Leseprobe Kisses next door

Kapitel 1

„Wir kennen uns seit der Schulzeit! Seit der Grundschule! Wie lange sind wir jetzt schon befreundet …?“ Ich tat, als müsste ich überlegen.

Daniel biss sich auf die Unterlippe.

„Seit beinahe zwanzig Jahren!“

„In der Grundschule waren wir noch gar nicht befreundet!“, rief mein angeblich bester Freund aus. „Maja, es tut mir wirklich, wirklich leid. Aber ich kann dich nicht hier wohnen lassen.“

Die Endgültigkeit in seiner Stimme trieb mir zum wiederholten Male an diesem Tag Tränen in die Augen.

„Oh nein, bitte nicht heulen!“

Ich zog die Nase hoch und kämpfte die Tränen zurück. „Wenn, dann heule ich nicht wegen dir! Obwohl du genau das verdient hättest! Heute ist der schlimmste Tag meines Lebens und ich verlange nicht mal von dir, dass du dich mit mir betrinkst oder von Club zu Club ziehst. Nicht mal verbalen Trost. Nur das blöde zweite Zimmer deiner WG, das sowieso seit zwei Wochen leer steht!“

„Jetzt nicht mehr.“

Vor Schreck vergaß ich zu atmen.

„Das Zimmer ist weg“, fuhr Daniel fort.

„Weg?“, echote ich.

„Ich habe seit zwei Tagen einen neuen Mitbewohner.“

Mit einem Mal wich jegliche Kraft aus meinem Körper. Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die Flurwand. Mein Blick blieb an der großen Reisetasche hängen, die ich in Eile mit den nötigsten Sachen vollgestopft hatte.

Ich war so sicher gewesen, dass ich in Daniels WG unterkommen könnte. Was jetzt? In ein Hotel? Die Vorstellung tat sich wie ein finsterer Abgrund vor mir auf. Ich sah mich ganz allein in einem kühlen, unpersönlichen Raum sitzen. Wahrscheinlich würde ich mir vor lauter Einsamkeit und unverarbeiteter Trauer Alkohol aufs Zimmer bestellen und dabei nicht nur mein dürftiges Gehalt vertrinken, sondern gleichzeitig zur Alkoholikerin werden.

„Warum fährst du nicht zu deinen Eltern?“

Ich kratzte meinen letzten Rest Energie zusammen, um Daniel böse anzufunkeln. „Du weißt genau, dass die mittlerweile im letzten Kuhkaff wohnen.“ Trotzdem besaß die Vorstellung, mich so richtig bemuttern zu lassen, einen gewissen Reiz. Aber länger als fünfunddreißig bis vierzig Minuten am Tag hielt ich diese Fürsorglichkeit auch nicht aus. Und den Rest des Tages säße ich dann zwei Zugstunden von meiner Arbeit und meinen Freunden entfernt zwischen Pferdeställen und Heuballen in der Ödnis fest.

„Was ist mit deiner Freundin von der Arbeit, dieser Elena?“, bemühte Daniel sich weiter, mir Alternativen aufzuzeigen und somit sein schlechtes Gewissen zu beruhigen. „Kann sie dich nicht für ein paar Tage aufnehmen?“

„Die wohnt mit ihrem Freund zusammen und beschwert sich ständig, dass der Platz schon für zwei Personen nicht reicht.“

„Ach stimmt, hast du mal erzählt. Und Nadine? Mit der bist du doch auch schon seit der Schule befreundet.“

„Die ist gerade in Frankreich, Auslandssemester.“

„Oh… okay. Wer käme denn noch in Frage? Ich kenne ja leider sonst keine Freunde von dir.“

„Weil ich sonst keine Freunde habe. Danke, dass du mich daran erinnerst.“ Der schlimmste Tag meines Lebens wurde tatsächlich immer schlimmer. Jetzt war ich nicht mehr nur tieftraurig und verlassen, sondern merkte auch, dass es mit meinen selbsternannten Wir-sind-immer-für-dich-da–Freunden nicht wirklich weit her war.

„Okay, stopp!“, befahl Daniel in diesem Moment. „Du hörst sofort auf, dich im Selbstmitleid zu suhlen. Du hast schließlich jede Menge Freunde! Du kennst doch so viele Leute von der Uni.“

„Nur weil ich mit denen studiere und wir ab und zu gemeinsam in der Mensa essen, kann ich noch lange nicht bei denen einziehen!“, rief ich lauter als beabsichtigt. Ich zwang mich, ein paar ruhige Atemzüge zu tun, bevor ich weitersprach. Ich musste jetzt praktisch denken. Alles Selbstmitleid, jegliche falsche Scham beiseiteschieben und alles auf eine Karte setzen. Ich blickte Daniel entschlossen in die Augen. „Ich weiß nicht, wo ich hin soll.“ Ich zögerte, weil mir jetzt schon Leid tat, was ich gleich sagen würde: „Wirf ihn raus.“

„Was?“

„Wenn es sich bei deinem neuen Mitbewohner nicht um deine todkranke Mutter handelt – und wir beide wissen, dass du deine Mutter, selbst wenn sie krank wäre, niemals bei dir wohnen lassen würdest – muss es doch möglich sein, dass du ihm die Lage erklärst. Und ihn höflich darum bittest, sein Zimmer wieder aufzugeben. Du sagst, er wohnt erst seit zwei Tagen hier, wahrscheinlich hat er sich noch gar nicht eingelebt und findet es gar nicht so schlimm, sich noch mal nach was Neuem umzusehen.“

„Du … das ist nicht dein Ernst, oder? Egal, wie sehr du versuchst, es dir schönzureden: Niemandem macht es nichts aus, zwei Tage nach dem Einzug wieder aus der Wohnung geworfen zu werden!“

„Na ja, Rauswerfen ist im Grunde ja auch das falsche Wort … Du könntest einfach mal in Ruhe mit ihm reden. Oder wir alle zusammen. Genau! Ich erkläre ihm die Lage und du –“

„Maja“, unterbrach mich Daniel. „Das geht nicht. Wenn er irgendjemand wäre, ein Fremder, den ich über eine Annonce gefunden hätte, ja, dann würde ich das für dich tun. Ich schwöre, ich würde ihn irgendwie für dich loswerden. Aber mein neuer Mitbewohner ist auch ein Freund von mir und … ehrlich gesagt glaube ich, ihm geht es noch viel schlechter als dir. Du hättest vorher anrufen sollen, Maja. Dann hätte ich dir die Lage erklärt und du hättest noch ein paar Tage bei Leon bleiben können.“

„Das hat er mir auch angeboten, aber das kann einfach nicht euer Ernst sein!“ Meine Stimme kletterte mindestens zwei Oktaven nach oben.

Daniel hob entschuldigend beide Hände. „Nur bis du etwas Neues gefunden hast. Zumindest würdest du dann jetzt nicht auf der Straße stehen. Was ist eigentlich zwischen euch passiert, dass du Hals über Kopf aus der Wohnung geflohen bist?“

„Findest du, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, um dir mein Herz auszuschütten? Hier, auf deinem WG-Flur mit diesen hässlichen grünen Wänden? Ich obdachlos und du auf dem besten Weg, unsere Freundschaft auf dem Gewissen zu haben?“

„Jetzt beruhig dich aber mal wieder!“

Ich atmete tief ein und wieder aus. Und tatsächlich brachte mich das auf einen neuen Einfall. „Okay. Ich bin ruhig. Und ich spreche jetzt selbst mit deinem ominösen Mitbewohner.“ Ich quetschte mich an Daniel vorbei und lief eilig den langen Flur entlang. Mein Ziel war die erste Tür auf der rechten Seite, direkt hinter einem kleinen Schuhschrank. Ich streckte die Hand nach der Klinke aus, als Daniel mich plötzlich am Arm packte und zurückriss.

„Das kannst du nicht machen!“, zischte er. „Es geht ihm wirklich nicht gut. Die zwei Tage, die er jetzt hier ist, habe ich ihn kaum zu Gesicht bekommen. Ich glaube, er ist depressiv.“

„Depressiv?“ Ich zwang mich, nicht hysterisch aufzulachen. „Über wen reden wir hier eigentlich? Kenne ich ihn?“

Daniel wich meinem Blick aus. „Du solltest lieber gehen.“

„Ich habe dich was gefragt!“

„Nei… ja“, presste er hervor. Er hatte noch nie lügen können. Doch allein die Tatsache, dass er es versucht hatte, gab mir zu denken.

„Wer ist es?“

Daniel sah zu Boden. Fehlte nur noch, dass er sich gleich die Ohren zuhielt und zu summen anfing.

Mein Blick wanderte von Daniel zu der cremefarbenen Zimmertür und wieder zurück zu Daniel.

Da sah mich mein bester Freund plötzlich wieder an. „Kannst du mir nicht einfach vertrauen und glauben, wenn ich dir sage, dass es besser wäre, wenn du gehen würdest?“

„Nein!“ Mir war bewusst, dass ich schon wieder laut wurde und womöglich auch ein kleines bisschen überreagierte. Doch meine Selbstbeherrschung hatte ich heute, so schien es, am Frühstückstisch zurückgelassen.

„Maja, willst du jetzt auch noch Streit anfangen?“

„Wir sind doch schon längst mittendrin!“

Plötzlich hörte ich, wie hinter mir die Tür geöffnet wurde. „Falls es euch noch nicht aufgefallen sein sollte: Ihr seid extrem laut. Und ich hätte gerne meine Ruhe.“

Während ein Teil meines Gehirns grübelte, woher ich diese kühle Stimme kannte, fragte sich der andere, warum Daniel die Person hinter mir mit einem derart entsetzten Gesichtsausdruck anstarrte.

Ich fuhr herum und starrte ebenfalls. Gleichzeitig begann mein Herz wie verrückt zu schlagen.

Es war Felix.

Dieser siebenundzwanzigjährige Felix sah ein wenig anders aus als der neunzehnjährige Felix, den ich in Erinnerung hatte. Trotzdem erkannte ich ihn sofort wieder. Und plötzlich nahm dieser Tag, der bisher der schlimmste meines Lebens gewesen war, eine unerwartete Wendung. Er wurde zu dem Tag, den ich mir während der letzten acht Jahre immer mal wieder ausgemalt hatte, ohne wirklich daran zu glauben, dass er sich jemals ereignen würde.

Eigentlich hatte der Tag gut begonnen. Schon länger hatte ich mit dem Gedanken gespielt, mein Jurastudium abzubrechen, die staubtrockene Theorie einzutauschen gegen spannende, inspirierende Praxis. Ich wollte Design studieren. Und im Laufe der gestrigen Nacht, in der ich viel wach gelegen und gegrübelt hatte, war die endgültige Entscheidung gefallen. Danach hatte ich friedlich geschlafen, in dem wohligen Wissen, dass ich das Richtige tun würde: Nämlich meinem Traum folgen.

So wachte ich am nächsten Morgen mit einem Lächeln im Gesicht auf. Voller Enthusiasmus sprang ich aus dem Bett und gab Leon, der neben mir lag, einen Guten-Morgen-Kuss, bevor ich ins Bad ging. Danach setzte ich summend Kaffee auf und schob zwei Aufbackbrötchen in den Ofen. Ich konnte es kaum erwarten, Leon von meinem Entschluss zu erzählen. Um mich von meiner Ungeduld abzulenken, griff ich nach einem der Bleistifte, die bei uns in der ganzen Wohnung verstreut lagen und begann, auf meiner Serviette zu zeichnen. Als Leon endlich in seinem perfekt sitzenden Anzug und mit den perfekt liegenden Haaren in der Tür erschien, waren auf der Serviette bereits zwei menschliche Umrisse entstanden. Der eine mit langen Haaren und einem übermäßig breiten Grinsen, welches die gleichsam übermäßig großen Schneidezähne offenbarte, der andere mit gerunzelter Stirn und zusammengepressten Lippen, so dass ihm das angestrengte Denken unübersehbar ins Gesicht geschrieben stand. Das waren ich und Leon. Der echte Leon warf nur einen kurzen, resignierten Blick auf mein Werk und nahm dann mir gegenüber Platz. Er schätze es nicht besonders, wenn ich ihn mit meinem karikaturhaften Zeichenstil verewigte.

„Habe ich irgendwas nicht mitbekommen? Valentinstag vergessen? Dreijähriges? Oder wie komme ich sonst zu der Ehre?“ Mit hochgezogenen Augenbrauen beäugte er den gedeckten Frühstückstisch.

Ich musste lachen, denn Leon vergaß niemals etwas. „Alles in Ordnung, keine Sorge. Ich habe heute Nacht eine Entscheidung getroffen, die mir gute Laune macht.“

Zwar fiel mir sein wenig begeisterter Blick auf, doch nur am Rande. Ich war viel zu sehr mit meinem Enthusiasmus beschäftigt und erzählte ihm sofort alles von meinem Entschluss.

Damit begann der Tag, den Bach runter zu gehen.

Zuerst zogen sich Leons Augenbrauen zusammen. Seine Lippen kräuselten sich leicht. In seine Augen trat dieser leicht irritierte Ausdruck. Ganz so, als würde ihm eine penetrante Fliege ums Ohr summen. „Hast du dir das gut überlegt?“

Ich hatte nicht erwartet, dass er meine Begeisterung teilen würde, denn Leon ist sowohl eher ruhig als auch pragmatisch veranlagt. Deshalb grinste ich nur und betonte: „Das habe ich.“

Leon biss in sein Brötchen, kaute und schluckte. „Okay.“

„Okay gut oder okay schlecht?“

Er seufzte und legte sein Brötchen hin. Penibel wischte er seine Finger an seiner eigenen, zeichnungsfreien Serviette ab. Dann sah er mir in die Augen. „Ich muss gestehen, dass ich von deinen Plänen nicht gerade begeistert bin.“

„Oh….“ Ich hätte es mir denken können. Ein Mensch wie Leon dachte natürlich zuerst an die negativen Folgen: Der Zeitverlust, den ein Wechsel des Studienganges bedeutete. Noch mehr Jahre, in denen ich knapp bei Kasse sein würde. Aber sonst? Nein, mehr schlechte Seiten hatte meine Entscheidung beim besten Willen nicht. „Ich verstehe, dass das für dich plötzlich kommt“, versuchte ich, ihm meine Enttäuschung über seine Reaktion nicht zu zeigen. „Aber es ist das Richtige für mich. Gut, es wird noch etwas länger dauern, bis ich Vollzeit arbeite, aber dafür wird es dann auch ein Beruf sein, der mir wirklich liegt.“

Leon schwieg. Er nahm einen Schluck von seinem Kaffee und blickte dabei nachdenklich an mir vorbei.

„Und du weißt ja, dass ich mich schon lange für Kunst und Design interessiere. Eigentlich komisch, dass ich nicht früher darauf gekommen bin. Ich zeichne gerne und auch sonst bin ich gerne kreativ, ich –“

„Du machst viele Dinge gern“, unterbrach mich Leon. „Musst du deshalb immer gleich versuchen, alles zu deinem Beruf zu machen? Nur um dann zu merken, dass deine Interessen als Studium oder Ausbildung nicht mal halb so viel Spaß machen wie als Freizeitbeschäftigung und dir wieder was Neues suchen?“

Ich starrte ihn an. Mit so einem Ausbruch hatte ich nicht gerechnet, Pragmatismus hin oder her. „Es kann ja nicht jeder sofort nach dem Abi Jura studieren, das Studium in Rekordzeit abschließen, in die Kanzlei seines Vaters einsteigen und darin die Erfüllung seines Lebens finden.“ Meine Stimme klang dünn und kläglich. Ich räusperte mich und sagte mit mehr Selbstsicherheit: „Ich bin eben anders als du.“

„Stimmt“, antwortete Leon mit dieser ruhigen, abgeklärten Stimme, die ich so hasste. „Ich bin eher zielorientiert und du … eher nicht.“

Ich schluckte, dann nickte ich langsam. „Kann sein. Ich will eben sicher sein, dass ich nicht Jahre meines Lebens darauf verschwende, einen Beruf zu erlernen, den ich dann nicht leiden kann. Es gibt so viele Möglichkeiten. So vieles, das mich interessiert. Bisher habe ich eben noch nicht das Richtige gefunden, na und? Ich habe doch Zeit.“

„Ich finde, du machst es dir ein bisschen leicht. Immer, wenn ein Punkt kommt, an dem dir etwas keinen Spaß mehr macht, gibst du einfach auf. Anstatt in Erwägung zu ziehen, dass jeder mal eine lustlose Phase hat, die wieder vorübergeht.“

„Ich gebe nicht auf! Aber wenn dieser ganze trockene Gesetzeskram mir schon jetzt zum Hals raushängt, wird es in zwanzig Jahren nicht besser sein!“

Leon sah mich nur abwartend an, wie so oft, wenn ich mich aufregte.

Normalerweise führte dieser Blick dazu, dass ich mich beruhigte, doch heute nicht. „Ich habe mich jedenfalls entschieden. Und nichts, was du sagst, wird etwas daran ändern. Es ist mein Leben und ich halte meine Entscheidung für richtig!“

Leon schwieg. Er nahm noch einen Bissen von seinem Brötchen, wischte sich die Finger wieder an der Küchenrolle ab und trank einen Schluck Kaffee.

„Strafst du mich jetzt mit Schweigen?“, wollte ich wissen.

„Sei nicht albern.“

„Dann sag, was du zu sagen hast. Wir sind lange genug zusammen, ich weiß, wenn da noch was ist, das du loswerden willst.“

Ich konnte sehen, wie Leon sich im Geiste seine Worte zurechtlegte.

Während ich darauf wartete, dass er sie ausspuckte, hob ich meine Kaffeetasse.

„Es tut mir leid, das kommt jetzt sicher plötzlich für dich, aber … Ich glaube, diese Beziehung macht keinen von uns beiden mehr glücklich.“

Ich erstickte beinahe an dem Kaffee, den ich in diesem Moment hinunterschlucken wollte. Brennend verteilte sich ein Teil davon in meiner Luftröhre. Ich hustete so heftig, dass mir Tränen in die Augen stiegen.

Leon lehnte sich über den Tisch und klopfte mir hilfsbereit auf den Rücken. „Geht’s wieder?“

Inzwischen hatte ich die Kaffeetröpfchen erfolgreich aus meiner Luftröhre gehustet. Nur die Tränen flossen immer noch.

„Ach Maja, jetzt wein doch nicht. Mir fällt diese Entscheidung auch nicht leicht.“

„Ich weine doch nicht, das kommt vom Verschlucken!“ Ich schnäuzte mir die Nase und wischte wütend über meine Wangen. Es nützte nichts. Immer mehr Tränen quollen hervor. „Wie kommst du nur auf so was?“, presste ich hervor. Mein ganzer Körper zitterte vor unterdrückten Schluchzern. „Drei Jahre, Leon! Seit einem wohnen wir zusammen. Wie kommst du plötzlich auf so einen Unsinn? Wo kommt das her?“ Ein Teil von mir war der felsenfesten Überzeugung, dass es sich bei der ganzen Sache nur um ein äußerst grausames Missverständnis handeln konnte. Doch der andere Teil – der, der unaufhörlich frische Tränen aus meinen brennenden Augen trieb – ahnte, dass es nicht so war.

„Ich kann das einfach nicht mehr. Zusehen, wie du so orientierungslos durchs Leben treibst.“

Ich lachte trocken auf, doch auch das klang mehr wie ein Schluchzen. „Plötzlich bin ich dir zu orientierungslos? Seltsam, als ich meine Ausbildung zur Erzieherin abgebrochen habe, um Jura zu studieren, hat sich das noch ganz anders angehört. Was hast du damals gesagt? ‚Das ist eine tolle Idee, Schatz. Dann kannst du später in unsere Kanzlei einsteigen.‘ Komisch, dass dich meine Unentschlossenheit erst jetzt stört, wo ich begriffen habe, dass ich doch keine Anwältin werden will!“

„Jetzt wirst du aber ungerecht. Und sei doch mal ehrlich: Kennst du irgendjemanden in deinem Alter, der ähnlich viele Studiengänge und Ausbildungen angefangen und abgebrochen hat wie du?“

„Was kann ich dafür, dass man in der Schule nicht richtig auf die Berufswahl vorbereitet wird? Ein einziges Pflichtpraktikum in der Oberstufe – das ist doch ein Witz!“

„Ich weiß nicht mal, ob ich alles fehlerfrei aufzählen kann“, fuhr Leon fort, meinen Einwurf ignorierend. „Arzthelferin war die erste Ausbildung, oder? Dann das Germanistikstudium, Medizin –“

„Psychologie, nicht Medizin.“

„Dann die Ausbildung zur Erzieherin, Jura, und nun Design? Ich werde einfach das Gefühl nicht los, dass du immer wieder etwas Neues ausprobieren und immer so weiter machen wirst, nur, um nicht arbeiten zu müssen.“

Mit offenem Mund starrte ich ihn an. Ich wollte wütend sein, ihn wegen dieser schrecklichen Unterstellung anschreien, doch ich fühlte mich einfach nur tief verletzt. „Ich arbeite doch“, flüsterte ich.

„Du hast einen Teilzeitjob, um während des Studiums über die Runden zu kommen. Das ist doch keine Arbeit.“

Sprachlos sah ich den Mann an, der so lange an meiner Seite gewesen war. Mit dem ich meine Träume und Geheimnisse geteilt hatte, dem ich näher gewesen war und mehr vertraut hatte, als irgendjemandem zuvor. Etwas in mir war sich sicher, dass ich nur die richtigen Worte finden musste und es würde alles wieder gut werden. Wir würden darüber reden, uns umarmen und alles würde so sein wie immer. Doch der vernünftigere Rest von mir wusste, dass das nicht stimmte. Dass egal, was wir beide tun oder sagen würden, etwas kaputt gegangen war, das man nicht mehr reparieren konnte. „Du denkst, mir gefällt einfach das Studentenleben? Die unregelmäßig stattfindenden Vorlesungen und die viele Zeit, die ich mir frei einteilen kann?“

Leon nickte.

Ich schüttelte ungläubig den Kopf. „Hast du mir jemals zugehört? Wenn ich dir von meinen Gefühlen und Sorgen erzählt habe? Von meiner Unsicherheit und meinen Ängsten, was die Zukunft angeht?“

„Natürlich habe ich das, aber –“

„Nein, hast du nicht! Wenn es so wäre, hättest du ein anderes Bild von mir! Und würdest nicht glauben, dass ich einfach faul bin und keine Lust auf ein erwachsenes Leben habe!“

„Ich glaube, dass du dich einfach gerne selbst belügst.“

Plötzlich fühlte ich mich nur noch leer. „Das stimmt nicht.“

„Siehst du. Deshalb kann ich das nicht mehr. Wie soll ich mit einem Menschen zusammen sein, der nicht einmal ehrlich zu sich selbst ist?“

„Hast du nur ein einziges Mal in Erwägung gezogen, dass deine Meinung über mich vielleicht falsch sein könnte? Dass ich wirklich so bin, wie ich mich sehe? Dass ich mich selbst besser kenne, als du mich?“

„Ehrlich gesagt, nein.“

Ich nickte mechanisch. „Dann ist wohl alles gesagt.“

Plötzlich sah ich Leon, den Esstisch und die Küche nur noch undeutlich vor mir. So, als hätte ich gerade genug Alkohol getrunken, um mich wie in Watte gepackt zu fühlen. Ich stand auf und schwankte.

Leon sah mich besorgt an. „Alles in Ordnung?“

„Ja, alles super. Ich geh’ meine Sachen packen.“ Schritt für Schritt schleppte ich mich zur Küchentür und versuchte, dieses seltsam haltlose Gefühl auszublenden.

„Komm schon, Maja“, rief Leon mir hinterher. „Wo willst du denn hin? Bleib hier, bis du was Neues gefunden hast. Es ist doch kindisch, so Hals über Kopf auszuziehen!“

Ich ignorierte ihn und ging ins Schlafzimmer, wo ich meine Reisetasche und meinen Rucksack unter dem Bett hervorzerrte. Willkürlich stopfte ich alles in die Tasche, was mir ins Auge fiel: Kleidung, Bücher, Krimskrams. Mit meinem Rucksack ging ich ins Bad und warf meine Kosmetikprodukte hinein. Dann holte ich die Kisten, die ich schon beim Umzug von meinem kleinen, möblierten WG-Zimmer in Leons Wohnung benutzt hatte, aus der Abstellkammer. Mein komplettes Hab und Gut, mein gesamtes gemeinsames Leben mit Leon war überraschend schnell verstaut.

Als ich die schwere Tasche den Flur entlang zur Haustür zerrte, saß Leon immer noch am Frühstückstisch. Ich spürte seinen Blick auf mir, doch ich sah nicht in seine Richtung.

„Die Kisten hole ich die nächsten Tage ab“, informierte ich die Haustür, bevor ich die Wohnung verließ.

Erst als ich bei minus fünf Grad mit einer Tasche, die ich kaum ziehen, geschweige denn heben konnte, auf dem Bürgersteig stand, begriff ich, was soeben geschehen war: Ich hatte keinen Freund mehr. Ich war Single. Ich war allein. Keine gemütlichen Abende vor dem Fernseher mehr, kein gemeinsames Kochen, kein Kuscheln, keine Gute-Nacht- und Guten-Morgen-Küsse, kein gemeinsames Lachen, kein „Ich liebe dich“ mehr. Drei Jahre. Leon. Meine Zukunft, unsere Pläne. Alles war vorbei.

Ich schniefte und erst da merkte ich, dass mir Tränen über die Wangen liefen. Hastig wischte ich mir über das Gesicht und suchte in meinem Rucksack, in dem ich auch meine Handtasche verstaut hatte, nach einem Taschentuch. Natürlich fand ich keins.

„Scheiße“, murmelte ich. Und dann: „Jetzt reiß’ dich mal zusammen.“

Doch meine Gedanken kehrten ungefragt zu Leon zurück und zu dem Grund für das Ende unserer Beziehung. Wie konnte er das so kühl und kalkuliert entscheiden? Hatte er mich überhaupt je geliebt? So bedingungslos und mit all den kleinen Fehlern, mit denen ich ihn geliebt hatte?

Ich spürte, wie mir schon wieder die Tränen kamen, doch ich spürte noch etwas anderes: Die Kälte. In meinen Fingern hatte ich bereits kein Gefühl mehr, ebenso in meiner Nase und meinen Ohren. Und langsam aber sicher kroch der Winter auch durch meine Jeans.

Ich konnte hier nicht stehenbleiben, bis ich meine Trennung von Leon verarbeitet hatte. Ich musste jetzt praktisch denken, den Luxus der Trauer aufschieben, bis ich wieder ein Dach über dem Kopf hatte.

In diesem Moment fiel mir Daniels WG ein und dass das zweite Zimmer seit kurzem leer stand. Bei dem Gedanken daran fiel zumindest eine kleine Last von mir ab. Ich würde bei Daniel einziehen, über Leon hinweg kommen und mein neues Leben als Design-Studentin beginnen. Auch wenn mir diese Vorstellung im Augenblick nicht viel Freude bereitete und ich alles, inklusive meiner neuen Studienpläne gegeben hätte, wenn zwischen Leon und mir nur alles wieder so wäre wie noch vor zwei Stunden.

Als ich mir ein Taxi rief, einstieg, mich zu Daniel fahren ließ und dort meine Tasche die Stufen hochzerrte, konzentrierte ich mich darauf, mir einzureden, dass ich stark war. Dass ich es schaffen würde, meine Träume zu verwirklichen und glücklich zu werden, auch ohne Leon. Und Daniel, mein bester Freund, würde mir dabei helfen.

Doch dann kam alles anders. Daniel wartete nach meinem Klingeln an der Tür, als ich oben ankam, nahm mir meine schwere Tasche ab und ließ mich herein. So weit so gut.

Doch dann verweigerte er mir sein Zimmer, weil er es schon an irgendeinen depressiven Freund vergeben hatte. Wir gerieten in Streit und plötzlich geschah das Wunder, das mich die grauenhaften Ereignisse vom Morgen kurzzeitig vergessen ließ. Felix stand vor mir. Der Felix, für den ich meine gesamte Schulzeit über geschwärmt hatte.

„Du“, sagte Felix tonlos.

Ich war nicht imstande, auch nur einen Laut von mir zu geben. Er war es wirklich, auch wenn er sich äußerlich etwas verändert hatte: Das dunkelbraune, leicht wellige Haar war jetzt länger als früher, so dass es ihm ins Gesicht fiel. Und seine blaugrünen Augen, die damals vor Ausgelassenheit gesprüht hatten, strahlten eine ungewohnte Ernsthaftigkeit aus. Und noch etwas schien anders, er schien anders, auch wenn ich nicht genau sagen konnte, was dieses Gefühl in mir auslöste.

Doch die hohen Wangenknochen waren noch dieselben, ebenso wie die leicht gebräunte Haut und die geschwungenen Augenbrauen. Ohne, dass ich Einfluss darauf gehabt hätte, glitt mein Blick auch über seinen Körper. Über die Ansätze des Schlüsselbeins, die aus dem Ausschnitt seines Langarmshirts hervorlugten und die sich ganz leicht abhebenden Armmuskeln. Ich zwang meinen Blick zurück auf sein Gesicht und versuchte, das Kribbeln in meinem Bauch zu ignorieren.

„Tja, Überraschung!“, rief Daniel unbeholfen. „Felix, du erinnerst dich bestimmt noch an Maja, oder?“

„Dunkel.“ Der Blick aus seinen hellen Augen wurde von Sekunde zu Sekunde unfreundlicher.

Ich schluckte und das Kribbeln erstarb. Aber was hatte ich erwartet? Dass Felix die letzten acht Jahre ständig an mich gedacht und noch viel öfter von mir geträumt hatte, so wie ich von ihm? Wohl kaum. Ich ignorierte den bitteren Geschmack, den Felix‘ offen zur Schau gestellte Ablehnung bei mir hervorrief. „Was machst du hier?“, fragte ich ebenso unfreundlich. Und fügte mit einem scharfen Seitenblick auf Daniel hinzu: „Ich wusste gar nicht, dass ihr beide noch Kontakt habt.“

„Ich wüsste nicht, was dich das anginge.“

Mit Mühe hielt ich Felix‘ herablassendem Blick stand.

„Also, das ist jetzt wirklich eine blöde Situation“, sagte Daniel und lächelte unsicher. „Felix, ich weiß nicht, ob du das mitgekriegt hast, aber Maja sucht ein Zimmer. Sie dachte, deins wäre noch frei und jetzt … na ja, von mir aus könnt ihr auch vorübergehend beide in dem Zimmer wohnen. Oder wenn es gar nicht anders geht, könntest du auch eine Weile bei mir im Zimmer schlafen.“

Felix quittierte das Angebot mit einem bösen Blick.

Daniel seufzte. „Ich würde es ja auch dir, Maja, anbieten, aber Miri findet es bestimmt nicht so toll, wenn ich mit einer anderen Frau das Zimmer teile.“

Ich nickte. Miri, Daniels Freundin war zwar locker, aber so locker dann auch wieder nicht.

„Also, überlegt es euch, ihr kennt mein Angebot. Denn Rest macht ihr vielleicht am besten unter euch aus?“ Mein Blick folgte ihm, als er sich feige in sein Zimmer zurückzog.

Als ich mich umdrehte, war Felix nicht mehr da. Aus den Augenwinkeln sah ich gerade noch, wie seine Zimmertür von innen zugeschoben wurde. Ich reagierte ohne Nachzudenken. Mit einem großen Schritt platzierte ich meinen Fuß zwischen Tür und Rahmen.

„Was soll das?“, kam es ärgerlich von innen. Felix verstärkte den Druck auf die Tür.

Doch ich trug meine schweren Winterstiefel. Da konnte er drücken, wie er wollte, ohne, dass ich überhaupt etwas spürte. „Du hast Daniel gehört. Wir sollen das unter uns klären.“

Mit einem genervten Seufzer ließ Felix gerade so weit von der Türe ab, dass er mich ansehen konnte, ohne sich den Hals zu verrenken. „Da gibt es nichts zu klären. Ich wohne hier. Du nicht.“

„Aber ich weiß nicht, wo ich sonst hin soll!“

„Wo genau ist das mein Problem?“

„Was machst du überhaupt hier?“, rief ich mit verzweifelter Wut. „Bist du nach dem Zivi nicht nach Berlin gezogen? Warum bist du auf einmal wieder in der Stadt? Und warum suchst du dir nicht vorher eine Wohnung, sondern überfällst Daniel und tust auf depressiv, so dass er sich nicht mal traut, seiner besten Freundin zu helfen?“

„Warum nimmst du nicht das Angebot deines Ex-Freundes an und bleibst bei ihm, bis du was Neues gefunden hast?“

Ich erstarrte. Hatte er etwa alles mit angehört? Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss. „Das geht dich überhaupt nichts an!“

„Meine Rede. Wenn du jetzt freundlicherweise deinen Fuß aus meiner Tür nehmen könntest?“

„Vergiss es!“ Ich stemmte mich kurz und heftig gegen die Tür, so dass sie nach innen aufschwang.

Felix sprang zur Seite und ich nutzte die Gelegenheit, um mich ins Zimmer zu schieben.

„Geht’s noch?“, giftete Felix. „Das ist mein Zimmer!“

„Jetzt nicht mehr.“ Ich sah mich um. Der Raum begann mit einer Art Nische, der man nach links folgen musste, bevor man richtig im Zimmer stand. Doch auch hier wirkte der Raum sehr klein, obwohl nicht viele Möbel darin standen. Nur ein breites, sperriges Bett mit einem metallenen Nachttisch daneben, ein hässlicher alter Kleiderschrank und ein Monster von einem schwarzen Sofa. All diese Dinge hatte der vorige Mitbewohner von Daniel hier gelassen. Ich ließ mich auf dem abgenutzten Lederbezug der Couch nieder. „Ich bleibe hier. Entweder du gehst freiwillig … “

„ … oder?“ Felix starrte kalt auf mich herab.

Ich antwortete nicht, sondern streckte mich demonstrativ auf dem Sofa aus.

„Du hast sie ja nicht mehr alle! Ich werde mein Zimmer nicht teilen!“

„Dann geh doch.“ Ich schenkte ihm ein liebenswürdiges Lächeln.

Felix sah aus, als wollte er mich am liebsten am Kragen packen und aus dem Zimmer schleifen.

Ich krallte mich vorsichtshalber am Sofa fest, bereit, Widerstand zu leisten.

Felix machte einen Schritt auf mich zu, die Hände zu Fäusten geballt.

„Ich bin stärker, als ich aussehe“, warnte ich. Das stimmte. Trotzdem blieb ich eine einsfünfundsechzig kleine Person und Felix eine mindestens einsachtzig große. Ich versuchte, überzeugend und furchtlos auszusehen.

Felix starrte mich an, dann hob sich sein rechter Mundwinkel. Nur minimal, doch es erinnerte trotzdem an ein äußerst schiefes Lächeln. Dann war es auch schon wieder vorbei und zurück blieb nur sein grimmiger Gesichtsausdruck. Einen Moment lang stand er so da, dann entspannten sich plötzlich seine Gesichtszüge. „Hör zu“, begann er in überraschend freundlichem Tonfall. „Ich brauche wirklich meine Ruhe. Du kannst hier nicht wohnen.“

Jetzt versuchte er es also mit Vernunft und Diplomatie. Das konnte ich auch. „Ich kann und tue es bereits.“

„Ich habe meinen Arbeitsplatz verloren, habe kein Geld und kann deshalb sonst nirgendwo hin.“

Ich öffnete den Mund, um etwas Fieses zu erwidern, doch es wollte einfach keine Gemeinheit herauskommen. „Das tut mir leid“, sagte ich aufrichtig.

Er nickte langsam. „Ich muss mich völlig neu orientieren. Mir überlegen, wie mein Leben weitergehen soll und dafür brauche ich einfach meine Privatsphäre und Ruhe zum Nachdenken, verstehst du?“

Plötzlich hatte ich das Gefühl, auf mich selbst herabzublicken. Was ich sah, war nicht gerade schön: Eine rücksichtslose, egozentrische Person, die nur ihre eigenen Probleme im Kopf hatte. Die sich nicht mal eine Sekunde lang gefragt hatte, ob Daniel vielleicht recht damit hatte, dass es Felix schlecht ging, bevor sie ihm sein Zimmer wegnahm. Ich erkannte mich selbst nicht wieder.

Felix sprach weiter: „Es tut mir leid, dass du in einer ähnlich verzweifelten Lage steckst wie ich. Aber von Daniel weiß ich, dass du zumindest eine Arbeit hast. Und bestimmt hast du auch eine Menge Freunde hier in der Stadt, zu denen du gehen könntest. Ich habe zu kaum jemandem von den alten Leuten aus der Schulzeit noch Kontakt, eben weil ich damals nach Berlin gezogen bin.“

Meine Wangen brannten vor Scham, als ich mich von der Couch erhob. Es war nicht leicht, den Mut aufzubringen, Felix in die Augen zu sehen. „Entschuldige“, flüsterte ich. „Ich wusste nicht, dass du solche Probleme hast.“

Felix zuckte mit den Achseln. „Woher auch? Ich hätte dir die Situation von Anfang an erklären sollen.“ Auch er lächelte. Plötzlich sah er genauso aus wie damals. Und auch die Schmetterlinge in meinem Bauch meldeten sich zurück.

„Nochmal, Entschuldigung. Ich weiß wirklich nicht, was mit mir los ist.“ Ich wandte mich der Tür zu. Als von Felix nichts mehr kam, griff ich nach der Klinke. „Vielleicht sieht man sich ja mal wieder.“ Dann flüchtete ich aus dem Zimmer. Draußen lehnte ich mich schwer atmend gegen die Tür. Am liebsten hätte ich meinen Kopf dagegen gehämmert. Vielleicht sieht man sich ja mal wieder? Ich musste wirklich dringend lernen zu denken, bevor ich den Mund aufmachte.

Neben mir öffnete sich Daniels Zimmertür. Vorsichtig steckte mein ehemals bester Freund seinen Kopf heraus.

„Wieso hast du mir nicht gesagt, dass er dein neuer Mitbewohner ist?“, zischte ich.

„Eben deshalb“, flüsterte er gleichermaßen gereizt. „Sieh dich an. Du bist total von der Rolle. Denkst du nicht, es ist langsam an der Zeit, ihn zu vergessen?“

„Was du wieder denkst! Mein Freund hat gerade mit mir Schluss gemacht und ich bin einfach überrascht, Felix wieder zu sehen. Das ist alles. Und selbst, wenn es anders wäre: Du hast nicht zu entscheiden, wen ich vergesse und wen nicht!“ Jetzt war ich doch wieder nahe dran Daniel anzuschreien. Schlimmer noch: Ich war kurz davor, ihn mitten im Flur vor Felix’ Zimmertür anzuschreien. Vor Felix’ überaus hellhöriger Zimmertür. Also schubste ich Daniel zurück in sein eigenes Zimmer, folgte ihm und schloss die Tür hinter uns. „Und wieso hast du mir nicht gesagt, in welcher Situation er sich befindet?“

„Ich habe dir gesagt, dass er Probleme hat!“

„Das hätte auch bedeuten können, dass er sich mit einem Freund gestritten oder einfach schlechte Laune hat.“

Daniel versuchte, etwas einzuwerfen, doch ich ließ mich nicht unterbrechen. „Du hättest mir sagen müssen, dass er entlassen wurde! Dann hätte ich doch niemals … “ Ich brach ab und raufte mir die Haare. „Hast du eine Ahnung, was er jetzt für einen Eindruck von mir hat? Der muss mich doch für eine selbstbesessene Ziege halten.“

„Eher für eine extrem gutgläubige Ziege.“

Ich blinzelte irritiert. „Was?“

„Mir hat er erzählt, dass er selbst gekündigt hat, weil er …“ Er unterbrach sich kurz und zeichnete mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft, „die Nase voll hatte von dem ganzen Scheiß.“

„Was soll das heißen?“

Daniel hob mitleidig die Augenbrauen. „Dass er gelogen hat.“

Mir klappte der Mund auf. „Dieser … “

Bevor Daniel etwas sagen oder tun konnte, war ich schon zurück auf den Flur gestürmt und riss Felix’ Zimmertür auf.

„Ich wusste, ich hätte einen Küchenstuhl unter die Klinke klemmen sollen.“ Er hockte auf dem Bett und sah mir gelassen entgegen. „Ich dachte, du wolltest dich nicht einmischen“, meinte er mit einem Seitenblick auf Daniel, der hinter mir ins Zimmer trat.

„Wollte ich nicht, aber ihr bekommt es ja alleine nicht hin.“ Die unterschwellige Schärfe in Daniels Stimme überraschte mich. War er nun doch auf meiner Seite?

Felix zuckte mit den Achseln und widmete sich wieder seiner Zeitschrift. „Halte deinen Moralvortrag doch einfach jemandem, den er interessiert.“

Ich warf Daniel einen fragenden Blick zu. Als er den Mund öffnete, kam ich ihm zuvor: „Ich weiß schon: Er macht eine schwere Zeit durch“, wisperte ich.

„Eigentlich ist er immer so“, flüsterte mein bester Freund zurück.

„Das hab ich gehört“, kam es von Felix.

„Gut“, gab Daniel zurück.

Einen Moment lang standen wir beide unschlüssig da und starrten Felix an, der weiterhin vorgab zu lesen.

„Weißt du was: Ist mir egal, ob du gekündigt hast, gefeuert wurdest oder suizidal bist. Ich bleibe hier!“ Ich quetschte mich an Daniel vorbei, trat auf den Flur und griff mir meinen Rucksack sowie meine Reisetasche. Unter Keuchen schleppte ich beides in Felix‘ Zimmer bis neben die große Couch. Auf dieser ließ ich mich nun zum zweiten Mal heute nieder, öffnete den Reißverschluss meiner Tasche und begann mit einem provozierenden Blick in Felix‘ Richtung, meine Sachen auszupacken.

„Was machst du da?“, kam auch prompt die ebenso scharfe wie unnötige Frage.

„Ich richte mich hier häuslich ein.“

„Das … “ Zum ersten Mal schienen ihm die Worte zu fehlen.

Ich zuckte nur mit den Achseln und zog ein Kleidungsstück nach dem anderen aus meiner Reisetasche. Ich bildete einen Stapel für Jeans, einen für Röcke, einen für Pullis und einen für T-Shirts. Nur die Unterwäsche und Socken ließ ich, wo sie waren. „Du hast nicht zufällig noch ein bisschen Platz in deinem Kleiderschrank übrig?“

Felix öffnete den Mund, schloss ihn wieder, öffnete ihn abermals, doch brachte auch diesmal keinen Ton heraus.

„Ach, mach dir keine Mühe. Auf dem Boden ist ja genug Platz.“ Nachdem ich mit der Kleidung fertig war, machte ich mich daran, meine restlichen Sachen auszupacken. Ein seltsames Grunzgeräusch ließ mich zur Tür blicken. Daniel stand noch immer dort und sah aus, als ob er sich nicht entscheiden könnte, ob er lachen oder weinen sollte. „Wenn du nichts Besseres zu tun hast, könntest du mir vielleicht eine Wolldecke bringen?“

Er machte Anstalten, das Zimmer zu verlassen, doch entschied sich anders. „Maja, wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gerne ganz kurz mal mit dir reden.“

„Geht leider nicht. Sonst wird er wahrscheinlich die Gelegenheit nutzen, meine Sachen hinauswerfen und irgendwie die Tür verriegeln.“ Ich warf Felix einen Blick zu.

Der lächelte nur freudlos und machte keinen Versuch, es abzustreiten.

Daniel lehnte sich seitlich gegen den Türrahmen. „Jetzt mal Spaß beiseite, Maja. Hältst du das wirklich für eine gute Idee? Was willst du denn machen, wenn du mal aufs Klo musst?“

Ich biss mir auf die Unterlippe. Gute Frage. Der Meinung schien auch Felix zu sein, denn ein triumphierendes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.

„Hast du keinen Schlüssel für diese Tür?“, fragte ich Daniel.

Der schüttelte den Kopf. „Wenn es beim Einzug einen gab, hab ich den zumindest seit Jahren nicht gesehen.“ Er seufzte. „Denkst du nicht, dass du ein bisschen übertreibst?“

„Ja, ein kleines bisschen?“, kam es von Felix.

„Nein.“ Na gut, möglicherweise. Die Energie, die mich die letzte halbe Stunde angetrieben hatte, verpuffte plötzlich ins Nichts. Ich fühlte mich nur noch müde. Zu müde, um zu streiten. „Freu dich nicht zu früh“, sagte ich trotzdem zu Felix. „Ich habe heute so gut wie noch nichts getrunken. Kannst du das auch von dir behaupten?“

Felix strafte mich nur mit einem kalten Blick.

Daniel verließ wortlos das Zimmer und kam wenig später mit einer Wolldecke und einem kleinen Kissen zurück. Wenigstens ein klitzekleines Lächeln warf er mir zu, als er alles auf der Couch ablegte. „Bringt euch nicht gegenseitig um, ja?“

Als weder Felix noch ich antworteten, ging Daniel kopfschüttelnd hinaus und schloss die Tür hinter sich.

Die Stille, die sich nun im Zimmer ausbreitete, war erdrückend.

Um mich abzulenken angelte ich aus meinem Rucksack ein Buch und schlug es auf. Ich versuchte mich zu konzentrieren, doch es war aussichtslos. Meine Gedanken schweiften unaufhörlich ab. Ich las den ersten Satz ein zweites und ein drittes Mal, ohne seine Bedeutung zu verstehen. Schließlich gab ich auf und ließ das Buch sinken. Meine Hand tastete nach dem Rucksack, zog den Reißverschluss auf und holte mein Smartphone heraus. Kein Anruf. Keine Nachricht. Betäubt steckte ich das Smartphone zurück in den Rucksack.

Leon meinte es ernst. Er war niemand, der eine solch weitreichende Entscheidung leichtfertig traf. Er würde sich nicht bei mir melden, würde sich nicht entschuldigen. Die Beziehung war vorbei. Doch der Grund dafür entzog sich noch immer meinem Verstand.

Ich hätte mir einreden können, dass Leon sich einfach verändert hatte. Dass ich den Mann von heute Morgen gar nicht wiedererkannte, dass er nichts mit dem gemein hatte, in den ich mich vor drei Jahren verliebt hatte. Doch das war falsch. Leon war derselbe. Und ich war es auch. Wie also konnte es sein, dass ich ihn noch immer liebte, er aber über die Zeit seine Gefühle für mich abgelegt zu haben schien? Und wieso hatte ich es nicht bemerkt?

Wie konnte es sein, dass ich heute Morgen aufgestanden war und nicht die geringste Ahnung gehabt hatte, was meine Entscheidung bezüglich meines Studiums bei Leon auslösen würde? Nicht im Traum hätte ich es für möglich gehalten, dass meine Beziehung heute enden würde. Dass ich auszog, Felix wieder traf und mit diesem ein Zimmer teilte.

Mein Blick wanderte zum Bett. Hatte ich übertrieben? War ich aufgrund der Erlebnisse heute Morgen zu einer selbstsüchtigen Hexe mutiert? Ich versuchte, mich aus Felix’ Sicht zu sehen. Er legte ja offenkundig den größten Wert auf seine Ruhe. Hatte ich das Recht, ihm diese zu nehmen, nur weil es mir ebenfalls nicht gut ging? Doch dann musste ich daran denken, wie er mit mir umgegangen war. Wäre er ein wenig netter gewesen, hätte er mich auch nur mit einem Mindestmaß an Respekt behandelt, wäre das alles nicht passiert.

Ich lehnte mich ein wenig zur Seite, um Felix’ Gesicht von vorne sehen zu können. Er wirkte so viel ernster als früher. Wie er auf die Zeitschrift in seiner Hand starrte kam er mir vor, als hätte er seit Wochen nicht mehr richtig gelacht. Und noch etwas fiel mir auf: Felix’ Augen waren nicht auf die Zeitschrift gerichtet. Auf den ersten Blick sah es so aus, doch in Wirklichkeit starrte er über das Magazin hinweg ins Leere.

Die Erinnerung traf mich völlig überraschend. Ich war wieder neunzehn Jahre alt und saß zusammen mit ein paar Freundinnen auf einer Bank in der Pausenhalle. Ich hörte Tina und Annabella, die neben mir über die gestrige Matheklausur diskutierten, überhaupt nicht. Stattdessen folgte ich mit meinem Blick Felix, der einige Meter entfernt auf der gegenüberliegenden Seite der Pausenhalle saß. Vor ihm stand Saskia, ein zierliches, dunkelhaariges Mädchen, von dem ich wusste, dass sie im selben Deutschkurs wie Felix war. Ich konnte sie nicht leiden. Wild gestikulierend redete sie auf Felix ein. Doch der sah das Mädchen nicht an, vielmehr blickte er an ihr vorbei ins Leere, genau in meine Richtung. Als mir klar wurde, dass er mit den Gedanken offensichtlich ganz woanders war und Saskia nicht einmal zuhörte, musste ich lächeln. Plötzlich fokussierte sich Felix’ Blick und richtete sich direkt auf mich. Unsere Augen trafen sich für einen Moment. Und Felix lächelte ebenfalls.

Ich blinzelte und sah wieder das Profil desselben, jedoch acht Jahre älteren Mannes vor mir. Und plötzlich fand ich den Gedanken, dass wir beide auf diese Art und Weise möglicherweise Tage oder Wochen nebeneinander her leben würden, schlichtweg unerträglich.

„Ähem“, sagte ich vorsichtig.

Felix blinzelte und drehte den Kopf in meine Richtung. Unfreundlich sah er mich an.

„Lass uns noch mal über alles reden, ja? Vielleicht finden wir ja doch eine Lösung.“

„Vielleicht habe ich mich vorhin nicht deutlich genug ausgedrückt – was ich bezweifle – aber ich sage es trotzdem noch mal: Ich will dich hier nicht haben. Ich will nicht mit dir reden und schon gar nicht will ich, dass du in derselben Wohnung, geschweige denn im selben Zimmer wie ich wohnst. Daran wird kein Gespräch der Welt etwas ändern.“

Diese offene Feindseligkeit traf mich mehr, als ich mir selbst eingestehen wollte. Fast war ich versucht, meine Sachen zu packen und zu gehen, um nicht mehr Felix’ Abneigung ausgesetzt zu sein. Gleichzeitig regte sich die Wut in mir, die auch vorhin schon dazu geführt hatte, dass ich mir einfach genommen hatte, was ich wollte: Ebendieses Zimmer. Was fiel Felix ein, so mit mir zu sprechen? Was hatte ich ihm jemals getan? Ich war ein Mensch in einer verzweifelten Lage!

Trotz der neu erwachten Wut zwang ich mich zur Diplomatie: „Du kannst mich offensichtlich nicht leiden, okay. Ich finde dich gerade auch nicht wirklich sympathisch. Aber wir beide befinden uns in einer ähnlichen Situation: Wir brauchen eine Unterkunft, also könnten wir uns doch genauso gut arrangieren.“

„Nein.“

„Wieso denn nicht, verdammt noch mal?“

„Weil ich zuerst hier war. Es ist mein Zimmer, ich zahle Miete dafür. Du hast kein Recht, dich hier einzunisten!“

„Schön.“ Ich atmete tief ein und aus, bis ich mich ein wenig beruhigt hatte. Dann presste ich die folgenden Worte aus mir heraus: „Wahrscheinlich stimmt das.“

Felix sah mich abwartend an.

„Ich hatte das so auch nicht vor. Ich wollte mit dir reden und dir meine Situation erklären, aber dazu warst du ja nicht bereit.“ Ich merkte, wie ich wieder auf die vorwurfsvolle Schiene abdriftete und erinnerte mich an einen Artikel, den ich während meines zweisemestrigen Psychologiestudiums gelesen hatte: Konstruktives Streiten. Was hatte da noch drin gestanden? Richtig, man sollte immer von sich selbst ausgehen, dem anderen die eigene Sichtweise ruhig darlegen und Vorwürfe vermeiden. „Du hast Daniel und mich vorhin auf dem Flur gehört und weißt, was passiert ist. Mein Freund hat sich von mir getrennt und deshalb bin ich aus seiner Wohnung ausgezogen. Natürlich könnte ich mir ein Hotelzimmer nehmen, aber ich will ganz einfach nicht allein sein.“

Felix’ Mund verzog sich zu einem spöttischen Grinsen. „Siehst du, hier ist der Unterschied zwischen uns beiden: Ich wäre gern allein, aber da ich momentan arbeitslos bin, kann ich mir kein Hotelzimmer leisten.“

„Warum suchst du dir dann keinen Nebenjob?“, rutschte es mir heraus.

Felix’ Miene sagte mir, dass ich einen großen Fehler gemacht hatte. Sein Blick wurde eiskalt. „Ich kann dich nicht loswerden, soviel ist mir klar. Wahrscheinlich würdest du mich noch anzeigen, wenn ich dich mit Gewalt vor die Tür setze.“

Das würde ich nicht. Trotzdem würde das eine hässliche Angelegenheit werden, da ich mich mit aller Kraft wehren würde. Daher begrüßte ich seine Befürchtung und hütete mich, ihn zu korrigieren.

„Ich muss dich also dulden“, fuhr er fort. „Aber dann sei wenigstens still und verschone mich mit deinen Pseudo-Problemchen. Die sind nicht so interessant wie du anscheinend denkst.“ Er drehte mir demonstrativ den Rücken zu.

Ich ballte meine Hände zu Fäusten, lockerte sie und ballte sie abermals. Eine weitere Erinnerung drängte sich in mein Bewusstsein. Nämlich daran, wie Daniel mich schon in der Schule gewarnt hatte, dass Felix extrem launisch sein konnte. Aber von einem derartigen Verhalten war ich nie Zeuge geworden. Schade eigentlich. Hätte ich schon damals diese Seite an Felix kennengelernt, hätte ich sicher nicht so lange für ihn geschwärmt. Was für eine Zeitverschwendung.

Ich warf seinem Rücken einen letzten Blick zu, dann wandte ich mich ab. Wenn Felix glaubte, mich mit solchem Verhalten aus seinem Zimmer ekeln zu können, hatte er sich sowas von getäuscht.