Leseprobe Kein Wort zum Mord

1

Fünf Wochen später

Der Bus der St. John’s Grundschule kam vor dem Black Dog zum Stehen, dem einzigen Pub von Folly-on-Weir und damit dem Lebensmittelpunkt der erwachsenen Bewohner.

Kinder in roten Jacketts mit gestreiften Krawatten, die schief an den offenen Kragen ihrer weißen Hemden hingen, blickten aus den Fenstern des Busses und gafften zwei Polizeifahrzeuge an, die mit blitzendem Blaulicht darauf warteten, dass der Bus aus dem Weg fuhr. Sobald sich der Bus in Bewegung setzte, rasten die Polizeiwagen die High Street in Richtung Underhill entlang und ihr Blaulicht verblasste im Sonnenlicht, das sich immer wieder durch die rauchartigen Wolken kämpfte.

Erinnerungen an einen auffälligen, schnellen Trauerzug ließen Alex Duggins erschaudern. Sie wandte sich von der Szene ab. Die Aufregung hatte endlich einmal nichts mit ihr zu tun.

Ein Entenschwarm flog so dicht über den See der Dorfwiese, dass ihre Schwimmfüße beinahe das Wasser berührten. Die Tiere beschwerten sich lautstark über die Störung des nachmittäglichen Friedens.

„Bei Fuß, Bogie“, rief Alex, die immer noch von der Aktivität auf der Hauptstraße von Folly-on-Weir abgelenkt war. Sie bekam hier selten Polizeifahrzeuge zu Gesicht, erst recht mit Blaulicht, es sei denn … Alex pfiff nach ihrem grauschwarzen Terrier. Je weniger sie sich mit dem befasste, was sich wie die Reaktion auf ein schweres Verbrechen anfühlte, desto besser.

Die Enten flatterten wild mit den Flügeln. Bogie hatte ihre Ablenkung ausgenutzt und war am Teich hin und her gerannt und unter gelegentlichem Kläffen herumgesprungen.

„Du weißt genau, dass du das nicht machen sollst.“ Alex erhob die Stimme und rannte zu ihm. „Böser, böser Junge.“

Er hielt inne und blickte zu ihr, als könnte er sich gar nicht erklären, warum sie böse auf ihn war.

Alex schwenkte mit finsterem Blick die Leine in der Luft, woraufhin Bogie rasch zu ihr kam und sich an den Boden drückte, wohl wissend, dass er Ärger bekommen würde.

Die Sonne kämpfte erneut mit den metallisch blaugrauen Wolken, die ein stärker werdender Wind vor sich hertrieb. Der Winter kündigte sich offiziell an.

„Alex, was ist los?“ Eine herrische Stimme drang von hinten an ihr Ohr und sie drehte sich zu Heather Derwinter um. „Wenn das jemand weiß, dann Sie. Was soll all der Wirbel?“

Heather, die Ehefrau von Leonard von der mächtigen Derwinter Holding, herrschte als ungekrönte Königin über Folly und Umgebung, wenngleich sie sich nicht häufig im Dorf blicken ließ, außer wenn sie mit einer Gruppe ihrer lauten Reitfreundinnen in teuren Stiefeln im Black Dog auftauchte, Alex’ Pub.

„Hallo, Heather“, sagte Alex, während sie sich bückte, um die Leine an Bogies Halsband zu befestigen. „Das Einzige, was bei mir los ist, ist dieser unartige Hund, der immer noch zu gerne Vögeln nachjagt.“

Heather hob ihr blondes Haar aus dem Kragen ihrer hellbraunen Wildlederjacke, die offensichtlich maßgeschneidert war, um sich ihren wunderschönen Kurven anzupassen und zudem aus seidenweichem Leder gefertigt war. Ihre cremefarbene Hose lag eng an, ohne eine einzige Falte zu werfen. „Sie wissen, was ich meine. Ganz ehrlich, Alex, Sie halten sich gern bedeckt. Wenn Sie das tun, werden die Leute nur noch neugieriger und überzeugter davon, dass Sie mehr wissen, als Sie vorgeben. Haben Sie irgendetwas von Ihrem Freund dem Chief Inspector gehört? Oder waren Sie es, die irgendeinen Schlamassel gemeldet hat, der an der Straße nach Underhill passiert ist? Da fahren sie doch hin. Vielleicht ist es auch irgendwo in oder hinter Underhill. Sonst sind Sie es doch immer, die irgendwo eine blutige Katastrophe ans Licht bringt. Wo ist die Leiche?“

Kurz hätte Alex beinahe gelacht; Heather konnte manchmal wirklich eine Karikatur ihrer selbst sein. Das amüsierte Alex jedes Mal. „Ich muss los, Heather.“ Sie hob Bogie in ihre Arme, zum Teil weil sie es mochte, seinen kleinen, warmen Körper an sich zu spüren und zum Teil, weil sie ihn als Ausrede zum Gehen benutzen wollte. „Das kleine Kerlchen hier wird ganz schön schwer. Ich glaube, wir müssen die Filet-Rationen kürzen. Bis später.“ Sie grinste, lächelte und lief los in Richtung Straße. „Es fängt an zu regnen. Sie sollten diese wunderschöne Jacke lieber ins Trockene bringen. Das könnte ein richtiges Unwetter werden.“

„Sie lassen es mich wissen, wenn Sie etwas hören, ja?“, rief Heather ihr nach.

Nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt.

„Alex!“

Heather ließ sich nicht so schnell abwimmeln. „Natürlich“, sagte Alex. „Aber das hat nichts mit uns zu tun. Sie fahren nur durch den Ort durch.“ Das war zumindest ihr Wunschdenken.

„Jetzt bin ich beruhigt“, schrie Heather beinahe über die Wiese. „Wenn es Grund zur Sorge gäbe, wüssten Sie Bescheid.“

Alex vergrub ihr Gesicht in Bogies Rückenfell. Ihre Augen brannten. Das musste dieser beißende Wind sein, der ihr ins Gesicht wehte.

Doch der Wind vermochte es gewiss nicht, dass sie sich versteifte und Gänsehaut in ihrem Nacken spürte. Es war der Anblick einer dunkelblauen Lexus-Limousine, die förmlich hinten an der Stoßstange eines der Streifenwagen klebte, bei dem sich ihr nun auch noch der Magen umdrehte. Sie stand wie angewurzelt da. Was auch immer der Grund für die Anwesenheit der Polizei war, sie war so bald nach ihrer letzten Begegnung noch nicht bereit, erneut Detective Inspector O’Reilly gegenüberzutreten. Und der Wagen konnte nur seiner sein.

„Hey, Süße, ich habe nach dir gesucht.“ Ein vertrauter Arm legte sich um ihre Schultern und sie wurde gedrückt.

„Tony“, sagte sie und lehnte sich an Tony Harrison an, ohne den Blick von der High Street abzuwenden. „Das sieht nach Ärger aus.“

„Ja. Aber es ist ausnahmsweise mal nicht unser Ärger.“

„Natürlich nicht“, sagte sie und blickte lächelnd in seine blauen Augen, in denen sich Beunruhigung spiegelte. „Oder? Schau mal, die Leute gehen zum Dog. Sie wollen herausfinden, was los ist.“

Er warf sich das dunkelblonde Haar aus der Stirn. „Sie gehen immer davon aus, dass man dort alles in Erfahrung bringen kann, oder? Dieses Mal werden sie kein Glück haben. Komm mit, ich möchte deine Meinung zu etwas hören.“

Sie liefen langsam und ignorierten die vereinzelten Regentropfen, während sie zur Straße liefen und zu der Grasfläche vor dem Pub zurückkehrten. Die Picknicktische und -bänke waren leer, was vermutlich dem kalten Wetter geschuldet war. Wie immer leuchteten die bunten Lichter an der Dachkante. Nachts verliehen sie dem Gebäude eine einladende Atmosphäre, aber sie waren vor allem da, weil Alex sie mochte.

„Ich bin von der Klinik aus hergelaufen und hinten reingegangen“, sagte Tony. „Durch den Küchenbereich, aber deine Mutter sagte mir, dass du auf der Wiese bist. Katie wartet bei ihrer Decke auf Bogie.“

Katie war Tonys große Mischlingshündin mit goldenem Fell, die Bogie fast so sehr liebte wie ihren Platz vor dem Kamin im Schankraum. Tony war der örtliche Tierarzt, der sich um eine große Zahl von Haus- und Nutztieren kümmerte.

„Du wirkst angespannt“, sagte er und rieb ihren Arm. „Lass dich nicht von ein paar Streifenwagen verängstigen.“

„Ich habe keine Angst.“ Sie hob den Blick und sah ihn an. „Doch, habe ich. Na ja, vielleicht keine Angst, aber ich bin nervös. Ein Teil von mir möchte gar nicht wissen, was die Polizei hier will; der andere schon. Tony, bist du … neugierig? Ich glaube, ich bin es und das ist doch krank, oder? Ich sollte einfach nur hoffen, dass niemand zu Schaden gekommen ist.“

„Du darfst dir ruhig zugestehen, dass du normal bist, Süße. Ich bin auch neugierig.“

Sie reichte Bogie an ihn weiter. „Aber es liegt nicht daran, dass du irgendwie involviert sein möchtest, oder? Das ist es nicht, stimmts? Oder … ach, ich weiß es doch nicht.“

„Beende deinen Satz.“

Alex vergrub das Gesicht in seinem Arm. „Du möchtest nicht wirklich beteiligt sein, oder? Was immer es ist. Wünschst du dir, es gäbe einen offiziellen Grund, um dich miteinzubeziehen?“

Diese Fragen brachten ihr einen düsteren Blick ein. „Ich weiß nicht ganz, was du meinst“, sagte Tony zweifelnd.

„Natürlich nicht. Vergiss es. Manchmal verrenne ich mich einfach.“

„Das passiert doch jedem. Hast du heute Abend Zeit? Oder sollte ich fragen: Kannst du dir heute Abend Zeit nehmen?“

„Natürlich. Was gibt es denn?“ Ihre Knie fühlten sich ein wenig schwach an. Sie wusste, wie beschäftig sie in letzter Zeit gewesen war und befürchtete, er könnte das als Distanzierung deuten. Doch sie wollte nichts an ihrem üblichen, lockeren Umgang miteinander ändern. Sie wiederholte ihre Frage: „Was gibt es denn?“

„Ich vermisse dich“, sagte er. Seine Mundwinkel zuckten nach oben und formten einen Gesichtsausdruck, der eher wie eine Grimasse denn wie ein Lächeln aussah. „Du bist hier, aber ich glaube so langsam … ich möchte einfach etwas Zeit zusammen verbringen. Reden und unsere Verbindung wieder ein wenig vertiefen, schätze ich. Wäre das in Ordnung für dich?“

Das war ihre Schuld. Sie hatte nicht ausreichend auf seine Signale geachtet – die er auf seine stille Weise schickte. „Wie du magst. Wann?“ Ihn anzulächeln fiel ihr stets unglaublich leicht.

Tony grinste und die Anspannung wich aus seinem Gesicht. „Gut. Wäre es in Ordnung, wenn ich dich hier abhole, sobald ich fertig bin? Es könnte später werden – nicht vor acht, denke ich. Ich habe noch eine späte Operation vor mir.“

Sie überquerten die Straße. Die Streifenwagen waren hinter dem Hügel verschwunden und die Kinder in den roten Jacketts verteilten sich rasch in lachenden Grüppchen.

„Lass mich das Kerlchen hier reinbringen, dann können wir uns hier draußen über die andere Sache unterhalten, die ich erwähnt habe.“

Sie hatte ganz vergessen, dass da noch etwas anderes war. „In Ordnung.“

Tony war ein großer Mann, doch er bewegte sich mit leichtfüßiger, lockerer Grazie. Seine physische Kraft war deutlich zu sehen, selbst in der legeren Kleidung, die er gern trug. Sein kariertes Hemd und die abgewetzte Jeans, die in grünen Gummistiefeln steckte, standen ihm sehr gut. Alex hatte nie verstanden, warum er nicht begriff, wie attraktiv er war. Vielleicht war er als Witwer so reif geworden, dass er bei Interaktionen mit Frauen auf andere Dinge als körperliche Anziehung Wert legte. Bei dem Gedanken errötete sie. Bei ihren körperlichen Begegnungen hatte es keine Zurückhaltung gegeben.

Er betrat mit Bogie den Pub und kehrte einige Minuten später zurück. „Ich habe Lily nur Bescheid gesagt, dass er da ist.“ Tony sprach von Alex’ Mutter, die das Restaurant und das Gasthaus des Black Dog leitete.

„Setzen wir uns“, sagte Tony und führte sie zu einem Picknicktisch, dessen Sonnenschirm noch immer geöffnet war. Er setzte sich neben sie auf die Bank. „Du wirst mir heute Abend nicht weglaufen, oder?“, fragte er und blickte auf seine gefalteten Hände, die er auf dem Tisch abgelegt hatte.

„Warum sollte ich das tun?“ Vielleicht würde sie es tun, wenn sie es schaffen konnte, ohne sich schleimig zu fühlen. Werd erwachsen, Alex. Finde heraus, was an dir zehrt.

Er beobachtete sie genau. „Weil wir uns beide aus dem Weg gegangen sind – insbesondere du mir. Wir sind wie Bekannte, die in der gleichen Straße wohnen. Du sagst hallo, ich sage hallo. Und außer einem Lächeln ist da nichts mehr.“

Sie befreite eine seiner Hände und nahm sie. „Das ist nicht die ganze Wahrheit, oder, Tony?“

„Nun …“ Er hatte den Anstand, ein wenig verlegen zu wirken. „Nein, nicht ganz. Aber wir reden im Moment kaum, Alex. Wir unterhalten uns nicht tiefgründiger über die Dinge, die wir vertiefen müssen – früher oder später.“

„Aber wann ist die richtige Zeit dafür?“ Sie kam sich ein wenig unbeständig vor.

„Das wissen wir nicht“, sagte er und blickte ihr direkt in die Augen. „Ich wollte dir eine Frage zu dem jungen Kerl stellen, der hier in der Küche arbeitet.“

Sie wandte kurz den Blick ab, um sich zu sammeln.

„Du meinst Scoot?“

Er nickte. „Mir ist erst vor Kurzem aufgefallen, dass er überhaupt hier ist.“

„Hugh Rhys hat ihn eingestellt. Ich glaube, er kennt die Familie.“

Hugh führte für Alex den Black Dog.

„Das habe ich auch gehört“, sagte Tony. „Wusstest du, dass Scoot einen jüngeren Bruder namens Kyle hat?“

„Nein, wusste ich nicht. Ich mische mich nicht ein, wenn Hugh jemanden einstellt. Und es gab nie einen Anlass, um mit ihm über Scoot zu sprechen. Er räumt Tische ab, bedient die Spülmaschine und hilft überall da, wo er gebraucht wird. Er ist ein guter Junge und arbeitet fleißig.“

„Geht er noch zur Schule?“, fragte Tony.

„Soweit ich weiß, ja. Doch, ich bin mir sicher, da er immer seine Bücher mitbringt und in den Pausen damit arbeitet. Er ist siebzehn, glaube ich.“

„Kennst du die Familie?“

„Nein“, sagte Alex. „Aber Scoot ist immer gepflegt und pünktlich und er geht anständig mit den Gästen um. Hugh scheint viel von ihm zu halten.“

„Kyle war bei mir und wollte wissen, ob ich ihn in der Praxis aushelfen lassen würde“, sagte Tony. „Scheint ein netter Junge zu sein – nicht dass ich mich mit Kindern auskennen würde. Aber er ist offensichtlich ganz verrückt nach Tieren und mir gefällt die Vorstellung von einer Art Praktikum für Kinder, die ihr Interesse vielleicht mal zum Beruf machen wollen. Ich glaube, Radhika würde sich auch über gelegentliche Gesellschaft freuen und sie ist sehr geduldig, wenn man ihr Fragen stellt.“

Tonys Assistentin war eine freundliche Frau mit viel Geduld. Sie stammte aus Indien und war trotz ihrer kleinen Statur schon von Weitem zu erkennen, da sie eindrucksvolle Saris trug.

„Möchte Kyle denn Tierarzt werden?“, fragte Alex.

„Das sagte er mir.“ Tony rieb ihre Hand zwischen seinen. „Es ist ihm egal, wann er kommen darf, oder ob es nur für ein paar Wochen ist. Er brennt darauf, als Praktikant bei mir zu arbeiten.“

Sie warf ihm einen schiefen Blick zu. „Dir gefällt die Vorstellungen, jemanden zu ermutigen, der sich tatsächlich für Veterinärmedizin interessiert, oder?“

Er lächelte schwach. „Erwischt. Ja. Als Kind hätte ich sehr gern Zeit bei einem Tierarzt verbracht, doch ich kannte keinen und hattet nicht den gleichen Mumm wie Kyle, um mich einfach bei einer Praxis vorzustellen und um eine Chance zu bitten. Als er lockerer wurde, erzählte er mir davon, dass er Bücher über Tiermedizin liest und unbedingt bei der Behandlung der Tiere helfen möchte – mit eigenen Händen, sagte er.“

„Wie lautet dann deine Frage?“, hakte Alex nach.

„Ich wollte hauptsächlich wissen, wie sich der ältere Bruder bei dir schlägt. Und ich würde gern deine Meinung dazu hören, ob Kyle zu jung dafür ist. Meinst du …“

„Oh, Tony!“, unterbrach sie ihn lachend. „Hier in der Gegend arbeiten die Kinder schon in jungen Jahren auf dem Hof der Eltern mit. Das wäre eine gute Sache. Du kannst es ja langsam angehen. Wenn du besorgt bist, gib ihm eine Probezeit und sieh dann weiter. Radhika wird bestimmt über ihn wachen.“ Radhika schien zu jedem rasch eine Verbindung aufzubauen. Die Bewohnerinnen und Bewohner des Ortes liebten sie und man war hier Fremden gegenüber nicht immer allzu aufgeschlossen; besonders bei Menschen aus exotischeren Gegenden. Alex betrachtete Radhika als gute Freundin.

„Natürlich. Dann werde ich genau das tun. Ich gehe in die Praxis zurück und überlasse dich den neugierigen Fragen da drinnen.“

Alex rümpfte die Nase. „Das ist nicht fair. Ich sollte sie alle zu dir schicken.“

„Das würde nicht klappen.“ Sie erhoben sich beide und Tony küsste sie auf den Mund. „Ich schenke kein Bier aus.“

Er lief in Richtung Meadow Lane und seiner Praxis davon.

Alex riskierte einen Blick zu den Fenstern, konnte aber keine gaffenden Gesichter ausmachen. Ein neuer, schwarzer Mercedes hielt mit zwei Rädern auf dem Rasen. Joan Gimblet, die Bürgermeisterin von Folly-on-Weir, stieg zusammen mit ihrem Sohn Martin - ein Mann vom Aussehen eines Filmstars und wenigen Worten - und einem älteren Mann aus, den sie nicht kannte. Die drei liefen hintereinander in einer Reihe zum Pub.

Nachdem er für die beiden anderen die Tür aufgehalten hatte, drehte Martin sich mit einem sanften, aber intensiven Lächeln zu Alex um und folgte ihnen nach drinnen.

Sie wartete einige Sekunden, um sich von diesem Blick zu erholen und betrat hinter ihnen das Gebäude. Sie trat sich die Schuhe auf der rauen Matte an der Tür ab und ging mit einem Lächeln im Gesicht in den Schankraum. „Hallo allerseits“, antwortete sie laut auf die Begrüßungen und ließ sich den marineblauen Dufflecoat von den Schultern gleiten, während sie hinter den Tresen trat.

Hugh Rhys, der große, düstere und attraktive Mann, hob zwar ausdrucksvoll eine Augenbraue, sagte aber nichts. Stille hatte sich über den Raum gelegt und Alex musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass sich sämtliche Gäste zu ihr umgedreht hatten.

„Den nehme ich dir ab“, sagte Hugh und wand ihr geschickt den Mantel aus den Fingern. „Ich muss hinten nach was sehen.“ Ihr entging das Grinsen nicht, mit dem er sie allein den Fragen überließ.

„Natürlich.“ Sie nahm sich ein Handtuch, um damit den ausnahmslos trockenen Tresen abzuwischen. „Wem kann ich etwas bringen?“ Ihr Lächeln wurde anstrengend.

„Das Übliche“, sagte Major Stroud, während er auf seinen Fersen vor und zurück wippte und ein Grinsen seinen adretten, grauen Schnurrbart in die Länge zog. „Es herrscht ein wenig Aufregung im Ort, was?“ Er war immerhin nicht in den Pub gekommen, um sich umzuhören, nachdem er die Polizeiaktivität bemerkt hatte. Vermutlich hatte er sich seit mehreren Stunden nicht von diesem Platz entfernt.

Sie schenkte ihm seinen Whisky ein und stellte das Glas hin, während sie auf das Geld in seiner Handfläche starrte, als hätte jemand seine Pence-Münzen gegen südafrikanische Rand ausgetauscht. Nachdem er mehrmals langsam geblinzelt hatte, ließ er die Münzen auf den Tresen fallen. „Haben Sie mit O’Reilly gesprochen?“

Dan O’Reilly, das war Detective Chief Inspector O’Reilly, den Alex deutlich besser kennengelernt hatte, als ihr lieb war – auch wenn sie den Mann mochte. Meistens.

Sie schob sich die Münzen des Majors in die Hand und lief zur Kasse.

„Heißt das, Sie haben mit dem Detective gesprochen?“, fragte Stroud. Ein Anflug von Streitlust lag in seiner Stimme. Alex kannte die Anzeichen für Ärger nur zu gut.

„Ich habe mit niemandem gesprochen – die Streifenwagen kamen nicht von unserer örtlichen Truppe. Haben Sie die neuen Bacon-Sandwiches probiert? Mit Schinkenspeck und sehr lecker.“

„Es ist beinahe Teezeit“, sagte der Major und lallte leicht. „Und da esse ich eher was anderes.“

Joan Gimblet trat zielstrebig zwischen den Major und Alex. „Mal sehen“, hob sie an und rollte angesichts des aufbrausenden Major Stroud hinter ihr mit den Augen. „Ich nehme einen Gin mit Limette – machen Sie einen Doppelten draus – Martin nimmt sein übliches halbes Pint Bitter und für meinen Bruder ein Pint Guinness. Ich vergaß, ich glaube, Sie kennen Paul noch gar nicht.“ Joan Gimblet war eine stämmige Frau und genoss es, Bürgermeisterin zu sein. Eine mehrreihige Perlenkette ruhte auf ihrem beträchtlichen Busen, der wiederum auf dem Tresen ruhte. Joan war nicht sehr groß. Sie blickte sich um und winkte einem Mann, der offensichtlich mit ihr verwandt war. Er stand bei ihrem dezent irritierenden Sohn, der seiner Mutter hingegen in keiner Weise ähnelte.

„Paul Sutcliffe“, sagte Joan. Sie senkte die Stimme und legte sich einen Finger auf die Lippen. „Er hängt es nicht an die große Glocke, doch er war jahrelang der Direktor der Amblefield School im Norden. Er mag die Aufmerksamkeit nicht, die das mit sich bringt. Seit einigen Monaten ist er außer Dienst und jetzt bei mir eingezogen. Paul, das hier ist Alex Duggins, Besitzerin des Black Dog. Sie ist unsere lokale Berühmtheit.“

Alex zuckte zusammen, behielt aber ihr ausdrucksloses Lächeln im Gesicht. Sie hatte noch nicht entschieden, was sie von Joan Gimblet oder von Martin hielt. Sie konnte unangenehm grob sein und er schien recht häufig seinen aufmerksamen, dunklen Blick auf sie zu richten.

Paul hatte die gleiche gerötete Haut wie seine Schwester und seine hellblauen Augen und die vollen Lippen ähnelten ihren ebenfalls. Sein glattgekämmtes, blondes Haar war von reichlich Grau durchzogen und Alex kam der Gedanke, dass Joans Haar seinem gleichen mochte, würde sie der Natur ihren Lauf lassen. Doch es sah recht hübsch aus.

Er streckte den Arm aus und gab Alex einen festen Händedruck. „Joan versucht seit Monaten, mich herzulocken“, sagte er. „Sie ist noch recht altmodisch. Eine Dame geht nicht allein in den Pub. Aber jetzt bin ich ihre Ausrede – natürlich nur dann, wenn Martin nicht zur Verfügung steht. Ein schöner Pub. Ich werde sicherstellen müssen, dass Joan mich häufiger mitnimmt.“

„Sie werden hier sehr willkommen sein“, sagte Alex, während sie darüber nachdachte, dass er zu jung für den Ruhestand wirkte. „Vermissen Sie das Unterrichten?“ Sie zapfte das Bitter und Joan reichte es an ihren Sohn weiter.

Paul legte die Stirn in Falten. „Ja, aber nicht so sehr, wie ich befürchtet hatte. Ich finde es gut, neue Gelegenheiten zu ergreifen. Sie müssen sich das neue Jugendzentrum anschauen, das auf dem Ackerland nicht weit von unserem Hof errichtet wird. Es fehlt eigentlich nur noch der letzte Schliff. Damit werden Joan und ich sehr beschäftigt sein.“

Die Puzzleteile fügten sich zusammen. Dies war der Mann, der darauf hingewiesen hatte, dass Jugendliche hier in der Gegend keinen Ort hatten, an dem sie sich versammeln und von Erwachsen dezent in die richtige Richtung gelenkt werden konnten. Mit der Hilfe von Joan und einem eigens dafür gegründeten Komitee hatte er dieses Projekt durchgedrückt. Joan Gimblet wohnte auf der Woodway Farm im Norden des Ortes und das Zentrum stand beinahe vollständig auf mehreren Morgen Land, die bereits Joan gehörten. Auch wenn sie den Bauplatz noch nicht gesehen hatte, war Alex über die Fortschritte auf dem Laufenden, da im Schankraum regelmäßig lautstark über das Für und Wider dieser Einrichtung debattiert wurde.

Alex verschränkte die Arme auf dem Tresen. „Ich finde es aufregend, was Sie da tun. Wir können hier eine solche Einrichtung gut gebrauchen. Ich bin in der Gegend von Underhill und Folly aufgewachsen und es gab wirklich nichts für uns Jugendliche. Wie werden Sie all das finanzieren? Ich habe einiges über das Projekt gelesen, aber nichts über die Finanzierung. Man sollte nicht von Ihnen erwarten, all die Kosten zu schultern, Joan. Das ist wertvolles Land.“

Paul lachte schnaubend. Alex fiel auf, dass Joan nicht mit einfiel.

„Eine naheliegende Frage“, sagte er und schnäuzte sich in ein Taschentuch. Sein Gesicht war immer noch gerötet. „Gut, dass Sie sie stellen. Die meisten Leute schrecken davor zurück.“

„Das ist nicht gerade comme il faut“, sagte Joan und kniff die Augen zusammen. „Höchst unschicklich, wenn du mich fragst.“

„Nein, gar nicht“, sagte Paul, ehe Alex einen Rückzieher von dieser Frage machen konnte, die man mit Fug und Recht als unhöflich bezeichnen durfte. „Ich bekomme Unterstützung vom Landkreis und zudem gibt es individuelle Finanzierung. Joan hat sich unermüdlich mit Firmen in der direkten und weiteren Umgebung auseinandergesetzt. Die Leute glauben, dass die Einrichtung jungen Menschen aus der ganzen Gegend zugutekommen wird.“

Martin Gimblet stellte sein Bitter auf dem Tresen ab und nutzte diese Bewegung, um sich subtil zwischen seine Mutter und Paul Sutcliffe zu schieben, die beide ein Stück zur Seite rückten, um für ihn Platz zu machen.

Alex vermied es, Martin anzuschauen und wandte sich an Joan. „Mit mir haben Sie nicht gesprochen, Joan. Das verletzt mich.“

Ein weiteres bellendes Lachen von Paul verschaffte seiner Schwester – und Alex – einen Moment, um eine Antwort zu formulieren.

„Sie stehen auf meiner Liste“, sagte Joan mit einem süßlichen Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte. „Ich habe noch all die Geschäfte an der High Street und der Holly Road vor mir. Die Pond Street werde ich auch nicht vergessen.“

Das bedeutete, dass Alex’ Freundinnen Harriet und Mary Burke auch Besuch von Joan bekommen würden. Die Schwestern führten Leaves of Comfort, ihren Tee- und Buchladen. Alex wünschte, sie könnte dabei sein, um die Fragen zu hören, die sich die Damen einfallen lassen würden.

„Ich freue mich darauf, mehr über dieses Projekt zu hören“, sagte Alex und meinte es auch so.

„Haben Sie Martin je wirklich kennengelernt?“ Diese Frage von Paul zu hören und nicht von Joan, war überraschend. „Er ist die zukünftige Berühmtheit unserer Familie. Er ist Schauspieler und war einer meiner besten Studierenden am Amblefield.“

„Mein Onkel übertreibt“, sagte Martin. Seine Stimme war klar, leise und tief. „Ich studiere noch. Theater. In Oxford. Habe erst ein Jahr hinter mir. Ich habe zwei Jahre meines Lebens und Mamas Geld mit Anthropologie verschwendet. Dann habe ich ein Sabbatjahr eingelegt und in regionalen Schauspielgruppen gespielt. Sie sind auch Künstlerin, nicht wahr? Wenn Sie nicht hinter dem Tresen stehen.“ Sein Lächeln war entwaffnend und ließ sein Gesicht sehr charmant wirken.

„Ich bin Grafikerin“, erzählte Alex ungezwungen. „Ich bin jetzt seit mehreren Jahren nicht mehr im kommerziellen Geschäft tätig, aber ich male noch, wenn ich dazu komme.“

„Hey, Alex.“ Kev Winslet war der Wildhüter auf dem Anwesen der Derwinters und ein Stammkunde im Dog. „Was soll denn all der Wirbel? Einer dieser weißen Transporter ist kurz nach den anderen Fahrzeugen die High Street entlanggefahren. Wie heißen die noch gleich?“ Kev war dick, von seinem Bier etwas zu sehr angetan und gern mittendrin, wenn in Folly irgendetwas Bemerkenswertes passierte.

Sie richtete sich auf. „Meinen Sie die Spurensicherung?“ Sie bereute die Antwort augenblicklich.

„Genau“, sagte Kev. „Ich habe doch gewusst, dass Sie das wissen würden. Was wollen die hier?“

„Das sind Tatort-Ermittler, glaube ich“, sagte sie und drehte ihm den Rücken zu, während sie für Joan den doppelten Gin mit Limette einschenkte.

„Und die kommen nur, wenn etwas wirklich Schlimmes passiert ist, oder?“, hakte Kev nach.

„Das weiß ich nicht.“ Alex stellte den Gin vor Joan ab. Pauls Guinness hatte sie bereits eingeschenkt. „Bitteschön“, sagte sie. Die drei blickten Kev Winslet an.

„Kommen Sie schon, Alex“, sagte der Mann lachend. „Sie wissen Bescheid. Ich würde sagen, es muss erst jemand sterben, bevor sie den Transporter holen.“

Hugh tippte ihr auf die Schulter und flüsterte ihr ins Ohr: „Doc James hat gerade angerufen. Er will, dass du Bescheid weißt. Es wurde eine Frauenleiche in einem Waldstück von Underhill gefunden. Klingt übel.“

2

Einer der Vorteile, oder meistens eher Nachteile davon, wenn man der Sohn des örtlichen Arztes war, bestand darin, dass man die wirklich schlechten Nachrichten meistens vor allen anderen erhielt.

Tony ließ eine behandschuhte Hand auf der kleinen, grau gefleckten Katze ruhen, die er gerade sterilisiert hatte und bemerkte den Ausdruck in den sanften, dunklen Augen seiner Assistentin auf der anderen Seite des Operationstisches. Sie starrten einander in stummem Verständnis über ihre Masken hinweg an. Tonys Vater, Doc James, behandelte die Menschen der Gegend schon so lange, wie Tony sich erinnern konnte. So schien es zumindest. Radhika und er hatten gerade der Stimme des Docs aus der Freisprecheinrichtung gelauscht, mit der er sie darüber informiert hatte, dass eine Leiche in einem Waldstück des Nachbarortes Underhill gefunden worden war. Die Polizei hatte den Tod als Mordfall eingestuft.

„Scheiße“, sagte Tony leise und beobachtete den Regen, der gegen das Fenster trommelte. „Jetzt geht das schon wieder los. Nicht in Folly, aber viel zu nah dran.“

„Versuchen Sie, sich keine Sorgen zu machen“, sagte Radhika leise. „Solche entsetzlichen Dinge passieren, aber zum Glück sind Sie und Alex dieses Mal nicht involviert. Es betrifft Sie nicht, Tony.“

„Nein“, sagte er. „Natürlich nicht. Vielleicht ist es auch ein Unfalltod. Dad könnte etwas voreilig gewesen sein, als er von Mord sprach.“

„Das denke ich auch. Ich werde hier alles fertig machen. Sie werden bestimmt zu Alex gehen wollen.“

„Ja, ich muss ihr Bescheid sagen, ehe die Polizei im Dog auftaucht – und sie werden bestimmt dort vorbeikommen.“ Er konnte seine Gefühle für Alex nicht vor Radhika verbergen und vermutlich auch vor sonst niemandem, der sie beide gut kannte. „Der Junge, Kyle, er kommt morgen nach der Schule her. Ist das für Sie in Ordnung? Ich werde erst später kommen, doch ich dachte, er könnte Zeit mit dem Pudel der Georges verbringen, bis die Besitzer ihn abholen. Er wird nach seiner Zahnbehandlung noch eine Weile benommen sein. Das arme, alte Tier braucht viel Aufmerksamkeit.“ Den Georges gehörte Follys Bäckerei.

„Oh, ja. Das wäre schön und würde mir helfen.“ Radhika lachte. „Wenn er wirklich so eifrig ist, wird er hier sehr willkommen sein. Vielleicht helfen wir einem jungen Menschen dabei, in Ihre Fußstapfen zu folgen, Tony.“

Er betrat sein vollgestopftes Büro an der Vorderseite des Hauses und musste über drei Tierkäfige steigen, um seinen Schreibtisch zu erreichen. Dieses Zimmer diente als Auffangraum, wenn sich zu viele Tiere von Operationen erholen mussten und gelegentlich auch als Wartezimmer für diejenigen Tiere, die für ihre Operation vorbereitet wurden. Das Cottage gefiel ihm als Praxis und Klinik. Die Menschen, die ihre Tiere herbrachten, schienen sich zwischen den Sesseln mit Chintzbezug, den Rautenfenstern und den Geräuschen des kleinen Baches, der dicht am Haus vorbeifloss, sehr wohlzufühlen.

Alex hatte nicht immer ihr Handy bei sich, wenn sie arbeitete, daher rief er im Pub an.

Hugh Rhys nahm ab. „Black Dog. Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Tony hier. Ist Alex da?“

„Sie ist in der Küche“, sagte Hugh. Er räusperte sich. „Es ist ein wenig hektisch hier.“

„Na gut. Hören Sie mir zu. In einem Waldstück nördlich von Underhill wurde eine Leiche gefunden. Ein sehr abgelegener Ort, da gibt es nichts als Felder und hier und dort ein Gehölz – wie das, in dem sie diese Frauenleiche gefunden haben. Mehr konnte Dad mir nicht sagen. Doch er war der Meinung, dass wir Bescheid wissen sollten und damit hatte er recht.“

Hugh stieß einen tiefen Seufzer aus. „Wir wissen es schon.“ Hugh hatte die Stimme gesenkt und war über dem Stimmengewirr des Schankraums kaum noch zu verstehen. „Ihr Vater hat uns schon informiert. Ich dachte gleich: Nicht schon wieder. Wäre ich ein Mann mit zu viel Fantasie, würde ich behaupten, wir leben auf verfluchtem Land.“

„Nun, tun Sie’s lieber nicht“, sagte Tony. „Ich befürchte, die Polizei wird früher oder später in den Pub kommen und Fragen stellen. Es wird keine Rolle spielen, dass Alex sie nicht beantworten kann. Sie werden trotzdem Fragen stellen und wenn wir Pech haben, sind es O’Reilly und Lamb. Lamb würde sich über zu viele gewaltsame Tode in einer kleinen Gegend auslassen. Selbst wenn es dieses Mal um Underhill geht. Die meisten Leute betrachten den Ort als Erweiterung von Folly-on-Weir.“

„Aye“, sagte Hugh. „Das dachte ich auch. Ich hatte gehofft, wir würden die beiden nie mehr wiedersehen. Ich werde Alex weiterleiten, was Sie über die Polizei gesagt haben. Kommen Sie her?“

„Ja, natürlich.“ Er wollte noch mehr sagen und Hugh bitten, keine große Sache aus dem Todesfall zu machen, doch er hielt sich zurück. „Ich mache mich bald auf den Weg.“

 

Alex wusste nicht, ob sie noch länger die Ruhe bewahren konnte, wenn Lily nicht bald aufhörte, vor lauter Aufregung Runden um die Mittelinsel der Küche zu drehen. Lily trug Tellerstapel von einer Arbeitsfläche zur anderen, öffnete Kühlschranktüren und schloss sie wieder, ohne auch nur einen Blick hineinzuwerfen.

„Scoot“, sagte Alex zu dem älteren der beiden Gammage-Jungs, „setz dich bitte. Erklär mir, was los ist. Hat dir jemand etwas angetan? Dich verletzt?“

„Nein.“ Alle Farbe war aus dem Gesicht des großen, blonden Jungen gewichen. Er blickte wiederholt zur Hintertür.

Alex sagte: „Rede mit mir. Ich kann dir nicht helfen, wenn ich nicht weiß, was los ist.“ Das kam sehr viel lauter heraus, als sie beabsichtigt hatte. „Bitte, Scoot. Warum schaust du immer wieder zur Tür?“

Jemand klopfte an ebendiese Tür, rasch und laut und Scoot, der ein Buch unter dem Arm trug, hastete hin, öffnete und ließ einen weiteren Jungen herein. Das musste Kyle sein. Statt eines Buches trug er ein abgenutztes Skateboard unter dem Arm. Er war ein schmaler, flachsblonder Junge, der seinem Bruder nicht sonderlich ähnelte, abgesehen von der Panik in seinen Augen und dem Körperbau eines Reisigbündels, das bei der leichtesten Berührung brechen konnte.

Lily schlug eine Kühlschranktür zu. „Was ist los? Sag es uns, schnell. Ich muss einige Gäste einchecken.“

„Ich habe eine Leiche in unserem Wald gefunden“, sagte Kyle mit ersten Anzeichen seines Stimmbruches. Er sprach eher mit seinem Bruder als mit Lily. „Scoot, wir müssen irgendwo hin und entscheiden, was wir tun.“

„Du hast diese Leiche gefunden?“, fragte Alex. „Armer Junge. Komm erst mal rein. Du brauchst eine Tasse Tee. Und etwas zu essen.“

Der Junge schüttelte den Kopf. „Sie war ganz verdreht, Scoot. Ihr Gesicht war blau – fast schwarz – und ihre Augen sahen aus, als würden sie ihr jeden Moment aus dem Kopf schießen. Sie sahen aus, als wären sie voller Blut. An ihrem Handgelenk konnte ich nichts spüren, doch ich habe im Fernsehen gesehen, dass man zwei Finger an den Hals legt. Aber da war eine Schnittwunde. Einmal rund rum. Als hätte ihr jemand einen dünnen Draht oder so etwas um den Hals gelegt und fest zugezogen. Und etwas kam aus ihrem Mund. Man hatte ihr Tuch über den Schnitt geschoben. Ich habe es wieder so hingelegt, damit sie nicht so schlimm aussieht. Sie hatte auch Blutergüsse am Hals und ihre Hand war blutverschmiert; sämtliche Fingernägel waren ausgerissen – die andere Hand lag irgendwo unter ihr. Der Gestank war schlimm. Ich habe noch nie eine Leiche gesehen.“

Scoot ballte die Hände zu Fäusten und entspannte sie wieder. „Es ist nicht deine Schuld, dass ihr so etwas zugestoßen ist. Wir müssen uns darum keine Sorgen machen.“

„Ich war im Polka Dot, um dich anzurufen.“

„Kyle hat dich angerufen, Scoot?“, fragte Alex. „Warst du deshalb so aufgebracht?“

Er schien sie nicht zu hören.

„Alex?“ Hugh kam in die Küche geeilt. „Was ist los?“

„Es ist alles in Ordnung.“ Nichts war in Ordnung. Kinder sollten niemals solche Angst erleben müssen, wie Scoot und Kyle sie gerade verspürten.

„Tony hat angerufen, um Ihnen zu sagen, warum die Polizei in Underhill ist“, sagte Hugh.

Sie nickte. „Aber wir wissen es schon. Kyle hier hat die Leiche gefunden und die Polizei gerufen. Ich kümmere mich um die Jungs. Mum, versuch, dich zu beruhigen und übernimm dann das Einchecken. Hugh, wir können den Pub nicht unbeaufsichtigt lassen.“

Er zögerte, ehe er sich wieder umdrehte.

„Hat im Polka Dot jemand gehört, was du gesagt hast?“ Das Polka Dot war ein Eckladen in Underhill. Neben einer begrenzten Auswahl an Nahrungsmitteln bekam man dort alles von Kerzen über Haarnetze, Haarspangen und fast neue Sportschuhe bis hin zu Schachteln mit Pralinen, die nicht mehr ganz frisch aussahen, wenn man sie öffnete. Diejenigen, die Letztere kauften, bekamen erzählt, dass der weiße Film auf der Schokolade etwas ganz Besonderes war.

Kyle hatte nicht geantwortete. Er starrte Scoot an und trat von einem Fuß auf den anderen.

„Also?“ Scoot sprach leise. „Haben sie gehört, was du am Telefon gesagt hast, Kyle?“

„Mum“, sagte Alex, „ich übernehme hier, bis du wieder herkommen kannst.“ Ihre Mutter rannte beinahe zu dem Gang, der zum Restaurant und dem Gasthaus führte.

„Die Polizei kam“, sagte Kyle. „Sie haben mich gezwungen, noch einmal zurückzugehen. In den Wald. Sie waren nett, aber ich hatte Angst. Nein, keine Angst, ich war nur etwas besorgt. Nachdem ich ihnen die Leiche gezeigt hatte, sagten sie, ich solle im Cottage warten, weil sie noch Fragen stellen würden, wenn Dad nach Hause kommt.“ Ihm standen eindeutig Tränen in den Augen.

Seine Augen waren grün und leicht mandelförmig. Als Alex begriff, dass diese Augen denen eines anderen Kindes ähnelten, konnte sie kaum ein Keuchen unterdrücken. Sie sahen aus wie ihre eigenen Augen und der leidende Blick, den sie jetzt darin sah, musste häufiger ihr eigener gewesen sein als sie sich eingestehen wollte.

Sie schnappte sich zwei Tassen und füllte sie mit Tee aus einer Teemaschine. Sie gab Milch und reichlich Zucker dazu und drückte jedem der beiden Jungs eine Tasse in die Hand. „Das wird euch stärken“, sagte sie.

„Was hast du zur Polizei gesagt?“, fragte Scoot. „Du hast ihnen erzählt, dass Dad weg ist, oder? Hast du erzählt, dass wir allein sind?“

„Nein! Was denkst du von mir? Sie hätten sofort das Jugendamt geholt.“ Er legte sich eine Hand auf den Mund.

„Du hättest mich anrufen können, ohne in den Laden zu gehen.“ Scoot sah niedergeschlagen aus. Er weigerte sich, Alex anzusehen.

„Ich wollte nicht dortbleiben, bei … du weißt schon. Außerdem habe ich mein Handy verloren.“

„Wo?“ Scoot wirkte alarmiert. „Wir müssen es finden!“

„Wenn du ein Handy brauchst, besorgen wir dir eines“, sagte Alex. Sie war bereit, den Kindern alles anzubieten, was sie beruhigen könnte.

Die Jungs schwiegen jetzt, als hätten sie Angst davor, gegenüber Alex ein Geheimnis auszuplaudern.

Lily kehrte zurück. „Trinkt euren Tee“, sagte sie nachdrücklich. „Es ist alles in Ordnung.“

„Ist es nicht“, sagte Scoot. „Wir wollen nicht, dass die Polizei irgendetwas über uns herausfindet. Über Kyle und mich, meine ich. Wir haben nichts falsch gemacht, aber sie dürfen nicht bei uns herumschnüffeln … nicht so, wie die Dinge gerade stehen. Wir brauchen keine Aufmerksamkeit. Wir haben nichts mit dieser toten Person zu tun.“

 

Keine halbe Stunde später war Tony zu Fuß in Richtung Ortsmitte unterwegs.

Die kalte Novemberluft strich über sein Gesicht und um seinen Kopf. Wie schnell dieses Jahr vorbeigezogen war und welch große Veränderungen es mit sich gebracht hatte.

Ob Alex sich irgendwie aus ihrem Treffen am Abend herausreden würde? Würde dieser Mordfall, wenngleich er nichts mit ihnen zu tun hatte, wieder einmal ihren Blick von ihrem eigenen Leben ablenken? Er wünschte sich eigentlich nur einen Neustart für die Nähe zwischen ihnen, die seinem Empfinden nach dahinschwand.

Katie war immer noch mit Bogie im Black Dog. Die beiden Tiere würden auf ewig dortbleiben, wenn sie damit durchkämen. Mittlerweile saßen die Burke-Schwestern gewiss an ihrem Tisch beim Feuer und vervollständigten das Bild, das sich jeden Abend dort bot, mit ihrer Katze Max, die immer in einem kleinen Einkaufstrolley mit Tartanmuster und Segeltuchabdeckung zum Pub reiste.

Beim Gedanken daran, mit Alex alles aufs Spiel zu setzen, was ihm lieb und teuer war, stockte ihm der Atem. Er öffnete den Mund, doch damit wollte ihm das Atmen auch nicht leichter fallen.

Der Duft einer Clematis stieg ihm in die Nase; die letzten, nach Vanille duftenden Blüten des Jahres. Das Gerüst über der Haustür eines Cottage zu seiner Linken stützte die holzigen Ranken, an denen er jeden Tag vorbeilief; üblicherweise auf seiner Runde mit Katie. Selbst in der Dunkelheit waren die cremefarbenen Blüten deutlich zu sehen wie Sterne am schwarzen Himmel. Tatsächlich war der Himmel bedeckt und schwere Regentropfen fielen in sporadischen Schauern herab.

War er zufrieden mit seinem Leben hier? Reichte es ihm, in den Grenzen eines Dorfes in den Cotswolds Tiermedizin zu praktizieren? Tat es, solange er Alex hatte. Am Anfang war er sich nicht sicher gewesen, ob er es riskieren wollte, dieser Frau wieder näherzukommen, doch er war Alex nähergekommen – sehr nah.

Er musste weitergeatmet haben, sonst wäre er mittlerweile bewusstlos geworden, doch er konnte sich nicht daran erinnern. Was sollte er tun, wenn Alex seine Gefühle nicht erwiderte? Was, wenn er fälschlicherweise annahm, dass sie seine Gefühle und Hoffnungen teilte? Was, wenn sie Abstand von ihm nehmen wollte, um ihnen etwas Freiraum zu lassen, oder wie auch immer sie es nennen würde?

Ein plötzliches Lächeln überraschte ihn. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Alex ihn endgültig verlassen würde. So sehr sie auch zögerte, sich gänzlich an ihn zu binden – und er war sich bewusst, dass sie bislang jeden seiner Schritte hin zu einer gemeinsamen Zukunft abgeblockt hatte –, war er doch überzeugt davon, dass sie zusammengehörten. Ihr Gesichtsdruck verriet ihm, dass sie wusste, wie wichtig ihm das war, worüber er gerade nachdachte.

Er hoffte sehr, er würde recht behalten.

„Tony, warte da!“ Wie ein Fleisch gewordener Gedanke rannte Alex ihm entgegen. Sie senkte die Stimme. „Lass uns in die Richtung zurücklaufen, aus der du kamst. Es dauert nicht lange; darf es nicht. Du weißt, was passiert ist, oder?“

„Natürlich, mein Dad hat uns beide angerufen.“

Er spürte ihre Anspannung deutlich.

Sie wurde langsamer. „Hör mir einfach zu. Mum und ich brauchen deine Unterstützung. Es geht um Scoot und seinen Bruder. Kyle hat die Leiche gefunden. Er ist jetzt bei uns, aber es geht ihm nicht gut.“

„Verdammt.“ Tony blieb stehen und sah sie an. „Das ist ja wirklich …“

„Ja, ist es. Hör mir bitte zu, Tony. Diese Jungs leben allein in ihrem Cottage. Wir hätten ihnen helfen können, wenn wir es nur gewusst hätten. Hugh hatte wohl schon den Verdacht, dass sie sehr häufig allein sind, doch er hat es nie erwähnt. Das hätte er tun müssen. Ich dachte, er könnte den Wachhund für die beiden spielen, doch er weiß nicht, was alles dazugehört, auf Kinder aufzupassen. Pass auf, es ist zu kompliziert, um das jetzt alles zu erklären. Wenn die Polizei Wind davon bekommt, wird Lily behaupten, die Ansprechperson für die beiden zu sein, wann immer ihr Vater arbeitet. Es wird keine Lüge sein, da sie es genau so einrichten wird. Und ich werde ihr helfen. Bitte bestätige das, falls du danach gefragt wirst.“

„Warum sagen wir nicht einfach die Wahrheit?“

„Scoot hat große Angst davor, dass das Jugendamt eingeschaltet wird. Er weiß nicht, ob man sie weiter so wohnen lassen wird. Hugh und Mum sind sich auch nicht sicher und ich erst recht nicht. Das Risiko ist zu groß. Wir müssen die beiden decken, bis ihr Vater zurückkommt. Kyle gibt vor, stark zu sein, aber er hat einen Schock erlitten und hat Angst.“

Er legte ihr die Hände auf die Schultern. „Das könnte uns über den Kopf wachsen, Süße. Du tust genau das, was ich von dir erwartet hätte. Ich stehe hinter dir, natürlich, aber behalte im Hinterkopf, dass wir es alle bereuen könnten, uns eingemischt zu haben.“

Sie schwieg, hatte das Gesicht zu ihm nach oben geneigt und in ihren Augen funkelten Tränen oder eine andere starke Emotion. „Ich weiß. Ich bitte dich nur darum, das zu sagen, was wir besprochen haben. Ich muss das tun. Ich glaube ihnen und habe teilweise selbst erlebt, was sie gerade durchmachen. Du wirst nichts damit zu tun haben und …“

„Es ist mir scheißegal, ob ich involviert werde! Mir ist auch wichtig, was aus den Kindern wird, aber vor allem möchte ich, dass du und Lily weit weg von … Es gibt noch einen Punkt. Denk daran, dass es gut wäre, wenn wir zu einem weiteren Mordfall in der Gegend Distanz wahren würden.“ Er streckte eine Hand aus, um den Wortschwall zu bremsen, den er schon kommen sah. „Sag mir einfach, was ich tun soll. Alles andere werde ich mir später anhören. Warum muss das alles so übereilt entschieden werden?“

„Es ist schon entschieden.“ Er spürte, dass sie sich versteifte. „Scoot stand einfach nur da und starrte ins Nichts. Dann fragte er, wann die Polizei bei ihrem Cottage vorbeikommen wollte, um Kyle zu befragen. Anscheinend haben sie vor, heute Abend dort aufzutauchen, wenn der Vater zu Hause ist; doch er wird nicht da sein. Du hättest Scoots Gesicht sehen müssen. Er sagte nur: ‚Sie werden dich uns wegnehmen, wenn sie davon Wind bekommen, Kyle.‘ Und Kyle war am Boden zerstört. Wenn die Polizei später vor einem leeren Cottage steht, werden sie nicht lange brauchen, um herauszufinden, dass Scoot bei uns arbeitet. Sie werden wütend sein und herkommen, um zu sehen, ob er im Dog ist. Tony …“

„Ich verstehe schon, Süße. Wirklich. Keine Sorge – wenn man mich fragt, werde ich deine Geschichte unterstützen. Es ist ja nicht so, als wären die Jungs hier wohlbekannt. Sie wohnen in Underhill; nicht einmal wirklich in Underhill. Und sie bleiben unter sich. Weißt du, wie viele Menschen wussten, dass sie allein in diesem Cottage wohnen?“

„Bis heute Abend niemand. Kyle macht mir die meisten Sorgen. Scoot war wütend auf sich, weil er sich vor uns verplappert hat, aber er ist älter und nicht so verletzlich. Die Jungs und ihr Vater sind es anscheinend gewohnt, ohne Hilfe auszukommen. Ich habe nicht nach ihrer Mutter gefragt, aber er sagte, sie würden zurechtkommen und seien schon immer zurechtgekommen; zu dritt. Jedes Mal, wenn er über die Situation zu dritt sprach, konnte ich sehen, dass er verschlossener wurde, als würde er ein Geheimnis bewahren wollen. Kyle hat sich einfach nur immer tiefer in sich zurückgezogen. Aber vielleicht lese ich da auch nur etwas hinein, was gar nicht da war. Ich sollte jetzt zurückgehen. Warte ein paar Minuten, ehe du nachkommst. Vielleicht kommen die Polizisten heute gar nicht mehr. Wir können ja noch hoffen. Sobald ich den Pub zumache, müssen wir entscheiden, wie es weitergehen soll.“

Sie drehte sich um und rannte zurück, wobei sie immer wieder zwischen Licht und Schatten hin und her wechselte, während sie an Straßenlaternen vorbeikam. Dann musste sie seitlich am Pub eingebogen sein, da sie nicht mehr zu sehen war.

 

Tony erreichte den Black Dog und tauchte in die Wärme ein, die ihm von innen entgegenströmte. Er hörte Hughs Lachen über dem allgemeinen Summen der Gespräche, das noch lauter werden würde.

Die vertraute Gemütlichkeit ließ ihn innehalten. Er stand regungslos da, lauschte und dachte nach. Sein Leben war schön. War es zu schön? Setzte er alles aufs Spiel, nur weil er noch mehr wollte?

Er spürte kalte Luft im Rücken, als die Tür erneut geöffnet wurde. Eine uniformierte Polizistin kam herein und Tony erinnerte sich sofort an das Gespräch mit Alex.

„Guten Abend“, sagte sie mit einem hiesigen Akzent. „Kommen Sie häufig genug her, um die Stammkundschaft zu kennen?“

Ihr barsches Auftreten irritierte ihn. „Ja, ich schätze, schon. Aber es gibt andere, die öfter hier sind.“ Er wollte sie loswerden, wusste aber nicht, wie er das anstellen sollte.

Sie war eine große, schlanke Frau mit attraktiven Zügen und hatte das blonde Haar unter ihrer Mütze zu einem geflochtenen Zopf gefunden, er ihr im Nacken hing.

„Constable Miller“, sagte sie und streckte ihm eine Hand entgegen.

Tony erhielt einen festen Händedruck, blickte auf den Dienstausweis, den sie vorzeigte und fragte sich, ob er ihr wohl Fragen zu dem Todesfall nahe Underhill stellen konnte. Das ging gewiss als normales Verhalten durch. „Tony Harrison“, sagte er. „Ich bin der örtliche Tierarzt. Heute ist wohl viel los in der Gegend. Polizeiaktivität, meine ich. Ich hoffe, es ist nichts Ernstes.“

Sie war damit beschäftigt, seinen Namen in ein Notizbuch zu schreiben. „Ich werde vielleicht später noch mit Ihnen sprechen müssen, Dr. Harrison. Wissen Sie, wo ich Alex Duggins oder Hugh Rhys finde?“

Sie machte deutlich, dass sie hier die Fragen stellte. „Gehen Sie einfach in den Schankraum durch und warten Sie am Tresen.“ Ihm war nicht danach, das weiter auszuführen. Je mehr er mit ihr sprach, desto wahrscheinlicher wurde es, dass er zu viel sagte.

Officer Miller betrat selbstbewusst den Schankraum und wenngleich Tony ihr folgen wollte, wusste er, dass es ein Fehler wäre.

Als er den vollen Raum betrat, ging er zuerst zum Tisch der Burke-Schwestern, wo er überschwänglich von Katie und Bogie begrüßt wurde. Die Hunde waren schlau genug, um davon auszugehen, dass er gerade erst angekommen war und nicht gleich wieder abziehen würde, sodass sie nicht befürchten mussten, nach Hause geschleift zu werden. Der orange getigerte Kater Max hatte sich auf Marys Schoß zusammengerollt und ließ die Augen geschlossen. Die Hunde hatten schnell eingesehen, dass sie Max tolerieren mussten, wenn sie weiterhin beim Tisch der Schwestern liegen wollten. Oder vielleicht hatten sie auch die Erfahrung gemacht, dass der Kater ihnen Schmerzen zufügen konnte, wenn er verärgert war.

Harriets und Marys Wangen waren von der Hitze des Feuers gerötet. Mary trug einen ihrer typischen, spanischen Kämme im zusammengebundenen, dünnen, weißen Haar. Harriets kurze Haare rahmten ihr Gesicht ein wie eine silbergraue Wolke.

„Die Damen“, sagte Tony, „Wie geht es Ihnen? Der Winter hat es dieses Jahr eilig. Denken Sie an Ihre dicken Schals.“

Sie lachten beide und Mary kniff die Augen hinter ihren unglaublich dicken Brillengläsern zusammen. „Wie wäre es mit einem Sherry für Sie beide? Harvey’s Bristol Cream?“ Er behielt die Polizistin im Blick, die mit Hugh sprach und in ihr Notizbuch schrieb.

Nachdem sie schnell einen Blick getauscht hatten, liefen die Schwestern noch ein wenig stärker rot an und versuchten sich an abwinkenden Gesten.

„Ich hole die Getränke“, sagte Tony und versteckte sein Lächeln. Die beiden sehr intelligenten Frauen waren ein Schatz des Dorfes und sie liebten Sherry, wenn sie nicht gerade halbe Pints Radler tranken.

Er ließ sich Zeit, während er sich dem Tresen näherte, grüßte bekannte Gesichter, ließ Officer Miller aber nie aus den Augen. Während er sie beobachtete, führte Hugh sie hinter den Tresen und in Richtung Küche, die hinter dem Flaschenregal lag.

Es vergingen mehrere Minuten, ehe Alex Hughs Platz einnahm, zwei Biere zapfte und sie servierte. Dann sah sie Tony direkt an. „Was bekommst du?“

„Ein halbes Pint Ambler.“ Es war ihm heute Abend egal, was er zu trinken bekam. „Wie ich sehe, verbreitet Kev Winslet zusammen mit Major Stroud Mythen und Gerüchte. Wie läuft es hinten?“

„Da ist Hugh zuständig“, sagte sie angespannt. „Ich hoffe, dass er kein Chaos anrichtet. Mum musste wieder zurück ins Gasthaus.“

„Hugh ist sehr fähig“, sagte er, da er ihr Hadern spürte. „Er war schon immer gut mit Kindern und Jugendlichen.“

„Das stimmt, nicht wahr?“ Ihre Blicke trafen sich, doch Alex schaute weg. „Die Polizistin meinte, sie würde mir sagen, wann sie mit mir sprechen will. Ich glaube, das war die Anweisung, mich fernzuhalten, bis ich gerufen werde.“

„Ich habe kurz mit ihr gesprochen, als sie reinkam“, sagte Tony. „Sehr nüchtern. Sie kommt mir nicht wie eine Person vor, der die Kinder aus der Hand fressen.“

„Es hat mir nicht gefallen, wie sie mit uns allen gesprochen hat. Es wäre mir lieber gewesen, wenn sie die Jungs nicht derart überrumpelt hätte, aber Hugh musste ihr sagen, dass sie hier sind. Ich hoffe, sie glaubt uns, dass wir immer streng ein Auge auf sie haben, wenn ihr Vater fort ist.“

Tony war nicht sehr zuversichtlich, doch das behielt er für sich. „Sie spricht also mit Hugh?“

„Sie sagte, sie müsse mit den Jungs reden. Und sie ließ sich nicht davon beeindrucken, dass ich sagte, sie müssten gehen, um ihre Hausaufgaben zu machen.“

„Verdammt.“ Tony beobachtete den Schaum auf seinem Bier, trank einen tiefen Schluck und dachte angestrengt nach. „Die Polizei sollte nicht ohne einen Erwachsenen mit Minderjährigen sprechen, oder? Mit einem Elternteil oder so?“

Alex schüttelte den Kopf. „Ich denke auch. Ich hätte bleiben sollen.“

„Ob du oder Hugh, das macht keinen Unterschied. Die Beamtin kennt die Regeln. Sie wird keine wichtigen Themen ansprechen, wenn die Aussagen ohnehin nicht verwendet werden können.“ Er stellte sein Glas ab. „Nun, mir hat sie noch nicht gesagt, dass ich verschwinden soll. Ich bin der Einzige hier, der Zeit mit Kyle verbringt, also …“

„Seit wann?“

„Seit morgen, wenn er sein Praktikum in der Klinik antritt. Ich kann doch versuchen, ob ich damit durchkomme. Ich werde nicht hier herumstehen, während eine übereifrige … Ich werde mal sehen, ob ich mich überzeugend als Betreuer ausgeben kann.“

Alex lächelte schwach und lehnte sich zu ihm. „Bring sie nicht zu sehr gegen dich auf. Ich glaube, sie ist nicht allzu angetan von Männern.“

„Dann habe ich ja nichts zu verlieren.“ Er grinste. „Wünsch mir Glück.“

3

Detective Chief Inspector Dan O’Reilly stapfte einen schlammigen Kiesweg entlang, der mit Unkraut und Ranken überwuchert war. Mit einer starken Taschenlampe leuchtete er vor sich auf den Boden und fluchte innerlich bei jedem mühseligen Schritt. Warum hatte er seine Gummistiefel nicht mitgenommen? Warum hatte er die verdammten Dinger überhaupt aus dem Wagen geräumt und zurückgelassen?

Du wolltest im Garten arbeiten, wurdest aber zum Einsatz gerufen, ehe du überhaupt anfangen konntest.

Er konnte sich im Licht der Taschenlampe ohnehin kein wirkliches Bild von den Feldern jenseits von Underhill machen, doch er musste es versuchen. Er hätte sich dem schon mehrere Stunden vor Sonnenuntergang widmen können, wenn er nicht so lange auf die Gerichtsmedizinerin hätte warten müssen. Er war vor dem weißen Zelt hinter ihm auf und ab gelaufen, das von innen beleuchtet war und aussah wie eine übergroße, chinesische Laterne, die mit geisterhaften Gestalten gefüllt war. Und das alles nur, damit sich Dr. Molly Lewis über den Zustand des Tatortes beschweren konnte, als sie endlich eingetroffen war. Sie war nicht ganz sie selbst und ließ ihren Humor vermissen, daher wollte Dan sie nicht konfrontieren. Er war gegangen und hatte Minuten später einen Anschiss von seinem Vorgesetzten kassiert, weil sie dort angerufen und sich Luft gemacht hatte.

Dagegen war der gute, alte Plumpsack gar nichts; bei der Polizei wurden seit Angedenken stattdessen die Vorwürfe herumgereicht – immer zu irgendjemandem weiter unten in der Hackordnung. Dan O’Reilly beteiligte sich üblicherweise nicht an diesem Spiel, doch dieses Mal hatte er eine Liste von unfähigen Missetätern, die er sich vorknöpfen würde.

Sein Handy meldete sich mit dem Ton für einen eingehenden Videoanruf und er holte es aus seiner Innentasche. Sein Herz setzte kurz aus. Calum war der Einzige, mit dem er Videoanrufe führte, doch dafür verabredeten sie sich normalerweise.

Er ging ran und drehte sich in die Richtung, aus der er gekommen war, um sehen zu können, ob jemand kam. „Hey, Junge.“

„Hallo, Dad.“ Calum ließ sein übliches Grinsen vermissen. „Warum ist es bei dir so dunkel? Wo bist du?“

Sein Sohn sah ihm sehr ähnlich. Je länger sie voneinander getrennt waren, desto deutlicher bemerkte er die Ähnlichkeiten. Calums Haar war lockiger als sein eigenes, doch es war genauso dunkel und die Augen auch.

„Dad? Sitzt du im Dunkel? Hast du kein Licht angemacht?“

„Nein. Tut mir leid. Ich bin draußen. Ich arbeite immer noch. Du weißt doch, wie es ist.“ Den Kommentar bereute er augenblicklich. Wenn er nicht so viel Zeit mit der Arbeit verbracht hätte, wäre er vielleicht noch verheiratet und hätte seine Frau und seinen Sohn bei sich; wobei das wohl auch nicht wahrscheinlich war. Die Situation zwischen Corinne und ihm war schon jahrelang schwierig gewesen, schon vor der Katastrophe, die sie auseinandergetrieben hatte – oder die sie dazu getrieben hatte, sich von Dan scheiden zu lassen.

„Ich wünschte, ich könnte zu dir kommen und bei dir wohnen, Dad“, sagte Calum. Er war gerade zwölf geworden und davon überzeugt, jetzt erwachsen zu sein; der Mann im Haus, seit Dan nicht mehr bei ihnen lebte. „Das wäre ganz einfach. Und es wäre schön, wieder mit meinen alten Freunden zur Schule zu gehen.“

Diese Bitte und die Tatsache, dass Calum offensichtlich gründlich darüber nachgedacht hatte, gaben Dan zu denken. Er wusste, dass Calum ihn vermisste und sich auf die Besuche bei ihm freute, doch mit so etwas hätte er nicht gerechnet.

„Ich dachte, es würde dir in Irland gefallen“, sagte Dan. „Deine Mutter und du konnten es gar nicht erwarten, dorthin zurückzukehren.“

„Mich hat niemand gefragt.“ Calum runzelte die Stirn und Dan glaubte, Tränen in den Augen des Jungen zu sehen. „Ich bin hier geboren, aber dort aufgewachsen. Ich war hier sonst immer nur zu Besuch und das war in Ordnung so.“

Dan spürte, wie sich ein schwerer Fehler ankündigte. „Aber deine Mutter lebt doch gern in Irland, oder?“ Er hielt den Mund, bevor er erwähnen konnte, dass sie in den letzten fünf Jahren ihrer Ehe kaum von etwas anderem gesprochen hatte, als dorthin zurückzukehren.

„Sie liebt es, Dad. Und es war gar nicht so schlimm, bevor er sich eingemischt hat. Sie werden heiraten, sagen sie und Mum sagt, dass wir alle glücklich werden, aber ich will ihn nicht. Mum sagt, dass ich mir nur einrede, dass Bran mich nicht mag und ich mich an ihn gewöhnen werde. Aber das werde ich nicht, Dad. Ehrlich nicht. Kann ich nicht bei dir leben?“

Dan bemerkte schockiert, wie fest er das Handy gepackt hielt und entspannte sich ein wenig. „Wir müssen alle ein wenig langsamer machen und darüber sprechen“, sagte er. Er vermisste den Jungen so sehr.

„Dann willst du mich nicht bei dir haben.“ Das war eine Feststellung.

„Komm schon, Calum, du weißt, dass das nicht stimmt.“ Er rang sich ein Lächeln ab. „Natürlich will ich dich bei mir haben. Aber deine Mutter wird dich nicht gehen lassen. Vielleicht können wir versuchen, die Besuchszeiten neu zu regeln. Du warst erst neun … damals. Jetzt bist du älter und nicht mehr so schutzlos. Sollen wir mal schauen, ob du mich hier besuchen kannst – für längere Zeit – statt dass ich dich besuchen komme?“ Nach dem Angriff auf Corinne und Calum, in einer Nacht, in der Dan an einem Fall gearbeitet hatte, war es nicht schwer für Corinne gewesen, das alleinige Sorgerecht zu erhalten und dafür zu sorgen, dass Dan nach Irland kommen musste, wenn er seinen Sohn sehen wollte.

„Bran hat zwei Söhne“, sagte Calum leise. „Sie sind in Ordnung, aber ich mag es nicht, wenn wir alle zusammen sind. Die beiden sind älter und Bran spricht mit ihnen, als wäre ich gar nicht da.“

„Deine Mutter wird dich niemals hergeben“, sagte Dan, während sich ein Gefühl des Grauens in seinen Eingeweiden ausbreitete. Er würde alles dafür geben, Calum zu sich zu holen, doch er wusste, dass die Chancen rein rechtlich gegen ihn standen; zumindest, bis Calum volljährig wäre.

„Ich will zu dir“, sagte Calum und schob das Kind stur nach vorn. Eine Geste, die Dan nur zu gut kannte.

„Und ich hätte dich auch gern bei mir.“ Kaum dass er das gesagt hatte, wusste er schon, dass es ein Fehler gewesen war, auch wenn es der Wahrheit entsprach.

„Das ist toll, Dad“, jubelte Calum. „Du wirst das schon hinbekommen. Du hast immer alles hinbekommen.“

Ich habe gar nichts hinbekommen, als ich spürte, dass Corinne mir entglitt und ich konnte sie auch nicht davon abhalten, nach Irland zurückzukehren. Das Bild des Mannes, der in dieser Nacht in ihr Haus eingebrochen war, kehrte zu ihm zurück; das Licht, das von der Klinge seines Messers reflektiert wurde. Dan legte die Finger auf die Narbe an seinem Kiefer. Er war gerade noch rechtzeitig nach langer Arbeit nach Hause zurückgekehrt, um seine Familie vor einem messerschwingenden Irren zu retten, doch der psychische Schaden war bereits entstanden. Es verging kaum ein Tag, an dem er sich nicht fragte, was passiert wäre, wenn er eine Viertelstunde später zurückgekommen wäre, oder auch nur fünf Minuten.

„Mein Sohn, halt noch ein wenig durch, während wir schauen, was wir tun können, in Ordnung?“

„Aber, Dad …“

„Was immer wir unternehmen, wir müssen es richtig machen. Das verstehst du doch.“

Calum schniefte. Er antwortete nicht.

„Hör mal, ich werde das alles mit deiner Mutter besprechen, um herauszufinden, wie die Dinge stehen, in Ordnung? Wir beide werden aber wie immer am Wochenende telefonieren.“

„Na gut“, sagte Calum. „Du bist dran mit anrufen.“ Er legte auf und ließ Dan im gespenstischen Licht seines Handys zurück.

Was er nicht tun durfte, war, die Sache zu überstürzen. Er musste zuerst nachdenken – und zwar gründlich. So wie er Calum kannte, würde er es sich binnen einer Woche anders überlegen und seine Mutter nicht verlassen wollen.

Calum hatte seinen Vater nie verlassen wollen. Das alles jetzt wieder auszugraben, machte Dan zu schaffen.

Dann würde Corinne also wieder heiraten. Nun, Dan freute sich für sie und hoffte, dass es dieses Mal funktionieren würde.

Er drehte sich um und ließ den Strahl der Taschenlampe halbherzig über den schlechten Witz von einem Feldweg schweifen. Er fror an den Händen, während seine Handflächen schweißnass waren. Es gab eine Menge zu bedenken, bevor er wieder mit Calum sprach.

Doch jetzt musste er sich auf die Frauenleiche konzentrieren, die da hinten lag. Jahrelange Übung hatte es ihm ermöglicht, sich von anderen Gedanken abzuschotten – meistens zumindest.

„Warten Sie, Boss.“ Sein Partner, Detective Sergeant Bill Lamb, kam hinter ihm herangetrabt. „Ist das nicht reine Zeitverschwendung? Warum machen wir das überhaupt? Die Spurensicherung kann gleich bei Tagesanbruch herkommen. Und für heute Nacht können sie alles absperren und Wachen aufstellen.“

„Um Gottes willen, hören Sie auf, die Verantwortung abzuschieben.“ Bill hatte das Pech, Dans negativer Stimmung Vorschub zu leisten. „Auch wenn Sie recht haben. Aber ich bin lieber hier draußen und mache die Drecksarbeit, als da unten in die Luft zu gehen und es später zu bereuen. Wie ich sehe, haben Sie Gummistiefel dabei.“

„Man sollte mit schlammigen Feldern rechnen, wenn es geregnet hat, Boss.“

„Sie müssen mir nicht das Offensichtliche vorhalten. Habe ich irgendwelche neuen Erkenntnisse über die Verstorbene verpasst?“

„Nachdem Sie gegangen sind, wurde ich von Technikern überrannt. Ich konnte kaum noch sehen, was da drinnen vor sich ging. Warum waren so viele Leute innerhalb der zweiten Absperrung?“

„Rhetorische Fragen könnten mich wirklich wütend machen“, warnte Dan. „Hat Molly noch irgendetwas anderes gesagt, als dass sie keine Ahnung hat, wie lange die Leiche schon da gelegen hat? Wollte sie nicht mal einen Todeszeitpunkt eingrenzen? Sie könnte erwürgt worden sein, oder auch nicht, oder was auch immer sie nicht sagen wollte.“

„Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen, Boss. Doch Molly hat uns nicht das Geringste gesagt. Rein gar nichts. Aber was mit dem Hals der Verstorbenen passiert ist, war sehr eindeutig. Was auch immer dafür benutzt wurde, scheint nicht am Tatort zu sein.“

„Das überrascht mich nicht. Gibt es schon irgendetwas Zutreffendes über vermisste Personen?“

„Negativ“, sagte Bill und trat Kieselsteine in die Luft. „Sie haben Fingerabdrücke genommen, also werden wir sehen, was Holmes dazu findet. Es sieht übrigens so aus, als würden die Kids hier mit Geländerädern ihre Runden drehen. Ich bezweifle, dass wir in diesem Schlamm irgendwelche brauchbaren Fuß- oder Reifenabdrücke finden werden.“

Dan straffte sich. Feuchtigkeit war in seinen Schuh eingedrungen. „Diese verdammte Nässe. Es ist immer nass, wenn man glaubt, dass es trocken bleibt. Nutzlose Wettervorhersage. Ich will, dass hier jeder Quadratzentimeter abgesucht wird. Sie haben allerdings recht, ich werde bis zum Morgen warten müssen. Aber ich will, dass hier beim ersten Tageslicht schon gearbeitet wird, Junge. Solange sich die Leiche nicht selbst in dieses Wäldchen verirrt hat, war noch jemand hier. Wir werden etwas finden.“

„Ich habe die Spuren gesehen, Boss. Ich schätze, sie wurde nur weit genug gezogen, um sie zwischen den Bäumen ablegen zu können. Glauben Sie, dass sie hier getötet wurde?“

„Wer weiß? Die verdammte Armee ist hier durchgetrampelt“, sagte Dan. „Oder hier wurde als Übung für den Highland Fling getanzt, während der Mord begangen wurde.“

Ein Uniformierter Beamter kam zu ihnen marschiert. „Sir, ich soll Ihnen von Dr. Lewis sagen, dass sie geht. Sie werden die Leiche mitnehmen.“

„War das schon alles?“, fragte Bill und klang dabei so überrascht, wie Dan sich fühlte. Es hätte genug Arbeit gegeben haben müssen, um die Spurensicherung noch deutlich länger beschäftigt zu halten. „Wurde irgendein Ausweis bei der Leiche gefunden?“, hakte Bill nach.

„Nein, Sir. Auch keine Handtasche und kein Geldbeutel. Aber sie hatte einen Umschlag mit Geld bei sich – einen unbeschrifteten Umschlag – und Drogen in den Taschen. Sah nach Heroin aus und vielleicht Rohypnol.“

Dan trat um Bill herum. „Wie viel von beidem?“

„Ich habe es nicht gesehen, Sir. Die Gerichtsmedizinerin sagte es nur. Ich glaube, sie hat alles gleich eingetütet.“

„Alles klar“, sagte Dan. „Guter Mann.“ Und Bill flüsterte er zu: „Sie hat es verdammt eilig.“

Nach einer kurzen Unterhaltung mit Dr. Molly Lewis stapften Dan und Bill erschöpft aus dem Feld und erreichten ein einsames Cottage, das abseits der anderen im Dunkeln stand.

„Das ist das Haus der Familie Gammage. Sieht nicht so aus, als wäre jemand zu Hause“, sagte Dan.

Er klopfte mehrfach an, ehe er aufgab. Vor allen Fenstern waren die Vorhänge zugezogen, doch er warf einen Blick durch den Briefschlitz und leuchtete mit seiner Taschenlampe so weit in den kleinen Flur, wie er konnte. „Ich sehe gar nichts. Wo ist der Junge, der die Leiche gefunden hat? Er wohnt doch hier, oder? Ich dachte, er sollte hier mit seinem Vater auf die Vernehmung durch eine Beamtin oder einen Beamten warten.“

Er klopfte erneut.

„Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wo der Junge ist“, sagte Bill. „Constable Miller geht dem nach. Sie wird sich melden, wenn sie etwas herausfindet. Der Junge heißt Kyle Gammage. Dreizehn Jahre alt. Er ist zu einem Laden gerannt, um Hilfe zu rufen. Er wollte vermutlich nicht allein da draußen bleiben.“

„Das Ganze ist verdammt ungeordnet“, sagte Dan. „Ein weiteres Chaos in unserem Lieblingsort. Aber wenigstens ist es nicht direkt in Folly.“

Er spürte, dass Bill ihn ansah, tat aber so, als würde er es nicht bemerken. Sein Partner dachte gewiss an die anderen Fälle, die sie in Folly-on-Weir untersucht hatten … und an einige der Personen, die sie dabei kennengelernt hatten.

Der Regen setzte wieder ein. Große Tropfen schlugen ihm auf den Kopf und sickerten durch sein Haar bis zu seiner Kopfhaut. „Wir gehen“, sagte er zu Bill. „Treffen bei Tagesanbruch. Geben Sie weiter, dass ich alle um Punkt neun vor Ort haben will.“

„Ja, Boss“, sagte Bill. „Werden wir hier einen Stützpunkt einrichten müssen?“

„Ich hoffe nicht. Der verdammte Gemeindesaal von Folly ist der reinste Alptraum, doch das Zelt hier ist zu klein, um sich brauchbar dort einzurichten.“

„Es scheint bei diesen ländlichen Ermittlungen allerdings zu helfen, mitten im Geschehen zu sein.“ Bill hustete. „Wir haben mittlerweile auch Routine damit, uns hier einzurichten.“ Ein Taschentuch blitzte weiß in der Dunkelheit auf, als er sich damit das Gesicht abwischte.

„Sie meinen, dass das bei den Fällen in Folly hilfreich war. Ich schätze, das stimmt. Aber vielleicht haben wir ja Glück und können diesen Fall schnell aufklären. Wirklich eine furchtbare Nacht.“

Das Cottage der Gammages stand am hinteren Ende eines Feldes, das zwischen dem Dorf und den Fundort der Leiche lag. Alles, was man von dem Bereich sehen konnte, wirkte sehr ungepflegt. Steine und Wurzeln konnten Stolperfallen werden, wenn man nicht aufpasste und das lange Gras schlang sich um Hosenbeine und durchnässte den Stoff.

„Molly war heute nicht sehr gesprächig“, merkte Bill an, während sie weiterliefen. „Sie muss doch eine grobe Ahnung haben, wie viele Drogen gefunden wurden.“

„Und ob da zehn Fünfziger oder fünfzigtausend Pfund in dem Umschlag waren“, fiel Dan mit ein. Er sagte Bill nicht, dass Molly vermutlich schon getrunken hatte, ehe sie nach Underhill kam. Sie hatte sich fahren lassen und hinten im Auto gesessen, wo sie ihre Privatsphäre hatte. Ihre Arbeitstage waren lang und meistens grauenvoll. Die Arbeit ging ihr unter die Haut.

Irgendwann erreichten sie eine Fahrspur, die zur Hauptstraße führte. Es war die gleiche High Street, die durch Underhill und über mehrere Hügel führte, bis man in etwa acht Kilometern Folly-on-Weir erreichte. Sämtliche Polizeifahrzeuge standen in einer Reihe vor einem Sammelsurium winziger Läden.

„Schauen Sie sich hier mal um“, sagte Dan, bevor er in seinen Wagen stieg. „Was glauben Sie, wie viele Augenpaare uns hier beobachten? All diese dunklen Fenster heißen nicht, dass das Dorf völlig unbewohnt ist. Morgen früh wird hier an jeder Haustür eine Befragung durchgeführt.“

Sobald die Scheibenwischer ihre Arbeit aufnahmen, fuhr Bill los, musste sich aber ducken, um durch die klaren Stellen der beschlagenen Windschutzscheibe zu blicken. „Hier fehlt vernünftige Straßenbeleuchtung“, sagte er. „Das ist verdammt gefährlich.“

„Die Bewohner sind vermutlich froh, dass sie überhaupt ein paar Laternen haben“, antwortete Dan, während er sich noch anschnallte. „Hier kommt vermutlich nicht viel Geld an.“

Als sie schon zehn Meilen hinter Folly waren, klingelte Bills Handy. Er holte es aus der Innentasche seiner Jacke und grunzte anerkennend.

„Dann mal raus mit der Sprache“, sagte er, kurz nachdem er drangegangen war und Dan beobachtete ihn. Er setzte sich gerader hin und blickte nach rechts und links, während er mit einer Hand lenkte. „Das war ein Fehler, Miller. Sie kennen die Regeln. Ich suche nach einer Wendemöglichkeit. Wo sind Sie jetzt? Einen Moment.“ Er bog auf einen Weg ein und Schlamm spritzte bis an die Fenster. Dann setzte er zurück und fuhr in die Richtung, aus der sie gerade gekommen waren. „In Ordnung, Miller, fahren Sie fort. Aber zuallererst: Sie stellen keine weiteren Fragen – niemandem – ehe der Detective Chief Inspector und ich vor Ort sind. Also, wo veranstalten Sie diese angehende Katastrophe?“

„Was ist los?“, fragte Dan.

Bill fuhr schneller, lauschte der Stimme aus seinem Handy und blickte wiederholt zu Dan. Er stellte das Handy auf stumm und sagte: „Besser Sie als ich. Das ist die hübsche Miller, die Kollegin, die in Sie verknallt ist.“ Er sprach wieder mit dem Constable am Handy. „Scheiße, Miller! Das kann sich der Boss auch gleich aus Ihrem Mund anhören.“ Damit reichte er Dan das Handy, der den scharfsinnigen Blick und das laszive Grinsen seines Partners bemerkte.