Leseprobe Krieger der Steppe

Kapitel 1

„Danke, Katho.“ Neval lehnte sich auf dem Rücken seines Pferdes nach vorn, ergriff den Lederbeutel, den ihm sein Gegenüber reichte, und befestigte ihn an seinem Gürtel.

Der Anführer der Ockerschürfer lächelte. „Ich danke dir, Junge.“

Neval nickte knapp, bevor er seinen Blick an dem älteren Mann vorbei und über das kleine Lager schweifen ließ, das am Ufer des Grauwasserflusses lag. Die Frühlingssonne hatte den Zenit bereits überschritten und die Schatten der Zelte fielen in östliche Richtung, wo sich der Große Wald erstreckte. Am Flussufer wuschen zwei Frauen Kleidung und sahen selbst dann nicht auf, als lautes Kindergebrüll ertönte.

„Du kannst bleiben, wenn du willst“, riss Kathos Stimme ihn aus den Gedanken. „Über Nacht, meine ich.“

Kopfschüttelnd wandte Neval sich dem Ockerschürfer zu und klopfte behutsam auf den Beutel an seiner Hüfte. „Burvis braucht den Ocker sofort.“

„Dann solltest du bereits unterwegs sein, nicht?“ Kathos struppiger Bart entblößte ein breites Grinsen.

„So ist es.“ Der Steppenreiter schnalzte, lenkte seine Stute herum und hob zum Abschied die Hand. „Bis bald.“

„Grüß deinen Häuptling. Und sei vorsichtig, Junge“, rief Katho ihm nach, doch statt einer Antwort drückte der Reiter seiner Stute die Fersen in die Flanken und drängte sie auf den Umriss des Waldes zu. Ärgerlich presste Neval die Lippen zusammen. Es gab keinen Grund, zur Vorsicht zu mahnen. Das Dorf des Steppenreitervolks lag bloß einen halben Tagesritt entfernt und das Licht würde halten, bis er sein Ziel erreichte.

Der Reiter gelangte auf die Kuppe des seichten Hügels, der eine gute Aussicht auf das Lager, die Ebene und den sich hindurchschlängelnden Grauwasserfluss bot. Aus diesem Grund stellte das Steppenreitervolk seit jeher Wachen dort auf, was Neval für überflüssig hielt. Vielleicht damals, als der Schwarze Clan die Stämme der Ebene unterjocht hatte und jederzeit ein Angriff zu erwarten gewesen war. Jetzt wachten die Männer bloß über einen Haufen harmloser Handwerker, die nach dem Tod des Schwarzen Fürsten und dem damit einhergehenden Frieden aus dem Westen gekommen waren, um am Fluss Ocker zu schürfen und mit den Steppenreitern Tauschhandel zu betreiben. Neval grüßte die beiden Wachen knapp, bevor er den Hügel hinunterritt. Von rechts kreuzte der Fluss seinen Weg, aber das Wasser war weder tief noch reißend und mit seiner Stute Keve mühelos zu durchqueren.

Nach einer Weile passierte der junge Steppenreiter die Waldgrenze. Die Knospen der Haselsträucher brachen auf und entfalteten zarte grüne Blätter, die lockeres Buschwerk bildeten, über dem die Ulmen blühten. Dunkles Sternmoos wuchs zwischen den Baumwurzeln, vereinzelt trieben die ersten gelben Blüten des Goldhahnenfußes zum Licht empor und kündeten vom Frühling. Doch die nachmittägliche Sonne sank tiefer und die Luft kühlte rasch ab. Den in einen dichten grauen Rentierpelz gehüllten Mann störte das wenig und er sog unerschrocken die kalte Luft in seine Lunge. Obwohl ihn allein in diesen Wäldern unterwegs zu sein weder Argwohn noch Furcht verspüren ließ, trug er Bogen und Pfeiltasche mit sich.

Neval lenkte Keve auf einen schmalen Pfad, der sie durch einen Hort niedriger Ulmenschößlinge führte, bevor sie einen anderen Teil des Waldes erreichten, der weniger licht und einladend wirkte. Das Buschwerk verdichtete sich und die Bäume wurden knorriger und älter, als stammten sie aus einer längst vergessenen Zeit. Ein Zauber hing in der schweren modrigen Luft des uralten Waldes, schützte ihn vor Fremden, die ihn spürten und fürchteten – Jelens Einfluss. Neval hingegen trug die Zeichen des Hirschgottes als Beweis seiner Ergebenheit auf der Haut.

Auf dem Weg begegnete er einer weiteren Wache, dann öffnete sich unvermittelt der Wald und gab den Blick frei auf das Dorf der Steppenreiter. Auf der von Menschenhand geschaffenen Lichtung drängten sich aus Ästen geflochtene Rundhütten, deren Dächer mit trockenem Gras gedeckt waren, dazwischen liefen Frauen, Kinder und Jäger. Neval atmete tief ein, bevor er sich nach links wandte, wo sich etwas abseits der Behausungen der Pferdekorral befand.

Neben der Pforte lungerte ein Junge herum, der dem Reiter sofort Hilfe anbot. Neval ließ die Stute in seiner Obhut zurück, dann nahm er den Weg hinauf zur Hütte des Schamanen. Der saß inmitten einer Gruppe von älteren Kindern und hielt seinen Unterricht ab. Den Platz an seiner Seite besetzte Lazda, Nevals jüngerer Bruder.

Neval blieb außerhalb des Kreises stehen. „Sei gegrüßt, Burvis.“

Überrascht hob der Schamane seine schweren Lider einen Spalt, ehe er eine einladende Geste mit der Hand vollführte. „Neval. Setz dich.“

„Ich wollte nur …“, begann er, aber Burvis schaute ihn mit Nachdruck an. Widerwillig schloss Neval den Mund und setzte sich in die zweite Reihe.

Nun ließ der Schamane seinen Blick in die Runde schweifen. Unzählige Falten hatten sich im Lauf der Zeit in sein ausgemergeltes Gesicht gegraben und sein Haar leuchtete weiß wie Schnee. Dabei war er schon alt gewesen, als Neval an diesem Unterricht teilgenommen hatte – wie alt tatsächlich, wusste er nicht, bloß dass Burvis drei Häuptlinge überlebt hatte. „Wisst ihr, warum sich unser Volk Steppenreiter nennt?“

Ein Junge hob die Hand. „Wir haben die Pferde in die Ebene gebracht.“

„Nein“, widersprach der Schamane kopfschüttelnd. „Der Graslandclan besaß auch damals schon Pferde.“

Dem Jungen kroch die Röte in die Wangen und Neval grinste hämisch.

„Neval, sag du es uns“, forderte Burvis mit hochgezogenen Brauen.

Geräuschvoll atmete Neval ein und wieder aus. „Der Graslandclan besaß Pferde, aber die Steppenreiter waren die Ersten, die sie geritten haben“, presste er hervor.

„So ist es“, bestätigte der Schamane. „Die Menschen der Ebene erblickten unsere Vorfahren zum ersten Mal, als sie auf Pferden die Steppe durchquerten, und nannten sie Steppenreiter. Unser Volk war aus den nordöstlichen Wäldern gekommen, um neu zu beginnen, deswegen legten sie ihre alte Sprache ab und nahmen die der Ebene an. Ebenso gaben sie den Namen ihres Volkes auf.“

Meza Cilveki“, flüsterte Neval gelangweilt.

„Richtig. Das Volk des Waldes – das sind wir noch immer, denn wir folgen Jelen.“ Burvis wandte sich an Lazda. „Erzähl die Geschichte von Savien.“

Sein Schüler strich sich anmutig eine helle Haarsträhne hinter das Ohr. „Savien war der Mann, der unser Volk in die Ebene geführt hat.“

Neval legte den Kopf in den Nacken und beobachtete den kaum mehr zu erkennenden Umriss eines Vogels am sich verdunkelnden Himmel. Obwohl er die Geschichte schon unzählige Male gehört hatte, lauschte er dem angenehmen Klang von Lazdas Stimme.

„Eines Tages jagte Savien einen Hirschbock, aber als er ihn stellte, erschoss er ihn nicht.“

Neval schloss die Augen … die Anmut und Schönheit des Tieres ließen ihn zögern.

„Er zeigte Demut vor der Natur“, fuhr sein Bruder fort. „Da offenbarte sich der Hirschgott und versprach, die Steppenreiter zu schützen, wenn sie im Großen Wald blieben und ihn verehrten. Savien stimmte zu.“ Die Worte verklangen und Neval hob die Lider, wandte seinen Blick wieder dem Kreis zu. Savien war längst tot, aber sein Name nicht. Die Schamanen trugen ihn weiter in jede Generation, damit die Herkunft der Steppenreiter und der Ursprung ihres Glaubens niemals verlorenginge.

„Um Jelen zu ehren, müssen alle Jungen dieselben Fähigkeiten beherrschen wie unsere Vorfahren“, sprach Burvis jetzt.

Nein, nicht alle. Neval sah hinüber zu seinem Bruder, aber der erwiderte seinen Blick nicht, sondern starrte ins Leere, so als wäre er in Gedanken woanders. Aber Neval wusste es besser. Lazda war niemals unaufmerksam.

„Innerhalb eines Jahres werdet ihr diese Fähigkeiten erlernen, danach legt ihr die Prüfung ab.“

Unwillkürlich brannten die Zeichen auf Nevals Haut – Jelens Zeichen, die ihm nach der Prüfung in Brust und Schultern eingeritzt und mit Asche gefärbt worden waren. Zwölf Sommer war er alt gewesen, als er sie bekommen hatte, das war inzwischen fünf Jahre her. Sie wiesen ihn als erwachsenen Mann und vollwertiges Mitglied des Steppenreitervolkes aus, aber niemand schien diese Tatsache zu kümmern. Im Großen Krieg hatte er Seite an Seite mit den Rebellen gekämpft und geblutet, trotzdem wurde seinem jüngeren Bruder, der keine Prüfung abgelegt hatte, mehr Achtung zuteil als ihm. Nevals Kiefer knackte.

„Was für Prüfungen sind das?“, fragte ein Junge neugierig und riss Neval aus seinen Gedanken. Die Augen des Jungen leuchteten so wie einst seine.

„Ich erzähle es ein anderes Mal“, entgegnete Burvis. „Es wird dunkel. Geht nach Hause.“

Enttäuschtes Murmeln schwoll an und ließ den Schamanen lächeln, doch er blieb dabei, und der Sitzkreis löste sich auf.

Neval erhob sich ebenfalls und schob sich an den Kindern vorbei auf Burvis zu. „Ich habe den Ocker, den du wolltest.“ Er reichte Kathos Lederbeutel weiter.

„Gut.“ Der Schamane griff danach. „Ich danke dir für deine Mühe.“

„Es war keine Mühe.“ Selbst Neval bemerkte die Bitterkeit seiner Worte und räusperte sich rasch.

Auch Burvis entging der Unterton nicht, denn er hob die weißen Brauen und musterte ihn eingehend. „Für dich sicherlich nicht, aber ich bin alt und ich danke dir.“ Er senkte leicht das Haupt. „Du kannst gehen.“

***

Feuchtes kühles Moos berührte Vanias Rückgrat und sie erschauerte, als ihr Gefährte sie sanft darauf bettete. Sein vertrautes Gesicht mit den schmalen schwarzen Augen lächelte, als er sich hinab beugte, um sie ein letztes Mal zu küssen. Eine Wärme breitete sich in ihrem Inneren aus, die nichts mit dem Liebesspiel zu tun hatte, das sie eben vollzogen hatten. Edin löste sich von ihr und setzte sich auf. Sogleich fuhr die Abendluft über ihre entblößten Beine, und Vania schob den hochgerafften Kleidersaum darüber, ehe sie verstohlen ihren Mann musterte, dessen leerer Blick hinaus in den Haselhain gerichtet war. Im Dämmerlicht des nahenden Abends wirkten die jungen grünen Blätter matt und grau, doch Edin interessierten sie wohl wenig, vielmehr schien er in Gedanken davonzuschweifen, ohne dass Vania ihm folgen konnte. Mit den Fingern entwirrte sie ihr dunkelbraunes Haar und pflückte ein welkes Blatt heraus. Da fing Vania seinen Blick auf und errötete.

Lächelnd streckte Edin eine Hand aus und strich sanft über ihre Wange. Nur kurz flackerte sein Blick hinunter zu ihrem Bauch, trotzdem bemerkte sie es und versteifte sich unwillkürlich. Betreten starrte Vania hinab auf ihre Hände. Er wartete darauf, dass sie ein Kind empfing.

Plötzlich lehnte Edin sich vor und tätschelte gutmütig ihren Kopf, als wäre sie ein kleines Mädchen. „Mach dir keine Gedanken.“

Vania schaute ärgerlich auf, aber als er ihren Ausdruck gewahrte, lachte ihr Mann laut. Dann erhob er sich und pflückte den Beutel mit den gesammelten Kräutern aus dem Haselstrauch, in den er ihn gehängt hatte. Vania beobachtete ihn dabei, ohne Anstalten zu machen, aufzustehen. Edin war älter als sie und hatte vor ihr bereits eine Gefährtin gehabt, doch aus dieser Beziehung war kein Kind hervorgegangen, und sein Sehnen nach einer Familie war groß. Vania atmete tief ein. Auch sie wünschte sich ein gemeinsames Kind.

Edin warf ihr einen Schulterblick zu. „Kommst du?“

Aus den Gedanken gerissen kam Vania eilig auf die Beine und klopfte den Schmutz von ihrem gewebten Kleid, dessen Halsausschnitt sie mit polierten Holzperlen verziert hatte. Ein Grund dafür, dass Edin sie als Gefährtin gewollt hatte, war ihr Nähgeschick.

Gemeinsam folgte das Paar dem Pfad, der aus dem Hain hinaus zu einem Hügel führte, hinter dem sich das Grüne Tal und das Lager der Händler befand. Seit einem Jahr zog die junge Frau mit den Händlern und deren Tross aus Karren und Stangenschleifen von einem Dorf zum anderen, um Gegenstände und Neuigkeiten einzutauschen. Auskünfte waren für die Menschen meist von weit größerem Wert als kostbare Güter wie Ocker, Kupfererz oder Zauberamulette. Kaum eine Siedlung wies die Gruppe ab, wenn sie im Austausch dafür um ein Nachtlager und eine Mahlzeit baten. Auch in Vanias Heimatdorf kamen von Zeit zu Zeit Fremde und es war nicht ungewöhnlich, dass Edins Leute den Winter in der geschützten Talsenke verbrachten, bevor sie bei Einsetzen der Schneeschmelze weiter nach Norden wanderten. Edin war ein freundlicher Mann und als er sie darum bat, war sie mit ihm gegangen.

„Der Anführer hat entschieden, dass wir morgen weiterziehen.“ Freude schwang in Edins Stimme mit. „Es liegt noch ein Dorf im Norden vor uns, dann gehen wir nach Osten.“

Vania lächelte warm. Seitdem Edins Vorschlag angenommen worden war, zu den Stämmen östlich des Großen Waldes zu ziehen, um dort Handel zu treiben, verging er fast vor Ungeduld. Knapp zwei Jahre war es her, dass sich ein Händler aus der Ebene Edins Gruppe angeschlossen und ihm alles über die dort ansässigen Stämme sowie deren kostbarsten Schatz erzählt hatte: Sie ließen sich von Pferden tragen! Vania waren Pferde nicht unbekannt, allerdings hatte sie noch nie einen Menschen darauf sitzen sehen. „Wie weit ist es?“

Edin zuckte mit den Schultern. „Wir müssen den ganzen Wald durchqueren, aber es lohnt sich“, erklärte er zuversichtlich. Ihr Mann plante, längere Zeit in der Ebene zu bleiben, womöglich für immer. Das war auch der Grund, warum er verlangt hatte, dass Vania ebenfalls die Sprache der Ebene lernte.

Plötzlich knackte es laut im Unterholz und weiter westlich stoben kreischend Vögel in die Luft. Abrupt blieb Edin stehen, streckte den Arm aus, um seine Frau am Weitergehen zu hindern, und spähte ins Unterholz.

Vania erschauerte. „Was war das?“, flüsterte sie atemlos, aber ihr Mann schüttelte bloß den Kopf. Sie lauschte eine Weile und als sie die vertrauten Geräusche des Hains vernahm, spürte sie Erleichterung. Gerade öffnete sie den Mund, als Edin sie streng anblickte und lautlos das Wort Still! mit seinen Lippen formte.

Just in diesem Moment knackte es wieder, viel näher als zuvor. Mit einem Mal kam Wind auf und rauschte so laut in den Kronen, dass Vania zusammenschreckte. Ein ängstlicher Laut wollte ihr entschlüpfen, aber sie biss sich harsch auf die Zunge.

Reglos stand Edin da und horchte. Erneut drangen Geräusche aus dem Unterholz, aber leiser und weiter entfernt. „Vania“, raunte er. „Lauf sofort ins Lager zurück. Warne die anderen!“

„Aber …“

„Lauf!“ Seine schwarzen Augen funkelten zornig, eine tiefe Furche grub sich zwischen seine Brauen. „Da ist jemand.“

Vania fröstelte. Noch nie hatte sie Edin derart gereizt und unsicher zugleich erlebt. Sie tat ein paar Schritte, da bemerkte sie, dass er sich nicht von der Stelle rührte, und fuhr herum. „Was ist mit dir?“

Edin sah sie nicht an, sondern starrte in die Richtung, aus der die Geräusche gekommen waren. Dabei legte er eine Hand auf das knöcherne Heft seines Dolches. „Ich komme nach.“

***

Schatten flossen in das Tal, sammelten sich in den tiefergelegenen Bereichen zu dunklen Seen und verschluckten die kleine Zeltstatt und deren Bewohner. Rien blickte durch die Lücken im Haseldickicht, hinter dem er mit einer Handvoll seiner Leute kauerte. Neben ihm wippte der gleichaltrige Vent fahrig auf den Hacken vor und zurück und befingerte unentwegt seinen Messergriff. Dabei rempelte er Rien unsanft an. „Pass auf!“, zischte der ihm zu.

„Still!“, forderte Calm streng, ohne seine Aufmerksamkeit von den Zelten abzuwenden. Der Anführer des Kriegstrupps hatte sein Gesicht mit einer Paste aus Fett und Asche dunkel bemalt, wodurch das Weiß seiner Augen im Dämmerlicht furchterregend hervorstach. Die zwei Männer an seiner Seite trugen dieselbe Kriegsbemalung wie er, während Rien und Vent mit einem langen roten Ockerstrich von der Stirn bis zum Kinn als unerfahrene Halbwüchsige gekennzeichnet waren.

„Was jetzt?“, flüsterte ein Krieger Calm zu.

„Wir warten.“

Rien beobachtete verstohlen, wie sich die beiden Männer unsichere Blick zuwarfen, dann sprach der erste erneut. „Aber es sind bloß zwei Wachen, wir –“

„Nein“, unterbrach ihn der Kriegsführer bestimmt. „Wir warten auf das Zeichen.“

Stumm nickend richtete der Mann seinen Blick ebenfalls auf die Zelte, deren Spitzen hundert Schritt entfernt in der nahenden Nacht verschwanden. Die ersten Sterne glommen am rotgrauen Abendhimmel auf, ebenso wie ein Kochfeuer in der Mitte des Lagers, um das sich ein paar Menschen versammelt hatten. Eine Frau lachte.

Bei dem Klang erzitterte Rien und er fragte sich, ob auch Vent beinahe von seiner Furcht übermannt wurde, aber dessen erregtes Lächeln verhieß etwas anderes. Je mehr Zeit verstrich, desto banger wurde dem Jungen. Den gefühllosen Umgang der Felsläufer war Rien gewohnt, deswegen litt er nicht darunter, und dass von ihm erwartet wurde, zu töten, wusste er. Ein Felsläufer war nur wert, am Leben zu bleiben, wenn er Leben nahm. Aber es war sein erster Kampf und womöglich sein letzter. Rien schluckte hart.

Mit einem Mal stob eine Schar schwarzer Vögel aus dem Haseldickicht östlich des Kriegstrupps und stieß ihr schauerliches Krächzen aus.

„Das war das Zeichen.“ Calm schob sich, die Hand fest um seinen langen Speerschaft gelegt, durch das Gebüsch, und Vent folgte ihm bereitwillig.

Rien rührte sich nicht. Seine Glieder bebten von der Anspannung und Angst raubte seinen Beinen die Kraft, es war unmöglich, aufzustehen. Plötzlich grabschte eine Faust nach seiner Tunika und zerrte Rien auf die Füße.

„Los!“, zischte der Krieger dicht an seinem Ohr und stieß ihn vorwärts. „Wir greifen an!“

Kapitel 2

So laut rauschte das Blut in Vanias Ohren, dass es den hämmernden Herzschlag in ihrer Brust und ihre schnellen dumpfen Schritte übertönte. Die kühle Luft verstärkte den brennenden Schmerz in ihrer Lunge, aber die prickelnde Angst in ihrem Nacken trieb sie weiter voran. Dabei achtete sie in der Dämmerung nicht auf den Weg, stolperte mehr, als dass sie lief. Vania musste so schnell wie möglich ins Grüne Tal zurück, um Hilfe zu holen!

Dieser Gedanke verlieh ihr neue Kraft. Gerade erreichte sie den Rand des Hains, da hakte sie mit dem Fuß hinter eine Baumwurzel und stürzte hart. Sandkörnchen rissen ihre Handflächen blutig und die Knie pochten unangenehm von dem Aufprall. Vania stöhnte. Allmählich nahm das Rauschen ab, ebenso der wilde Schlag ihres Herzens.

Ein schriller Schrei jagte über den Hügel hinweg, verlor sich in der Weite des Himmels und ließ Vania aufspringen. Dann erklang ein zweiter Schrei, gefolgt von lautem Lärm. Im Lager musste etwas Schreckliches geschehen! Vania hatte die anderen warnen sollen, aber nun schien es, als käme sie zu spät. Wäre es da nicht klüger, davonzulaufen? Nur wohin? Irgendwo im Hain trieb sich jemand herum, den Edin für so gefährlich hielt, dass er seine Frau fortschickte. Vania ballte die Fäuste und öffnete sie wieder, nur um sie erneut zu ballen. Vielleicht kämpfte Edin gerade und brauchte die Hilfe der anderen Händler, während sie hier herumstand und wertvolle Zeit vergeudete!

Vania rannte den Hügel hinauf, aber das Gras war feucht vom Abendtau und die Steigung so rutschig, dass sie schließlich auf allen vieren hinaufkroch. Endlich erklomm sie die Kuppe und bemerkte das grelle Licht. Die kleine Ansammlung von Zelten und Karren brannte lichterloh.

„Nein“, hauchte sie und schlug die Hand vor ihren Mund. Sie kam zu spät! Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete Vania die Krieger, die im Feuerschein durch das Lager hasteten. Einer von ihnen rammte einem Jungen kaltblütig den Speer in die Brust, ehe er weitereilte. „Bei den Göttern!“ Vania drehte sich der Magen um, als sie zwei flüchtende Frauen sterben sah, mit denen sie heute früh beim Wasserholen fröhlich gescherzt hatte. Erbarmungslos wurden die Händler niedergemetzelt. Vania schüttelte ungläubig den Kopf. Es war ein Blutbad.

Unvermittelt bemerkte sie die beiden Krieger am Fuß des Hügels, von denen einer mit ausgestrecktem Arm auf Vania deutete. Panisch wirbelte sie herum und schlitterte den Abhang hinunter, den sie zuvor so mühsam hinaufgeklettert war, während hinter ihr zornige Schreie erklangen. Vania verlor das Gleichgewicht und rutschte das letzte Stück auf ihrem Bauch weiter. Feuchtigkeit durchdrang ihr Kleid und ließ sie frösteln, aber sie achtete nicht darauf, sondern kam auf die Beine und drängte auf den Hain zu, der sie willig wie ein riesiger dunkler Raubtierschlund verschluckte. Sie hatte nur eine Chance – sie musste Edin finden! Die Vorstellung, dass er womöglich tot war, durchbohrt von fremden Speeren, raubte ihr den Atem und trieb die Tränen in ihre Augen. Harsch verdrängte sie den Gedanken und klammerte sich an ihre Hoffnung. Denn wenn Edin nicht mehr da war, was würde dann aus ihr?

Schritte schlugen dumpf auf dem Sandweg auf, wieder ertönten Stimmen – der Feind war da!

Das Herz sprang Vania beinahe aus der Brust. Mit einem Satz verließ sie den Pfad und schlug sich ins Unterholz. Zweige zerrten an ihrem Kleid und ihren Haaren, aber sie riss sich los und stürmte weiter. Urplötzlich drang ein leises Stöhnen an ihre Ohren und sie blieb wie angewurzelt stehen, um zu lauschen. Eine Mischung aus Angst und süßer Hoffnung richtete die feinen Härchen in ihrem Nacken auf. Da war es wieder!

„Edin?“, flüsterte sie. „Bist du das?“ Statt einer Antwort näherte sich ein Rascheln aus der anderen Richtung. Was bedeutete, dass entweder ein Tier durch die Dunkelheit schlich oder - und das war weitaus wahrscheinlicher - die Männer bemerkt hatten, dass sie nicht mehr dem ausgetretenen Weg folgte. Sie wusste nicht, was schlimmer war. Zitternd drehte sie sich um und spähte in das Unterholz, aus dem sich jetzt ein dunkler Umriss löste. Die Wolken rissen auf und der fast volle Mond ergoss sein kaltes Licht über den Hain. Weiß reflektierte es in den Augen ihres Gegenübers, das wenige Manneslängen entfernt stehen blieb.

Blanke Angst schnürte ihr die Kehle zu und legte sich kalt auf ihre Eingeweide. Das war nicht Edin!

Sofort wich sie zurück, bis sie mit dem Rücken gegen einen festen Stamm stieß und erschrocken nach Luft japste.

Der Fremde folgte ihr.

Sie würde sterben! Diese Tatsache verlieh ihr Mut – sie hatte nichts mehr zu verlieren. Tapfer stürzte sie sich auf den Feind, der zwar von der Wucht des Angriffs zurücktaumelte, sich aber fing, ehe sie ihn zu Boden ringen konnte. Vania blickte geradewegs in schwarze Augen inmitten jugendlicher Züge. Schlanke Hände griffen nach ihr und hielten sie fest, aber nicht so, dass es weh tat. Dies war kein furchteinflößender Krieger, sondern ein Junge in ihrem Alter mit weich gelocktem Haar!

Ein wütender Schrei schallte aus dem Hain, so erschreckend nah, dass Vania heftig zusammenzuckte. Auch das Gesicht ihres Häschers regte sich.

„Rien!“, erklang es erneut, und der Junge wandte sich halb um. Sogleich nutzte Vania den flüchtigen Moment der Unachtsamkeit, um Reißaus zu nehmen. Doch da brach bereits ihr zweiter Verfolger aus dem Unterholz und schnitt ihr den Weg ab. Vania saß in der Falle.

***

Beunruhigt musterte Rien seinen Begleiter. Dessen Körper bebte vom Scheitel bis zum Zeh, Speichel glänzte auf seiner Unterlippe und schnaubend hob er die Silexklinge höher. Rien lenkte sein Augenmerk wieder auf die junge Frau, die sich schräg zwischen ihnen befand, von einem zum anderen sah und das Kinn reckte. Eine stolze Geste, obgleich ihr Gesichtsoval im Mondlicht bleich und ihre weit aufgerissenen dunklen Augen panisch wirkten.

Vent trat einen Schritt vor, und sofort wich die Frau zurück. Grinsend täuschte er eine Bewegung mit dem Messer an, die sie dazu brachte, einen Satz nach hinten zu machen und dabei einen spitzen Schrei auszustoßen. Vent leckte sich die Lippen. Offenkundig genoss er diesen Augenblick.

Nachdenklich legte Rien die Stirn in Falten. War das Cors Ruf? Und warum fühlte er diese Lust, zu quälen und zu töten, dann nicht?

Langsam bewegte Vent sich auf die Frau zu, die mehrfach versuchte, zur Seite auszubrechen, aber er hinderte sie mit ausgebreiteten Armen daran und trieb sie immer weiter auf den Baum in ihrem Rücken zu, bis sie dagegen stieß. Dann lag Vents Messerklinge an ihrem schlanken Hals und sie kniff die Augen zu. Mit einer Faust packte er den Ausschnitt ihres Kleides, sodass die aufgenähten Perlen abrissen und zu Boden fielen. Vent beugte sich vor und flüsterte etwas in der Sprache der Felsläufer, das sie unmöglich verstehen konnte. Trotzdem schluckte sie sichtbar.

„Warte“, rief Rien leise und horchte angestrengt in die Dunkelheit, doch der andere beachtete ihn nicht. „Vent!“

Ohne sich umzudrehen, grollte sein Begleiter: „Calm sagte, keiner darf entkommen. Erinnerst du dich?“

„Ich weiß, aber …“

„Nichts, aber! Dieses Mädchen wird gleich sterben, und zwar durch meine Hand. Ich bin soweit. Cors Wille erfüllt mich!“

Rien öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Hörte er Cors Ruf nicht, weil er noch nicht bereit war? Er schüttelte den Kopf. Das war jetzt unwichtig. „Still, Vent!“, zischte er mit gesenkter Stimme, machte drei lange Schritte an dessen Seite und packte ihn an der Schulter, gerade als es laut im Unterholz knackte.

Vent fuhr zusammen. Ohne den Griff am Ausschnitt der Frau zu lockern, suchten seine Augen fieberhaft das Gelände ab. Das Messer in seiner Hand zitterte. „Hier ist jemand!“, sprach er das Offensichtliche aus, rempelte Rien grob beiseite und zerrte die Frau vom Baum weg in die Mitte der kleinen Lichtung.

Plötzlich trat eine unverkennbar männliche Gestalt aus dem Hain. Schützend zog Vent seine Gefangene vor sich und bedachte ihr erschrockenes Keuchen mit einem kräftigen Tritt gegen die Wade.

Der fremde Mann knurrte wütend, warf sich auf Vent und riss ihn und das Mädchen zu Boden, das schnellstens von ihrem Peiniger wegkroch. Völlig erstarrt schaute Rien zu, wie der Mann Vent unter sich begrub, der ihn seinerseits mit wilden Schlägen bearbeitete. Ungeachtet dessen, dass Rien dem anderen Felsläufer in keiner Weise zugeneigt war, waren sie heute Nacht Gefährten. Er durfte nicht untätig herumstehen, sondern musste ihm helfen!

Das Herz hämmerte in seiner Brust, drückte heißes Blut in die von Angst gelähmten Glieder und schenkte ihm den Mut, den er brauchte, um den Fremden im Genick zu packen und wegzuzerren. Das erwies sich als viel schwerer als gedacht. Wenn er Vent helfen wollte, musste er den Mann töten. Auch ohne Cors Ruf! Gerade als Rien nach seinem Messer greifen wollte, traf ein harter Schlag seine Rippen, drückte ihm die Luft aus dem Brustkorb und schleuderte ihn ins Laub. Er sah überrascht auf. Grimmig erwiderte die Frau seinen Blick, die offenkundig beschlossen hatte, ins Kampfgeschehen einzugreifen. Dadurch bekam der Fremde seine Hände frei und legte sie um Vents Kehle.

„Nein!“ Rien sprang auf und fasste nach dem lederumwickelten Messerheft in seinem Gürtel, aber es war nicht da! Es musste beim Sturz herausgerutscht sein. Panisch ließ Rien sich zu Boden fallen und durchwühlte das feuchte Laub, dabei jagte sein Blick immer wieder von der Frau zu seinem Begleiter, der verzweifelt auf den Mann einschlug, dessen Hände die Luft aus seinen Lungen pressten. Mit einem Mal hielt der Fremde inne, ein atemloses Stöhnen drang aus seiner Kehle und die Frau schrie erschrocken, bevor sie sich die Hände vor den Mund schlug. Da erkannte Rien, dass sein eigenes Messer zwischen den Rippen des Mannes steckte. Irgendwie musste Vent es in die Finger bekommen haben.

Knurrend löste der Fremde eine Hand von Vents Hals und riss sich das Messer aus seiner Seite. Blitzartig wechselte er den Griff um das Heft, und dann meinte Rien, für einen kurzen Moment die Reflexion der Klinge in den schreckgeweiteten Augen des anderen Felsläufers zu sehen, bevor ein schneller Schnitt seine Kehle durchtrennte. Ein Schwall schwarzen Blutes ergoss sich gurgelnd über Vents Brust, während der Fremde schwer atmend sein Gewicht von ihm hob und schwankend auf die Beine kam. Hastig trat die Frau hinzu, um ihn zu stützen. Gemeinsam blickten sie Rien an, der starr dasaß und dem Röcheln und Gluckern lauschte, bis schließlich beides verklang und Stille sich ausbreitete. Rien schüttelte benommen den Kopf und wollte aufstehen, aber der Mann bedeutete ihm mit dem blutigen Messer, sitzenzubleiben. Er sprach mit warnender Stimme, und obwohl der Felsläufer kein Wort verstand, sank er wieder ins Laub zurück. Unfähig, etwas dagegen zu unternehmen, sah er zu, wie die beiden im Dickicht verschwanden. Er blinzelte ungläubig.

Dann endlich erhob er sich auf alle viere und kroch hinüber zu Vent. Obwohl er wusste, dass der längst tot war, suchte er dennoch nach dessen Herzschlag. Die Kultur seines Stammes lehrte kein Mitleid. Wer getötet wurde, war es nicht wert, am Leben zu sein – so würden es Vents Verwandte halten. Die Schmach über sein Versagen war groß genug, sie würden nicht um ihn trauern. Still blickte Rien in das starre, bleiche Gesicht. Er selbst hatte weder Vater noch Mutter, sein Tod brächte keine Schande über die Familie.

„Rien! Vent!“, rief eine Stimme weit entfernt.

Schwerfällig kam Rien auf die Beine, sein Leib wogte hin und her wie ein Grashalm im Wind, Übelkeit stieg in ihm auf und verursachte ihm einen schalen Geschmack.

„Vent!“ Die Stimme war jetzt so nah, dass der Junge auch den nachfolgenden Satz verstand. „Wo sind diese Ratten?“

„Sie sind tot“, antwortete Kriegsführer Calm. „Wir gehen zurück.“

„Ich bin hier!“, antwortete Rien laut.

Zunächst herrschte Stille, dann wurde das Knacken im Unterholz lauter und schließlich traten zwei Felsläufer heraus.

„Was ist passiert?“, wollte der Kriegsführer streng wissen.

Sein Begleiter hockte sich neben Vent und prüfte dessen Puls. „Er ist tot.“

Calm sah Rien unverwandt an, der unter dem harten Blick erzitterte.

„Eine Frau ist entkommen“, antwortete der Junge mit bangem Herzen.

Entkommen?“, wiederholte der andere Krieger scharf, ehe er sich erhob, vor Rien trat und dessen Schulter packte. „Ihr wart zu zweit!“ Mondlicht ergoss sich auf das schwarzbemalte Gesicht mit den wild blitzenden Augen, feuchte Flecken glänzten auf seinen Wangen. Er hatte es offenkundig nicht versäumt, in dieser Nacht zu töten. So wie Rien.

Ohne Umschweife holte der Mann aus und verpasste ihm einen kräftigen Faustschlag, der seinen Schädel zum Dröhnen brachte. Dem Jungen schossen die Tränen in die Augen, und für einen Moment drehte sich alles um ihn herum, aber der Griff des Kriegers hielt ihn aufrecht.

„Was für eine Schande!“, knirschte der Mann und spie verächtlich auf den Boden.

Calm verschränkte die Arme vor der Brust. „Du wirst dich vor Aenn verantworten müssen, Junge.“

***

Weißes Mondlicht wies den beiden Flüchtlingen den Weg durch dichtes Strauchwerk. Raschelnd versanken Vanias Schritte im verwelkten Laub, das sich hoch zwischen den Haselnussbäumen aufgetürmt hatte. Obwohl es kühl war, schwitzte sie, denn Edin stützte sich schwer auf ihre schmerzende Schulter und blies feuchtwarme Atemstöße gegen ihren Hals. Wie lange sie schon unterwegs waren, wusste Vania nicht. Nur, dass sie weiter mussten!

Unvermittelt blieb Edin stehen und schüttelte den Kopf. „Ich muss mich setzen“, brachte er schmerzerstickt hervor und drückte die Hand fest auf die Wunde an seiner Seite. Er war schon vor dem Kampf mit Vanias Verfolgern verletzt worden, als er den Geräuschen in der Dämmerung nachgegangen und auf Fremde gestoßen war. Doch im Gegensatz zu der tiefen Schnittwunde wirkten sie wie unbedeutende Kratzer.

Besorgt half Vania ihm, sich niederzulassen, und er sank schwerfällig ins Laub. „Lass mich sehen“, verlangte sie und schob seine Hand von dem Verband fort, den sie aus dem Saum ihres Kleides gerissen und um seine Taille gewunden hatte. Vania erschrak, als sie den Handtellergroßen schwarzen Fleck auf dem hellen Stoff entdeckte, der feucht im Mondlicht glänzte. „Ich werde den Verband wechseln“, erklärte sie mit dünner Stimme und wollte eben den Knoten lösen, als Edin jäh ihre Hand packte.

„Nein!“

Erschrocken öffnete Vania den Mund und begegnete seinem strengen Blick.

„Nein“, wiederholte er sanfter, und ein schwaches Lächeln rührte seine Züge, bevor der Schmerz es verwischte. „Das hat keinen Zweck mehr. Ich würde dich auf der Flucht nur behindern.“

Sie schüttelte den Kopf.

Edin lächelte erneut und dieses Mal erreichte es seine Augen, erweckte ein warmes Leuchten darin. Er streckte eine Hand aus und legte sie an ihre Wange, sodass Vania in ihrer Bewegung innehalten und ihn ansehen musste. Ein dicker Kloß bildete sich in ihrem Hals, als er sie so liebevoll anblickte. „Du musst weitergehen.“ Wieder wollte Vania den Kopf schütteln, aber seine Berührung hinderte sie daran. „Ich sterbe.“

Flehentlich umfasste Vania die Finger ihres Gefährten und presste sie fester an ihr Gesicht. „Bitte, lass mich nicht allein.“

Edin schloss die Augen, zog die Stirn in Falten und seufzte schwer. Es war offensichtlich, wie sehr ihn dieses Gespräch anstrengte und wie viel Überwindung es ihn kostete, sie in dieser Welt zurückzulassen. „Es tut mir leid.“ Er atmete tief ein. „Ich wollte dich in Sicherheit bringen.“ Geräuschvoll drückte er die Luft wieder aus seiner Lunge. „Aber ich schaffe es nicht.“

Vania schluckte hart, aber der zähe Klumpen in ihrem Hals blieb an Ort und Stelle und verstopfte ihre Kehle. „Edin.“

Ihr Gefährte hob träge die Lider, fuhr mit dem Daumen über die zarte Erhöhung ihres Jochbeins und wischte eine Träne fort. „Geh nach Nordosten, durch den Wald. Achte auf die Sonne.“ Er hustete und entzog ihr seine Hand, um sie vor seinen Mund zu schieben. „Es ist weit.“

Selbst im bleichen Mondlicht kam es Vania so vor, als wich allmählich die Farbe aus seinen Zügen, während Dunkelheit die feinen Falten darin vertiefte. „Nur zwei Tage nördlich von hier liegt das Dorf, zu dem du wolltest“, widersprach sie.

„Geh nicht dorthin.“

„Warum …“

„Es ist zu nah“, unterbrach er sie. „Vielleicht werden sie es als Nächstes überfallen.“

„Ich kann in meine Heimat zurückkehren.“ Zwar hatte sie dort keine Blutsverwandten mehr, aber sie glaubte fest daran, dass man sie aufnehmen würde.

Müde schüttelte Edin den Kopf. „Die Strecke ist kompliziert. Selbst wenn du auf Anhieb alle Pfade fändest, wärst du bis zum Herbst unterwegs. Bricht der Winter herein, bist du verloren. Geh nach Nordosten.“

Vania ärgerte sich über ihre Dummheit. Hätte sie sich den Weg bloß besser eingeprägt! „Gut“, stimmte sie leise zu.

„Du musst den Großen Wald durchqueren, dahinter liegt die Ebene.“ Edins Hand sank in seinen Schoß. „Die Ockerschürfer sind freundlich. Bitte sie um Hilfe.“ Er stöhnte kehlig und schloss die Lider. „Versprich mir, dass du dich in Sicherheit bringst.“

Vania zögerte. Sie hatte gehört, wie weit sich der Große Wald erstreckte. Manche sagten, er sei endlos, und auch wenn sie dies für eine Übertreibung hielt, bezweifelte sie, dass es ihr gelänge, ihn allein zu durchqueren. Aber das sagte sie nicht laut, sondern setzte sich dicht an Edins Seite, lehnte ihren Kopf an dessen Schulter und griff nach seiner Hand. Die Finger fühlten sich beunruhigend kühl und kraftlos an und sie erschauerte. Trotzdem verbannte Vania die Angst aus ihrer Stimme, um stattdessen ein Lächeln hineinzulegen. „Ich verspreche es.“

Edin entspannte sich merklich neben ihr. Aus den Wipfeln des Hains erklang Vogelgesang. Der neue Tag brach an. „Vielleicht ist es gut so“, murmelte er unvermittelt.

„Was meinst du?“

„Dass du kein Kind trägst.“

Schmerzhaft zog sich Vanias Herz zusammen und Tränen brannten heiß in ihren Augenwinkeln. Mühsam widerstand sie dem Impuls, die Fäuste in ihre Augenhöhlen zu bohren und zu schluchzen wie ein kleines Kind.

Seine Atmung wurde langsamer, flacher, und Vania drückte auffordernd seine Hand, wie um ihn daran zu erinnern, nicht mit dem Luft holen aufzuhören – vergebens. Edin starb. Sie wusste das, aber etwas in ihr wollte es nicht glauben.

Schwer sank sein Körper gegen ihren, sackte mit jedem Atemstoß tiefer in sich zusammen, als verließe ihn zugleich auch ein wenig Leben. Vania schluckte still die Tränen hinunter, während ihr Gefährte langsam starb. Sein letzter Atemzug verklang und die darauffolgende Stille schmerzte grausam. Die Frau zog seine reglose Hand an ihren Mund und presste die Lippen darauf. Keine Träne rollte über Vanias Wange, kein Laut kam über ihre Lippen, nur ein heftiges Zittern erfasste ihren ganzen Leib, drang tief ins Innere vor und rüttelte an ihrer Seele.

Sie war allein. Ganz allein.