Leseprobe Lebkuchenmänner küssen besser

Drei Wochen zuvor

Matty

Es gibt viele Dinge, in denen sich die Menschen einig sind. Geschenke zum Beispiel. Jeder bekommt gerne Geschenke. Oder Heiße Schokolade. Gibt es irgendjemanden auf der Welt, der nicht gerne Heiße Schokolade trinkt? Wenn es jedoch um Last Christmas von Wham! geht, sind die Menschen immerzu unterschiedlicher Meinung. Wann ist der richtige Zeitpunkt, um die Weihnachtszeit mit diesem Song einzuläuten? Im Sommer? Im Frühherbst? Nach Thanksgiving? Am 1. Dezember? Oder noch schlimmer: gar nicht?

Für Matty war die Sache ganz klar … Anfang November wurde die uralte Schallplatte jedes Jahr aus dem Archiv hervorgekramt und über die Lautsprecher der Weihnachtswerkstatt abgespielt. Natürlich durfte Last Christmas auch in Santa Claus’ Haus nicht fehlen. Dumm nur, dass der Plattenspieler im privaten Wohnbereich im vergangenen Sommer durch einen Smart-Home-Assistenten ersetzt worden war und Matty keine Ahnung hatte, wie dieser genau funktionierte.

Er lief an dem ganzjährlich prächtig geschmückten Weihnachtsbaum, der bis unter die Decke reichte, vorbei. Vor einem schwarzen Kasten mit Display, der auf dem Regal über dem riesigen Flachbildfernseher stand, blieb er stehen. Den mitgebrachten Keksteller stellte er auf dem Wohnzimmertisch ab und kramte in seiner Tasche herum, bis er fündig wurde.

»Wo ist sie bloß?«, murmelte der leicht pummelige Elf mit dem feuerroten Haar und den Sommersprossen im Gesicht. Nachdenklich legte er seine Hand unter das Kinn und studierte aufmerksam die Anleitungen auf seinem knallgrünen Smartphone, an dem ein glitzernder Zuckerstangenanhänger baumelte. »Ha! Gefunden.« Hastig überflog er den Text. Schritt für Schritt arbeitete er sich durch die Sprachbefehle, bis es ihm gelang, nach mehreren frevelhaften Coverversionen das Whamsche Original von Last Christmas über einen Streamingdienst abzuspielen. Während das Intro aus den Lautsprechern ertönte und den Raum mit seinem wundervollen Klang verzauberte, seufzte Matty glücklich auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Mögest du in Frieden ruhen, George.«

Der Elf schniefte noch einmal hörbar, sammelte sich dann und wirbelte hocherhobenen Hauptes herum. Frohen Mutes und ungeniert mitsummend schnappte er sich den randvollen Teller mit den Leckereien und marschierte auf das Zimmer von Santas Sohn zu, der für diese schreckliche Modernisierung verantwortlich war.

Da er keine Hand freihatte, pochte Matty einfach mit dem Fuß gegen die Tür. »Nick?« Keine Antwort. »Nick? Bist du schon wach?« Es blieb weiterhin still. Erneut klopfte Matty gegen das Holz, dieses Mal lauter, aber im Inneren rührte sich nichts. Nervös tapste der Elf auf der Stelle. »Nick? Ich komme jetzt rein!« Mit der einen Hand balancierte er den Keksteller, mit der anderen drückte er die Klinke herunter und stieß die Tür auf. Sein Blick fiel als Erstes auf den unangerührten Teller vom Vortag, der auf dem Schreibtisch stand. Kopfschüttelnd trat Matty ein. »Wie willst du bloß jemals so ein stattlicher Mann wie dein Vater werden, wenn du nicht ordentlich isst?« Mit angesäuerter Miene stellte er den Teller neben den anderen und wandte sich Nicks Bett zu. Schwungvoll riss er die Decke weg. »Aufstehen, du Schlafmü…« Der Rest des Satzes blieb ihm im Halse stecken, denn das Bett war leer. Entsetzt schnappte er nach Luft. »Was zum Mistelzweig … Nick?« Matty stolperte zurück in den Wohnbereich. »Nick?«, rief er nun lauter. »Sitzt du gerade auf dem Klo?«

Die Badezimmertür flog auf, doch es war nicht Santas Sohn, der aus dem Raum trat, sondern eine der Haushaltselfen. Diese hatte die Arme voll mit Putzutensilien.

»Oh, du bist es, Matty. Guten Morgen!« Die bereits in die Jahre gekommene Elfe mit der dicken Hornbrille und der Putzuniform lächelte ihn großmütterlich an und stellte den mit Putzmitteln gefüllten Eimer und den Wischer ab. »Du siehst blass aus, mein Junge. Alles in Ordnung mit dir?«

Matty machte kommentarlos kehrt und rannte zurück in Nicks Zimmer. Dort zog er sein Smartphone hervor. »Es ist neun Uhr und Schornsteinrutschen für Fortgeschrittene steht auf dem Programm. Wir waren auf jeden Fall verabredet. Wo steckt er nur?«

»Meinst du Nick?«, fragte die Haushaltselfe, die Matty gefolgt war.

»Vielleicht ist er ja schon zum Trainingsplatz gegangen. Ich sollte dort nachsehen«, stammelte Matty und kratzte sich am Kopf. Dabei verrutschte seine grüne Zipfelmütze. Oh, wie er es hasste, wenn etwas nicht nach Plan verlief. »Conny, bist du Nick heute schon begegnet?«

»Nein, von dem habe ich noch nichts gehört oder gesehen. Ich dachte, er schläft noch. Seit halb sieben bin ich hier und zum Frühstück ist er auch nicht erschienen.« Conny sah sich jetzt ebenfalls im Zimmer um. »Oh weia, die Sauerei sollte ich wohl wegmachen, bevor die Feuchtigkeit ins Parkett zieht. Ich hole mal schnell meinen Mopp.«

»Welche Sauerei?« Matty folgte Connys Blick zum Boden vor dem Fenster, wo er eine Pfütze entdeckte. Auch auf dem Fensterbrett war es nass. »Wo kommt das denn her?«

»Ich vermute mal von draußen.«

»Was du nicht sagst.« Unruhig sah sich Matty im Zimmer um … das leere Bett, der ordentliche Schreibtisch, das gut sortierte Bücherregal, der Kleiderschrank, die gemütliche Sitzecke vor dem Fernseher … Seine Augen verengten sich plötzlich und er schaute genauer hin. »Es fehlen ein paar Sachen«, stellte er erschrocken fest und begann panisch zu zittern, als er erkannte, was das bedeutete. »Heiliger Mistelzweig! Das darf nicht wahr sein!«

»Was denn?«, wollte Conny wissen.

»Der Laptop, die Spielekonsole und die Dose mit den Zuckerstangen sind nicht mehr da!« Matty rannte zum Kleiderschrank und riss die Türen auf. Die Lücken ließen darauf schließen, dass auch hier Sachen fehlten. »Siehst du? ER IST WEG!«

Conny trat neben Matty und zog die Augenbrauen in die Höhe. »Ich weiß nicht, was mir mehr Sorgen bereitet. Dass Nick nicht mehr hier ist oder dass du dich so gut in seinem Zimmer auskennst.«

»Nick. Ist. Nicht. Mehr. Da«, wiederholte Matty mit schriller Stimme und schlug sich die Hände vors Gesicht. »Nick ist NICHT MEHR DA!«

»Deine Platte hängt.« Behutsam tätschelte Conny Mattys Schulter. »Komm, mein Junge. Lass uns das Ganze vernünftig angehen und erst einmal die Fakten zusammentragen. Wir haben die Pfütze am Fenster«, sie ging darauf zu und betrachtete das Fensterbrett genauer, »und auf der Fensterbank. Außerdem sehe ich hier einen Schuhabdruck.«

»Einen Schuhabdruck?«

»Heute Nacht gab es einen Schneesturm. Ich denke, dass Nick das Fenster geöffnet hat und Schnee hineinkam. Er ist auf die Fensterbank gestiegen und hinausgeklettert. Das Fenster hat er vermutlich mit Magie von außen verschlossen.«

»Er ist hinausgeklettert?«

»Ja.«

»Nach draußen?«

Conny verdrehte die Augen. »Jetzt reiß dich mal zusammen, Matty! Was glaubst du denn, was hier passiert ist? Dass Nick sich unter dem Bett versteckt und hofft, dass wir nicht nach ihm suchen?«

»Ganz genau! Unterm Bett haben wir noch gar nicht nachgesehen!« Matty warf sich augenblicklich auf den Boden und kroch auf allen vieren auf das Bett zu.

»Du weißt schon, dass da eine Schublade …«

Kraftvoll riss der Elf sie auf und starrte auf die Ersatzbettwäsche. »Hier ist er nicht.«

Seufzend griff Conny sich an die Stirn. »Ach sag bloß.«

»Also ist er nicht unter dem Bett.«

»Überraschung«, antwortete sie mit sarkastischem Unterton.

»Bist du dir sicher, dass er nicht im Badezimmer ist?« Wie ein Häufchen Elend kauerte Matty auf dem Boden. Tränen der Verzweiflung traten ihm in die Augen.

»Er war weder in der Dusche noch in der Kloschüssel. Vielleicht hat er sich ja aus Versehen runtergespült«, schlug Conny vor.

»Du hast recht!« Hoffnungsvoll sprang Matty auf. »Lass uns in der Kanalisation nachsehen.«

»Heiliger Mistelzweig noch mal, Matty!« Conny schnappte sich den Elfen, der drauf und dran war, ins Badezimmer zu rennen, und umklammerte seine Schultern. »Nick ist aus dem Fenster geklettert. Was für Beweise brauchst du denn noch?«

Mattys Atmung wurde daraufhin immer schneller und er begann zu hyperventilieren. Kopfschüttelnd zog Conny eine Tüte aus der Tasche und drückte sie dem panischen Elfen in die Hand. Dieser presste sie sich vor den Mund und atmete hastig ein und aus. »Beruhigen. Ich muss mich unbedingt beruhigen«, keuchte er und zerrte ungeschickt sein Smartphone hervor, das ihm aber aus der Hand glitt und zu Boden fiel. Mit zittrigen Fingern hob er es auf. »Ich habe da diese App …«

Conny verfolgte Mattys unkoordinierte Tapser auf dem Display. »Du meinst die Portal-App, die Nick entwickelt hat?«

»Richtig. Hier, schau mal.« Er drehte das Gerät in Connys Richtung, damit sie besser sehen konnte. »Das Portal wurde heute Nacht benutzt. Meinst du, dass Nick …?«

»Ich denke schon. Er hat sich aus dem Staub gemacht!«

»Vielleicht wurde er ja entführt?«

»Spinn nicht rum. Komm, iss einen Keks.« Conny nahm einen vom Teller vom Vortag und stopfte ihn Matty in den Mund.

»Hey, waff foll daf?«

»Kauen und schlucken, Matty.«

Matty schaute sie gequält an und würgte das Gebäck hinunter. Dann atmete er noch ein paar Mal in die Tüte und stopfte sich diese anschließend sicherheitshalber in die Hosentasche. »In Ordnung.« Er schniefte lautstark, richtete sich kerzengerade auf und streckte die Brust heraus, sodass er wie ein steifer Zinnsoldat aussah. »Ich finde Nick schon! Aber Santa darf nichts von der Sache erfahren. Wer weiß, was er sonst mit mir anstellt.« Vor Unbehagen erschauderte er. »Ganz egal, wo Nick auch ist, ich werde ihn aufspüren. So schwer kann das doch nicht sein. Er ist schließlich der Sohn des Weihnachtsmannes.«

»Ganz genau. Durch seine aufmüpfige Art und sein lautes Wesen wird er unter acht Milliarden Menschen garantiert sofort auffallen.« Conny schnaubte ironisch. »Wohin ist er denn überhaupt gereist?«

»Kleinen Moment.« Matty tippte wild auf dem Bildschirm herum und schluckte dann schwer. »Nach Europa.«

»Europa? Was will er denn da?«

»Keine Ahnung. Aber ich werde keine Kosten und Mühen scheuen, um Nick zum Nordpol zurückbringen, und wenn es das Letzte ist, was ich tue.«

Conny lachte amüsiert. »Mach, was du nicht lassen kannst, Matty, aber übertreib es nicht, ja?«

Kapitel 1

Caroline

Na endlich. Heute war der erste Dezember. Thanksgiving war vorbei und die schönste Zeit des Jahres begann. Nun konnte Caroline wieder alles dekorieren, Plätzchen backen, ungeniert Weihnachtslieder singen und Geschenke für ihre Liebsten besorgen. Gut, in ihrem Fall waren sie nur für Richie, aber das genügte ihr vollkommen. Sie liebte Weihnachten über alles und war sich sicher, dass es in diesem Jahr ganz besonders schön werden würde. Das spürte sie, seit sie am Morgen aufgewacht war und das erste Türchen ihres Schokoladen-Adventskalenders geöffnet hatte.

Genüsslich atmete sie den frischen Tannenduft ein – na ja, ganz so frisch roch der Plastikbaum mit dem künstlichen Tannengeruch nun auch wieder nicht – und hängte, ein Weihnachtslied summend, die letzte bunte Christbaumkugel an einen Zweig. Danach entfernte sie eine Strähne verirrtes Lametta von ihrem grünen Samtkleid, trat ein paar Schritte zurück und betrachtete nachdenklich ihr Werk. Zufrieden nickte sie und rückte ihre Mütze zurecht. Für gewöhnlich trug sie bei der Arbeit ganz normale Kleidung wie eine Bluse und eine Jeans. Aber in der Vorweihnachtszeit schmiss sie sich gern in Schale und begeisterte Groß und Klein als Santas Gehilfin, die einen nahezu unendlichen Ideenschatz über die Verwendung von Lametta besaß.

Die Rentier-Werkstatt hatte etwas Magisches an sich. Sie war unglaublich alt und geschichtsträchtig, charmant und liebevoll eingerichtet und fing den Zauber der Weihnacht perfekt ein. Manchmal hatte Caroline das Gefühl, selbst ein Teil dieser magischen Welt zu sein, wenn sie die Kinder mit ihrem Auftreten zum Strahlen brachte und die Kunden ihr nach einer erfolgreichen Beratung eine wunderschöne Weihnachtszeit wünschten. Am Ende eines Arbeitstages hatte sie stets das Gefühl, etwas Gutes vollbracht zu haben. Sie konnte besten Gewissens behaupten, dass sie diesen Job über alles liebte.

Als das Telefon neben der Kasse klingelte, lief sie leichtfüßig und gut gelaunt darauf zu und setzte dabei ihr schönstes Kundenlächeln auf, obwohl die Person am anderen Ende sie überhaupt nicht sehen konnte. »Die Rentier-Werkstatt, Ihr Weihnachtsshop für Innen- und Außendekoration, hier spricht Caroline, was kann ich für Sie tun?«

»Hallo Liebes, hier spricht Mrs. Wood. Du wirst von Jahr zu Jahr besser.«

»Vielen Dank«, entgegnete Caroline, während ihr sofort das Herz schwer wurde. »Ich gebe mir große Mühe.«

Ihre Gedanken schweiften zu Mr. Wood, dem ehemaligen Besitzer der Rentier-Werkstatt, der vor wenigen Wochen verstorben war. Mit seinen fünfundsiebzig Jahren hatte er es sich nicht leisten können, in den wohlverdienten Ruhestand zu gehen, denn er war auf die Einnahmen des Dekorationsgeschäfts angewiesen gewesen, um die Pflege seiner Frau bezahlen zu können, weshalb Caroline umso motivierter gewesen war, dem Laden zum Erfolg zu verhelfen. Doch der alte Mann hatte sich übernommen und sich im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode gearbeitet.

»Das weiß ich sehr zu schätzen, Caroline«, antwortete Mrs. Wood und hustete. »Wo ist denn Hank?«

»Der macht gerade Mittagspause.«

Die alte Dame seufzte. »Leider habe ich vergessen, euch etwas Wichtiges zu sagen.« Der ernste Tonfall in ihrer Stimme ließ Caroline aufhorchen. »Ich weiß es sehr zu schätzen, dass du und Hank euch nach Georges Tod übergangsweise um den Laden gekümmert habt. Aber ab heute wird Mitch den Posten des Geschäftsführers übernehmen.«

»Mitch?« Caroline dachte krampfhaft nach, ob sie ihn kennen sollte. Sie konnte sich nicht erinnern, dass dieser Name jemals in ihre Gegenwart erwähnt worden war.

»Mein Enkelsohn.«

»Ach ja, stimmt!«, log Caroline und hoffte, dass es nicht auffiel, dass sie keine Ahnung hatte, wer dieser Mitch war.

»George hat in seinem Testament nicht festgelegt, wie es mit der Rentier-Werkstatt weitergehen soll, deswegen habe ich beschlossen«, sie hustete erneut, »Mitch den Laden zu überschreiben, um euch zu entlasten, weißt du?«

Im Hintergrund sagte jemand, dass Mrs. Wood sich jetzt schonen müsse. Vermutlich eine Pflegerin.

»Hat er das nicht vorab geregelt?« Das wunderte Caroline sehr. Mr. Wood war immer sehr genau gewesen und es war geradezu undenkbar, dass er sein geliebtes Lebenswerk nicht im Testament erwähnt hatte.

»Bedauerlicherweise nicht. Mein Mann und Mitch hatten leider nicht das beste Verhältnis zueinander, aber mir bleibt keine andere Wahl.«

»Wissen Sie denn, wann Mitch …«

In diesem Moment ging die Tür auf und ein junger Mann mit Sonnenbrille, offenstehender Lederjacke, Holzfällerhemd und zurückgegelter Tolle stolzierte in den Laden hinein, als würde dieser ihm gehören.

»Sie sind Miss Roberts?« Gebieterisch baute er sich vor Caroline auf, die ihm gerade mal bis zur Schulter reichte und den Kopf in den Nacken legen musste, um zu ihm aufsehen zu können. Er nahm die Sonnenbrille ab und rümpfte die Nase.

Vollkommen überrumpelt umklammerte Caroline den Hörer. »Vergessen Sie meine Frage. Er ist gerade eingetroffen, Mrs. Wood.«

Mitch starrte auf sie hinab und verzog ungeduldig den Mund. »Ist das meine Grandma?

Caroline nickte.

»Wunderbar. Dann können Sie ja gleich alles Notwendige klären.« Mrs. Woods Stimme versagte und ging in einen weiteren Hustenanfall über. »Ich muss jetzt Schluss machen, Liebes«, röchelte sie. »Vertragt euch.«

»Passen Sie auf sich auf, Mrs. Wood. Auf Wiederhören.«

Caroline wartete, bis die alte Dame aufgelegt hatte und nahm den Hörer vom Ohr. »Bitte entschuldigen Sie. Sie müssen Mitch sein. Mein Name ist Caroline Roberts.« Sie streckte ihrem Gegenüber die Hand entgegen. Statt diese zu schütteln, musterte er sie von oben bis unten und seine Stirn legte sich in Falten.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte Caroline verunsichert. Stank sie etwa? Oder hatte sie sich mit Kakao bekleckert und es nicht gemerkt?

»Was zur Hölle haben Sie da an?«

Caroline sah an sich herab. Sie trug dunkelbraune Stiefel mit baumelnden Glöckchen, die bei jedem Schritt fröhlich klimperten, dazu eine rot-weiß-geringelte Strumpfhose, das grüne Samtkleid, eine große Zuckerstange, die wie ein Schwert in ihrem dunkelbraunen Gürtel steckte und selbstverständlich nur Zierde war, und eine ebenfalls grüne Zipfelmütze mit einem Bommel am Ende. Um das ganze Outfit abzurunden, blitzten außerdem falsche Elfenohren am Mützenrand auf. Ihr rotbraunes Haar hatte sie zu zwei Zöpfen geflochten, die ihr bis zur Brust reichten. »Das ist meine Arbeitsuniform«, antwortete sie eingeschüchtert und schämte sich auf einmal für ihren Aufzug.

»So repräsentieren Sie das Geschäft meines Grandpas? Wollen Sie mich verarschen?«

In diesem Moment betrat eine Frau den Laden. Ihr ganzer Körper wurde von schwarzem Fell verhüllt, das einen extremen Kontrast zu den weißblond gefärbten, langen glatten Haaren darstellte. Unwillkürlich fragte sich Caroline, wie viele Schwarzbären wohl für diesen bodenlangen Mantel ihr Leben hatten lassen müssen.

»Herzlich Willkommen in der Rentier-Werk…«

»Was ist das denn?«, unterbrach die Frau Caroline und sah sie abfällig an. Dabei schürzte sie verächtlich ihre aufgespritzten Lippen.

»Überreste«, antwortete ihr Mitch.

»Überreste?«, wiederholte Caroline ungläubig und sah die beiden abwechselnd mit offenem Mund an.

»Hat mein Großvater Sie eingestellt?« Mitch fuhr sich nachdenklich mit der Hand über das Kinn, während er um Caroline herum ging und sie weiterhin von oben bis unten musterte.

Caroline fühlte sich zunehmend unwohler und umklammerte mit der einen Hand das Telefon, während sie die andere in den Stoff ihres Kleides krallte. »Ja, das stimmt. Ich arbeite schon seit drei Jahren als Teilzeitkraft hier.«

»Kein Wunder, dass der Laden nicht läuft«, murmelte Mitch. »Da ist nichts mehr zu retten«, sagte er lauter. »Sie können gehen, Caroline.«

»Ich … ich verstehe nicht ganz.«

»Sprechen Sie unsere Sprache etwa nicht?«

»Spar dir die Mühe«, mischte sich die Blondine ein. »Die ist nicht nur hässlich, sondern offenbar auch blöd. Sie sind ge-feu-ert. Kapiert?«

Caroline klappte erneut die Kinnlade herunter.

»Dieser Schuppen hier«, fuhr die Frau unbeirrt fort, »ist ein heilloses Durcheinander. Hier würde ich nicht mal einkaufen gehen, wenn ich total verzweifelt wäre.«

»Wer sind Sie eigentlich?«, wollte Caroline wissen.

»Ich bin Kitty-Kay.« Sie betonte jede Silbe ihres Namens. »Marketingexpertin und erfolgreiche Influencerin auf Instagram und TikTok. Sagen Sie nicht, Sie kennen mich nicht. Ich habe immerhin fast dreihundertzwanzigtausend Follower!« Sie streckte Caroline drei Finger entgegen und beugte sich zu ihr vor, sodass sie das widerlich-süßliche Parfüm der Frau riechen konnte. Dabei warf Kitty-Kay sich in Pose und zog eine Schnute, die an einen Entenschnabel erinnerte. Davon hatte Caroline schon mal gehört. Das war wohl das berühmt-berüchtigte Duck Face. Es sah absolut lächerlich aus.

»Äh, nein, tut mir leid«, gab Caroline zu.

»Typisch Hinterwäldlerin.« Als würde sie eine lästige Fliege verscheuchen wollen, wedelte Kitty-Kay mit der Hand vor Carolines Gesicht herum. »Ein Grund mehr für Sie, zu verschwinden.«

»Was haben Sie mit der Rentier-Werkstatt vor?«

»Wir werden aus Grandpas Vermächtnis ein echtes Winterwunderland machen. Ein Touristenmagnet, damit Snow Falls endlich etwas zu bieten hat«, erklärte Mitch hochtrabend.

»Ich glaube nicht, dass das im Sinne von Mr. Wood wäre«, meinte Caroline. »Er hat diesen Laden geliebt und wollte ihn bewusst traditionell halten. Viele Stammkunden kommen schon seit Jahren hierher, da sie genau das zu schätzen wissen. Eben diese Tradition macht doch den Charme von Snow Falls aus.«

»Reden Sie nicht von Dingen, von denen Sie keine Ahnung haben! Sie kannten meinen Grandpa überhaupt nicht«, fuhr Mitch sie unwirsch an. »Außerdem ist dieses Kaff restlos altmodisch und verwahrlost. Snow Falls hat nichts zu bieten außer einem Haufen Spinner, die der Meinung sind, an Weihnachten von Luft und Liebe leben zu können. Es geht heutzutage nur ums Geschäft und das wird Snow Falls schon bald erkennen. Wenn Sie jetzt bitte gehen würden?«

Mr. Wood hatte seinen Enkel niemals erwähnt – und das hätte er mit Sicherheit, denn er war ein herzensguter Mann gewesen, der keine gute Tat unerwähnt ließ. Mit einem Schlag wurde Caroline klar, warum er es nicht getan hatte. Mitch war ein geldgieriger Geier, dem es nicht um die Wünsche und Träume seines Großvaters ging, sondern ausschließlich um den finanziellen Erfolg. Sie nahm all ihren Mut zusammen, straffte die Schultern und fragte: »Mit welcher Begründung entlassen Sie mich?«

»Das ist leicht zu beantworten.«

»Ach ja?«

»Sie sind zu füllig und Ihre Nase passt mir auch nicht.«

»Zu … füllig

Mitch deutete auf Carolines Gesicht. »Dieses Mondgesicht geht gar nicht. Außerdem hat Ihr Grinsen etwas von diesem Typen aus Batman. Wie hieß der noch mal?«

»Der Joker«, warf Kitty-Kay, eine abwertende Grimasse ziehend, ein.

»Richtig. Der Joker. Noch dazu …«, er ging noch einmal um Caroline herum und blieb dann hinter ihr stehen. Langsam drehte sie sich mit und ließ Mitch dabei nicht aus den Augen. Er nahm die Hände auseinander und deutete eine beachtliche Entfernung an. »… ist Ihr Hintern breiter als der Tresen und diese Taille … haben Sie überhaupt eine?«

»Ganz zu schweigen von den Fettrollen. Widerlich, nicht wahr, Mitchy-Schatz?«

»Ganz genau. Ein Weihnachtself sieht ganz bestimmt nicht aus wie Sie. Ein Elf ist elegant, schlank und wunderschön. So wie meine Hübsche hier.« Er deutete auf Kitty-Kay, die sich an ihn schmiegte. »Sie hingegen sind einfach nur hässlich und fett.«

»Hässlich und fett?«, wiederholte Caroline und ihre Stimme war so leise, dass Mitch und seine Freundin sie kaum noch verstehen konnten.

»Die Haare sind auch grässlich gefärbt. Das trägt doch heutzutage kein Mensch mehr so!«

»Das ist meine Naturhaarfarbe«, erklärte Caroline mit tonloser Stimme.

»Außerdem«, fuhr Mitch fort, trat neben seine Begleiterin und schlang den Arm um deren Wespentaille, »fehlt es Ihnen an Charme und Sexappeal. Selbst der Esel da drüben ist attraktiver als Sie.« Er deutete auf die Holzwaren, die Mr. Wood in liebevoller Handarbeit angefertigt hatte.

»Das ist ein Elch.«

»Nun tun Sie mal nicht so neunmalklug!«, fuhr Kitty-Kay Caroline an. »Immer diese frechen Leute. Respektlos ist das!«

»Bitte entschuldigen Sie.« Verzweifelt fasste Caroline sich an den Kopf und nahm die Mütze ab. »Bitte hören Sie mir kurz zu und geben Sie mir eine Chance, mich zu beweisen. Ich komme wirklich gut mit den Kunden klar und wenn es darum geht, Mr. Woods Handwerk fortzuführen, kann ich das bestimmt auch erlernen. Wenn Sie es wollen, werde ich auch abnehmen und mir die Haare färben. Ich tue alles, was Sie von mir verlangen, aber bitte lassen Sie mich weiterhin hier arbeiten.« Mit jedem Wort zerbröckelte Carolines ohnehin schon kleines Selbstwertgefühl mehr und mehr, bis kaum noch etwas davon übrig war. Ihr war bewusst, dass sie sich mit diesem Angebot praktisch selbst aufgab, aber sie hatte keine andere Wahl.

»Die blubbert mir zu viel rum. Schaff sie mir aus den Augen.« Kitty-Kay öffnete ihren Mantel und fächerte sich Luft zu. Dabei kam ein hautenger, beigefarbener Rollkragenpullover zum Vorschein, der ihre riesigen Silikonbrüste und ihren flachen, fettfreien Bauch betonte. Sie war makellos. Zumindest von außen, denn ihr Innerstes war augenscheinlich vollständig verdorben. Jetzt wurde Caroline auch klar, warum sie nicht Mitchs Idealvorstellungen entsprach.

Mitch lachte hämisch auf. »Glauben Sie mir, Caroline. Da ist nichts mehr zu retten. Außerdem sind Sie viel zu alt für dieses alberne Kostüm.«

»Ich muss es ja nicht tragen!« Tränen stiegen in ihr auf und Caroline versuchte mit aller Kraft, sie wegzublinzeln. Unter gar keinen Umständen durfte sie diesen Job verlieren. Sie war auf das Geld angewiesen, um ihr Studium finanzieren zu können.

»Das ändert nichts an Ihrem Alter.«

»Ich bin doch erst dreiundzwanzig Jahre alt. Das kann doch nicht das Problem sein.«

»Tse.« Kitty-Kay warf ihre wasserstoffblonden Haare über die Schulter. »Der Zug ist abgefahren.« Sie schnalzte mit der Zunge. »Warum sind Sie immer noch hier? Husch, husch, raus mit Ihnen, Sie dummes Ding.« Ihre Worte unterstrich sie mit wild umherwedelnden Händen, als würde sie eine Schar Hühner vertreiben wollen.

Caroline wusste nicht, was sie noch sagen sollte. Jegliche vernünftige Argumentation stieß hier offenbar sofort gegen eine Mauer. Es war sinnlos, mit den beiden zu diskutieren. Kraftlos ließ sie die Schultern hängen und holte ihre Tasche hinter dem Tresen hervor. Sie klemmte sie unter den Arm und wollte sich gerade auf den Weg zum Ausgang machen, als Mitch einen Schritt auf sie zutrat. »Oh, Caroline? Warten Sie kurz.«

Sofort hob sie den Kopf und sah ihn erwartungsvoll an. Hatte er es sich vielleicht doch anders überlegt? »Ja, Mitch?«

»Lassen Sie das Telefon hier.«