Kapitel 1
Obwohl Alix gerade den dritten Schokoladenriegel mit einem halben Liter Cola hinuntergespült hatte, fühlte sie sich nur minimal besser. Wenigstens war ihr Heißhunger auf Zucker damit kurzzeitig gestillt. Bedauerlicherweise dauerte es bei solchen Aussetzern nicht lange, bis sich das schlechte Gewissen einstellte. Bevor sie weiter über das ungesunde Essen, das sie gerade zu sich genommen hatte, nachdenken konnte, griff sie nach der Vitamin C-Packung, die neben der Computertastatur lag. Eilig drückte sie gleich drei Tabletten aus dem Streifen. Mit einem Rest Cola schluckte sie die Dinger hinunter. Bestimmt würde das Vitamin C ihr Gewissen nicht vollständig in Schach halten. Aber eine Frau musste sich zu helfen wissen, wenn mal wieder einer dieser Tage anstand.
Alix war gelernte Hotelfachfrau und arbeitete gefühlt rund um die Uhr. Sie war Empfangsdame, Nachtportier, Zimmerkellnerin und zu guter Letzt war sie auch für das Gepäck der wenigen Hotelgäste verantwortlich, wenn sie denn welches hatten. Lediglich den Job als Tellerwäscher und Zimmermädchen erledigte Eddie, die Aushilfskraft, der einmal täglich für ein paar Stunden kam.
An diesem Montagmorgen erwartete sie zwei Gäste, die jeden Augenblick eintreffen konnten. Die Zimmer waren beide für zehn Uhr reserviert worden. Mr „Ich-bin-schön-prominent-und-berühmt“ hatte sich heute für den Purpursalon entschieden und der aufgeplusterte Geschäftsmann bevorzugte wie so oft das Waldzimmer mit der schönen Aussicht und den mediterranen Klängen.
Die Möchtegernberühmtheit würde drei Stunden bleiben und mindestens zwei Frauen dabeihaben. Der schweigsame Anzugträger reservierte seine Räumlichkeiten stets den ganzen Tag, auch wenn er nur ein paar Stunden blieb. Offenbar spielte Geld für ihn keine Rolle.
Das Three Rooms war im weitesten Sinne ein Seitensprunghotel, welches Alix gehörte und ihre Haupteinnahmequelle darstellte. Das zweistöckige Gebäude, auf dem gleich zwei Hypotheken lagen, befand sich in Shoreditch, einem hippen und sehr angesagten Stadtteil von London, und hatte einen makellosen Ruf.
Es gab im Three Rooms – wie der Name schon sagt – lediglich drei Räumlichkeiten, alle mit Bad und kleiner Küche ausgestattet. Da Alix bestrebt war, die Zimmer mehrmals täglich anzubieten, verlangte sie für einen Tag samt Übernachtung eine unerhört hohe Summe. Seit der reiche Geschäftsmann ihr Konzept mit seinen ständigen 24-Stunden-Buchungen ruiniert hatte, hatte sie den Preis allein für ihn schon dreimal angehoben. Es half nichts. Er blieb hartnäckig und kam ständig wieder. Eine Frau ‒ es war immer die gleiche, meist mit Aktentasche und Hosenanzug ‒ brachte er nur äußerst selten mit.
Alix hatte sich schon oft gefragt, was er in dem Zimmer, das einem ruhigen Waldplatz nachempfunden war, trieb. Denn keiner übernachtete in einem Seitensprunghotel, weil die Getränke der Minibar bei einer Tagesbuchung kostenlos waren. Auch das im Preis inbegriffene Essen, das sie beim Lieferservice bestellte, aß er höchst selten. Es wunderte sie nicht wirklich. Sein Äußeres ließ darauf schließen, dass er weitaus besseres als Pizza und Pasta gewohnt war. Alix konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, warum er ins Three Rooms kam. Höchstwahrscheinlich war er nur ein arbeitswütiger Singlemann mit Waldfetisch.
In den letzten zwei Jahren ihrer Selbstständigkeit hatte sie die Kundschaft, die bei ihr ein Zimmer reservierte, studieren und ein Gefühl für sie entwickeln können. Natürlich wusste sie es nicht mit Sicherheit, aber ihrer Vermutung nach befanden sich nur sehr wenige Ehebrecher unter den männlichen Hotelgästen.
Das Three Rooms wurde von den unterschiedlichsten Leuten besucht. Auch Frauen kamen mit großem Interesse und buchten sich eine Auszeit vom tagtäglichen Stress.
Eine alleinerziehende Mutter von vier kleinen Kindern kam immer mittwochs vormittags, sobald sie ihre Blagen los war und reservierte sich den Purpursalon für zwei Stunden. Das Zimmer besaß eine runde Badewanne mit Massagedüsen. Die Benutzung der unzähligen Duftkerzen und Badeöle war natürlich im Zimmerpreis inbegriffen. Außerdem gab es superflauschige Handtücher, die nach Lavendel rochen. Nur das Beste für die Gäste.
Alix musste jedes Mal schmunzeln, wenn die ausgeruhte Mutter nach zwei Stunden gut duftend und wunderbar entspannt mit ihrem Buch unter dem Arm abzog. Warum auch nicht? Hier hatte sie mehr Privatsphäre als in jedem Wellnesstempel, in den sie gehen konnte.
Leiser Tumult am Eingang ließ Alix hochschauen. Die Modelberühmtheit war im Anmarsch und hatte diesmal sogar drei Paparazzi an den Hacken. Beim letzten Mal war es nur einer gewesen. Busenwunder eins ging an seiner rechten Seite und Busenwunder zwei schmückte seine linke. Alle drei lächelten und machten hübsche Gesichter für die Fotografen, die nicht ganz so interessiert schienen wie die Modelberühmtheit es gerne gehabt hätte.
Dass Jason Toms ein gefragtes Männermodel war, wusste Alix, weil er ihr das erzählt hatte. Brühwarm und nicht nur einmal. Wenn sie ihn reden hörte, konnte man glatt glauben, er würde demnächst für die Wahl zum „Modelmann des Jahres“ kandidieren. Alix bezweifelte das.
Sie reckte das Kinn und starrte durch die verglaste Eingangstür nach draußen. Bestimmt würde Jason sich für die Paparazzi etwas einfallen lassen. Der Frauenschwarm war erfinderisch und bot seinen treuen Fans stets eine gute Show. Letzten Monat war es ein wenig geschickter Nippelblitzer seiner ständig wechselnden Begleitung gewesen. Neugierig verfolgte Alix das Treiben vor dem Hotel. Was es wohl diesmal zu sehen geben würde?
Auch wenn Jason Toms eindeutig ein zu großes Ego besaß, mochte sie den Casanova irgendwie. Sie kaufte ihm nicht eine Sekunde lang ab, dass er auf flotte Dreier stand, wie er alle glauben lassen wollte. Er war unglaublich nett, außerdem sorgte er stets dafür, dass seine Beliebtheit auch für sie Profit abwarf. Seit er das Three Rooms in regelmäßigen Abständen besuchte, hatten sich ihre Follower in den sozialen Netzwerken verdoppelt. Kein Wunder, wenn man bedachte, welchen Wirbel er bei jedem Kommen veranstaltete. Das ein oder andere Foto ihres kleinen aber feinen Hotels war so bereits mehrere tausend Mal geliked worden. Natürlich auch aus dem Grund, weil Jason sie freundlicherweise verlinkt hatte.
Sie kam nicht dazu, ihre Neugier zu befriedigen, da Gast Nummer zwei – der reiche Anzugträger – sich räusperte und nach Aufmerksamkeit verlangte. Colton West tippte ungeduldig mit seinem Autoschlüssel auf den Tresen, als würde er schon lange warten.
Alix war verwirrt. Wo kam er so plötzlich her? Wie war er hereingekommen? Hatte er den Hintereingang benutzt?
Dass Hotelgäste über den Notausgang ein- und ausgingen, war nicht üblich und hatte bei seinem letzten Besuch eine einmalige Ausnahme bleiben sollen. Wegen eines defekten Türscharniers hatte sie Mr West angeboten, das Hotel durch den hinteren Zugang zu verlassen. Offensichtlich fühlte er sich jetzt berechtigt, immer diese Abkürzung einzuschlagen.
„Guten Morgen, Mr West“, begrüßte sie ihn höflich und griff nach dem Schlüssel, an dem ein grüner Baumanhänger aus Holz baumelte. „Es wäre schön, wenn Sie demnächst wieder durch den vorderen Eingang kommen würden.“ Sie schob ihm den Schlüssel zu. „Auch wenn der Weg vom Parkplatz über den Hintereingang kürzer ist, bleibt er in der Regel allein den Angestellten des Hotels vorbehalten.“ Dass Eddie ihr einziger Angestellter war, behielt sie für sich.
Die Miene ihres Gastes zeigte kaum eine Regung. Nur ein Mundwinkel bewegte sich minimal. Wie immer trug er einen dunklen Anzug und eine akkurat gebundene Krawatte. „Ich benutze mit Vorliebe den Haupteingang, Ms Harrison, wenn er denn passierbar ist.“
Hä?
Wollte er sich über sie lustig machen? Das Scharnier war längst repariert. Der Handwerker hatte noch am selben Tag alles erledigt. Es gab keinen Grund, sich zu beschweren.
Verunsichert blickte Alix zum Eingang. Wo blieben Jason und seine Busenwunder überhaupt? War doch etwas mit der Tür nicht in Ordnung?
Ach du grüne Neune!
Alix klappte der Mund auf. Das Männermodel stellte vor ihren Augen und denen der Paparazzi seinen Bizeps unter Beweis, indem er versuchte, zwei Frauen gleichzeitig über die Schwelle zu tragen. Alle lachten und machten verrückte Posen für die Boulevardpresse. Am Ende nahm er das Blondchen huckepack und klemmte sich die Rothaarige unter den Arm. Es sah merkwürdig und für alle Beteiligten unbequem aus. Außerdem blockierte er mit der Zirkusnummer den kompletten Zugang zum Hotel. Sogar der Bürgersteig war wegen der Paparazzi kaum passierbar. Kein Wunder, dass West den Hintereingang gewählt hatte. Sie hätte es genauso gemacht.
„Es tut mir leid“, wandte sie sich an ihren Gast. „Bitte entschuldigen Sie.“ Alix deutete mit dem Kinn nach vorn. „Das Spektakel war nicht geplant.“ Wenn sie nicht bald versuchte, Jasons Ausgelassenheit unter Kontrolle zu bekommen, würden seine Besuche auf lange Sicht verlustbringend enden. Das musste sie unbedingt verhindern. Sie hatte schließlich einen Ruf zu verlieren. Neue Follower hin oder her.
Colton West steckte den Schlüssel ein und griff nach seinem Aktenkoffer, den er abgestellt hatte. Er warf einen wenig unauffälligen Blick auf das Schreibtischchaos, das sich völlig selbstständig neben ihrer Computertastatur ausgebreitet hatte und fing an zu grinsen. Verdammt, der Mann sah aus wie ein wahrgewordener Traum, wenn er seine Grübchen spielen ließ. Der leichte Bartschatten, den er eher selten trug, ließ ihn zudem wunderbar verführerisch wirken. Zum Anbeißen.
„PMS?“, fragte er und deutete auf die Schokoriegelverpackungen und die leere Flasche Cola. Dabei grinste er noch offensichtlicher, fast schon unverschämt.
Was? Frechheit!
Hatte er das wirklich gefragt? Alix’ Schlagfertigkeit blieb ihr im Halse stecken. Leider.
Was wussten Männer schon von den monatlichen Beschwerden und Unpässlichkeiten einer Frau? Gar nichts!
Bevor Alix etwas antworten konnte, zwinkerte er ihr zu und ließ sie im Anmeldebereich zurück. Als Dauergast kannte er natürlich den Weg und fühlte sich wie zu Hause.
Arrrgh.
Leider kam sie nicht dazu, ihm einen schlagfertigen Kommentar hinterherzurufen, weil Jason gerade seine Gespielinnen hereintrug und japsend nach dem Schlüssel verlangte. Offenbar wollte der verrückte Kerl die Frauen bis ins Bett tragen. Teufel auch! Alix musste einfach lachen, weil sich bereits erste Schweißtropfen auf seiner Oberlippe gebildet hatten. Anscheinend ließ die Fitness von Mr Supermodel zu wünschen übrig. Also doch nix mit „Modelmann des Jahres“.
Heute würde sie den Frauenhelden mit der Show, die sich von Mal zu Mal steigerte, durchkommen lassen.
Ausnahmsweise. Ein letztes Mal.