Leseprobe Küsse, Eis und Mr Right

1

Ana

Ich bin spät dran. Ich bin sogar ultraspät dran. Mal wieder. Anders als sonst ist es heute nicht meine Schuld. Die Zufahrtsstraße zum Hotel war verstopft, weil einer der unzähligen Surfer sein Board meterweit über die Fahrzeugseite hat hinausragen lassen. Unglücklich gelaufen. Jetzt gibt es einen Briefkasten weniger auf der Insel.

Zum Glück ist nichts Schlimmes passiert. Keiner wurde verletzt, nur mein Zeitplan durcheinandergewirbelt. Leider passiert das viel zu oft. Ich lasse mich zu gerne von allem Möglichen ablenken. Aber das Leben ist kurz und ich habe nicht vor, irgendetwas zu verpassen. Pünktlich zu sein gehört nicht zu den Dingen, auf die ich Wert lege.

„Hey Ana, du bist spät dran.“

Das weiß ich selbst, Danke.

„Ja. Wie immer.“ Ich schenke James-Dean Makaio, dem Bagagist und Portier im Lailani Beach Hotel und Mädchen für alles, ein Lächeln und lege einen Zahn zu. Das Eis muss schnellstmöglich in die Kühlung, sonst fällt das Dessert im Hotelrestaurant ins Wasser.

Meine Familie beliefert ganz O’ahu mit frischem Ananaseis. Sämtliche Lieferungen für die Hotels in Honolulu übernehme ich persönlich, um den unmittelbaren Kontakt mit den Kunden zu fördern. Die Keoki-Plantage gehört zu den angesehensten Unternehmen auf ganz Hawaii. Mein Vater und mein Bruder sind neben mir zuständig für die Plantage, die sich ausschließlich mit dem Anbau von Ananas beschäftigt. Unser selbst gemachtes Ananaseis macht mittlerweile ein Drittel unseres Umsatzes aus. Darauf sind wir drei mächtig stolz. Es schmeckt aber auch außerordentlich frisch, süß und unvergesslich exotisch, genau wie unsere Ananas. Ein Urlaubserlebnis für jeden Touristen, der nach Honolulu kommt.

Unauffällig sehe ich zur Rezeption und überprüfe, ob mich jemand bemerkt. Für gewöhnlich nehme ich den Lieferanteneingang, aber ich bin spät dran und habe keine Zeit, den Hotelkomplex zu umrunden und das Gebäude von hinten zu betreten. Wenn ich durch die Abkürzung ein paar Minuten einspare, nehme ich die möglichen Unliebsamkeiten, bei etwas Verbotenem erwischt zu werden, gerne in Kauf. Beflügelt von meiner Idee senke ich den Blick und ziehe mir das gelbe Cap mit unserem Firmenlogo tiefer in die Stirn. Bloß nicht angesprochen und in letzter Sekunde aufgehalten werden. Bitte nicht. Ich habe es wirklich eilig.

James-Dean ruft mir etwas zu, das ich nicht verstehe, dann passiert es … mein Körper prallt gegen eine Wand.

Was?

Grundgütiger!

Fassungslos starre ich auf meine Hände, die plötzlich feucht und klebrig sind, und anschließend nach oben. Weit nach oben. Ein grimmig dreinblickender Mann mit akkuratem Kurzhaarschnitt steht vor mir. Ein adretter Anzugträger, um die dreißig, mit einer stahlharten Brust, die nun mit angetautem Ananaseis besprenkelt ist.

Das ist nicht gut. Sein Jackett ist aufgeknöpft und das strahlend weiße Businesshemd mit unzähligen Spritzern überzogen, als hätte ein Hund sein Bein etwas zu hoch gehoben und ihn angepinkelt. Zumindest ein bisschen. Unser Ananaseis hat ein helles, aber sehr strahlendes Gelb.

Der Gedanke lässt mich sofort grinsen. Ich kann nichts dafür, ich habe eine blühende Fantasie. Immer schon. Gutaussehende Kerle aus der Kategorie Geschäftsmann auf Urlaub werden bestimmt höchst selten von Hunden angepinkelt. Eine solche Vorstellung ist zu komisch. Warum trägt dieser Mann bei fünfunddreißig Grad im Schatten und einer Luftfeuchtigkeit von schnuckeligen achtzig Prozent einen Anzug? Das muss die reinste Folter sein. Gut möglich, dass er gerade angekommen ist. Inselneulinge sind oftmals an unpassender Kleidung auszumachen.

„Entschuldigung.“ Obwohl ich mich bemühe, kann ich meine Belustigung nicht zurückhalten. Umgehend reiße ich mich zusammen und versuche meine Gesichtsmuskeln zu kontrollieren. Dieses freche Schmunzeln ist mehr als unangebracht.

„Was ist das für ein Zeug?“ Der Mann sieht an sich herunter, runzelt die Stirn und zieht die Augenbrauen zusammen. Offensichtlich setzt ihm nicht nur die schwüle und extrem feuchte Luft zu. Er ist sauer. Stinksauer. Höchste Zeit, Schadensbegrenzung zu betreiben.

„Äh … Eis.“ Erneut sehe ich auf meine Finger und den Behälter, der jetzt einen Riss hat. Der Deckel ist abgesprungen und das kostbare Eis ist über den Rand gelaufen. Mist! Es ist schon viel flüssiger als ich dachte. „Es tut mir unendlich leid. Das hätte nicht passieren dürfen.“

„Sehe ich auch so.“

Mein Gegenüber unterlässt es, sich abzutupfen oder das teuer anmutende Jackett nach Spritzern abzusuchen. Er steht bewegungslos vor mir und behält mich genau im Auge, als vermute er Absicht hinter dem Malheur, das meinen Zeitplan in den Ruin treibt.

„Entschuldigung“, wiederhole ich und trete einen Schritt zurück, um dem Anzugträger Raum zu geben. Er wirkt mürrisch und angespannt, als warte er nur darauf mich anzugreifen. Es ist fast schon ein wenig unheimlich. Deswegen drücke ich den Eisbehälter verzweifelt gegen meine Brust, damit nicht noch mehr auf den Boden tropft.

Was habe ich nur für eine Schweinerei angerichtet? Der Hotelchef wird wütend sein, wenn er davon erfährt. Ich seufze und denke bereits an das Gespräch, das unweigerlich auf mich zukommen wird. Warum habe ich nicht den Hintereingang genommen? Dummer Fehler. Unbewusst weiche ich weiter zurück.

„Stopp! Stehen bleiben!“

Mr. Schlechtgelaunt hat die Hand nach mir ausgestreckt und meinen Unterarm gegriffen. Wenn ich nicht so gute Reflexe hätte, wäre der Eisbehälter sicher zu Boden gefallen.

„Aua!“ Ungelenk versuche ich mich loszumachen, aber der Druck wird nur fester. Mein Arm sitzt in seiner Faust, eingeklemmt wie in einem Schraubstock.

„Meine Brieftasche! Bitte geben Sie sie zurück. Und die Uhr, die Sie genommen haben, ebenfalls.“

Wenn Blicke töten könnten, würde ich jetzt keinen Atemzug mehr tun. Entsetzen überkommt mich. Mir fehlen die Worte. Und die Nerven auch.

„Wie kommen Sie darauf, dass ich Ihre Brieftasche habe? Oder Ihre Uhr?“, frage ich, nachdem ich meine Sprache wiedergefunden habe. So etwas ist mir noch nie passiert. Unglaublich! Denkt dieses hochmütige Individuum etwa, ich wäre eine Taschendiebin? Wie kommt er darauf? Nur weil wir zusammengeprallt sind?

„Ich stehle nicht! So etwas habe ich nicht nötig.“ Mit all meiner Empörung ziehe ich an meinem Arm. Ergebnislos. Der Mistkerl wird mich nie und nimmer loslassen. Das ist so sicher wie unser Eis gelb ist.

„Ana Ananas, was ist los? Brauchst du Hilfe?“ Unmittelbar taucht James-Dean neben mir auf und blickt von meinem Angreifer zu mir und zurück.

James-Dean ist gerade sechzehn Jahre alt und im ersten Ausbildungsjahr. Außerdem ist er in mich verschossen. Zumindest vermute ich das, weil er mich immer Ana Ananas nennt und einen roten Halsansatz bekommt, sobald er mich erblickt.

„James-Dean, könntest du nach dem Manager schicken? Wir haben offensichtlich ein größeres Problem.“ Mein Ton ist eisig und steht dem Blick des selbstgefälligen Anzugsträgers in nichts nach. Mal sehen, wer diesen Streit gewinnt. Die Herausforderung nehme ich gerne an. Schließlich habe ich weder seine Brieftasche noch seine Uhr genommen.

„James-Dean?“, echot mein Gegenüber und ich sehe einen Mundwinkel zucken. Der sechzehnjährige sieht kein bisschen aus wie der echte James Dean. Er ist gebürtiger Hawaiianer, klein, dunkles Haar und stämmig gebaut, mit vielen Muskeln, die dabei helfen, die unendlich vielen Koffer der Gäste zu stemmen.

„Ja, ich bin James-Dean Makaio und denke, Sie sollten Ana schnellstens loslassen“, erwidert mein selbsternannter Beschützer mit fester Stimme. Der Gute weicht mir nicht von der Seite, er rückt sogar näher.

Ich bin gerührt von so viel Aufopferung. Auch wenn ich glaube, dass ich nicht in Gefahr schwebe. Der Typ im Maßanzug will sich lediglich aufspielen und seinen Reichtum raushängen lassen. Höchstwahrscheinlich hat er den Geldbeutel in seinem Zimmer liegenlassen und genießt es im Stillen, diese Show abzuziehen.

„Nicht bevor ich meine Brieftasche zurückhabe“, sagt er beharrlich. Sein Blick hat etwas Bohrendes, trotzdem fühlt er sich nicht unangenehm an.

Wir liefern uns ein Duell, das mich erschaudern lässt. In seinen Augen stehen nicht nur Wut und Unglaube, ich meine auch Begehren erkennen zu können.

„Hol den Manager“, weise ich James-Dean an und mache eine Bewegung mit dem Kinn. „Mit so einem Unfug kann ich nicht den ganzen Tag verschwenden.“

Mein treuer Verehrer geht, aber nicht ohne einen anklagenden und sehr argwöhnischen Blick auf den Hotelgast zu werfen.

Der Griff um meinen Arm verstärkt sich wieder und sperrt mir das Blut ab. Vermutlich bekomme ich einen blauen Fleck oder einen geschwollenen Unterarm. Meine Finger fühlen sich bereits taub an. Das kostbare Eis tropft auf den Boden und ist nicht mehr zu retten. Verdammter Mist! Mein Bruder Bane wird nicht begeistert sein. Das ist nicht die erste Katastrophe, die mir diese Woche passiert.

Ich seufze und versuche die Unterarmmuskeln zu entspannen, um etwas Blut in die Finger zu bekommen. An manchen Tagen läuft einfach alles schief. Heute scheint so einer zu sein.

„Müssen Sie so fest zudrücken?“ Mit schmerzverzerrtem Gesicht trete ich auf der Stelle und überlege, den kaputten Behälter abzustellen, während wir warten. Das Eis tropft unaufhörlich auf meine Flip-Flops und läuft zwischen meine Zehen. Sehr unschön und verdammt klebrig. Hoffentlich rutsche ich nachher nicht aus.

Ich höre eine gemurmelte Rechtfertigung und im nächsten Augenblick ist die Hand von meinem Arm verschwunden. Der Druck ist weg, das Blut beginnt zu fließen. Eine Wohltat. Erleichtert reibe ich mir über die schmerzende Stelle.

„Entschuldigung.“ Ärger und Anspannung fallen von ihm ab. „Ihnen wehzutun lag nicht in meiner Absicht. Aber Ihr Körper scheint nur aus Haut und Knochen zu bestehen. Sie sollten mehr trainieren.“ Ein bisschen zu offensichtlich lässt er seinen Blick über besagten Körper schweifen und mir wird heiß. Heißer, als mir bei dem Wetter sowieso schon ist.

„Und mehr essen. Sie sind dünn.“

Unverschämtheit!

„Dünn und schwach? Das bin ich beides nicht“, protestiere ich und ärgere mich, weil meine Stimme piepsig klingt. Blöde Aufregung.

Statt darauf zu antworten, grinst der impertinente Kerl überheblich. Frechheit! Wohin ist plötzlich seine Wut verschwunden? Sein Frust und der Hass auf mich als Taschendiebin? Es scheint, als hätten wir die Rollen getauscht. Jetzt bin ich wütend. Argh!

„Gut möglich, dass Sie meine Brieftasche und den fünfzigtausend Dollar teuren Chronographen doch nicht geklaut haben.“ Er zuckt mit den Schultern und wirkt auf einmal gelassen. „Es gibt nicht viele Möglichkeiten, wo Sie ihr Diebesgut verstecken könnten.“ Erneut sieht er an mir hoch und runter.

Wie bitte?

Wo kommt der Sinneswandel her? Will er mich zum Narren halten?

„Das denken Sie?“, frage ich wie vom Donner gerührt. Meine Stimme hat ihren piepsigen Klang verloren. Ich höre mich aufgebracht und leider überfordert an. Ein Mann wie dieser ist mir noch nie untergekommen.

„Es wäre denkbar, dass ich ihr Chrono…dingsbums in meinen BH geklemmt habe. Mit meinen besonderen Fähigkeiten hätte ich ihn unbemerkt dort verstecken können, während ich Sie mit Eis bekleckert habe. Schon mal drüber nachgedacht?“

Kaum ausgesprochen, erkenne ich meinen Fehler. Warum bin ich so vorlaut?

Der nächste Blick trifft fast spürbar meinen unscheinbaren Vorbau. Verflixt! Sofort hebe ich den Eisbehälter höher. Gut, dass ich ihn nicht abgestellt habe.

Der Anzugträger nickt und wirkt gelassener als gut für ihn ist. Pech für ihn. Er kann mich nicht täuschen, ich habe seinen Mundwinkel zucken gesehen. Dieser Provokateur hat seinen Spaß. Auf meine Kosten! Und ich bin selbst schuld daran.

„Wir könnten nachsehen gehen.“ Ohne den Kopf zu drehen oder mich aus den Augen zu lassen, deutet er nach rechts zu den Toiletten in der Lobby.

Ich würde gerne etwas sagen, aber mir fehlen die Worte. Ist das eine Anmache? Empfange ich Signale? Mein Radar muss gestört sein. Wie kann dieser Mann erst sauer, dann interessiert, dann belustigt und nun anmaßend sein?

„Was ist hier los?“, ertönt eine mir bekannte Stimme von hinten und erspart mir eine Antwort auf diese Ungeheuerlichkeit. „Aloha. Mr. Huxley, sind Sie verletzt? Ist etwas passiert?“

Kaum bemerkt Mr. Okalani das ehemals weiße Businesshemd von Mr. Huxley, schlägt der Manager sich die Hand vor den Mund und sieht mich strafend an. „Ach du liebes Gottchen! Ana Keoki, was hast du angestellt? Der arme Mr. Huxley.“

Besser nicht antworten. Höchstwahrscheinlich mache ich alles nur schlimmer, wenn ich versuche, mich zu rechtfertigen.

„Ist schon gut“, höre ich die überaus gütige Stimme von Mr. Huxley.

Ach … auf einmal!

Ich kann ein unauffälliges Kopfschütteln nicht zurückhalten. Was für ein Schleimer. Am liebsten würde ich ihm den Rest von dem Ananaseis über das Hemd kippen. Ein Gentleman verhält sich wahrlich anders.

„Ich wollte sowieso auf mein Zimmer gehen und den Anzug gegen etwas Bequemeres tauschen.“ Natürlich lächelt der Mann von Welt den übereifrigen Hotelmanager freundlich an.

„Machen Sie das, machen Sie das“, kommt es von diesem. „Sie sind schließlich im Urlaub.“ Heftiges Kopfnicken begleitet die Worte. „Die Reinigung Ihrer Sachen übernimmt selbstverständlich die hauseigene Wäscherei. Außerdem möchte ich mich für Ana entschuldigen. Normalerweise bekommen wir Lieferungen für die Küche durch den Hintereingang.“ Ein strafender Blick trifft mich, der mich den Kopf senken lässt. Mir bleibt heute nichts erspart.

„Gibt es eine Polizeidienststelle in der Nähe oder kann ich mich irgendwo telefonisch erkundigen? Ich glaube, mir ist auf dem Weg vom Flughafen zum Hotel die Brieftasche geklaut worden“, wechselt Mr. Huxley zum Glück das Thema.

„Und die Uhr.“ Mein verdammtes Plappermaul hat die Führung übernommen. „Den fünfzigtausend Dollar teuren Chrono…chrono…dingsbumsgraphen dürfen Sie nicht vergessen.“ Um ein Zeichen zu setzen, reibe ich über meinen schmerzenden Unterarm, was mit dem Eisbehälter, den ich immer noch vor meine Brust drücke, gar nicht so einfach ist. „Der ist schließlich auch verschwunden.“

***

„Daran war nur der Briefkasten schuld. Mit dem hat alles angefangen“, versuche ich meinem Bruder am späten Nachmittag den aufgebrachten Anruf von Mr. Okalani, dem Manger aus dem Lailani Beach Hotel, zu erklären. Ich sitze in seinem Büro vor dem Schreibtisch und verschränke die Arme, damit Bane mein besudeltes T-Shirt nicht auffällt. „Wenn dieses sperrige Ding nicht direkt an der Zufahrt zum Hotel gestanden hätte und wäre das Surfboard dieses Spinners nicht daran hängen geblieben, hätte es keinen Stau gegeben und ich wäre auch nicht zu spät gekommen. Dann wäre ich wie gewohnt zum Hintereingang hineinmarschiert und nicht mit diesem seltsamen Mr. Huxley zusammengeprallt, der unglaublich schlechte Manieren hat.“ Kaum ausgesprochen schnappe ich nach Luft, weil ich mich beim Sprechen fast überschlagen habe. Mein Vater behauptet immer, ich rede wie ein Schnellfeuergewehr. Na und? Ich habe eben viel zu sagen und der Tag hat nur vierundzwanzig Stunden. Da muss jede freie Minute ausgenutzt werden.

„Ana.“ Bane sieht mich wenig mitfühlend an. „Warum passiert immer dir so etwas?“, fragt er streng, als wäre er mein Vater und nicht mein Bruder.

„Das weiß ich nicht. In den meisten Fällen bin ich unschuldig“, antworte ich und setze eine demütige Miene auf. Mein Bruder bringt sich nie in verzwickte Situationen, wie ich es tagtäglich schaffe. Er ist der Gelassenere von uns beiden ‒ streng durchorganisiert und immer auf dem Laufenden. An Tagen wie heute möchte ich mir davon am liebsten eine Scheibe abschneiden.

„Natürlich bist du unschuldig.“ Den Sarkasmus hörte ich deutlich heraus. „Der Briefkasten steht bestimmt erst seit heute Morgen am Straßenrand.“ Bane rückt die Brille auf seiner Nase zurecht und lehnt sich auf dem Bürostuhl nach hinten. Er kann auf der Plantage mit den Farmarbeitern Seite an Seite schuften, aber er kann genauso gut den Big Boss markieren. Stets fleißig, ist Bane in den letzten Jahren zweigleisig gefahren und hat neben seinen täglichen Pflichten vor Ort ein Fernstudium im Bereich Business absolviert. Dass er nächstes Jahr seinen Master macht, gibt ihm zusätzlich Sicherheit. Irgendwann, wenn unser Vater nicht mehr tatkräftig mit anpacken kann, wird er die Leitung der Keoki-Plantage übernehmen. Ich zweifele nicht daran, dass mein Bruder der Richtige für den Job ist. Kein Mensch liebt es so sehr, sich in die Arbeit zu stürzen wie mein Bruder. Ob am Schreibtisch oder draußen bei den Ananaspflanzen ‒ Bane Keoki steht gefühlt ständig bereit.

Gerade glaubt er, mich in die Enge getrieben zu haben, doch da täuscht er sich. Ich bin nicht von gestern und nicht zum ersten Mal in einer unangenehmen Lage wie dieser.

„Natürlich steht der Briefkasten nicht seit heute Morgen da“, lächele ich siegesgewiss. „Aber seit letzter Woche. Außerdem ist dieser Briefkasten einer von vielen, die neu in Honolulu sind. Durch den steigenden Zuwachs an Touristen im letzten Jahr hat die Regierung beschlossen, in den Bereichen vor den Hotels zusätzliche Briefkästen aufzustellen. Wegen der ganzen Ansichtskarten, die geschrieben werden.“

Natürlich ist das alles erstunken und erlogen. Mein Bruder ist unfassbar leichtgläubig. Wenn ich Informationen selbstbewusst rüberbringe, stellt er sie grundsätzlich nicht infrage. „Außerdem habe ich den Briefkasten gar nicht umgefahren, sondern der Surfer. Ich stand nur in dem Rückstau, der durch den Zusammenprall verursacht wurde.“

Ich bin völlig unschuldig.

Bane seufzt, wie ich es von ihm gewohnt bin. Meine Geschichte fängt an, ihn zu langweilen. Gleich verliert er das Interesse und lässt mich vom Haken.

„Fahr einfach beim nächsten Mal zeitiger los“, weist er mich an, als wäre das die Lösung. Was für ein Witzbold. Da wäre ich nie selbst draufgekommen.

„Mach ich.“

Wenn das so einfach wäre, würde ich es tun. Leider gehört Bane mit seinen zweiunddreißig Jahren zu den Unwissenden seines Geschlechts. Frauen haben ein anderes Zeitmanagement als Männer. Mir ist das völlig klar, nur ihm nicht.

Irgendwann wird mein großer Bruder das sicher auch kapieren. Sollte er es jemals schaffen, eine Frau länger als ein paar Monate zu halten, stünden seine Chancen gar nicht schlecht. Musste Bane sich in der Vergangenheit zwischen der Arbeit und seiner Freundin entscheiden, hat der Dummkopf immer die Arbeit gewählt. Deshalb ist es kaum verwunderlich, dass es kein weibliches Wesen bei ihm ausgehalten hat. Jede Frau will an erster Stelle stehen. Nein, sie muss an erster Stelle stehen.

Bane könnte so viel von mir lernen, würde er mir nur einmal in seinem Leben zuhören, wenn ich über Frauen im Allgemeinen rede. Aber Ratschläge nimmt dieser Besserwisser höchstens von unserem Vater an. Niemals von mir. Ich bin ja nur die sieben Jahre jüngere Schwester, die ohne Mutter groß geworden ist und von nichts eine Ahnung hat. Sofern es nach meinem Vater und Bane geht, werde ich immer ein kleines, unschuldiges Mädchen bleiben. Punkt.

„Zieh dich einfach um und setz dich an deinen Schreibtisch. Da warten ein paar Rechnungen, die überwiesen werden wollen. Ich habe sie dir eben hingelegt.“

Abgelenkt sehe ich auf meine verschränkten Arme. Vielleicht sind sie wirklich dünn, wie Mr. Huxley mir weismachen wollte. Zumindest sind sie zu dünn, um die Eisflecken auf dem T-Shirt zu verbergen.

Überhastet entknote ich mein Schutzschild aus Armen und stehe auf, um zu erledigen, was mein Bruder mir aufgetragen hat. Die Rechnungen und ein Teil der Buchführung gehören zu meinen Pflichten auf der Plantage. Lange habe ich darum gekämpft, an dieser Arbeit beteiligt zu werden. Nur weil ich nicht Business studiere wie Bane, bin ich nicht zu dumm dafür. Den Schreibkram mache ich gerne. Außerdem freut es mich, Verantwortung tragen zu dürfen. Das scheint mein Vater nach Jahren der Gegenwehr endlich verstanden zu haben.

„Ich werde mich gleich dransetzen. Außerdem plane ich später mit frischem Eis zum Lailani Beach Hotel zu fahren und den Schaden wiedergutmachen, den ich angerichtet habe.“

Bane nickt und wirkt zufrieden mit meiner Antwort. „Nimm ein paar Flaschen von dem extra süßen Ananassaft für den Hotelmanager mit. Es kann nicht schaden, dir seine Gunst zu sichern. Das Lailani Beach Hotel gehört zu unseren besten Kunden.“

„Mach ich.“ Mir schnell an die Stirn tippend, flüchte ich, bevor meinem Bruder noch etwas einfällt, was er mir unbedingt mit auf den Weg geben muss.

Auf dem Gang zu meinem Büro, welches gleich neben Banes liegt, laufe ich meinem Vater, Philipo Keoki, über den Weg. Natürlich entgeht ihm mein derangiertes Erscheinungsbild nicht. Sofort fühle ich mich wie ein kleines Kind, das sich beim Spielen schmutzig gemacht hat. Mein Vater schafft es jederzeit, mir mit einem Blick ein schlechtes Gewissen zu verpassen. Möglicherweise liegt es daran, dass er von jeher die Vater- und Mutterrolle gleichzeitig spielen musste. Meine Mutter ist bei meiner Geburt an einer Fruchtwasserembolie gestorben. Ich habe nur durch großes Glück und ein sehr fähiges Ärzteteam überlebt. Anders als Bane durfte ich meine Mutter nie kennenlernen. Alle Leute um mich herum versichern mir stets, dass ich ihr unglaublich ähnlich bin. Meine braunen, mandelförmigen Augen und das freche Mundwerk habe ich von ihr geerbt. Auch meine Gesichtszüge scheinen den ihren ähnlich zu sein. Das braucht mir keiner zu sagen. Ich sehe es in der Miene meines Vaters, wenn er mich in einem stillen Moment auf diese seltsam warme und schmerzhafte Art ansieht. Oftmals treten ihm dann Tränen in die Augen.

Heute presst er aber nicht die Lider zusammen und versucht seine Gefühle vor mir zu verstecken. Heute sieht er mich an wie damals, als ich mich vor einem wichtigen Geschäftspartner übergeben habe. Ich war sechs Jahre alt und hatte es mit der neuen extrasüßen Eissorte, die zum Reinsetzen lecker war, übertrieben.

„Ana …“

„Daddy“, begrüße ich ihn, bevor er mehr sagen kann. Ich bleibe nicht stehen, sondern gebe ihm im Vorbeigehen ein schnelles Küsschen auf die Wange. „Keine Zeit. Bane schickt mich … Ich muss Überweisungen machen. Es ist eilig.“

Mein Vater schüttelt den Kopf, kann ein Grinsen aber nicht gänzlich verbergen. „Bei dir ist es immer eilig“, beschwert er sich.

Wo er recht hat, hat er recht. Lächelnd hebe ich die Hand und winke. „Lass uns beim Abendessen reden. Hab dich lieb.“

2

Pierce

Ich liege in bunten Surfershorts auf einer bequemen Relaxliege am Hotelpool und starre in den blauen Himmel. Den Kopf halte ich im Schatten und auf meiner Nase sitzt eine Sonnenbrille, die ich aus der Not heraus am Flughafen gekauft habe. Genau wie die Shorts. Keine Ahnung, ob ich Badeshorts und Sonnenbrillen besitze. Falls doch, habe ich sie beim überstürzten Kofferpacken nicht gefunden. In Chicago brauche ich weder das eine noch das andere. Zumindest nicht, wenn ich rund um die Uhr arbeite. Beim Verlassen des Büros ist es längst dunkel.

Urlaub! Ein verhasstes Wort, das ich so wenig mag wie alles, was mit Freizeit und Hobby zu tun hat. Ich habe noch nie Urlaub gemacht und finde, dass es reine Zeitverschwendung ist. Als Kind sind meine Eltern sicherlich mit mir weggefahren. Jedenfalls glaube ich mich an ein paar Schulferien erinnern zu können, die ich am Strand verbracht habe. Aber das ist Jahrzehnte her. Seit ich das Jurastudium abgeschlossen habe und als Strafverteidiger tätig bin, habe ich kaum eine Minute übriggehabt. Geschweige denn genügend freie Tage, die für etwas Ähnliches wie Ausspannen gereicht hätten. Dass mein Vater – von Beruf ebenfalls Strafverteidiger – mich aus seinem Anwaltsbüro, das im Zentrum von Chicago liegt, praktisch rausgeschmissen hat, ist noch nie vorgekommen. Wirklich noch nie. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, dass ich stehenden Fußes abreisen musste. Es verwirrt mich. Mehr, als ich mir eingestehen will.

Ich habe laufende Fälle, an denen ich gemeinsam mit unseren Partnern George Cromwell und Rayne Montgomery arbeite und die ich nicht unter dem Sonnenschirm liegend gewinnen kann. Die zwei Wochen Zwangsurlaub, zu denen ich verdonnert worden bin, fühlen sich bereits am Anreisetag wie ein Gefängnisaufenthalt an. Ich bin eingesperrt … oder ausgesperrt. Je nachdem, von welchem Standpunkt aus ich meine Situation betrachte.

Ein merkwürdiger Zustand. Auch nach stundenlangem Nachdenken kann ich mir keinen Reim auf die sonderbaren Anweisungen meines Vaters machen.

Als Strafverteidiger ist es mein Job, zu erkennen, wann ein Mandant mich hinters Licht führen will. Dass es nun mein Vater ist, der mir das Gefühl vermittelt, belogen und betrogen zu werden, ist sehr verwunderlich und lässt mich an meinem inneren Radar zweifeln. Aber da mein starrsinniger Vater ein Nein sowieso nicht akzeptiert hätte, bin ich, wie von ihm gewünscht, noch am selben Tag abgereist. O’ahu war so gut wie jedes andere Ziel. Außer der wunderbaren Landschaft, von der ich schon viel gehört, aber noch nichts gesehen habe, gab es keinen Grund, diesen Ort auszuwählen. Er ist mir absolut gleichgültig.

Jetzt liege ich in der Sonne und weiß nichts mit mir anzufangen. Dass meine Brieftasche sowie meine Uhr verschwunden sind, verschlimmert das unliebsame Urlaubsfeeling um ein Vielfaches. Vor einer Stunde habe ich bei der Polizei Anzeige erstattet und meine Kreditkarten sperren lassen. Keine Ahnung, ob mir die Sachen bereits am Flughafen gestohlen wurden oder erst am Hotel. Der Übeltäter verstand jedenfalls sein Handwerk. Ich wurde nach allen Regeln der Kunst aufs Kreuz gelegt. Das muss an meiner nicht vorhandenen Erfahrung als Tourist liegen. Die macht mich zu einem leichten Ziel.

Natürlich konnte das Ananasmädchen nichts dafür. Mein Verdacht war ungerechtfertigt. Das ist mir in dem Moment klar geworden, als ich ihr Gesicht mit den atemberaubenden braunen Augen gesehen habe. So sehen unschuldige Menschen aus. Genau so. Ich weiß das, weil ich massenhaft Schuldige gesehen habe und das beurteilen kann.

Bedauerlicherweise war ich in dem Moment nicht ich selbst und hätte diese Ana viel eher loslassen und mich bei ihr entschuldigen müssen. Aber ich war sauer. Nicht auf sie, sondern auf das schwüle Wetter, die Hitze, mein Hemd, das mir am verschwitzten Rücken geklebt hatte und natürlich den Dieb, der mich um mein Hab und Gut gebracht hat. Da kam einiges zusammen. Dass sie mich mit Eis bekleckert hat, war sozusagen das Tüpfelchen auf dem i.

Vielleicht lag es auch an ihrem Verhalten, dass ich sie nicht sofort habe gehen lassen. Für gewöhnlich reagieren die Menschen, mit denen ich mich umgebe, nicht frech und aufmüpfig. Sie widersprechen nicht und stellen auch keine meiner Behauptungen infrage.

Das Ananasmädchen hat beides getan und sich damit erfrischend anders benommen. Ihre langen Haare hatte sie unter einem hässlichen gelben Cap zu einem tiefen Zopf gebunden und in ihrem Gesicht befand sich nicht das kleinste bisschen Make-up. Zumindest sah es für mich so aus. Der dunkle Olivton ihrer Haut und die schwarzen Haare lassen mich vermuten, dass sie von hier stammt, vielleicht sogar auf Hawaii geboren wurde. Sie wirkte auf mich, als würde sie viel Zeit an der frischen Luft verbringen. Mit dem Meer vor der Haustür ist sie womöglich eine erfahrene Surferin. Ihre Beine sahen jedenfalls, anders als ihre Arme, muskulös aus ‒ muskulös und meterlang. Eine Augenweide, die von extrem kurzen Jeansshorts, die ihr gerade so über die Pobacken reichten, unterstützt wurde. Ohne Frage ein atemberaubender Anblick.

Sollte beim Abendessen zum Nachtisch Ananaseis serviert werden, werde ich es auf jeden Fall probieren. Dieses Mädchen und ihr Eis haben mein Interesse geweckt.

Ich schließe die Augen hinter der Sonnenbrille und überlege, wo ich morgen anfange, die Insel zu erkunden – der Diamond Head Krater soll vom Hubschrauber aus überwältigend aussehen – da spüre ich, wie ein Schatten auf mich fällt. Die wärmende Sonne auf meiner Haut ist verschwunden.

Erst hebe ich die Lider und anschließend die Sonnenbrille, um darunter durchzuschauen, weil ich nicht glaube, wer da vor mir steht.

„Ananasmädchen“, rutscht es mir heraus, bevor ich die Worte zurückhalten kann.

„Ana Keoki ist mein Name.“ Sie sagt es mit einem Lächeln und scheint mir den Spitznamen nicht übel zu nehmen. „Ich würde Ihnen gerne eine Flasche unseres extra süßen Ananassaftes schenken. Quasi als Entschädigung dafür, dass ich heute Morgen Ihr Hemd ruiniert habe.“

Sie will mir extra süßen Saft schenken?

Meine Verwunderung schluckend sehe ich auf ihre Beine, die so nackt und lang sind wie heute Morgen und denke an süßen Saft. Ihren süßen Saft? Teufel! Wenn ich nicht aufpasse, bekomme ich vor ihren Augen einen Ständer. Der wäre durch die Badeshorts wunderbar zu erkennen.

Konzentriere dich, Pierce! Reiß dich zusammen.

„Äh … danke.“ Zögernd setze ich mich auf und greife nach der Flasche, die sie mir reicht. Es dürfte etwa ein halber Liter sein.

„Konnten Sie die Sache mit Ihrer Brieftasche und der verlorenen Uhr klären?“

Mein unerwarteter Besuch tritt von einem Bein aufs andere. Hat sie es eilig? Führt sie aus Höflichkeit dieses Gespräch mit mir?

„Nicht wirklich“, antworte ich und lasse sie nicht aus den Augen. „Ich habe Anzeige erstattet, sämtliche Karten sperren lassen und warte nun auf Ersatz. Bis dahin lebe ich auf Rechnung und lasse anschreiben.“ Mein Mund verzieht sich zu einem Grinsen, während ich die Saftflasche auf den Boden in den Schatten unter die Liege stelle. Den werde ich später genießen.

„Darf ich Sie zu einem Drink einladen und so um Verzeihung bitten? Auf mein unhöfliches und schroffes Benehmen bin ich nicht stolz.“ Mit schlechtem Gewissen sehe ich auf ihren Unterarm, den ich vor wenigen Stunden fest im Griff gehabt hatte und erstarre, als mir der Bluterguss auffällt.

„War ich das?“ Fassungslos stehe ich auf und trete näher, damit ich mir ihre Verletzung genauer ansehen kann. Sie weicht einen Schritt zurück und ich bleibe sofort stehen. Unter keinen Umständen will ich sie bedrängen. Es wäre nicht auszudenken, wenn sie Angst vor mir hätte.

„Ist nicht schlimm.“ Sie versucht den blauen Fleck, der ihre wundervolle glatte Haut verunstaltet, vor mir zu verstecken, indem sie den Arm vor die Brust schiebt und den unverletzten darüberlegt.

Am liebsten würde ich mir selbst in den Hintern treten. Eine wehrlose Frau habe ich noch nie verletzt. Nicht mal ein bisschen. Warum habe ich meine Kraft nicht unter Kontrolle gehabt? Streitfreudigkeit und schlechte Laune sind keine Entschuldigung. Mein Verhalten ist unverzeihlich.

„Das sehe ich anders. Diese Verletzung ist sehr wohl schlimm. Sie sollten den Kerl anzeigen, der das getan hat. Was für ein Rowdy. Er scheint ein Idiot zu sein.“

Ana entschlüpft ein niedliches Kichern. „Der Mann, der mir das zugefügt hat, war ein eingebildeter Gockel, ohne Manieren und Anstand.“

Ich nicke, weil sie recht hat. Das war ich.

„Ein Grund mehr, mit mir etwas trinken zu gehen.“ Mit der Hand deute ich auf die Poolbar, die ganz in der Nähe ist. „Dort gibt es sehr leckere Cocktails, habe ich mir sagen lassen.“ Kaum merke ich, dass sie protestieren will, füge ich ein „auch alkoholfreie“ hinzu.

Sie schüttelt den Kopf, aber ihre Miene verrät mir, dass ihr mein Angebot gefällt und sie bereit ist, die Entschuldigung anzunehmen.

„Es tut mir leid. Ich kann nicht.“ Entschlossen weicht sie zurück, als hätte sie Angst, schwach zu werden, wenn ich weiter in sie dringe.

„Warum nicht?“

„Die Arbeit ruft. Anders als Sie bin ich nicht im Urlaub. Auf mich wartet ein anspruchsvolles und wenig vergnügliches Gespräch mit dem Hotelmanager.“

„Autsch.“ Mein Gesicht verzieht sich, als hätte ich Schmerzen. „Wegen des Wirbels von heute Morgen?“

Ana zögert, bevor sie ernst wird. „Nicht nur. Es gibt noch einige andere Dinge zu besprechen.“ Sie deutet auf eine Kiste, die zu ihren Füßen steht und mit weiteren Flaschen gefüllt ist. „Ich möchte Mr. Okalani ein paar neue Saftprodukte vorstellen.“

„Sie produzieren Saft und Eis“, schlussfolgere ich messerscharf.

„Ja.“ Anas Kinn hebt sich und ihre Brust drückt sich nach vorn. Ihr Stolz ist nicht zu übersehen. „Die Keoki-Plantage gehört zu den größten Ananasplantagen auf Hawaii. Wegen des gleichbleibenden Klimas bauen wir ganzjährig Ananas an. Wir sind seit siebunddreißig Jahren im Geschäft und verarbeiten zweihundert Tonnen Ananas die Woche. Mein Vater hat das Unternehmen aufgebaut und mein Bruder und ich sind dabei, es Stück für Stück zu erweitern.“ Ihre Schultern sacken ein wenig nach unten und ihre Körperhaltung verändert sich. „Ich hätte unendlich viele Ideen, wie wir uns mehr in den Markt einbringen könnten, aber mein Bruder will davon nichts wissen. Er ist gegen Veränderung und findet meine Ideen kindisch.“

Was für ein Zufall.

„Klingt, als beschreiben Sie eine mir vertraute Situation. Mein alter Herr ist ebenfalls ein sturer Bock und will von einem Grünschnabel wie mir keine Hilfe annehmen, geschweige denn einen Rat.“ Wegen dieser Eigenschaft bin ich zu dieser Reise verdonnert worden.

Ana sieht an meinem Körper auf und ab. Ohne Frage gefällt ihr, was sie sieht. Höre ich da ein seliges und sehr leises Seufzen? Anscheinend sollte ich öfter Surfershorts tragen. Den Frauen scheint der Anblick zu gefallen.

Sie räuspert sich. „Wie ein Grünschnabel sehen Sie nicht aus“, ist ihr trockener Kommentar, dem ein frecher Blick folgt.

Ein Lachen löst sich aus meiner Brust. Unglaublich. Ich habe tatsächlich Spaß an dieser Unterhaltung. In der Früh, am Flughafen, hätte ich nie für möglich gehalten, dass ich heute noch in Gelächter ausbrechen würde. Ich weiß gar nicht, wann ich zum letzten Mal außerhalb des Gerichtssaals Vergnügen empfunden habe. Meist überkommt mich nur Freude, wenn ich meine Arbeit erfolgreich erledige und den Prozess, den ich führe, gewinne. In solchen Momenten überkommt mich ein Glücksgefühl und ich empfinde etwas Ähnliches wie Dankbarkeit. Das hier, diese humorvolle Leichtigkeit, ist vollkommen neu. Es ist kein richtiges Glück, aber es fühlt sich gut an. Womöglich ist es doch Glück.

Ana hebt die Kiste mit den Flaschen vom Boden hoch. Sie will sich eindeutig auf den Weg machen. Wie schade.

„Wann sehen wir uns wieder, Ananasmädchen?“ Es fällt mir schwer, sie gehen zu lassen, wo wir uns gerade so gut unterhalten haben. Anders als sie habe ich unendlich viel Zeit. Zeit und Langeweile.

„Ich bin montags und freitags im Lailani Beach Hotel.“ Sie zwinkert mir zu. „Selbstverständlich können Sie auch zur Plantage kommen und im hauseigenen Eiscafé unsere Köstlichkeiten probieren. Oder Sie besuchen eine unserer Führungen, die wir speziell für die Touristen veranstalten. Ganz wie es Ihnen beliebt.“

Was für eine wunderbare Idee. Vor allem, weil ich eh nichts Besseres vorhabe. „Sollte ich zu dir auf die Plantage kommen“, ich gehe automatisch zum Du über und grinse sie an, „möchte ich eine private Führung, Ana.“

Die bezaubernde Frau vor mir schluckt und hält kurz den Atem an. Jetzt ist es an mir, zu zwinkern.

 

Kaum ist das Ananasmädchen gegangen, überkommt mich erneut eine Welle aus Langeweile. Mir ist unbegreiflich, was Menschen daran finden, nichts zu tun. In der Sonne zu liegen und sich bedienen zu lassen, nur aufzustehen, wenn die Blase drückt, das ist eintönig und ermüdend. In meinen Augen völlig reizlos. Gut möglich, dass ich eine Anleitung zum Urlaub machen brauche. Woher soll ich auch wissen, wie das geht? In der Regel ist meine Freizeit begrenzt, quasi nicht vorhanden.

Interesselos hole ich mein Smartphone hervor und bin dankbar, dass der Dieb es mir gelassen hat. Urlaub ist furchtbar, Urlaub ohne Handy … unvorstellbar.

Vom Nichtstun angestachelt scrolle ich durch die Kontakte und beschließe, trotz der fünf Stunden Zeitunterschied zu Chicago, Chris anzurufen. Mein Freund Christopher T. Markham ist ebenfalls Anwalt. Wir haben uns auf der Uni kennengelernt, im gleichen Verbindungshaus gewohnt und sind nach dem Abschluss Freunde geblieben. Er ist mit seinen dreißig Jahren genauso alt wie ich und kennt meinen Vater schon seit Jahren. Chris ist für mich wie ein Bruder. Dass er nach dem Jurastudium nicht für die Kanzlei Huxley und Partner arbeiten wollte, hat meinen alten Herrn tief getroffen. Pierce Huxley sen. kann nicht mit Ablehnungen oder Niederlagen umgehen. Dessen ungeachtet würde er niemals zugeben, dass Chris’ Zurückweisung ihn verletzt hat.

Es klingelt zweimal, bevor mein Freund das Gespräch annimmt. Das ist wenig verwunderlich, da er mit seinem Handy verwachsen ist und es nur selten aus der Hand legt.

„Pierce, Bro, warum rufst du mich um diese Uhrzeit an? Bist du noch im Büro? Es ist nach zehn, Alter. Das ist selbst für ein Arbeitstier wie dich spät.“

„Ich bin nicht im Büro“, antworte ich und lehne mich auf der Liege zurück. Die Temperaturen werden zum Ende des Tages erträglicher. Ein wahrer Segen. „Ich mache Urlaub.“

Totale Stille.

„Chris?“

„Kurzes Update, bitte. Ich habe verstanden, dass du im Urlaub bist und überlege gerade, ob das ein Geheimcode für irgendwas sein könnte. Manchmal gehen Dinge an mir vorbei. Du musst entschuldigen. Mir fehlt der Zusammenhang.“

Zufrieden, mit einem Lächeln auf den Lippen, sehe ich einer Wolke hinterher, die eben noch nicht dagewesen ist. „Du hast dich nicht verhört und einen Code gibt es auch nicht. Entspannung und Erholung sind Programm. So richtig … seit heute.“

Das nächste Geräusch klingt merkwürdig. Ich denke schon, dass Chris das Handy vor Überraschung aus der Hand gefallen ist, als mein Freund zu sprechen anfängt.

„Was heißt … so richtig? Bist du abgereist? Hast du Chicago verlassen? Liegst du am Strand?“ Mit jeder Frage redet er schneller.

„Yap. Der Kandidat hat die volle Punktzahl.“ Dreist gönne ich mir ein lautes und herzhaftes Lachen. Es ist ungemein befriedigend, meinen Freund aus dem Konzept zu bringen.

„Echt?“

„Ja. Habe ich doch gesagt.“ Zögernd sehe ich an mir herunter. „Im Moment trage ich bunte Surfershorts, liege in der Sonne und habe vor wenigen Minuten frisch gepressten Ananassaft von einer hübschen Frau geschenkt bekommen. Es ist wie im Traum.“

„Das glaube ich dir nicht.“ Die Antwort kommt umgehend und im fassungslosen Tonfall. War ja klar.

Immer diese Ungläubigen. Selbstverständlich ist es kindisch und albern. Trotzdem setze ich mich aufrechter, schieße mit der Cocktailbar im Hintergrund ein Selfie und schicke es Chris als Beweis. „Glaubst du mir jetzt? Ich bin in Honolulu und liege am Pool.“

Kurz herrscht Stille in der Leitung.

„Du bist auf Hawaii?“ Seine Stimme könnte nicht überraschter klingen.

„Bravo. Endlich hast du es verstanden.“ So langsam wird diese Unterhaltung lächerlich.

„Warum?“ Dass Chris mich das fragt, zeigt, wie gut er mich kennt. Ein schwer beschäftigter Strafverteidiger wie ich würde nie ohne Grund verreisen.

„Unglücklicherweise weiß ich das auch nicht.“ Ich senke meine Stimme, obwohl niemand hier ist, der uns belauschen könnte. „Mein Vater hat mich heute Morgen mehr oder weniger aufgefordert, die Kanzlei für zwei Wochen zu verlassen. Er hat mir die freien Tage regelrecht aufgezwungen.“

„Müsstest du nicht mit Montgomery und Cromwell an dem Denver-Fall sitzen? Letzte Woche wart ihr damit schwer beschäftigt.“

„Schön wäre es. Aktuell liege ich untätig in der Sonne und weiß nichts mit mir anzufangen. Meine Kollegen kommen angeblich alleine klar. Ich soll mich, auf obersten Befehl, raushalten und nicht nachfragen.“

„Armer Pierce“, zieht mein Freund mich auf. „Magst du keine Shorts tragen?“

Auf die Stichelei gehe ich nicht ein. „Kannst du mir einen Gefallen tun?“, frage ich stattdessen und bleibe ernst.

„Hast du die Sonnencreme vergessen, mein Hübscher? Soll ich dir welche schicken?“ Prompt folgt ein Lachen.

„Kannst du für mich rauskriegen, was in der Kanzlei los ist? Mein Vater hat sicherlich einen Grund, warum er mich nicht in Chicago wissen will. Leider kann ich mir keinen Reim darauf machen.“

Das Lachen verstummt. „Du hast recht.“ Chris klingt nachdenklich. „Merkwürdig ist das Verhalten deines Dads allemal. Vielleicht hat er einen Fall übernommen, von dem du nichts wissen sollst. Oder er kooperiert mit der Mafia und will dich raushalten.“

Chris und seine blühende Fantasie.

„Das mit der Mafia ist sicherlich ein bisschen weit hergeholt, aber dass er etwas plant oder schon geplant hat, wovon ich nichts wissen soll, davon bin ich überzeugt.“ Je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir.

„Gib mir ein paar Tage. Mal sehen, was ich erfahren kann“, höre ich Chris laut nachdenken. „Ich könnte unangekündigt zu euch ins Büro gehen und dich suchen. Falls wir Glück haben und die Assistentin deines Vaters zum Flirten aufgelegt ist, bekomme ich möglicherweise etwas heraus.“

Mich überkommt Sorge. „Bitte sei vorsichtig und diskret. Wir können die Folgen nicht absehen, solltest du unbewusst in ein Wespennest stechen. Es darf nicht so wirken, als hätte ich dich geschickt.“ Das könnte böse enden. Darüber möchte ich nicht nachdenken. Mein Vater biegt das Gesetz für seine Mandanten so weit wie möglich. Ob er gerade dabei ist, es zu übertreten? Wundern würde es mich nicht.

„Mach dir um mich keine Gedanken. Ich bin ein großer Junge. So etwas bekomme ich mit links hin.“ Chris klingt zuversichtlich. Er scheint meine Zweifel zu spüren. Der Gute ist wirklich ein Freund.

„Danke. Hast was gut bei mir.“

„Nicht dafür, Bro. Sobald ich etwas in Erfahrung gebracht habe, melde ich mich.“

Bevor ich alles klar sagen kann, hat er aufgelegt.