Leseprobe Keine Regeln für den Lord

1. Kapitel

Schloss Redmayne, Devonshire, 1891

Sieben Jahre ohne eine Frau im Bett waren zu lang für einen Schotten. Oder waren es schon beinahe acht?

Cassius Gerard Ramsay, Lord Chief Justice am Obersten Gerichtshof, war davon überzeugt, dass seine lange Enthaltsamkeit der Grund für das körperliche Leiden war, das ihm gerade zu schaffen machte. Seit seiner Jugend hatte es ihn nicht mehr geplagt.

Eine unerwünschte, quälende Erektion in aller Öffentlichkeit. Er war fast vierzig. In diesem Alter sollte er gegen solche Maleschen immun sein und solche Schwächen hatte er sich schon vor Jahren abgewöhnt. Das Leben hatte ihn gelehrt, dass ein Mann seine Gelüste mit eiserner Faust und unerschütterlicher Selbstbeherrschung zügeln musste, sonst würden sie ihn ruinieren.

Und dennoch war er jetzt seinem Schwanz ausgeliefert und versuchte zu verbergen, wie heftig – nein, gewaltsam – sein Körper auf den Anblick der üppigen, rätselhaften Miss Cecelia Teague reagierte. Sie leckte Trüffelschokolade von ihren unbehandschuhten Fingern. Und das mitten auf einer Soiree auf Schloss Redmayne.

Er befahl sich energisch, woanders hinzusehen, doch sein Blick kehrte immer wieder zu ihrem herzförmigen Gesicht zurück, wie von einer unsichtbaren Leine gezogen. Er verschwendete keine Zeit mit der Frage nach dem Warum. Sie war genau der Typ Frau, zu dem er sich immer hingezogen fühlte. Eine, die mehr Kurven als Ecken hatte. Üppig. Sogar luxuriös. Ihre Haut hatte die Farbe von frisch geschlagener Sahne, ihre Lippen die seines Lieblingslikörs. Sie trug ein lila Seidenkleid; es war ein Kontrast zu ihren kupferroten Locken, die im Licht der Kronleuchter glänzten.

Der Blick ihrer blauen Augen war ein Widerspruch in sich. Groß und ehrlich … aber wechselhaft. Er fand die Kombination faszinierend.

Cecelia Teague war eine lebende Sünde. Ein berauschendes Gebräu aus Unschuld und Zügellosigkeit. Die weibliche Entsprechung einer Praline.

Ihre Fingerspitze verschwand in ihrem Mund und sie leckte den restlichen Geschmack von der Haut ab. Ramsay unterdrückte ein gequältes Stöhnen und biss sich so fest auf die Lippen, dass er Blut schmeckte, als er die Beine übereinanderschlug. Dann setzte er sie wieder nebeneinander. Er rutschte hin und her und schlug sie wieder übereinander, diesmal anders herum.

Sieben. Verdammte. Jahre.

Oder war es noch länger? Seine Dreißiger kamen ihm vor wie eine endlos lange Zeit von Arbeit und Einsamkeit, ohne dass ihm der köstliche Anblick einer nackten weiblichen Gestalt vergönnt gewesen war.

Und was für ein Leckerbissen Miss Teague wäre, wenn sie sich aus all den Spitzen, Rüschen und albernen Vorrichtungen herausgeschält hatte und nur noch ehrliche Rundungen, aufreizende Grübchen, seidiges Haar und geschmeidige, weiche Haut blieben.

Wie hatte er es so lange ausgehalten, ohne die warme Last der Schenkel einer Frau auf seinen Schultern zu spüren, wenn er sie zu einem schaudernden Höhepunkt brachte?

So lange, dass er beinahe vergessen hatte, wie sich die Geschlechtsteile einer Frau anfühlten. Die geheime Feuchtigkeit, das nachgiebige Fleisch, die unheilige Wollust.

Cecelia Teague bückte sich und nahm sich noch eine Praline vom Kristalltisch. Dabei gewährte sie ihm einen Einblick in ihren weiten Ausschnitt. Jede Sünde, die er begangen oder sich auch nur ausgemalt hatte, kam ihm wieder in den Sinn. Sein Herz fing vor Lust an zu rasen.

Lieber Gott, diese Brüste würden einen Heiligen in Versuchung führen. Sie würden unter seinen Händen schmelzen wie frische Sahne.

Ein Schweißtropfen rann von seinem Nacken in den Kragen. Er atmete tief ein und stellte sich den warmen, einladenden Duft der weichen Haut dazwischen vor. Den salzigen Geschmack auf der Zunge, die unerträgliche Weichheit …

„Möchten Sie probieren, Mylord Ramsay?“

Er brauchte eine Ewigkeit, um Miss Teagues beiläufiges Angebot zu verstehen. Schließlich blinzelte er und fragte eloquent: „Äh – wie bitte?“

„Sie haben die Praline so hungrig angestarrt.“ Ihre Brillengläser vergrößerten ihre sonderbar dunklen Wimpern, die sich sittsam senkten. „Und ich verspreche Ihnen, sie schmecken genauso gut, wie Sie es sich vorstellen. Cremig und füllig, mit einem Hauch Salz. Die besten, die Sie je gegessen haben, darauf verwette ich mein Leben.“

Ramsay wurde der Mund trocken. Sein Blick fiel auf ihre Brüste und er schluckte, als er ihn wieder zu ihrem ernsten Gesicht hob.

Sie bot ihm sicher nicht an, ihre Haut zu probieren. Nicht … hier. Er hatte schon erlebt, dass sich ihm Damen der Gesellschaft anboten, junge und alte, aber nicht so ausdrücklich.

Sein erigiertes Glied zuckte und spannte sich an. Es bestand kein Zweifel, was seine widerspenstige Libido sich wünschte.

Er warf einen hilflosen Blick auf die anderen Gäste der Soiree, die wie bunte Kolibris um einen Fliederbusch herum schwirrten und nie lange an einem Ort blieben.

Hatte noch jemand anderes ihren schockierenden Vorschlag mitbekommen?

„Alexandra und ich haben beide eine Schwäche für exquisite Schokolade, wissen Sie.“ Sie nahm eine Praline vom Teller und war dabei so diskret wie ein Juwelier, der eine Sammlung von Diamanten präsentiert. „Sie sind aus Belgien. Sie sind schon von außen unvergleichlich und warten Sie nur, was Sie im Inneren finden!“

Verwirrt starrte Ramsay die Praline an und verfluchte sich selbst wegen seiner Dummheit.

Sie hatte ihm eine Praline angeboten. Natürlich. Wie war er auf die Idee gekommen, dass sie ihre Haut gemeint hatte? Vielleicht hatte ihre heisere Stimme – wie Rauch über einem Glas Branntwein – ihn so hypnotisiert, dass er die Worte nicht richtig aufgenommen hatte.

Er räusperte sich und warf einen wütenden Blick auf seinen Halbbruder Piers Gedrick Atherton, den Duke of Redmayne. Der war so in eine lebhafte Unterhaltung mit seiner Frau Alexandra vertieft, dass er nichts merkte.

Ramsay hoffte, dass er seinen Bruder nur grimmig genug anstarren musste. Dann würde der verdammte Herzog kommen und ihn retten.

Er hoffte vergeblich. Redmayne und die Herzogin hatten mit ihren Gästen zu tun und taten ihr Bestes, um die freigebige Countess of Mont Claire, Lady Francesca Cavendish, in die Gesellschaft einzuführen.

Himmel, Miss Teague war nur auf dieses verflixte Schloss eingeladen worden, weil sie eine langjährige Schulfreundin von Lady Francesca und Lady Alexandra war. So viel er wusste, waren die drei Frauen schon seit Jahrzehnten unzertrennlich, und sein Bruder hatte Alexandra in dem Wissen geheiratet, dass Francesca und Cecelia inbegriffen waren.

Also warum gab sich die bezaubernde Miss Teague nicht lieber mit ihnen ab, als ihn zu quälen?

Die betreffende Dame lächelte ein wenig schuldbewusst. Sie schlug die Zähne in die Praline und verschlang sie, als sei es ihre Henkersmahlzeit. „Ich bin immer noch satt von unserem opulenten Abendessen“, sagte sie und hielt sich die Hand vor die Lippen, damit man nicht sah, dass sie mit vollem Mund redete. „Aber mein Appetit auf Nachtisch ist unstillbar.“

Ramsay verschluckte fast seine eigene Zunge. Unstillbar. Wie sein sündiges Begehren. Seine Haut war empfindlich, heiß und fühlte sich sehr dünn an. Alles wirkte üppiger. Dekadent. Der Samt des Sofas. Der Duft in der Luft. Es war gefährlich. Dieser Augenblick. Diese Lust. Diese Frau.

Solche Momente konnten dazu führen, dass ein Mann alles verlor, weil er die falsche Entscheidung traf. Wenn er sie etwa zum Tanzen aufforderte oder dazu, mit ihm in den Garten zu gehen, damit er in den Rosenbüschen ihren Ruf ruinieren konnte.

Er war kein solcher Mann und würde es nie sein. Ramsay biss die Zähne zusammen und hoffte, dass er sie durch Schweigsamkeit dazu bringen konnte, einfach wegzugehen.

Die Frau ahnte nichts von seinen lüsternen Gedanken. Sie beugte sich wieder vor und suchte ihm eine Praline heraus. „Sie sollten eine probieren. Alex wird nichts dagegen haben, falls Sie deshalb zögern. Sie ist ungeheuer großzügig.“

Ramsay zuckte zusammen. Miss Teague nannte die Duchess of Redmayne, die den vielleicht ältesten Titel im ganzen Empire trug, einfach „Alex“. Als ob sich seit ihrer Kindheit nichts geändert hätte. Als sei sie vollkommen sicher unter all den Angehörigen des alten Adels. Es kümmerte Cecelia anscheinend nicht, dass sich die Leute die größte Mühe gaben, nicht mit ihr zu reden, weil sie ihnen nicht gut genug war. Sie war weder adlig noch reich, das wussten alle und es fragte auch niemand nach. Dass sie in dieser Gesellschaft auffiel, war nur ihrem schimmernden Haar und ihrer ungewöhnlichen Größe zu verdanken.

Machte ihr die Abweisung der Leute wirklich so wenig aus, wie es schien? Es musste so sein, sonst hätte sie nicht drei Pralinen verzehrt, während sie von gnadenlosen Leuten umgeben war.

„Kommen Sie, probieren Sie schon“, drängte sie und hielt ihm die Schokolade hin.

„Nein, danke“, brachte er hervor und konnte nicht verhindern, dass seine Stimme heiser klang. „Ich halte mich zurück.“

„Bei Schokolade?“

„Bei allem.“

Sie starrte ihn an, als habe er Verrat oder Gotteslästerung begangen. „Kommen Sie, Mylord, ein Bissen wird nicht schaden. Außerdem habe ich sie schon vom Teller genommen und es wäre sehr unmanierlich, sie zurückzulegen.“ Das Grübchen in ihrer Wange vertiefte sich, als sie schelmisch lächelte. Ihr Daumen und Zeigefinger spielten mit der Praline. Es sah sehr anregend aus.

„Ich verstehe nicht, warum Sie unbedingt wollen, dass ich Schokolade esse.“

„Weil Sie offensichtlich ausgehungert sind“, antwortete sie. „Sie können nicht aufhören zu starren.“

Wollte sie kokettieren?

„Genießen Sie es gern an meiner Stelle. Ich lasse mich nicht in Versuchung führen“, stieß er mit zusammengebissenen Zähnen hervor.

Ihr Mund zuckte, als überlege sie, ob sie ihm verzeihen sollte oder nicht. Schließlich steckte sie sich die Praline in den Mund und gab ein genüssliches kleines Stöhnen von sich.

Himmel, er war ein verdammter Lügner. Er hatte sich von Cecelia Teague in Versuchung führen lassen, seit er sie vor ein paar Monaten – am Abend von Redmaynes Verlobungsfeier – zum ersten Mal gesehen hatte. Und dann wieder auf der Hochzeit.

Man hatte sie einander vorgestellt und er hatte sich über ihre ausgestreckte Hand gebeugt. Sie zu küssen, war ihm irgendwie falsch vorgekommen, weil sogar diese unschuldige Geste heißes Begehren in ihm entfachte.

Danach war er ihr nach Möglichkeit aus dem Weg gegangen, was auch nicht schwierig gewesen war. Sie bewegte sich nicht in seinen gesellschaftlichen oder beruflichen Kreisen, abgesehen von dem Kontakt zu seinem Halbbruder Piers und ihrer Freundin Alexandra.

Doch es hatte den Anschein, dass der Herzog und die Herzogin einander seit ihrer eiligen Heirat nicht mehr von der Seite wichen. Deshalb war es unmöglich, der verführerischen Miss Teague aus dem Weg zu gehen.

Ramsay seufzte ungeduldig und versuchte, den Blick auf jemand anderes – irgendwen – zu richten. Er sollte Diplomaten die Hand schütteln, zum Beispiel dem Grafen Armediano, einem italienischen Geschäftsmann und Schiffsreeder von geheimnisvoller Herkunft. Oder vielleicht die morgige Rede im House of Lords mit Sir Hubert, dem Lord Chancellor, besprechen. Oder mit dem Premierminister über die Erbschaftssteuer diskutieren. Ja, er sollte arbeiten und denjenigen seinen Willen aufzwingen, die seine politischen Ziele unterstützen sollten.

Und dennoch … er konnte nicht aufstehen, bevor er seinen rebellischen Schwanz wieder unter Kontrolle hatte. Das wäre leichter ohne die füllige Miss Teague in der Nähe.

„Wie bedauerlich.“ Das echte Mitleid in ihrer Stimme brachte ihn dazu, wieder ihre prickelnde Schönheit anzusehen.

„Entschuldigen Sie?“

Genervt von ihrer Neigung, seine geheimsten Gedanken anzusprechen, rutschte er wieder hin und her und dachte an die Vorzüge des neuen Gesetzes für Landbesitz, nur um zu sehen, ob es sein körperliches Leiden lindern würde.

„Wir sprachen darüber, dass Sie sich zurückhalten.“ Sie schenkte ihm ein schelmisches Lächeln, bei dem ein bezauberndes Grübchen in ihrer Wange zum Vorschein kam. „Mylord Chief Justice, wenn Sie vor Gericht nur halb so unaufmerksam sind, sorge ich mich um die Leute, die ihnen Beweismaterial präsentieren.“

Zu seiner großen Überraschung war er eher belustigt als zornig. Es kam nur selten vor, dass jemand es wagte, ihn aufzuziehen, und noch seltener, dass es ihm gefiel.

„Entschuldigen Sie bitte, Miss Teague, ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir. Ich habe meine Manieren vergessen, weil ich in Gedanken beim Bodensatz der Gesellschaft war.“

„Das tut mir leid.“ Sie bezähmte offenbar ihre Neugier und lächelte etwas zu strahlend, während sie ihre Röcke glattstrich. „Möchten Sie darüber reden? Ich empfinde das oft als Erleichterung.“

„Ich nicht.“ Es hatte nicht so kurz angebunden klingen sollen, doch seine gegenwärtigen Sorgen waren nicht für Damen geeignet. Es ging nämlich um das Verschwinden junger Damen oder eher junger Mädchen.

Das war in einer Metropole wie London keine Seltenheit, doch in dem Fall hatten die Ermittler Hinweise darauf gefunden, dass ein tückischer Ring aus Schmugglern, Menschenhändlern und Profiteuren dahintersteckte. Leute, die Menschen wie Vieh verkauften, die aus Armen und Einwanderern Sklaven machten und ihren Wert nach Gewicht beurteilten.

Ein paar Kriminelle, die ins Netz gegangen waren, zeigten mit dem Finger in erstaunliche Richtungen, als man sie befragt hatte. Auf die Aristokratie, die Regierung, das Militär und sogar auf die Kirche.

Er war von korrupten und unmoralischen Männern umgeben und die Schmuggler nannten oft aus Angst ein Wort: rubricata. Eins der vielen lateinischen Wörter für „Rot“.

Ramsay war voller Sorge in diese Dinge vertieft und war nicht in der Stimmung für eine Soiree, doch er konnte nicht absagen – dafür waren zu illustre Gäste da und die Wahl rückte näher. Und so hatte er pflichtschuldig die Gäste begrüßt und eine ruhige Ecke am Kamin gefunden. Wer auf einem der berühmten Feste des Dukes of Redmayne sehen und gesehen werden musste, verirrte sich nicht hierher.

Er hatte einen Moment nachgedacht und war im Begriff gewesen, auf ein paar sehr hübsche junge Damen zuzusteuern, als Miss Teague sich neben ihm niedergelassen hatte. Sie war fast in ihren Röcken versunken, hatte angefangen, sich an den Pralinen zu bedienen und ihn zu erregen.

Sie beugte sich so heftig vor, als wolle sie aufspringen. „Wenn Sie nicht reden möchten, überlasse ich Sie Ihren Gedanken, Mylord“, sagte sie und klang nicht nur nicht beleidigt, sondern gleichgültig.

„Nein“, sagte er, ohne nachzudenken.

Ihre Augen weiteten sich bei seinem instinktiven Widerspruch, aber er selbst war noch entsetzter. Ramsay war verwirrt und beobachtete sie aufmerksam. Was hatte diese Frau an sich, das ihm eine so heftige Reaktion entlockte? Noch nie hatte ihn jemand so sehr aus dem Konzept gebracht. Er wollte sie loswerden und sehnte sich doch nach ihrer Nähe und die Kraft dieses Begehrens beunruhigte ihn.

Das hieß, dass er sie sofort in die Flucht schlagen sollte.

„Verzichten Sie nicht meinetwegen auf Ihre Pralinen“, hörte er sich sagen. Dann biss er die Zähne noch fester zusammen, damit er nicht etwas unvertretbar Lächerliches tat – zum Beispiel, sie aufzufordern, sich auf seinen Schoß zu setzen. Hatte er nicht gerade noch gehofft, dass sie gehen würde?

Ihre Augen funkelten vor Vergnügen, dann wurde ihr Blick verständnisvoll. „Darf ich Ihnen etwas zu trinken holen, damit Sie den Stress des Tages ertränken können?“

Er schüttelte den Kopf und war sich nur allzu bewusst, wie wichtig es war, sich in ihrer Gegenwart zu beherrschen. „Ich trinke normalerweise nicht. Das eine Glas Wein, das ich mir gestatte, habe ich beim Essen getrunken.“

„Ein Leben ohne Schokolade und Wein!“ Sie legte den Kopf schief. Wieder dämpfte Mitleid das Funkeln in ihren Augen. „Wie trostlos. Was tun Sie zum Vergnügen, Mylord?“

Vergnügen. Wann hatte er sich zum letzten Mal ein solches gegönnt?

„Ich arbeite.“ Ramsay ballte die Faust an seiner Seite, damit seine Hand nicht über das auberginenfarbene Polster seines Stuhls strich. Das tat er manchmal immer noch – er befühlte einen Stoff, als könne er nicht glauben, dass er echt war.

Auch nach all den Jahren noch.

Als Junge hatte er sich nicht vorstellen können, dass etwas so Weiches existierte. Das Bett, in dem er schlief, war hart gewesen. Sein Zuhause in jeder Hinsicht kalt und leer, ebenso wie sein Bauch und schließlich auch sein Herz. Alles, weil seine Familie in selbstsüchtigen Vergnügungen geschwelgt hatte. Es hatte ihnen nur Schande, Unglück und Elend gebracht. Seine Mutter hatte sich schwache Männer mit niedrigen Instinkten gesucht und sie ruiniert. Sein Vater war danach jedem Vergnügen verfallen und zuletzt hatte es ihn umgebracht.

Redmaynes Vater, der zweite Mann ihrer beider Mutter, hatte sie zur Herzogin gemacht. Sie hatte ihm seine Liebe und Ergebung damit gedankt, dass sie ihm so oft Hörner aufgesetzt hatte, dass er sich schließlich vor Verzweiflung im Suff erhängt hatte.

Sogar Redmayne hatte sich bis zur Besessenheit in Abenteuer gestürzt, bis der Prankenhieb eines Jaguars ihn sein schönes Gesicht und beinahe das Leben gekostet hatte. Und jetzt stand er im Bann seiner Frau, die ein verarmter Blaustrumpf gewesen war und ihn mehr als einmal in Lebensgefahr gebracht hatte. Es schien ihnen völlig egal zu sein, dass die oberen Zehntausend über sie tuschelten, selbst wenn sie Redmaynes Reichtum und Einfluss nutzten. Aber wie lange würde das so gehen? Nein. Nein, Ausschweifung war ein Fluch und Vergnügen eine Gefahr. Etwas, das einen Mann beherrschte, bis er nicht mehr er selbst war. Bis er Macht, Würde oder beides aufgegeben hatte. Er hatte in seinen jüngeren Jahren der Versuchung nachgegeben, einer Versuchung, die sehr nach Liebe ausgesehen hatte.

Und es wäre beinahe sein Untergang gewesen.

Sein Blick ruhte schon wieder auf Miss Teague. Wieder einmal lenkte sie ihn ab, diesmal damit, dass sie ihre blasse Haut unter Handschuhen verschwinden ließ. Ruhen. Wie lange war es her, dass er das getan hatte? Nur still dagesessen und einen schönen Anblick genossen. Gott, sie war so schön anzusehen – und ebenso wunderbar anzuhören. Sie strahlte eine Sanftheit aus, die er noch nie erlebt hatte, und es verwirrte ihn, dass es ihn gleichermaßen erregte und beruhigte.

Wie konnte sie ihn so entflammen, indem sie ihre Haut verbarg? Die Geste hatte nichts Verführerisches und doch fand er sie aufreizender, als wenn ein Dutzend Revue-Tänzerinnen ihre Korsetts aufschnürten.

„Verzeihen Sie, wenn ich zu neugierig bin“, sagte sie und vergaß – vielleicht mit Absicht – ihre vorige Frage. „Aber ich möchte wissen, warum Sie … abstinent sind.“

Er sah sie forschend an und fragte sich, ob ihr die Doppeldeutigkeit des Wortes bewusst war. Er lauschte auf einen lasziven Unterton. Wusste sie, dass er keine Partnerin hatte? Dass er sie gerade heftig begehrte? Er sah in ihrem offenen Gesicht nur ehrliches Interesse und so gab er eine ehrliche Antwort.

„Es ist vor allem Taktik.“

„Ein taktischer Feldzug gegen Schokolade und Wein?“ Wieder dieses halbe Lächeln, das sogar das der Mona Lisa in den Schatten stellte. Schüchtern und schelmisch zugleich, ohne einen Hauch von Koketterie.

„In meinem Beruf muss man über jeden Tadel erhaben sein. Deshalb vermeide ich jede Ausschweifung, die süchtig machen oder den Charakter schwächen kann. Alkohol, Müßiggang, Völlerei, Glücksspiel …“

„Frauen?“ Graf Adrian Armediano mischte sich ins Gespräch. Sein gebräuntes, allzu schönes Gesicht zeigte eine gekonnte Mischung aus Charme und Herausforderung.

„Das versteht sich doch von selbst“, sagte Ramsay vorwurfsvoll. „Vor allem, wenn eine anwesend ist.“

„Im Gegenteil. Eine Frau ist keine Schwäche, sondern eine Stärke.“ Armediano wandte sich an Cecelia und sah sie bewundernd an. Seine Lippen kräuselten sich auf katzenhafte Art, die Ramsay sofort missfiel. Der Italiener strich mit einer weiß behandschuhten Hand über die Rückenlehne des Sofas und schaffte es, die Geste sowohl verführerisch als auch harmlos wirken zu lassen. „Ein Leben ohne Frauen ist nicht lebenswert.“

Cecelias Wangen erröteten wie Pfirsiche unter dem offenen, beifälligen Blick des Grafen.

Ramsay machte ein finsteres Gesicht und ballte die Fäuste. .

Armediano bewegte sich mit geübter Eleganz und öffnete einen Knopf seines Jacketts, als er sich unanständig nah zu Miss Teague beugte. Er nahm einem Diener zwei Gläser ab und ließ ein Lächeln aufblitzen, das nicht bis zu dem berechnenden Blick seiner goldenen Augen reichte.

Sie nahm das angebotene Glas mit einem dankbaren Laut entgegen, nippte vorsichtig daran und warf Ramsay einen ironischen Blick zu.

Der Graf hatte die Augen eines Raubvogels. Das fiel Ramsay auf. Scharf und hart. Ihm entging nichts, als er sich leichtfüßig unter den oberen Zehntausend bewegte. Niemand fühlte sich von jemandem bedroht, der so fremd war und so weit über einem schwebte.

Bis er zu seiner Beute hinabstieß.

Die arme Miss Teague war ein sanftes Kaninchen, das er mit seinen Klauen ergreifen würde.

In Ramsay stieg eine männliche Hitze auf und er bändigte das Raubtier, das in ihm steckte. Er hatte keinen Grund, sich mit diesem Mann anzulegen. Cecelia war für ihn nur eine flüchtige Bekannte. Was kümmerte es ihn, wenn sie einem Don Juan zum Opfer fiel?

„Womit könnte man einen Abend besser beenden als mit Champagner?“, fragte sie träumerisch.

„Nur mit einer Sache.“ Es war unmissverständlich, was der Graf meinte. Er strich mit den Knöcheln über das bisschen Haut, das über ihrem Handschuh und unter dem Ärmel zu sehen war, und hinterließ eine Gänsehaut.

Ramsay hätte Armediano am liebsten die Finger gebrochen, einen nach dem anderen.

Ihre Brustwarzen waren wahrscheinlich steif geworden. Wegen eines anderen Mannes.

„Verzeihen Sie mir, dass ich Ihr Gespräch unterbrochen habe“, sagte der Graf ohne einen Funken Ehrlichkeit. „Doch ich konnte nicht umhin, das Thema mitzubekommen, und es hat mich neugierig gemacht und zugleich bekümmert. Sind Sie nicht unglücklich, Mylord Chief Justice, weil Sie sich die Freuden versagen, die das Leben zu bieten hat?“

Er wäre weniger unglücklich, wenn es noch üblich gewesen wäre, abgeschlagene Köpfe auf der London Bridge auszustellen. Der von Armediano wäre gut als Schmuck geeignet.

„Ganz und gar nicht.“ Ramsay setzte die Beine wieder nebeneinander. Der Neuankömmling hielt sein Blut davon ab, weiter in seinen Unterleib zu fließen. „Ich habe mir durch Zielstrebigkeit, Fleiß und Disziplin ein angenehmes und erfolgreiches Leben aufgebaut. Man muss nicht der Sünde und dem Skandal verfallen, um zufrieden zu sein.“

„Kein Mann ist ohne Sünde“, schmunzelte Armediano und warf Cecelia einen Blick zu. „Und auch keine Frau.“

Cecelia gab einen leisen, kehligen Laut von sich und musterte Ramsay, als sei er ein Rätsel, das sie nicht lösen konnte. „Man muss sich fragen, ob Zufriedenheit reicht. Sind Sie nicht einsam, Mylord Ramsay? Oder gelangweilt?“

Ramsay wollte ihr erklären, dass die meisten Leute Einsamkeit nicht verstanden – oder erst, wenn sie echte Isolation erlebt hatten. Man konnte in einem Raum voller Menschen einsam sein. Oder in den Armen einer Geliebten. Es gab viele Arten von Einsamkeit. Er fragte sich, ob er alle erlebt hatte.

Stattdessen verschloss er sich. „Ich bin ein viel beschäftigter Mann. Ich habe keine Zeit für Langeweile oder Einsamkeit.“

„Wie schön für Sie“, murmelte sie. Sie blinzelte ihre besorgte Miene weg und nahm einen tiefen Schluck. Dann verkündete sie: „Ich gestehe, dass ich mir manchmal zu viel Schokolade und Champagner genehmige. Für einen altjüngferlichen Blaustrumpf gibt es nur wenige andere Freuden.“

„Bravo.“ Der Graf hob sein Glas.

Sie und Armediano stießen an. Der Klang tat ihm im Ohr weh.

Ramsay spürte, dass seine Adern für sein Blut zu eng wurden. Er rang um Fassung.

„Ich habe gehört, dass Sie an der Sorbonne studiert haben, Miss Teague.“ Die Augen des Grafen funkelten unter seinen dunklen Brauen.

„Sie sind gut informiert“, erwiderte sie.

„Mit Ihren bezaubernden Freundinnen, der Countess of Mont Claire und der Duchess of Redmayne?“

Ramsay merkte, dass die Miene des Italieners viel zu eifrig für eine so beiläufige Frage war und seine Augen schmal wurden. Einem Mann, der sich nicht mit Kriminellen und Mördern auskannte, wäre es vielleicht nicht aufgefallen.

„Alex war damals noch keine Herzogin, aber ja, wir waren zusammen auf der Sorbonne – und davor auf der École de Chardonne für Mädchen am Genfer See.“

„Wo Sie meines Wissens eine Gesellschaft gegründet haben – Rastrello Rosso.“

„Keine Wüstlinge, lieber Graf“, korrigierte sie mit einem zufriedenen Lächeln, das heller strahlte als jedes Feuer. „Rogues. Wir waren die Red Rogues.“

„Sie spricht Italienisch!“, staunte der Graf.

„Aber sehr schlecht“, wiegelte sie ab. „Und wo haben Sie von den Red Rogues gehört, Sir? Unser kleines Trio war nicht sehr bekannt.“

„Im Gegenteil.“ Der Graf rückte näher an sie heran, bis sein Knie ihres berührte. „Frauen, die die Universität besucht haben, sind immer noch eine Seltenheit, sogar in Frankreich. Und ein Trio aus solchen belle donne wie Ihnen bleibt nicht unbemerkt, vor allem, wenn sie ein Faible für Zeitvertreibe haben, die nur Männern gestattet sind.“

Man musste Miss Teague zugutehalten, dass sie anmutig ihr Knie verbarg und sich verlegen eine Locke aus der Stirn zupfte. „Wir sind entschlossen, ein außergewöhnliches Leben zu führen, Mylord.“

Ramsay konnte sich die Frage nicht verkneifen: „Und eine außergewöhnliche Ehe zu schließen?“ Er nickte in Richtung der Herzogin.

Ihre Miene verdüsterte sich und zwischen ihren Brauen erschien eine Falte. „Wir haben uns geschworen, nie zu heiraten, aber für Alexandra haben sich die Umstände geändert.“

„Wollen Sie damit sagen, dass Ihre Freundin, die Countess of Mont Claire, nicht heiraten will?“, hakte der Graf nach. „Braucht sie keinen Erben für ihr Vermögen und ihren Titel?“

„Das ist zurzeit nicht ihre größte Sorge“, antwortete Cecelia vage.

„Und was ist mit Ihnen?“

Cecelia rückte ihre Brille zurecht und wand sich förmlich vor Unbehagen. „Was soll mit mir sein?“

„Verzeihen Sie einem Ausländer seine schlechten Manieren, aber haben Sie keinen Bedarf an einer vorteilhaften Ehe? Mathematiker machen nur selten ein Vermögen.“

Cecelia schüttelte den Kopf und ihre cremefarbene Haut wurde gespenstisch weiß. „Ich … nein …“

Ramsay wusste aus Erfahrung, dass ein Mann von seiner Größe nur selten laut werden musste. Er sprach leise und gemessen, beugte sich aber vor, um seine breiten Schultern zu betonen. „Wenn Sie nicht wissen, dass es sich in unserer Gesellschaft nicht gehört, über Finanzen zu diskutieren, dann ist Ihr Problem nicht Unwissenheit, sondern ein Mangel an Manieren.“

Der Graf machte keinen Rückzieher, sondern änderte seine Taktik. „Sie müssen mir vergeben. Ich wollte Sie nicht kränken.“

Was für ein Arsch. Nicht um Verzeihung zu bitten, sondern sie zu fordern.

„Sie haben mich nicht gekränkt“, sagte Cecelia und legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm, aber sie warf Ramsay einen dankbaren Blick zu.

Sein eigener Arm zuckte vor Eifersucht. Absurd!

„Wie ritterlich, Lord Ramsay.“ Ein Unterton von Bosheit lauerte in der sanften Stimme des Grafen. Er sah Ramsay an. „Sagen Sie mir, Miss Teague, Sie mögen doch Zahlen so gern. Wie wahrscheinlich ist es, dass der Lord Chief Justice moralisch so einwandfrei ist, wie er behauptet?“

Cecelia lachte nervös auf und bekam etwas mehr Farbe. Sie strich sich vorsichtig mit dem Finger über die Wange. „Das ist eine einfache Wahrscheinlichkeitsrechnung. Es gibt nur zwei Möglichkeiten – dass der Mann gut oder schlecht ist. Fünfzig zu fünfzig.“

„Und was ist Ihre Einschätzung?“, beharrte der Graf. „Sind Menschen nicht eine Sammlung ihrer Entscheidungen? Halten Sie Lord Ramsay für gut? Oder für böse?“

Ramsay schüttelte den Kopf und hatte Mühe, sein Temperament zu zügeln. „Sie kennt mich erst seit fünf Minuten …“

„Entschuldigung, aber Sie irren sich, Graf Armediano“, unterbrach Cecelia. Es überraschte beide, dass sie es wagte, einem Angehörigen des Adels zu widersprechen. Dass sie einem Mann ins Wort fiel. „Ich war immer der Meinung, dass Menschen mehr sind als nur eine Sammlung von Entscheidungen. Deshalb kann ihr Wert nicht mathematisch berechnet werden. Ein Mensch ist ein kompliziertes Gemisch aus Erfahrungen, Erziehung, Umgebung, Krankheiten und Wünschen. Und man muss auch anderes in Betracht ziehen – Ernährung, Traditionen, Ethnie, Nationalität … und ja, Handlungen. Deshalb kann man Menschen nicht so leicht einschätzen.“ Sie warf Ramsay einen bedeutungsvollen Blick zu, den er nicht einschätzen konnte und in dem eine gequälte Traurigkeit lag. Es weckte seinen Beschützerinstinkt. „Deshalb finde ich Ihre Aufgabe so schwierig, Lord Ramsay. Ich könnte keinen anderen Menschen verurteilen, nicht einmal als Richter am Obersten Gerichtshof. Ich wüsste nie genau, welche Strafe oder Gnade jemand verdient.“

Graf Armediano nahm einen nachdenklichen Schluck. „Haben Sie die Erfahrung gemacht, Miss Teague, dass jeder bekommt, was er verdient – auf die eine oder andere Art? Leiden nicht gute Menschen und böse Menschen haben Erfolg?“

„Das ist leider so.“

Ramsay sah an ihrer Kehle, dass sie leicht schluckte. Sie warf einen Seitenblick auf Lady Francesca und Lady Alexandra.

Sie fuhr fort: „Ich versuche immer noch daran zu glauben, dass am Ende das Gute siegt. Vor allem, wenn es Menschen gibt, die so viel dafür tun, das Böse in Schach zu halten – zum Beispiel Lord Ramsay, den Herzog und die Herzogin und Lady Mont Claire.“

„Sie nicht auch?“, fragte der Graf in leierndem Tonfall.

Das brachte sie zum Lachen. „Natürlich will ich gut sein und gute Taten vollbringen, aber Alexandra ist Doktorin der Archäologie und so zieht sie Lehren aus der Geschichte. Der Herzog hat seine Pächter und kennt den Alltag vieler Menschen. Francesca …“ Miss Teague brach jäh ab und Ramsay sah, dass der Graf erstarrte, als hätte er einen Stock verschluckt. „Nun, Francesca hat ihre Mission und es ist eine ehrenwerte Sache“, schloss sie unbestimmt. „Aber ich fürchte, ich habe noch nichts gefunden, womit ich diese Welt besser machen könnte.“

„Miss Teague, Sie sind ein unberechenbares, erlesenes Geschöpf.“ Armediano sprach mit ihr, doch sein Blick war auf die Adligen gerichtet, in deren Mitte Francesca Cavendish funkelte wie ein seltener Rubin. Ihr feuerrotes Haar glänzte im Licht der Kronleuchter.

„Danke, Mylord.“

„Und Sie, Lord Ramsay, haben mir das Vorurteil ausgetrieben, die Schotten seien nur hedonistische Barbaren.“

Ramsay gefror das Blut in den Adern, sogar seine Muskeln wurden zu Eis. Barbaren? Der Graf hatte keine Ahnung, was „barbarisch“ bedeutete. Dieser verwöhnte Adlige wäre an den Verhältnissen, in denen Ramsay aufgewachsen war, zerbrochen. Er hatte das gebräunte Gesicht eines Mannes, der unter einer nachsichtigen Sonne aufgewachsen war. Hatte er je Kälte erlebt? Oder Hunger? Verlassenheit? Grausamkeit? Hatte er jemals getötet, um etwas zu essen zu bekommen oder am Leben zu bleiben? Ramsay hätte sein Vermögen dagegen verwettet. Ja, seine trostlose Erziehung – oder deren Fehlen – hätte diesen eleganten Mann zerbrochen.

Doch als er den Mund öffnete, um ihm verbal das Fell über die Ohren zu ziehen, kam Cecelia ihm zuvor. „Ich denke, das wurde schon vor Jahrhunderten widerlegt – durch Schotten wie John Galt, Robert Burns und Joanna Baillie. Und Robert Louis Stevenson setzt die Tradition fort“, sagte sie. „Das heißt, wenn dieser Eindruck überhaupt je eine Berechtigung hatte.“

Ramsay wünschte, er wüsste, was er sagen sollte. Noch nie im Leben hatte ihn jemand verteidigt. Er hatte seine Schlachten immer allein geschlagen.

„Ich muss mich ein drittes Mal bei Ihnen entschuldigen, Miss Teague.“ Der Graf legte die Hand aufs Herz und neigte reuevoll den Kopf. „Darf ich Sie bitten, mit mir einen Spaziergang im Park zu machen?“

„Sie wissen sicher, dass sich das in unserer Gesellschaft für Miss Teague nicht gehört, Graf Armediano“, erklärte Ramsay. „Es ist unangebracht, dass Sie sie dazu auffordern.“

Die goldenen Augen des Grafen funkelten, doch er antwortete liebenswürdig: „Das war mir nicht bewusst.“

Was für ein Unsinn. Ramsays Augen wurden schmal. „Sie ist ohne Begleitung hier und darf daher nicht mit einem Mann allein sein.“

Schon gar nicht mit einem gut aussehenden, unverheirateten Grafen vom Kontinent mit einem Blick, der nur für das Schlafzimmer geeignet war.

Cecelia stand auf und zwang sie beide, das Gleiche zu tun. Ihre Augen funkelten wie Saphire im Sturm. „Als selbstständiges Wesen darf ich tun, was ich will“, sagte sie steif.

Graf Armediano warf ihm einen Blick zu, der von männlicher Siegesgewissheit zeugte. „Heißt das, Sie möchten mit mir in den Garten gehen? Ich schwöre, dass Ihr Ruf unbefleckt bleiben wird.“

Ramsays Blut geriet ins Stocken und ihm wurde die Kehle eng, als er auf die Antwort wartete, die ihm nichts bedeuten sollte.

Wie vom Himmel gesandt, erschien ein eleganter älterer Herr im Abendanzug neben Cecelia und flüsterte ihr etwas zu. Er sprach schnell; es klang wie Französisch.

Sie war sichtlich erleichtert. Sie nahm seinen Arm und legte freundschaftlich die Hand auf seine.

„Vielleicht ein anderes Mal.“ Ihre Miene blieb gelassen. „Danke für die … anregende Unterhaltung, meine Herren, aber nun muss ich mich leider verabschieden.“

Cecelia machte sich nicht die Mühe, zu knicksen, und Ramsay konnte es ihr nicht verdenken. Er sah ihr nach, als sie sich von ihnen beiden entfernte. Ihre breiten Hüften wiegten sich aufreizend. Sie neigte den Kopf zu ihrem stämmigen Begleiter hinunter, der kleiner war als sie, und der Franzose gestikulierte heftig.

„Pech für Sie, Graf“, sagte Ramsay ironisch. „Es scheint, dass das Herz der bezaubernden Miss Teague einem anderen gehört.“ Der Franzose musste wirklich sehr reich sein, denn er war beinahe alt genug, um Cecelias Großvater zu sein – und faltig wie ein alter Lederstiefel.

„Keineswegs. Das ist Jean-Yves Renault. Er ist eine Art Maskottchen dieser Red Rogues. Miss Teague hat ihn von ihrem Internat am Genfer See abgeworben und sie gehen nirgendwo ohne ihn hin. Er ist Miss Teagues Kammerdiener, wenn eine Frau so etwas haben kann.“ Die schwarzen Brauen des Grafen zogen sich zusammen. „Ich bin überrascht, dass Sie das nicht wussten.“

Ramsay wandte sich um und musterte den Mann. „Ich bin überrascht, dass Sie es wussten.“

Der Graf zuckte mit den Schultern. „Es ist gut, wenn man weiß, mit wem man Geschäfte macht und ins Bett geht. Der Herzog und ich haben viele gemeinsame Interessen.“

„Tatsächlich.“ Ramsay atmete tief durch. Ihm war gar nicht bewusst gewesen, dass er die Luft angehalten hatte. Er hatte von Jean-Yves gehört, war dem Mann jedoch nie begegnet. Er wusste, dass sein Bruder Piers ihm für einen Dienst dankbar war, den er Alexandra und ihren Freundinnen in deren Jugend erwiesen hatte, doch er wollte nicht darüber reden.

Er war heute Abend zum ersten Mal in seinem Leben wirklich neugierig.

„Diese Red Rogues sind wie drei Rosenknospen. Sie blühen so prächtig, dass es keine andere Pflanze im Garten mit ihnen aufnehmen kann.“ Armedianos Stimme klang ehrfurchtsvoll, als er zusah, wie Cecelia, Lady Francesca und Lady Alexandra verschwörerisch die Köpfe zusammensteckten. „Es sind faszinierende Frauen, nicht wahr?“

„Sie sind beängstigend“, sagte Ramsay düster. „Ich würde ihnen aus dem Weg gehen, damit Ihnen kein Unglück widerfährt.“

Er verließ den abscheulichen Grafen, sah jedoch noch in dessen Gesicht, dass der Mann ihn verstanden hatte. Für alle anderen in der Nähe hätten seine Worte wie eine beiläufige Warnung geklungen.

Aber sie wussten beide, was es war.

Eine Drohung.

2. Kapitel

Miss Henrietta’s School for Cultured Young Ladies, London, 1891

Drei Monate später

Cecelia brauchte viel zu lange, um zu erkennen, dass sie eine Spielhölle geerbt hatte. Zu ihrer Ehrenrettung sei gesagt, dass Miss Henrietta’s School for Cultured Young Ladies von außen vollkommen harmlos aussah. Die Mounting Lane 3 lag im Westen von London, ein paar Straßen von der vornehmen Seite des Hyde Parks entfernt. Das rechteckige weiße Herrenhaus erinnerte sie an ein griechisches Pantheon, auch die imposanten Säulen und die Allee aus Lebensbäumen fehlten nicht. Ein eifriger Butler mit weißer Perücke empfing sie an der massiven Eingangstür und führte sie in einen prächtigen Salon, der ganz in verschiedenen Tönen von Rot und Gold gehalten war. Cecelia bestaunte seine Uniform, die aus dem letzten Jahrhundert stammte, und versuchte, nicht über seine Schuhe mit den hohen Absätzen und den Rüschen an seinen Handgelenken zu kichern. Obwohl unter der Herrschaft von Königin Victoria gotische Pracht und spannende Neuerungen aufgekommen waren, erinnerte in der Mounting Lane 3 alles an die übertriebene Pracht von Versailles in den Tagen von König Ludwig XIV. und all das gehörte jetzt ihr. Es war ein Vermächtnis ihres geheimnisvollen Wohltäters, der sich nicht als ihr Vater entpuppt hatte, sondern als die Schwester ihrer Mutter. Henrietta Thistledown.

Die Testamentseröffnung war kurz und knapp gewesen. Cecelia erbte Henriettas gesamten Besitz, auch die School for Cultured Young Ladies, einigen anderen Besitz und ein schwindelerregendes Vermögen. Henriettas Anwalt hatte Cecelia nach dem Treffen einen versiegelten Brief überreicht und ihr die strikte Anweisung erteilt, ihn erst zu lesen, wenn sie sicher in Henriettas Büro in der Mounting Lane 3 saß. Also hatte sie sich sofort eine Kutsche genommen. Cecelia brachte es nicht über sich, sich auf einen der Stühle im Empfangszimmer zu setzen, denn die zierlichen Möbel sahen aus, als würden sie unter ihrem Gewicht zusammenbrechen. Also schritt sie auf und ab und das Geräusch ihrer Stiefel auf dem Marmorboden war ihr eine Beruhigung. Sie las das Schreiben durch, drehte es in ihren Händen und strich über die feinen Furchen in dem teuren Papier. Ihr tat das Herz weh und sie hatte einen Kloß im Hals, als sie gegen ein Gefühl ankämpfte, das Ähnlichkeit mit Verlust hatte. Sie hatte die ganze Zeit über gedacht, ihr Vater sei der schweigende Empfänger ihrer Briefe gewesen. Jahrelang hatte man von ihr erwartet, dass sie jeden Monat einen Brief schrieb, bevor sie ihr Taschengeld bekam. Nachrichten über ihre Bildung, Reisen und Gesundheit. Sie hatte diesem väterlichen Schatten pflichtschuldig geschrieben, der im Laufe der Jahre Gestalt angenommen hatte. Ein Mann in einem Herrenhaus, das viel Ähnlichkeit mit diesem hatte, einsam und an die Regeln der Gesellschaft gebunden, der sie aus der Ferne liebte und sich nach ihrer Gesellschaft sehnte.

Die Enthüllung, dass es sich um ihre Tante mütterlicherseits handelte, wäre wohl nicht so enttäuschend gewesen, wenn sie es nicht erst nach dem plötzlichen Tod der Frau erfahren hätte. So trauerte sie um zwei Menschen. Sie hatte nie Gelegenheit gehabt, die beiden richtig zu lieben.

Mit einem melancholischen Seufzer ging Cecelia zum Fenster. Von dort aus hatte man einen guten Blick auf den Garten, in dem der Spätsommer noch einmal in seiner ganzen Pracht erstrahlte. Er lag im Innenhof des Herrenhauses, auf allen Seiten umgeben von hohen weißen Mauern mit großen Fenstern. Man hatte freie Sicht auf … Cecelia schlug sich beide Hände vor den Mund und blieb bei dem Anblick, der sich ihr bot, wie angewurzelt stehen. Auf einem sorgfältig gemähten Rasenstück, keine sieben Schritte vom Fenster entfernt, hüpfte eine Frau mit dunkler Haut in einem buttergelben Ballkleid auf den Hüften eines halb nackten Mannes auf und ab. Der ausgestreckte Mann umklammerte ihre Hüften, als wolle er verhindern, dass sie wegflog – dabei stieß er sie so heftig nach oben, als sei genau das beabsichtigt.

Nach dem ersten Schock empfand Cecelia eine absurde, heftige Sorge um die jungen Liebenden. Es war erst halb zwölf und das an einem Sommertag. Wenn sie das ungenierte Liebesspiel im Garten sah, würde es sicher auch anderen nicht verborgen bleiben. Trotz ihrer wirren Gedanken nahm sie ein paar Einzelheiten wahr. Das Kleid des Mädchens war seit hundert Jahren aus der Mode, genau wie die Aufmachung des Butlers. Ihr dunkles Haar war gepudert, eine Sitte, die schon seit Jahrzehnten ausgestorben war. Ihre Lippen waren so rot bemalt, dass es beinahe komisch war, ebenso wie ihre Wangen und … Cecelia ließ die Hände sinken und griff sich ans Herz. Der Mann fasste nach oben und befreite die Brüste des Mädchens von dem tief ausgeschnittenen Mieder. Auch ihre Brustwarzen – beneidenswert hohe, freche Brustwarzen – waren mit Rouge geschminkt. Cecelia hätte wegschauen sollen, aber stattdessen ertappte sie sich dabei, dass ihr Atem schneller ging, ebenso wie der Rhythmus dieses schamlosen Aktes. Das war kein harmloses Rendezvous, aber auch kein Techtelmechtel. Die groben Hände des Mannes kniffen die Frau, grapschten nach ihren Brüsten, ihrer Kehle, bis seine Finger den Weg in ihren Mund fanden. Die ganze Zeit über ritt die Frau ihn wie ein galoppierendes Pferd und zeigte die Zähne, biss ihn spielerisch, aber gerade fest genug, um ihren Liebhaber in selige Ekstase zu versetzen. Ohne dass sie es merkte, glitten Cecelias Hände von ihrem Herzen über ihr blau-weiß gestreiftes Kleid und verharrten auf ihrem Bauch, in dem Schmetterlinge flatterten. Ein schweres Gefühl kam in ihr auf. Gleichzeitig schwer und leer. Ein Weh, aber kein Schmerz. Ein Drang, aber kein Hunger. Es erinnerte sie an jenen verträumten Morgen am Genfer See – sie hatte zugesehen, wie die Jungen vom le Radon Institute für Jungen in ihren Booten über das spiegelblanke Wasser ruderten. Sie lehnten sich vor und zurück und alle Muskeln spielten. Der Rhythmus hatte etwas in ihr ausgelöst, obwohl sie erst siebzehn gewesen war.

„Entschuldige, dass ich dich habe warten lassen, aber …“

Cecelia schnappte nach Luft und wirbelte herum. Ihr Blick begegnete dem von Genevieve Leveaux, die in der Tür stand. Sie war in grelles Rosa gehüllt und unzählige Schleifen bedeckten ihr georgianisches Mieder. Sie stürzte zum Fenster, konnte Cecelia aber nicht die ganze Sicht versperren. Anscheinend war Cecelia ihr in den fast fünfzehn Jahren, seit sie sich zuletzt gesehen hatten, über den Kopf gewachsen.

„Verflixt und zugenäht“, zischte die ältere Frau. „Ausgerechnet heute!“ Sie öffnete das Fenster und beugte sich so weit hinaus, dass Cecelia fürchtete, sie würde fallen. „Lilly Belle! Das ist die letzte Warnung, bevor du in hohem Bogen fliegst! Ich habe dir gesagt, dass du solche Sachen anderswo treiben sollst! Wir sind kein solcher Laden!“

Cecelia merkte, dass Gennys weiche Stimme und ihr drolliger amerikanischer Akzent sich auch nach all den Jahren in England kein bisschen verändert hatten.

„Aber Lord Crawford wollte Gesellschaftsspiele machen und da wir heute geschlossen haben, hat er ein anderes Spiel vorgeschlagen. Er vögelt gern im Freien, nicht wahr, Liebling?“ Lilly fasste hinter sich und schlug ihm auf den Schenkel, wie man einem Pferd den Hals klopft.

„Ich habe gern Publikum“, brachte er atemlos hervor.

Zu Cecelias – nun, sie konnte nicht sagen „Entsetzen“, aber ihr fiel kein anderes Wort ein, um die Mischung aus Schock, Erregung und Qual zu beschreiben – hörten Crawford und Lilly nicht auf. Das Gespräch unterbrach nicht einmal ihren Rhythmus. Crawford starrte Cecelia sogar an und beschleunigte sein Tempo, er packte Lilly um die Hüften und stieß sie gnadenlos empor. Cecelia wusste nicht, ob sie lachen, weinen, weglaufen oder … oder weiter zuschauen sollte.

„Ich habe gesagt, nicht heute, du unersättliche Schlampe“, brüllte Genny wütend; ihr säuselnder Ton war umgeschlagen. „Unsere neue Leiterin ist hier und so wollten wir sie doch nicht empfangen, oder? Jetzt fertige Crawford ab und schick ihn weg. Und wenn ich dich noch mal dabei erwische …“

„Ich dachte. Sie würde. Erst. Heute. Nachmittag. Kommen.“ Lillys Redefluss geriet durch die zunehmende Heftigkeit dessen, was unter ihr geschah, ins Stocken.

Ich komme … jetzt … gleich“, sagte Crawford und seine Stimme bebte vor Anspannung.

Sein Gesicht mit der Adlernase verzerrte sich beängstigend. Cecelia konnte es nicht mehr mit ansehen. Ihre Wangen brannten und ihr Mieder war plötzlich zu eng. Sie fuhr herum und marschierte zur Tür, die aufging, bevor sie die Klinke drücken konnte.

Der Butler platzte herein, in Panik und mit rotem Gesicht. „Drei Kutschen voller Gesetzeshüter biegen in die Mounting Lane ein“, keuchte er.

Cecelia sah Genny an; der Schrecken verschlug ihr die Sprache. Mounting Lane. Es konnte keine passendere Adresse geben. Hatte sie ein Bordell geerbt?

Der Butler warf Cecelia einen misstrauischen Blick zu. „Ich habe gehört, dass der Moralapostel dabei ist.“

Moralapostel? Cecelia ging in Gedanken alles durch, was sie je über Gesellschaft und Politik gelesen hatte. Sie kam zu dem Schluss, dass es ein Spitzname war, den niemand von sich aus für sich beanspruchte.

Genny ging wieder zum Fenster und stieß einen Schwall von Flüchen aus, bei denen ein Matrose errötet wäre. „Schaff den Mistbock weg, Lilly!“, kreischte sie. „Der Moralapostel ist nur noch ein paar Häuserblöcke weg und bringt seine ganze Armee mit.“

„Schon wieder?“, jammerte Lilly im Garten und versteckte ihre Brüste im Mieder.

Genny knallte das Fenster zu und verriegelte es. Dann wandte sie sich wieder an Cecelia. Die Panik in ihren Bernsteinaugen wurde durch Bedauern gemildert und sie fuhr sich über ihre tadellose goldblonde Frisur. „Nun, Süße.“

Sie eilte zu Cecelia, die an der Tür stand, und nahm ihre Hände. Der fast vergessene Brief wurde dabei leicht zerknüllt. Sie schauten beide erst das Papier und dann einander an.

Genny hatte sich in fünfzehn Jahren kaum verändert. Ihre Haut war immer noch glatt und faltenlos, bis auf leichte Furchen neben dem ausdrucksvollen Mund. Rechts von ihren Lippen prangte ein aufgeschminktes schwarzes Herz. Durch ihre dichten Locken zogen sich an den Schläfen ein paar Silberfäden, doch sie war noch ebenso elegant wie an dem Tag, an dem sie sich zum ersten Mal begegnet waren.

„So wollte ich dich gar nicht willkommen heißen.“ Genny ließ die Hand los, mit der Cecelia den Brief umklammerte, hielt aber die andere weiterhin fest und wandte sich an den Butler. „Winston, sorgen Sie dafür, dass Crawford Lilly bezahlt, sich anzieht und verschwindet, bevor die Kutschen auf den Hof rollen. Dann durchsuchen Sie das ganze Haus und stellen sicher, dass sie nichts finden.“

„Ja, Madam.“

Genny schritt durch die Tür, zog Cecelia mit sich und kugelte ihr dabei fast den Arm aus. „Ich hatte gehofft, wir hätten Zeit, alles in Ruhe zu besprechen, aber die Wölfe heulen vor der Tür.“

„Wölfe?“ Cecelia versuchte, sich geistig und körperlich aufrecht zu halten, und ließ sich weiterziehen. Sie gingen durch den extravaganten Marmoreingang auf eine kleine Tür unter der prächtigen Treppe zu. Die Tür war in der dunklen Holzvertäfelung kaum zu sehen. Cecelia rückte ihre Brille zurecht, weil sie fürchtete, die sei in der Eile verrutscht.

„Dieser Brief ist von deiner Tante Henrietta“, erklärte Genny mit erzwungener Geduld. „Lies, so viel du schaffst, bevor der Moralapostel uns die Tür eintritt.“

„Wer ist dieser Moralapostel?“ Cecelia hielt inne. Sie hatte das Gefühl, an einer gefährlichen Schwelle zu stehen, sowohl wörtlich als auch im übertragenen Sinn. Sie ließ der anderen Frau keine Zeit, die erste Frage zu beantworten, sondern stellte gleich die zweite: „Wo gehen wir hin?“

„In die Privaträume.“ Genny zerrte sie ungeduldig weiter. „Komm mit. Wir haben keine Zeit zu vertändeln.“

„Zu was?“ Cecelia war entgeistert, überwältigt und skeptisch. Sie entzog Genny die Hand. „Dieses Wort habe ich noch nie gehört – ich meine vertän…“

„Ich weiß, dass es viel auf einmal ist, aber du musst mir zuhören, Püppchen.“ Gennys Gesicht verfinsterte sich, sie stemmte die Hände in die breiten Hüften und wirkte plötzlich nicht mehr so nachsichtig, sondern sehr energisch und gleichzeitig abgehetzt. „Der Mann, der uns die Tür eintreten wird, kommt, um uns – dir – alles wegzunehmen. Dies ist ein Spielkasino und eine Schule – egal, was du gerade gesehen hast. Die Schule lässt Frauen arbeiten, während sie ein Gewerbe lernen. Aber dieser Mann würde lieber alle Mädchen, die unter unserem Schutz leben, auf die Straße setzen, damit sie ihren Körper an Halsabschneider und Eisenbahner verkaufen. Wenn du also nicht die nächsten Jahre im Gefängnis sitzen willst, weil er an den Haaren herbeigezogene Beschuldigungen vorbringt, kommst du mit mir, liest den Brief und nutzt dann allen Grips, den du in deinem hübschen Köpfchen hast, um ihn zu vertreiben, hörst du?“ Sie schüttelte Cecelia unsanft. „Er ist jetzt dein Feind. Einer von vielen.“

Cecelia stand wie versteinert da, starrte die Frau verständnislos an und ließ die Information langsam sacken. Feinde? Sie hatte in ihrem Leben als Erwachsene nicht einmal Konkurrenten oder Gegner gehabt, geschweige denn Feinde. Heute Morgen hatte sie in einem Café in Chelsea gefrühstückt und Kaffee getrunken. Ihre größte Sorge war ein wenig Langeweile gewesen und etwas Existenzangst wegen der Frage, was sie mit ihrem gerade erreichten Abschluss in Mathematik anfangen sollte. Und jetzt drohte ihr Gefängnis? Bei der bloßen Vorstellung wurde ihr schwindlig. „Was, wenn wir mit diesem … diesem Moralapostel vernünftig reden? Wenn ich ihm sage, dass ich dieses Haus erst heute Morgen geerbt habe?“ Cecelia tat ihr eigener bittender, verzweifelter Ton im Ohr weh. „Er kann mir doch noch kein Verbrechen vorwerfen, ich bin ja gerade erst angekommen.“

Genny gab einen grantigen Laut von sich. „Mit dem Moralapostel ist nicht zu reden. Er hasst alles, was Spaß macht. Glücksspiel, Trinken, Theater, Tanz. Und Huren hasst er am meisten.“

„Aber wenn das hier kein Bordell ist, hast du nichts Ungesetzliches getan …“

Gennys Blick schweifte ab. „Was die Frauen, die hier arbeiten, tun, um über die Runden zu kommen, geht uns nichts an. Ich gebe zu, dass Lilly nicht das erste Mädchen mit Freiern ist, bei dem ich ein Auge zugedrückt habe. Aber nein, wir bieten unseren Kunden keinen Sex an, nur die Andeutung davon.“

Sie platzten in die Privatgemächer und Genny blieb einen Moment stehen, um die Tür hinter sich abzuschließen. Dann scheuchte sie Cecelia, die ganz in Gedanken versunken war, ein paar Stufen mit kobaltblauem Teppich hinauf. Tapeten aus elfenbeinfarbenem Damast sausten an ihr vorbei, als sie in eine Halle mit weißer Vertäfelung und dunklem Holzfußboden geführt wurde. Genny lotste sie in ein geschmackvoll, feminin eingerichtetes Arbeitszimmer. Weiße Korbmöbel, funkelndes Saphirblau und Ölgemälde auf Leinwand prägten das Bild. Es hatte keine Ähnlichkeit mit dem prächtigen, überladenen Palast der Fleischeslust auf der Etage unter ihnen.

Cecelia bewunderte die Kunstwerke und die schlichten Möbel. Durch ein Oberlicht fiel der fröhliche Sonnenschein herein. Die Spielhölle dagegen war mit Gaslampen und Kerzen beleuchtet, das Licht flackernd und golden, und man fühlte sich wie an einem verzauberten Abend, obwohl es erst Mittag war. Genny gab Cecelia einen Moment Zeit, mit naiver Begeisterung hin und her zu laufen und sich alles anzusehen, dann zog sie sie zu dem einzigen maskulinen Möbelstück im Zimmer. Der Schreibtisch stand auf einem Podest gegenüber der Tür, im Hintergrund fielen Sonnenstrahlen durch Fenster, die vom Boden bis zur Decke reichten, und verliehen dem am Tisch Sitzenden einen Heiligenschein.

„Setz dich“, befahl Genny in einem Ton, als spräche sie mit einem Hund. „Und lies.“

Cecelia setzte sich hin und zerbrach das Siegel des Briefes. Sie wusste, dass sie für den Inhalt nie wirklich bereit sein würde.

Meine liebe Cecelia,

wenn Dich dieser Brief erreicht, liebe Nichte, bedeutet das, dass ich ermordet wurde.

Sie schnappte nach Luft und fröstelte. Selbst die Sonne, die ins Zimmer schien, konnte die Kälte nicht vertreiben. „Niemand hat etwas von Mord gesagt! Wusstest du …?“

„Nicht jetzt. Lies weiter“, sagte Genny kurz. „Ich bereite dich auf das Treffen mit dem Teufel vor.“

Cecelia wunderte sich, dass Genny immer neue drastische Namen für ihren Feind einfielen. „Wie kann man Moralapostel, Teufel und Wolf in einem sein?“, dachte sie laut.

„Himmel, Mädchen, hörst du nie auf zu fragen? Vielleicht stehen die Antworten in dem Brief …“ Genny griff nach einem roten Umhang mit Rüschen, wandte sich ab und durchwühlte einen Schrank. Ihre Bewegungen waren ruckartig und heftig.

Cecelia fasste sich wieder und kämpfte gegen Benommenheit und ungläubiges Entsetzen.

Ich habe nur wenig Gutes in diesem Leben getan, aber solange ich weiß, dass meine Mädchen in Sicherheit und zusammen sind, bin ich bereit, mich allem zu stellen, was im Leben danach kommt. Du hast vielleicht oder vielleicht auch nicht von mir gehört. Ich bin diejenige, die Scarlet Lady genannt wird. Deine Mutter, Hortense, war meine Zwillingsschwester, sieben Minuten jünger als ich. Wir wurden in ein Leben voller Armut und Plackerei hineingeboren. Ich flüchtete mich in einen Beruf, der Pracht und Zauber versprach. Hortense tat es jedoch nicht. Sie heiratete den abscheulichen Pfarrer Teague, der mich verachtete und uns jedes schwesterliche Verhältnis verbot. Deine Mutter und ich blieben in all den Jahren in Kontakt, denn das Band, das seit dem Mutterleib zwischen uns bestand, konnte nicht zerrissen werden, nicht einmal durch ihren Tod. Ihre letzte Nachricht an mich, liebe Cecelia, war eine Bitte, auf Dich aufzupassen. Und Dir das Leben zu geben, das keine von uns hatte. Ich war in vielen Gewerben tätig und in meinen frühen Tagen war ich Kurtisane. Ich schäme mich nicht dafür. Das ist jedoch nicht das Erbe, das ich Dir hinterlasse. Unsere Macht liegt nicht zwischen unseren Beinen, sondern zwischen unseren Ohren. Ich breche keine Herzen mehr, meine Liebe, sondern ich sammle Schulden. Schulden und Geheimnisse. Geheimnisse, die das Empire zu Fall bringen könnten. Geheimnisse, für die mich Heuchler und Scharlatane teuer bezahlt haben, damit ich sie für mich behalte. Ich habe vor, den Crimson Council auffliegen zu lassen, Cecelia, doch das ist ein gefährliches Unterfangen. Alle, die es versucht haben, sind ermordet worden. Und wenn ich tot bin, ist das der Grund, und ich habe Dich auserwählt, meine Arbeit fortzusetzen.

Cecelia schloss die Augen, in denen Tränen aufstiegen. Genny nutzte den Moment aus, nahm ihr die Brille ab und puderte ihr kräftig das Gesicht. Der Crimson Council, also der Scharlachrote Rat? Davon hatte sie noch nie gehört. Wie seltsam, dass ihr Leben von einer bestimmten Farbe geprägt zu sein schien. Der Crimson Council. Die Red Rogues. Die Scarlet Lady.

Ein fernes Klopfen hallte durch das Haus wie die Hammerschläge des Hephaistos.

„Allmächtiger“, fluchte Genny. „Er steht vor der Schultür. Er schlägt sie noch ein und dann kommt er und macht hier das Gleiche. Beeil dich, Schätzchen.“

Cecelia riss die Augen auf und nieste weißes Puder in die Armbeuge. „Warum schminkst du mich?“ Sie schniefte, hickste und nieste wieder.

„Er darf nicht wissen, wer du wirklich bist – noch nicht.“ Genny bemalte ihren Mund gekonnt mit rotem Lippenstift und brachte sie so zum Schweigen. „Du musst die Scarlet Lady spielen.“

„Wer ist er?“, fragte sie schließlich. „Und warum kann ich ihm nicht so begegnen, wie ich bin?“

„Kannst du ohne die lesen?“ Genny zeigte auf ihre Brille.

„Ja, das ist mir sogar lieber“, sagte Cecelia benommen. „Ich brauche sie, um in die Ferne zu sehen. Ohne bin ich fast blind.“

Genny legte die Brille weg und diesmal brauchte sie Cecelia nicht zum Weiterlesen aufzufordern.

„Cecelia, Du musst auf Phoebe aufpassen. Sie ist deine Schwester in jeder Hinsicht außer im Blut. Wenn die Justiz sie hier findet, ist sie in unmittelbarer Gefahr. Du musst sie um jeden Preis von ihrem brutalen Vater fernhalten.“

Sie öffnete den Mund, um Genny nach dieser Phoebe zu fragen, als eine Kakofonie aus männlichen und weiblichen Stimmen durch die Wände ertönte. Es kam aus der Schule nebenan. Schritte ertönten und Türen knallten heftig zu. Ihr Herz fing an zu rasen und ließ ihre Hände zittern.

„Was soll ich tun?“, fragte Cecelia und fühlte sich plötzlich sehr jung.

„Was immer du auch tun musst“, sagte Genny, als liege die Antwort auf der Hand. „Selbst, wenn du deine üppigen Titten präsentieren musst, verstanden? Was auch immer nötig ist, damit dieses Haus in Sicherheit ist. Dafür bist du jetzt verantwortlich.“

Entgeistert schaute Cecelia auf die fraglichen Brüste hinunter, die unter einem wallenden roten Umhang verborgen waren. Man konnte ahnen, dass sich darunter etwas Interessanteres verbarg als ein schlichtes Tageskleid.

Als sie den Kopf hob, setzte Genny ihr eine hohe Perücke von einem so hellen Blond auf, dass sie fast silbern hätte sein können. Es machte sie, die ohnehin schon groß war, noch einmal einen halben Kopf größer. Die roten Schleifen und Perlen, mit denen sie geschmückt war, hätten den Neid eines Weihnachtsbaums geweckt.

Genny beruhigte sich endlich und zupfte ein paar silberblonde Locken auf Cecelias Schultern zurecht. „Du siehst wirklich aus wie Henrietta, nur fünfundzwanzig Jahre jünger.“ Sie holte einen Spiegel aus einem Schrank und hielt ihn Cecelia hin.

Die Wandlung verschlug ihr den Atem. Sie sah sich natürlich nicht ganz und der Spiegel zeigte auch nicht die Spitze ihrer albernen Perücke, doch es hatte wirklich den Anschein, als sei sie einem vergangenen Jahrhundert entstiegen – eine prächtige Schauspielerin aus dem Versailles des achtzehnten Jahrhunderts. Ihre Wangenknochen wirkten durch das Rouge schmaler, die roten Lippen voller und mehr als nur etwas sündig, das Gesicht dagegen geisterhaft blass. Die Augen geschminkt und die Wimpern dichter. Sie sah überhaupt nicht mehr wie sie selbst aus und war nicht sicher, ob sie es schön oder schrecklich fand.

Wieder hallte das unheilvolle Klopfen durch das Haus, diesmal kam es von der Tür zum Garten. „Aufmachen! Wir haben einen Durchsuchungsbefehl!“

Cecelia fand es absurd und komisch, dass ein Vertreter von Scotland Yard einen schottischen Akzent hatte und seine Stimme so polterte, dass sie sich fragte, ob er damit das Haus zum Einsturz bringen konnte. Wie der Wolf in dem Märchen. Und hier stand sie in ihrem roten Umhang mit Kapuze und wartete darauf, dass er sie verschlang. Cecelia hielt sich den Mund zu, um ein Jammern zu unterdrücken.

„Setz dich hierhin.“ Genny führte sie zu dem eindrucksvollen Samtstuhl hinter dem Schreibtisch mit der Marmorplatte. „Bleib nicht stehen, wenn du nicht dazu gezwungen bist. Das ist dein Thron. Dein Sitz der Macht. Außerdem bist du so groß wie ein Laternenpfahl – allein daran erkennt man dich leicht.“ Sie zog eine schwarze Maske aus der Schreibtischschublade, setzte sie Cecelia auf und band sie hinten mit einem Seidenband zu. „Benutze dein Gehirn, um ihn loszuwerden, Süße. Mehr brauchst du nicht zu tun.“

Oh, das war alles? Cecelia hatte das Gefühl, dass es nicht der geeignete Zeitpunkt war, um zu erwähnen, dass ihr Gehirn bei Stress Urlaub machte.

„Ich gebe Ihnen dreißig Sekunden, um die Tür zu öffnen, dann trete ich sie ein!“, drohte die Stimme mit dem schottischen Akzent. „Es wäre mir ein Vergnügen.“

Diese Stimme … Cecelias Gesicht verzog sich hinter der Maske. Etwas an dem eisigen Ton kam ihr bekannt vor und sie bekam eine Gänsehaut.

Eine solche Stimme gehörte an einen vergessenen Ort, der noch tiefer lag als die Hölle mit ihrer glühenden Lava. In jener kalten, schattigen Höhle konnte nur ein Wesen hausen. Ein Wesen, das nur dafür lebte, die Bösen zu bestrafen.

Genny eilte zum Fenster, riss es auf und beugte sich hinaus. „Rühren Sie die Tür nicht an, ich bin sofort unten und lasse Sie hinein.“

„Dreißig Sekunden“, wiederholte der Schotte.

Genny wirbelte herum und fuhr sich sichtlich mitgenommen mit den Händen über das Mieder. „Ich hatte beinahe vergessen, wie ungeheuer groß er ist“, hauchte sie. „Ich glaube, er könnte die Eisentore mit einer Hand aus den Angeln heben.“

Mit dieser niederschmetternden Bemerkung atmete Genny tief durch, fasste sich und rauschte aus dem Büro, bevor Cecelia auch nur eine der tausend Fragen stellen konnte, die ihr auf der Zunge lagen. Ihr Magen zog sich vor Angst zusammen. Sie kannte nur einen Schotten mit tiefer Stimme und gewaltigem Körperbau. Doch der war nicht bei Scotland Yard. Er würde nicht von seiner Position als Lord Chief Justice hinabsteigen, um die Tür eines gewöhnlichen – oder vielleicht ungewöhnlichen – Spielcasinos einzutreten, oder? Cecelia hatte plötzlich solche Angst, dass sie versucht war, sich ihre lächerliche Verkleidung herunterzureißen und davonzulaufen. Sie stützte sich an dem Schreibtisch ab und zupfte an dem engen Rüschenkragen des Umhangs. Ihr brach unter der Perücke der Schweiß aus, denn es war ein heißer, feuchter Nachmittag. Sie senkte den Blick und las den Brief weiter, nur um etwas anderes zu tun, als zitternd dazusitzen, während der Arm des Gesetzes nach ihr griff.

Ich wünschte, ich hätte Dich kennengelernt, Liebling. Deine Briefe waren in all den Jahren ein Trost und Balsam für meine Seele. Solange ich konnte, habe ich Dir ein Leben ohne Geheimnisse ermöglicht. Doch jetzt liegt es an Dir, was Du mit ihnen machst. Die Schule unter meinem Spielcasino bedeutet mir alles – und auch den Frauen, die sich darauf verlassen. Ich kenne Dein Herz. Es ist gut und weich, aber Du bist von meinem Blut, und das bedeutet, dass du ein stählernes Rückgrat hast. Du wirst es brauchen, denke ich, und das tut mir leid. Ich bin froh, dass wir einiges gemeinsam haben, zum Beispiel eine Vorliebe für Zahlen, Codes und Formeln. Die Geheimnisse, die ich hüte, habe ich nie jemandem anvertraut, nicht einmal Genevieve. Ich habe sie jedoch in einem Buch niedergeschrieben, ebenso wie die Beweise, die Du brauchen wirst. Du findest den Kodex in einem Geheimfach unter der ersten Schublade des Schreibtisches, an dem Du sitzt. Öffne die Schublade und drück auf den Knopf. Benutze die Pollux-Chiffre, um die Kombination zu entschlüsseln – den Namen Deines Lieblingsgedichts, das Dir das Herz gebrochen hat, als du sechzehn warst.

„Aeneis“, flüsterte Cecelia.

Der Schlüssel zu dem Kodex, Cecelia, steckt in der Farbe, die wir beide am liebsten mögen. Viel Glück, mein Herz, und leb wohl.

Cecelia unterdrückte den Gefühlsausbruch, der sie zu überwältigen drohte, und zog die Knöpfe so weit hinaus, dass die Markierungen zu den Zahlen passten, durch die sie die Buchstaben des epischen griechischen Gedichtes ersetzte. Sie schnappte nach Luft, als der Boden des Geheimfachs aufging und sie plötzlich ein schön gestaltetes Tagebuch in der Hand hatte. Sie strich mit den Fingern über den unschuldigen Einband und fand die helle Fleischfarbe des Leders etwas verstörend. Sie öffnete das Buch und blätterte es durch. Sie war gar nicht überrascht, als sie beinahe keine Worte fand, sondern nur Symbole, Zahlen und Formeln. Daten vielleicht, wenn sie sich richtig an ihre numerischen Zahlen erinnerte … oder war es das babylonische Hexagesimalsystem? Sie blinzelte und hielt das Buch seitwärts.

Von den Marmorwänden des Foyers hallten Stimmen wider. Die von Genny. Und die des Teufels.

Ihr drehte sich der Magen um, doch ein Teil von ihr regte sich. Mehrere Teile. Die Zellen ihres Gehirns, die bei der Vorstellung, einen Code zu entschlüsseln, zum Leben erwachten. Und noch eine ganz andere Stelle. Eine, die sie zu ignorieren versuchte, seit sie die ungestüme Paarung im Garten beobachtet hatte. Eine sanfte, weibliche Tiefe vibrierte angesichts der Gefahr, die von dem herannahenden Mann ausging. Sie erkannte, dass sie Angst hatte. Und gleichzeitig erregt war? Wie unglaublich bizarr. Sie wand sich auf dem thronähnlichen Stuhl und ihr Stiefel verfing sich in etwas Weichem unter dem Tisch. Oder richtiger, in jemandem.

Unter dem Tisch ertönte ein leises Quieken und Cecelia stieß einen Laut der Überraschung hervor. Sie warf sich auf ihrem Stuhl zurück und fiel beinahe hintenüber. Sie fand ihr Gleichgewicht wieder, beugte sich zur Seite, hielt ihre Perücke mit einer Hand fest und schaute unter den Tisch. Zwei haselnussbraune Augen schauten sie aus dem Gesicht eines Engels an. Ein Mädchen.

Cecelia erriet sofort, wer es war. „Phoebe?“, flüsterte sie. Aus irgendeinem Grund hatte sie angenommen, das Mädchen aus Henriettas Brief sei erwachsen. Ihr war nicht der Gedanke gekommen, dass sie ein Kind beherbergen würde.

Das Mädchen nickte. Honigblonde Locken fielen ihr über die Schulter und sie legte den Finger auf die Lippen.

Cecelia nickte verschwörerisch zurück und wünschte, sie wüsste mehr über Kinder und könnte ihr Alter besser einschätzen. Sie mochte ungefähr sieben sein, auch wenn ihre Augen vielleicht älter wirkten. Und man konnte unmöglich sicher sein, denn ihr kleiner Körper kauerte im Dunkeln unter dem Tisch und war halb verborgen von den Rüschen an Cecelias Rock und Umhang.

Schritte polterten die Treppe herauf und Gennys laute Proteste hallten auf dem Flur wider.

Verdammt. Wer war diese Phoebe? Schwestern in jeder Hinsicht außer im Blut … Dann waren sie wohl nicht verwandt. War sie das Geheimnis, weswegen Henrietta ermordet worden war? Drohte auch ihrem Leben Gefahr? Und wenn ja, von wem – diesem Moralapostel? Es war einfach keine Zeit für Antworten.

„Phoebe, du musst da unten bleiben“, flüsterte Cecelia. „Was auch immer du hörst, kannst du schweigen, bis diese Männer wieder weg sind?“

Das Mädchen nickte ernst und legte den Finger auf die Lippen.

„Sehr gut“, lobte Cecelia. „Ich bin Cecelia. Henrietta hat mich beauftragt, für deine Sicherheit zu sorgen, und ich verspreche, es zu tun“, schwor sie und bemühte sich, sich nichts von ihrer Panik anmerken zu lassen. Sie hatte noch nie ein Versprechen gebrochen und hoffte inbrünstig, auch dieses halten zu können. „Kannst du dieses Buch für mich verwahren, Phoebe? Es hat Miss Henrietta gehört und ich möchte nicht, dass jemand es mitnimmt.“

Das Mädchen schnappte sich das Tagebuch, drückte es an seine Brust und verkroch sich noch weiter unter dem Tisch.

Cecelia richtete sich auf und steckte sich den Brief ins Mieder.

Genau in diesem Augenblick wurde die Tür zum Büro mit solcher Wucht aufgestoßen, dass sie gegen die Wand knallte. Der Mann im Türrahmen hielt sie mit seiner riesigen Hand fest.

Wenn Cecelia eine der Frauen gewesen, die zur Ohnmacht neigten, wäre sie sofort umgefallen. So schwirrte ihr der Kopf vor Abneigung und Wiedererkennen. Ihre Augen weiteten sich, als sie die riesige männliche Gestalt vor sich sah. Ihr gefror das Blut in den Adern, und sie war sofort dankbar, dass das Puder die Blässe ihres Gesichts verbarg. Ohne Brille konnte sie sein Gesicht kaum sehen, doch die Größe, Breite und die besonderen Farben dieses Schotten waren unverkennbar. Sie kannte ihn. Natürlich. Lord Cassius Gerard Ramsay. Sie waren praktisch verwandt, jetzt, da Alex, die Schwester ihres Herzens, gerade seinen Bruder geheiratet hatte. Trotzdem wusste sie nur wenig über ihn. Er war ein Mann von geheimnisvoller Herkunft, strengen Prinzipien und, wenn man seinen Behauptungen glauben durfte, ohne einen Funken Nachsicht. Sie hatte bisher nur zwei Mal mit ihm gesprochen und die Begegnungen waren – nun ja – reichlich verwirrend gewesen. An jenem Abend auf Schloss Redmayne hatte er sie mit finsterer Miene und hungrigen Augen beobachtet. Sie lag oft nachts wach und dachte an den Abend und die beiden Männer, die ihn geprägt hatten. Einer war ein italienischer Graf gewesen, gut aussehend und glatt wie der Teufel, mit dunklen, von Pomade gebändigten Locken und phönizischen Gesichtszügen, auf denen sich männliches Interesse widerspiegelte. Und der andere Lord Ramsay, ein goldhaariger Erzengel. Ein unerschrockener Krieger für das Gute und die Gerechtigkeit. Eine Art Paladin, der vor Jahren von einer holden Maid zum Ritter geschlagen worden wäre, nachdem er Drachen und Dämonen besiegt hatte. Und nun starrte dieser Mann sie aus dem Türrahmen an. Seine Augen hatten die Farbe des Mondes im Winter und in ihnen funkelte der Zorn des gerechten Kriegers. Für diese Augen war sie der Drachen, gegen den er kämpfen musste. Den er vernichten wollte. In seiner Anwesenheit fiel die Temperatur sofort, die Atmosphäre um sie herum wurde eisig und totenstill. Es war eine überirdische, gedämpfte Stille, wie sie herrschte, wenn Schnee fiel. Nicht die Abwesenheit von Misstönen, sondern eine Leere in der Mitte des Ganzen. Ein kalter, einsamer Ort. Die Kühle, die er mit sich brachte, passte nicht zu dem warmen Sonnenlicht, das durch die Fenster schien – ebenso wenig wie sein vierschrötiger Körper zu seinem teuren Anzug. Nein, sie hatte sich zuvor geirrt. Er war kein Engel. Sein Körperbau war barbarisch. Er hätte die Häute, Pelze und Waffen eines Wikingers tragen und für heidnische Götter auf dem Schlachtfeld bluten sollen. Es war, als hätten ihn die sagenhaften Götter des Krieges geschaffen, damit er zerschmetterte, eroberte und herrschte. Er nahm Raum nicht nur ein, sondern füllte ihn. Dominierte ihn. Er besaß die Erde, auf der er stand, denn kein Mann und keine Armee der Welt konnte sie ihm entreißen.

Er trat vor und hielt Dokumente in der Faust, als sei es Excalibur.

Cecelia starrte ihm fassungslos ins Gesicht. Seine Miene verschärfte sich beängstigend, als er näher kam. Sie hatte nicht den Eindruck, dass er sie wiedererkannte, nur dass er außer sich vor Wut war. Sie suchte nach Worten, einer geistreichen Bemerkung, die das Eis zum Schmelzen bringen würde. Doch anscheinend hatte sein Anblick nicht nur ihr Denkvermögen gelähmt, sondern ihr auch den Atem verschlagen. Er warf ihr die Papiere hin.

Cecelia schaute nach unten und sah einen Durchsuchungsbefehl – von ihm selbst unterschrieben.

„Wissen Sie, wer ich bin?“, polterte er in einem Ton, der nur für sie und Genny bestimmt war.

Genny stolperte hinter ihm ins Zimmer, gefolgt von einer Handvoll Constables und einem Detective in einem eleganten Anzug. „Das ganze Empire weiß, wer Sie sind.“ Ihre Stimme klang atemlos und piepsig, als könne sie nicht anders. Ebenso wie ihr französischer Akzent. Genny gab einen erstickten Laut von sich.

Himmel, was mache ich? Sie war schlichtweg in Panik. Sie konnte nicht riskieren, dass er ihre Stimme erkannte. Wer wusste, wie sein Gedächtnis war?

„Es ist wichtig, dass Sie meinen Namen kennen“, sagte der riesige Schotte.

„Ich kenne Ihren Namen“, antwortete sie.

Er zog eine seiner goldenen Brauen hoch, schweigend, aber herausfordernd. „Dann sagen Sie ihn.“

Der Befehl ließ etwas tief in ihr vibrieren und sie wand sich, um es zu beruhigen. „Lord Ramsay.“

Er nickte kurz. „Und auf welchen Namen hören Sie?“

Cecelia lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, damit ihre Lunge mehr Raum bekam, denn die schien kurz vor dem Zusammenbruch zu stehen. „Nun, ich denke, Sie haben auch schon von mir gehört, Mylord, da Sie mein Haus besuchen.“ Erkannte er sie überhaupt? Konnte diese verrückte, übertriebene Verkleidung ausreichen, um das Geheimnis darüber zu wahren, wer sie war, jedenfalls für den Augenblick?

Er schnitt eine Grimasse und sah sich im Zimmer um wie jemand, der gerade in den Schmutz eines Abwasserkanals getreten ist. „Einem Mann wie mir würde niemand zumuten, einer Frau wie Ihnen vorgestellt zu werden.“

Wenn er wüsste. Ihre Lider flatterten und sie hoffte, dass er es für eine kokette Geste hielt und nicht für den Rückzug, der es war. „Mich kennen alle als die Scarlet Lady. Es ist mir eine Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mylord Chief Justice.“ Sie streckte ihm ihre behandschuhte Rechte entgegen, um ihn willkommen zu heißen.

Er schnaubte und verzog angewidert den Mund, als sei ihre Hand ein widerliches Insekt. „Dieser Besuch hat nichts mit Freude zu tun, wie Sie sehen.“ Er wies auf sein Heer von Polizisten.

„Eine Schande. Das kommt sehr selten vor.“ Etwas von Cecelias Furcht wich Empörung.

„Sagen. Sie. Mir. Ihren. Namen.“ Er stieß die Forderungen mit zusammengebissenen Zähnen hervor, ohne jedoch die Stimme auch nur um eine Oktave zu heben. Die Wirkung war furchterregend.

„Ich glaube, das habe ich schon getan.“

„Ihren Taufnamen.“

„Meine Taufe bedeutet mir nichts.“ Er starrte sie mit schweigender Unverfrorenheit an und sie zuckte die Achseln. „Ich habe oft gemerkt, dass eine Kirche ein Gebäude ist, um Gott einzusperren, errichtet von Leuten, die behaupten, zu ihm oder für ihn zu sprechen. Ich habe andere Wege, um etwas für meine Seele zu tun. Außerdem …“, sie griff sich dramatisch an die Brust, „warum sollten Sie Bekanntschaft mit einer Frau machen, die so weit unter Ihnen steht und in einem so jämmerlichen Zustand ist?“

„Ich will keineswegs Bekanntschaft mit Ihnen machen.“ Er beugte sich vor und legte seine riesigen Hände auf den Tisch zwischen ihnen. Seine silberblauen Augen drohten sie zu hypnotisieren. „Aber Sie sollten den Namen Ihres Feindes kennen, damit Sie wissen, wen Sie verfluchen müssen, wenn ich Sie zerstöre.“