, das Kindermädchen. Und mochte sie Miss Pritchard in Abstammung und Bildung überlegen sein, ihren Umständen nach war sie es nicht. »Dann haben Sie ja bereits eine beachtliche Reise hinter sich. Steigen Sie auch in Dunstable aus?«

»Nein, Miss. Leider nicht. Ich bin unterwegs nach London. Eine Verwandte hat mir eine Stelle angeboten. Das ist für mich eine einmalige Gelegenheit, wissen Sie? Ich wollte immer schon einmal nach London, ein großes Abenteuer erleben.« Sie lachte. »Ich hätte vorsichtiger sein müssen mit meinen Wünschen, nicht wahr? Nun sehen Sie, wohin es mich geführt hat.«

»Dunstable kann nicht mehr weit sein. Gewiss kommt bald Hilfe.« Dies diente mehr dazu, sich selbst zu beruhigen, denn Miss Pritchard schien ob ihrer misslichen Lage gänzlich unbekümmert.

Tatsächlich dauerte es nicht lang, bis aus der Ferne der Klang von Glöckchen zu ihnen herüberwehte. Ein Schlitten! Erleichterung machte sich unter den Gestrandeten breit, und die Aussicht, bald ein wärmendes Feuer und etwas Nahrhaftes genießen zu können, hob die Stimmung merklich. Mit vereinten Kräften und zusätzlichen Pferdestärken wären sie gewiss bald befreit.

2

Sir Thomas de Clair

Marley war tot, damit wollen wir anfangen.
Kein Zweifel kann darüber bestehen.

Eine Weihnachtsgeschichte
Charles Dickens

Marley war tot, damit wollen wir anfangen. Kein Zweifel kann darüber bestehen. Während des nächtlichen Rittes musste Sir Thomas sich diese endgültige Wahrheit immer wieder ins Gedächtnis rufen, um sie zu begreifen. Marley war tot und damit die letzte Gelegenheit verstrichen, das Band der Freundschaft, das sie ihre gesamte Jugendzeit so fest zusammengehalten und das er vor so vielen Jahren mutwillig und schweren Herzens zerschnitten hatte, wieder zu verknüpfen. Marley war tot. Ohne je erfahren zu haben, wie oft De Clair im Geiste mit ihm Zwiesprache gehalten hatte, wie oft er dem Freund in seiner Vorstellung alles ausgebreitet hatte – alles, ausnahmslos und in schonungsloser Ehrlichkeit. Wie sehr hatte De Clair sich gewünscht, diese Last von seiner Seele zu nehmen. Doch wie hätte er Marley die Wahrheit sagen können? Er hätte ihn zu Recht einen schlechten Freund geschimpft, einen Verräter. Und nun war Marley tot, sein schwaches Herz hatte einfach aufgehört zu schlagen, und die Nachricht vom Ableben des einstigen Freundes Sir Thomas in einen regelrechten Mahlstrom widersprüchlichster Empfindungen gestoßen.

Die Lichter, die De Clair aus der Ferne hatte erkennen können, waren nun eindeutig als die erleuchteten Fenster eines kleinen Gehöfts auszumachen, dessen schneebedeckte Dächer im Mondlicht schimmerten. Hier würde er gewiss Hilfe bekommen. Der Gedanke an ein wärmendes Feuer und eine herzhafte Mahlzeit war unwiderstehlich, denn die Kälte war unerbittlich unter seine Kleider gekrochen. Auch sein Gesicht fühlte sich trotz des Schals beinahe taub an.

Wenigstens lenkte seine Mission ihn ein wenig von der ständigen Grübelei ab. Deswegen hatte er sich auch bereiterklärt, diese Aufgabe zu übernehmen. Der Schnee stob neben ihm auf, als er dem Pferd die Sporen gab, und bald hatte er die Farm erreicht.

Ein Hund fing zu kläffen an und zerrte an seiner Kette, als De Clair auf den Hof ritt, was zur Folge hatte, dass er nicht erst rufen musste, um die Bewohner des Hauses zu wecken.

Es dauerte nicht lang und der Bauer kam hinausgelaufen. Misstrauisch beäugte er den Ankömmling.

»Bitte entschuldigen Sie mein Eindringen«, rief Sir Thomas. »Wir waren mit der Postkutsche unterwegs nach Dunstable, als wir von der Straße abkamen und in eine Schneewehe fuhren.«

Rasch waren die näheren Umstände erklärt. Die Knechte wurden geweckt, zwei kräftige Kaltblüter vor den Schlitten gespannt, Schaufeln und Spaten aufgeladen, und schon ging es los. Mit vereinten Kräften, dem nötigen Werkzeug und den zwei stämmigen Arbeitspferden würde es im Handumdrehen gelingen, die Kutsche zu befreien, und sie würden schon bald weiterfahren können. Wie Sir Thomas von Mr Marsh, dem hilfsbereiten Bauern, erfahren hatte, war es bis zur Herberge in Dunstable nicht mehr weit. Er dachte dabei vor allem an den älteren Gentleman und die zwei jungen Damen, deren Konstitution der Kälte womöglich weniger entgegenzusetzen hatte.

Während der Schlitten, begleitet von Glöckchenklang durch die klare, mondbeschienene Nacht glitt, kehrten seine Gedanken wieder zu dem Brief zurück, der in der Brusttasche seiner Jacke ruhte. Im Geiste sah er die zierliche, geschwungene Handschrift, die so gut zu seiner Erinnerung an die Verfasserin dieser Zeilen passte, die sich ihm unauslöschlich ins Gedächtnis gebrannt hatte. Das schwarze Haar, das bezaubernde Lachen und die Wärme ihrer Stimme. Nur allzu bereitwillig war er der Bitte in diesem Schreiben nachgekommen, hatte seine Antwort verfasst, noch bevor er lange darüber nachdenken konnte. Und nun fragte er sich, ob ihr Unglück ein Wink des Schicksals war, eine Warnung davor, diesen Weg weiter zu beschreiten, wohl wissend, dass er sich an dessen Ende Auge in Auge mit der Vergangenheit sehen würde.

Was konnte Gutes daraus erwachsen, wenn er sich geradewegs in die Bedrängnis begab, aus der er sich vor zehn Jahren um den Preis befreit hatte, seinen treuesten Freund zu verlieren? Er hätte ablehnen sollen. Höflich, aber bestimmt. Jedoch, wie konnte man einer trauernden Witwe eine Bitte abschlagen, die sie mit solcher Eindringlichkeit äußerte?

»Gleich sind wir da. Ich kann sie schon sehen, Sir!«, rief der Bauer und riss ihn aus seinen Gedanken. »Keine Sorge, meine Shires sind kräftig. Wir haben Sie im Handumdrehen wieder auf der Straße.«

»Vielen Dank, Marsh. Wir sind Ihnen sehr verbunden. Das sind in der Tat zwei prächtige Pferde.«

Sie hatten die Unglücksstelle erreicht, wo die Gestrandeten ihnen bereits hoffnungsvoll entgegenblickten.

Die Knechte und der Kutscher machten sich sogleich mit den Schaufeln ans Werk, während die Fahrgäste ungeduldig warteten, dass sie ihre Reise endlich würden fortsetzen können.

»Immerhin hat es aufgehört zu schneien«, brummte der ältere Gentleman, der Sir Thomas in der Kutsche schräg gegenüber gesessen und ein sauertöpfisches Gesicht gemacht hatte. »Ein schreckliches Wetter ist das. Nicht einmal einen Hund würde man vor die Tür jagen.«

»Nicht mehr lang, dann sind wir in Dunstable«, versuchte De Clair den alten Griesgram optimistischer zu stimmen. »Erlauben Sie, dass ich mich vorstelle. Sir Thomas de Clair.«

»Angenehm. Fitzroy Swinton, Earl of Chester«, entgegnete der Alte mit einem kurzen Kopfnicken.

Chester. Sir Thomas zuckte unwillkürlich zusammen. Ganz in der Nähe, in Milton Green, hatten sich damals ihre Wege getrennt und Marley hatte nun dort die ewige Ruhe gefunden. Man mochte es für einen bloßen Zufall halten, doch De Clair konnte den Eindruck nicht abschütteln, dass das Schicksal ihm damit etwas sagen wollte.

»Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen, Mylord. Haben Sie es von Dunstable noch weit bis an Ihr Ziel?«

»Nicht mehr sehr. Ich bin unterwegs nach London. Sofern der vermaledeite Schnee mir nicht einen Strich durch die Rechnung macht, sollte ich morgen Mittag dort sein.«

»Hoffen wir das Beste.« Sir Thomas lächelte. »Es scheint, als blieben wir einander erhalten. Ich reise auch nach London.«

»In meinem Alter sollte man das Reisen langsam aufgeben«, stellte der Earl fest. »Rund einhundertneunzig Meilen sind es von Chester nach London und ich werde jede einzelne davon noch wochenlang in den Knochen spüren.«

De Clair fragte sich, warum ein Mann von Chesters Schlag sich den Unbequemlichkeiten einer Reise mit der Postkutsche aussetzte. Nun, es ging ihn nichts an, und er konnte Lord Chester wohl kaum fragen.

Endlich waren die Räder so weit vom Schnee befreit, dass Mr Marsh die beiden Shires vorspannen konnte. Mit nunmehr vier Pferden gelang es, die Kutsche wieder aufzurichten und auf die Straße zu bringen. Die Reise konnte weitergehen.