Leseprobe Kartoffeln, Kühe und andere Katastrophen

KAPITEL EINS

Montag, 15. Oktober

18:30 Uhr – Kassnach

STELLA

Was ist der beste Ort, um sich zu verkriechen, wenn man gerade sein Studium hingeschmissen hat, weil man eine Affäre mit dem Prof hatte und die leider aufgeflogen ist?

Richtig: ein Provinzkaff in der Eifel. In der Vulkaneifel, um genau zu sein. Oder besser gesagt: am Arsch der Welt.

Und wenn man nach dem gelben Ortsschild am Eingang geht, dann heißt dieser Ort „Kassnach” und ist ein Dorf mit nicht mal 400 Einwohnern. Ein Dorf mit einer genauso eingeschworenen wie misstrauischen Dorfgemeinde, in dem jemand Neues auch nach 20 Jahren noch als zugezogen gilt.

Hier war ich also. Am Arsch der Welt. Im Begriff mein Erbe anzutreten: einen kleinen Bauernhof mit sechs Kühen, einer Handvoll Hühnern und zwei Kartoffeläckern. Aber Moment, vielleicht sollte ich besser von vorne anfangen.

Angefangen hatte nämlich alles vor zwei Wochen mit einem Brief. Einem wichtigen Brief. Einem von der Sorte, die amtlich wirken, auch wenn sie es nicht sind: einem Brief vom Notar.

Notare Schmitt und Rottluff
Dr. jur. Hendrik Rottluff
Kartäuser Straße 21
56068 Koblenz

Frau Stella Schulze
Gotener Straße 237
50679 Köln
Koblenz, 1. Oktober

Betreff: Einladung zur Testamentsvollstreckung

Sehr geehrte Frau Schulze,

in meiner Eigenschaft als Testamentsvollstrecker der verstorbenen Gerda Maria Habermann, geb. Müller, zuletzt wohnhaft in der Seniorenresidenz „Villa Rustica” in Niederkirst, verstorben am 17. September, lade ich Sie hiermit zur Testamentsvollstreckung am 5. Oktober um 16:30 Uhr ein.

Sollte es Ihnen nicht möglich sein diesen Termin wahrzunehmen, bitte ich Sie um Kontaktaufnahme zwecks neuer Terminvereinbarung.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. jur. Hendrik Rottluff
Notare Schmitt und Rottluff

 

Vor 2 Wochen

Dienstag, 2. Oktober

10:00 Uhr – Köln

STELLA

„Was liest du denn da?”, fragte Ida mich. Weil sie aber gerade einen Riesenbissen eines Schokoladenmuffins im Mund hatte, klang es eher nach: „Wafflieftnd?”

Nach über zwei Jahren, die ich mit Ida zusammenwohnte, verstand ich sie einwandfrei. Insgeheim nannte ich es Idisch, wenn sie so sprach. Und ich war fest davon überzeugt, dass ihre Eltern mit dem Grundsatz „Man spricht nicht mit vollem Mund” keinen Erfolg gehabt hatten. Ich glaube, das machten alle in Idas Familie so. Vor meinem inneren Auge tauchte eine Großfamilie auf – Ida mittendrin – die sich, während der Mahlzeiten, in fließendem Idisch unterhielten.

„Jetzt sag schon. Was ist das?” Ida hatte den Bissen heruntergeschluckt und sprach nun wieder so, dass es jeder Normalsterbliche verstehen konnte.

„Ein Brief”, sagte ich, während ich ebenjenen noch einmal las, um zu begreifen, was da stand.

„Das habe ich mir schon fast gedacht. Was für ein Brief denn?” Auf Zehenspitzen tänzelte Ida hinter meinem Rücken hin und her bei dem Versuch, mir über die Schulter zu schauen. Ihr Unterfangen war natürlich zwecklos: Ich war einen ganzen Kopf größer als sie.

„Eine Einladung zur Testamentsvollstreckung”, fasste ich den Inhalt zusammen.

„Was? Wer ist denn gestorben?”, fragte Ida.

„Meine Großtante Gerda.”

Ida riss die Augen auf, kaute fast fertig und sagte dann: „Das ist ja traurig.”

Ich wiegte unschlüssig meinen Kopf hin und her, was Ida zu der Aussage brachte: „Ist es nicht?”

„Ja und nein. Ich meine: Natürlich ist es traurig, dass meine Großtante gestorben ist. Aber ehrlich? Ich kannte sie kaum. Das letzte Mal hab ich sie als Kind gesehen.”

Ida steckte sich den restlichen Bissen Muffin in den Mund und wiegte nun auch den Kopf hin und her. Ganz entgegen ihrer sonstigen Angewohnheit, kaute sie tatsächlich fertig, bevor sie sagte: „Okay. Ich fasse zusammen: Allgemein gesprochen ist es traurig, weil es einfach immer traurig ist, wenn jemand gestorben ist. Aber in Wirklichkeit ist es gar nicht so traurig, weil du dich kaum noch an sie erinnern kannst und sie quasi eine Fremde für dich war. Richtig?”

Ich nickte.

„Gut, in dem Fall würde ich sagen …” Sie brach ab und begann aufgeregt auf und ab zu hopsen. „Yay!”, rief sie.

„Yay?”, fragte ich perplex.

„Yay! Eine geheimnisvolle Erbschaft! Das ist fast wie in einem Die drei ???-Hörspiel.” Sie strahlte mich an.

Dazu muss man wissen, dass Ida der größte Die drei ???-Fan war, den ich kannte. Also nicht körperlich groß, sondern groß groß. Ihr wisst schon.

„Deine Großtante hat nicht zufällig ein altes Schloss besessen? Oder eine Sammlung teurer Gemälde? Oder …”

„Da muss ich dich enttäuschen”, fiel ich ihr ins Wort. „Meine Großtante ist nicht … Ich meine, sie war nicht reich.”

Ida stellte das Hopsen ein und sah mich wieder mit großen traurigen Augen an. „Nicht?”

„Nein. Sie hatte mit meinem Großonkel einen kleinen Bauernhof. Jottweedee.” Ich seufzte.

„Jottwee… was?” Ida sah mich verständnislos an.

„Janz weit draußen, das ist Platt für …”

„Am Arsch der Welt.”

KAPITEL ZWEI

Montag, 15. Oktober

18:35 Uhr – Kassnach

STELLA

„Das macht dann 41,80 Euro.”

„Wie bitte?”

„41 Euro und 80 Cent, junges Fräulein.” Der Taxifahrer neigte seinen Kopf und sah mich durch den Spiegel tadelnd an. „Oder glauben’se, die Fahrt vom Bahnhof hierher war kostenlos?”

Nur langsam löste ich meinen Blick von dem kleinen Bauernhof, der mein neues Zuhause sein würde, und kramte in der Birkin Bag nach dem Portemonnaie. Die Tasche war ein Imitat, aber ein sehr gutes, und nur ein geübtes Auge konnte den Unterschied erkennen. Ida war es natürlich sofort aufgefallen, als ich damit in unserer Kölner WG aufgetaucht war. Ich lächelte, vor Ida hatte ich noch nie etwas verheimlichen können.

„Ich hab das ja ernst gemeint: 41,80 Euro. Am liebsten heute noch. Ich hab schließlich nicht den ganzen Tag Zeit!”

Ich verkniff mir einen Kommentar und zog den letzten 50-Euro-Schein aus meinem Portemonnaie. Wortlos hielt ich ihn dem Taxifahrer hin. Dieser wartete, ob ich noch etwas sagen würde, brummte dann unverständlich vor sich hin und suchte das Wechselgeld zusammen.

Mit den Worten „Da hat ’se so ’ne teure Tasche, aber Trinkgeld gibt ’se keins”, klatschte er mir das Geld in die Hand.

„Glauben Sie wirklich, ich hätte Geld zu viel, wenn ich hier wohne?” Ich nickte zu dem in die Jahre gekommenen Bauernhaus und dem Stall dahinter. „Und die Tasche war ein Geschenk, wenn Sie es genau wissen wollen.” Die Lüge war mir herausgerutscht, ehe ich sie aufhalten konnte, aber ich würde einem Taxifahrer nicht auf die Nase binden, dass es sich hierbei nur um ein billiges Imitat handelte. Es war schon seltsam genug, dass er überhaupt erkannt hatte, dass die Tasche (oder zumindest das Original davon) teuer war. Untersetzt und mit beginnendem Haarausfall wirkte er nicht wie jemand, der sich mit Mode im Allgemeinen und Taschen im Besonderen auskannte. In meinem Nacken kribbelte es. Das untrügliche Zeichen dafür, dass mir dieser Mann mit jeder Sekunde unheimlicher wurde.

„Bleiben Sie ruhig sitzen”, sagte ich daher und hoffte, dass ich so locker und leicht klang, wie es meine Absicht war. „Ich hole mein Gepäck einfach selbst aus dem Kofferraum.”

Der Fahrer brummte wieder. Er schien mir das mit dem Trinkgeld wirklich krummzunehmen. Ich sprang aus dem Taxi und räumte den Kofferraum aus. Zwei große Koffer und eine Stofftasche. Mehr hatte ich bei meiner überstürzten Abreise nicht gepackt. Am meisten schmerzte es mich, dass ich meine geliebte Nähmaschine in der WG hatte lassen müssen. Aber für eine Reise mit der Bahn war die wirklich nicht geeignet. Da musste ich mir noch etwas einfallen lassen. Vielleicht könnte ich Ida dafür einspannen. Also für den Fall, dass sie mir meine Abreise nicht übelnahm. Sie war nämlich spontan mit ihrer neuen Eroberung in den Urlaub gefahren und ahnte noch nichts davon, dass es mich in die Vulkaneifel verschlagen hatte, oder warum.

 

18:40 Uhr – Kassnach

LUKAS

Er war gerade mit Alma fertig, als er das Auto hörte. Mit einem Klaps auf den Hintern entließ er sie und sah ihr hinterher, wie sie sich zu den anderen Milchkühen gesellte. Lukas seufzte, nahm Melkschemel und Eimer und brachte die noch warme Milch in den gekachelten Arbeitsraum des Stalls. Den dreibeinigen Schemel stellte er wie immer in die Ecke, bevor er die Milch gleichmäßig auf die zwei fast vollen 40-Liter-Kannen verteilte. Dann ging er zum Waschbecken hinüber, wusch sich die Hände, spülte den Eimer aus und hing ihn zum Trocknen für den nächsten Tag auf.

Je eine Milchkanne in der Hand beobachtete er von der Stalltür aus die junge Frau, die in grellbunten Gummistiefeln aus dem Taxi stieg. Er schnaubte. Jahrelang hatte er sich um die alte Habermann und den Hof gekümmert. Das hatte er dem alten Heinrich Habermann auf dem Sterbebett versprochen. Wie Großeltern waren sie für ihn gewesen; wie die Großeltern, die er selbst nie hatte. Und dann hatte die Alte den Hof nicht ihm, sondern allen Ernstes dieser entfernten Verwandten vermacht! Dieser jungen Frau, die bestimmt noch nicht mal den Unterschied zwischen Weizen und Gerste kannte. Gut, rein technisch gesehen musste sie das auch nicht wissen, da Habermanns nur Kartoffeläcker hatten, aber es ging ums Prinzip. Sie war eine Städterin, darüber konnten auch die Gummistiefel nicht hinwegtäuschen. Im Gegenteil.

Das Taxi ließ den Motor aufheulen und brauste so schnell davon, dass es an eine Flucht grenzte. Ein Verhalten, das Lukas nur zu gut von jedem kannte, der nicht hier geboren war. Die meisten auswärtigen Leute konnten Kassnach gar nicht schnell genug hinter sich lassen. Obwohl manchmal auch einige der hier geborenen das gleiche empfanden. So wie Christian, sein allerbester Freund seit Kindertagen, der es gar nicht hatte erwarten können, volljährig zu werden, damit er dieses Kaff endlich hinter sich lassen konnte. Nach Amerika war er gegangen. So weit weg wie möglich. Seit einer Woche war er wieder zurück. Und während das Dorf ihn mit offenen Armen empfangen hatte, hatte Christian gegenüber Lukas so getan, als wären die letzten elf Jahre nicht gewesen. Die Jahre, in denen er nichts von sich hatte hören lassen. Gar nichts. Sein bester Freund tat einfach so, als wäre nie etwas gewesen. Als hätte er ihn nie im Stich gelassen mit …

Lukas schüttelte den Kopf. Es war keine Zeit für traurige Gedanken. Dieses Kapitel hatte er schon vor langer Zeit abgeschlossen. Jetzt wollte er der jungen Frau auf den Zahn fühlen, die bestimmt nichts anderes im Sinn hatte, als das, was eigentlich rechtmäßig seins war, herunterzuwirtschaften: den Hof der Habermanns.

 

Vor 10 Tagen

Freitag, 5. Oktober

15:05 Uhr – Im Zug

STELLA

Die Landschaft flog nur so an mir vorbei, während der Regionalexpress Fahrt aufnahm. Troisdorf und Bonn hatten wir bereits hinter uns gelassen und endlich kam der Rhein in Sicht. Anderthalb Stunden, so lange dauert es mit der Regionalbahn von Köln bis nach Koblenz. Genug Zeit, um darüber zu grübeln, was Großtante Gerda mir wohl vermacht hatte und wer noch alles dort sein würde. Meine Mutter – deren Tante Gerda ja gewesen war – war nicht geladen worden und auch sonst hatte keiner meiner näheren Verwandten einen Brief vom Notar erhalten.

Spitzfindig hatte meine Mutter bemerkt, dass Tante Gerda schon immer ein wenig verschroben gewesen sei. Am Ende würde ich bloß die mottenzerfressene Garderobe bekommen, weil meine Mutter ihr in einem ihrer seltenen Telefonate gesagt hatte, dass ich Modedesign studierte. Um ehrlich zu sein, hatte ich den starken Eindruck, dass meine Mutter lediglich eifersüchtig war, weil sie nicht zur Testamentsvollstreckung eingeladen worden war.

Ida hingegen hatte mich in den letzten drei Tagen mit immer abenteuerlicheren Ideen rund um die Erbschaft amüsiert. Angefangen bei teurem Schmuck (vorzugsweise Juwelen) über einen besonders gezüchteten Bullen (weil ich sie noch einmal daran erinnert hatte, dass meine Tante nur einen Bauernhof besessen hatte) bis hin zu einem geheimen Goldschatz (von unermesslichem Umfang versteht sich). Für Ida war das alles wie eine neue und unglaublich spannende Die drei ???-Folge: Die drei ??? und die geheimnisvolle Erbschaft der Gerda Maria Habermann.

Mein Handy vibrierte und auf dem Sperrbildschirm erschien der Hinweis, dass ich eine neue WhatsApp von PTM erhalten hatte. Mein Herz begann zu hüpfen. Ich vergewisserte mich, dass im Zugabteil niemand hinter mir saß, bevor ich mein Handy entsperrte, um die Nachricht lesen zu können. Aus gutem Grund hatte ich es so eingestellt, dass mir auf dem Sperrbildschirm nicht die Vorschau der tatsächlichen Nachricht angezeigt wurde. So war ich jederzeit sicher vor neugierigen Blicken. Hinter PTM verbarg sich nämlich niemand Geringerer als Professor Ted Mosby.

Nein, kleiner Scherz, es war nur Professor Tobias Munch, aber er ähnelte Ted Mosby – der Hauptfigur aus der Serie How I met your mother – so sehr, dass ihn jeder so nannte. Dass er mir schrieb, hatte nichts mit dem Studium zu tun. Na ja, fast nichts. Wir hatten uns nämlich durch mein Studium kennengelernt. Und er war nicht irgendein Professor, er war mein Professor.

Du hast recht gehabt, es war eine gute Idee auf den Drachenfels zu klettern.

Mein bereits hüpfendes Herz hämmerte und ich lockerte meinen Loop-Schal.

War ja auch von mir.

Stimmt, Du hast immer die besten Ideen. Und noch besser war hinterher …

Hatte ich schon erwähnt, dass ich eine Affäre mit meinem Prof hatte? Egal, das Blut schoss mir jedenfalls in die Wangen und ich zerrte den Loop-Schal über meinen Kopf. Jetzt war mir definitiv warm. Kurz überlegte ich, was ich darauf antworten konnte, und schickte schließlich nur ein Küsschen: :-*.

Sehen wir uns gleich noch?

Bin unterwegsMelde mich, wenn ich wieder zurück bin. Wie lange hast Du Zeit?

Meine Frau ist heute mit einer Freundin im Kino. Bis 22 Uhr sind wir sicher.

Mein Magen drehte sich, so wie immer, wenn Tobias seine Frau erwähnte. Ja, richtig gelesen: Nicht nur, dass ich eine Affäre mit meinem Prof angefangen hatte, er war obendrein auch noch verheiratet. Unglücklich zwar, aber verheiratet.

Ich kämpfte gegen das Übelkeitsgefühl an und schrieb: Ok. Bis nachher. Dann sperrte ich mein Handy wieder und steckte es hastig in meine Tasche. Leise Zweifel schwirrten durch meinen Kopf. Ob das wirklich so eine gute Idee war mit Tobias. Meinem verheirateten Professor. Aber dann musste ich wieder daran denken, wie schön der Ausflug am Tag der Deutschen Einheit gewesen war. Tobias und ich als Paar in der Öffentlichkeit. Gut, man könnte über die Qualität der Öffentlichkeit streiten, da wir auf dem Wanderweg den Drachenfels hinauf nur Touristen oder Familien mit Kindern angetroffen hatten, aber es war definitiv mal etwas anderes als unsere heimlichen Stelldichein gewesen. Dabei hatte es meine ganze Überredungskraft benötigt, Tobias davon zu überzeugen, etwas zu unternehmen, was Kleidung voraussetzte. Alle meine vorigen Vorschläge hatte er abgelehnt, aber dann hatte ich mir sein Faible für alte Sagen und Legenden zunutze gemacht und den Drachenfels am Rhein vorgeschlagen. Das hatte er nicht ablehnen können, wo hier der Nibelungensage nach einst ein fürchterlicher Drache gehaust hatte, der von niemand anderem als dem Helden Siegfried getötet worden war. Außerdem war es weit genug von Köln entfernt, um keinem unserer Bekannten in die Arme zu laufen, und trotzdem noch nah genug für einen Tagesausflug. Was er seiner Frau erzählt hatte, wo er den ganzen Tag war, darüber wollte ich lieber nicht nachdenken. Wenn ich mit Tobias zusammen war, blendete ich das aus, sonst hätte ich mich selbst nicht mehr ertragen können.

Im Inneren meiner Tasche vibrierte mein Handy erneut. Diesmal hatte ich eine Nachricht von Ida:

Neue Erbschafts-Theorie: Die gute Gerda vermacht dir ihre wertvolle Briefmarkensammlung und darin enthalten ist die Blaue Mauritius.

Ich rollte die Augen nach oben.

Ja klar.

Warte! Ich hab noch eine: Du erbst ein altes Rezeptbuch und die Rezepte sind eigentlich Zaubertränke und du kannst dir dann alles hexen, was du möchtest.

Ich unterdrückte ein Kichern.

Ich glaube, du vermischst Bibi Blocksberg mit den Drei ???.

Neben den Drei ??? war auch Bibi Blocksberg hoch bei Ida im Kurs.

Ruf mich einfach an, wenn du beim Notar fertig bist.

Mach ich. :-*

 

 

 

 

 

16:05 Uhr

Koblenz

STELLA

„Schön, dass Sie es einrichten konnten, Frau Schulze. Nehmen Sie doch bitte Platz.” Notar Dr. jur. Rottluff stellte sich als ein Mann mittleren Alters heraus, durchtrainiert und gar nicht mal so unattraktiv. In meinem Kopf waren Notare bisher immer steinalt und hutzelig gewesen. Man lernt ja nie aus. Auf meiner imaginären Liste für Stereotypen strich ich Notar aus.

Wie angeboten nahm ich auf einem der beiden Sessel vor dem großen Schreibtisch Platz. Es war noch weit vor halb fünf. Für meine Reise mit der Deutschen Bahn hatte ich ordentlich Luft eingeplant. Sicher ist sicher. Aber entgegen der landläufigen Meinung über den Nahverkehr war der Zug auf die Minute pünktlich gewesen und ich zu früh. Seelisch und moralisch machte ich mich für den Small Talk bereit, den ich jetzt bestimmt mit dem Notar führen würde, bis die restlichen Erben eintreffen würden und war mehr als überrascht, dass Dr. Rottluff direkt mit der Testamentsvollstreckung begann: „Zuerst muss ich Ihre Personalien überprüfen, dann werde ich das Testament von Frau Habermann verlesen und …”

„Warten wir nicht auf die anderen?”, unterbrach ich ihn.

„Die anderen?” Dr. Rottluff zog die Stirn in Falten.

„Die anderen Erben”, sagte ich.

„Frau Schulze, es gibt keine anderen Erben. Sie sind Alleinerbin.”

KAPITEL DREI

Montag, 15. Oktober

18:50 Uhr – Kassnach

STELLA

Ich sah mich auf dem verlassenen Hof um. Da war ich also. Ich – Stella Schulze – im Begriff mein neues Leben als Bäuerin anzufangen. In Kassnach, einem Ort, von dem die Welt bisher noch nicht gehört hatte. Ob das wirklich so eine gute Idee gewesen war? Andererseits war alles besser als der Shitstorm, der gerade in Köln abging.

Wie hatte ich mich nur darauf einlassen können? Eine Affäre mit einem verheirateten Mann, der auch noch doppelt so alt war wie ich? Und obendrein noch mein Professor. Also gewesen war: mein Professor gewesen war. Denn ich hatte nicht vor wieder an die Uni zurückzukehren. Großtante Gerdas Vermächtnis (das klang doch viel besser als „Bauernhof”) war ein Wink des Schicksals gewesen. Wenn ich ehrlich war, war ich überhaupt nicht glücklich mit meinem Modedesignstudium. Ja, ich liebte es zu nähen und neue Schnitte zu entwerfen, aber mit diesem ganzen Haute-Couture-Kram hatte ich noch nie etwas anfangen können. Meine Entscheidung für das Studium war der romantischen Vorstellung davon entsprungen. Die Realität war da eine ganz andere.

Und als hätte ich es kommen sehen – also nicht den Teil mit aufgeflogenen Affäre, sondern den Teil mit dem Bauernhof – hatte ich mir erst in diesem Frühjahr eigene Gummistiefel designt. Wenn das mal nicht Schicksal war.

Motiviert reckte ich mein Kinn. (Nicht, dass jemand da gewesen wäre, um es zu sehen, aber die Geste zählt.) So gestärkt hievte ich erst den einen und dann den anderen Koffer zur Eingangstür des kleinen Bauernhäuschens und kramte in meiner Tasche nach dem Schlüssel, als sich eine große Hand schwer auf meine Schulter legte.

Habt ihr schon mal einen Cartoon gesehen, in dem die Comicfigur meterhoch in die Luft springt, weil sie sich so erschreckt hat? Jetzt musste ich am eigenen Leib erfahren, wie sich das anfühlte. Ich machte einen Satz. Ja gut, natürlich nicht meterhoch, aber ich machte einen Satz.

Als ich wieder auf dem Boden angekommen war, musterte ich den Grund, der aus mir offensichtlich eine Cartoon-Figur gemacht hatte: Vor mir stand ein Mann – schätzungsweise Anfang 30, dunkle Haare, dunkle Augen, Gummistiefel und Arbeitsoverall – mit einem unglaublich grimmigen Gesichtsausdruck. Es kam mir fast so vor, als würde er mit dem Grinch konkurrieren wollen und wenn wir Winter gehabt hätten, hätte ich mir das sogar geglaubt. Neben ihm standen zwei große Milchkannen.

„Stella Schulze?” Er sagte meinen Namen nicht, er spuckte ihn fast aus. Trotzdem kam ich nicht umhin zu bemerken, dass seine Stimme angenehm dunkel war. Ich wusste nicht, warum er so motzig war, aber was er konnte, konnte ich schon lange. Wie eben auf dem Hof, reckte ich wieder mein Kinn und fragte patzig zurück: „Wer will das wissen?”

Eine seiner Augenbrauen hob sich unmerklich an. „Lukas Munnebach”, sagte er, und es schien mir, als wäre seine Stimme ein kleines bisschen freundlicher. Aber wirklich nur etwas. Ich überlegte. Munnebach. Der Name sagte mir was. Munnebach, Munnebach. „Sie sind derjenige, der in der letzten Zeit nach dem Hof gesehen hat, richtig?”

Ein knappes Nicken.

„Dann … äh, Dankeschön?” Wieso musste ich es wie eine Frage formulieren?

„Kriegen Sie das hin?” Er nickte unbestimmt in Richtung des Stalls.

„Äh. Was?” Es war etwas an ihm, das mich aus der Fassung brachte, aber ich konnte nicht genau sagen, was es war. Der unfreundliche Ton? Der grimmige Blick? Die großen Hände? Bei diesen Gedanken musste ich an das Märchen von Rotkäppchen denken: Großmutter, warum hast du so große Hände? War Lukas Munnebach am Ende der böse Wolf?

„Die Kühe und Hühner versorgen”, unterbrach er meinen Gedankengang. „Melken, Eier einsammeln, die Kartoffeln ernten. Das Übliche halt.” Er sprach jede Silbe überdeutlich aus, als würde er annehmen, dass ich mit Begrifflichkeiten wie Kühe, Hühner oder Kartoffeln nichts anfangen könnte.

„Ich habe jede Folge von Bauer sucht Frau gesehen”, antwortete ich, „und außerdem habe ich das hier.” Aus meiner Tasche zog ich zwei handgeschriebene Kladden hervor und hielt sie in die Luft. „Ich denke, ich komme klar.”

Wieder hob er kaum merklich eine Augenbraue. „Diese Woche kann ich Ihnen noch alles zeigen” sagte er, als hätte er mich nicht gehört. „Ab nächster Woche geht die Ernte los, da habe ich keine Zeit mehr.” Er nahm die beiden Milchkannen und drehte sich ohne ein Grußwort um.

„Ich sagte, ich komme schon klar”, rief ich ihm hinterher.

„Morgen früh, 6:00 Uhr, dann melken wir erst mal die Kühe”, antwortete er, ohne sich umzudrehen.

„Ich hatte gesagt, dass ich klarkomme. Sie brauchen nicht …”

„Pünktlich!”

 

Vor 10 Tagen

Freitag, 5. Oktober

16:20 Uhr – Koblenz

STELLA

„Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie wieder unterbreche, aber ich muss noch mal nachfragen: Ich bin Alleinerbin?”

„So hat es Frau Habermann in ihrem Testament festgelegt. Ausdrücklich.” Dr. Rottluff fixierte mich. „Können wir fortfahren?”

Ich nickte.

„Dann verlese ich nun das Testament.” Der Notar sortierte einige der vor ihm auf dem Schreibtisch liegenden Blätter, räusperte sich und begann: „Testament und letzter Wille von Gerda Maria Habermann, geborene Müller.” Er machte eine Pause. „Ich, Gerda Maria Habermann, geboren am 27. Februar 1930 in Koblenz, bestimme im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte Stella Gertrude Schulze, geboren am 26. Juli 1996 in Köln, zu meiner alleinigen und ausschließlichen Erbin. Ich ordne für meinen Nachlass die Testamentsvollstreckung an. Zum Testamentsvollstrecker ernenne ich Notar Dr. jur. Hendrik Rottluff. Gezeichnet, Gerda Maria Habermann, Kassnach.”

Ich schluckte. Das Ganze klang furchtbar amtlich. Und erdrückend. Alleinerbin. Ich? Jetzt musste ich mich auch räuspern. „Verstehe ich das richtig, dass meine Großtante mir alles vermacht hat, auch den Bauernhof?”

„Das ist richtig.” Der Notar nickte bei diesen Worten.

„Aber warum eine Testamentsvollstreckung? Es gibt ja nichts zu verteilen, oder so.”

„Nun.” Bildete ich mir das ein oder war Dr. Rottluff plötzlich verlegen? „Ihre Großtante hatte zu dem Erbe noch Anweisungen hinterlassen. Sehr genaue Anweisungen.”

„Anweisungen?”

Wieder nickte der Notar. Dann zog er eine Schublade seines Schreibtisches auf und nahm zwei Kladden und einen alten Schlüsselbund hervor. Beides legte er vor mich auf den Tisch. Ich musterte die Sachen. Die beiden Kladden waren handschriftlich beschrieben.

„Was ist das?”

„Das”, sagte der Notar und deutete auf die Kladden, „sind die genauen Anweisungen Ihrer Großtante, wie Sie den Bauernhof zu führen haben.”

„Wie bitte?”

„Uhrzeiten, Maßangaben, Zeiträume für Saat und Ernte, Ihre Tante hat alles ganz genau festgelegt.”

 

17:10 Uhr – Koblenz

STELLA

Es tutete einmal und Ida war am Apparat. Ich grinste. Wie ich sie kannte, war sie bestimmt wie ein aufgeregtes Huhn vor dem Telefon auf- und abgehüpft und hatte sich dabei vor lauter Aufregung in die geballten Fäuste gebissen.

„Jetzt sag schon, was hast du geerbt? Sag schon.”

„Ida …”

„Sag schon! Sag schon!”

Ich musste lachen und bekam erst mal kein Wort raus.

„Atmen, Stella. Atmen nicht vergessen. Ein. Aus. Ein. Aus. Gut. Und jetzt sag endlich.”

Idas Rat folgend atmete ich tief durch. Dann sagte ich: „Alles.”

Am anderen Ende der Leitung blieb es still.

„Ida?”, fragte ich vorsichtig. „Bist du noch da?”

„DAS IST JA DER HAMMER!”, brüllte mir Idas Stimme entgegen. Wer hätte gedacht, dass in so einer kleinen Person so viel laute Stimme stecken konnte? Ich zog das Handy von meinem Ohr weg. Nach wie vor war Idas brüllende Stimme daraus zu vernehmen. Man hätte meinen können, sie hätte gerade im Lotto gewonnen oder Bibi Blocksberg persönlich getroffen, statt von meiner Erbschaft zu erfahren. Dabei wusste ich noch gar nicht, ob ich mich über das unverhoffte Erbe freuen sollte. Meine erste Reaktion im Büro des Notars unterschied sich deutlich von Idas. Ich wollte das alles nicht. Was sollte ich mit einem Bauernhof? Den ich – den genauen Anweisungen meiner Großtante zufolge – auch noch mutterseelenallein bewirtschaften durfte. In harter Arbeit von morgens bis abends, wenn ich die Uhrzeiteinträge in den Kladden richtig deutete. Ich als Bäuerin in der Eifel. Ja klar. Die leise Stimme meines kindlichen Ichs, die sich genauso wie Ida darüber freute, ignorierte ich.

Ich schirmte den Lautsprecher des Handys mit der Hand ab und holte es langsam wieder zu mir heran. Dann hielt ich es wie ein Butterbrot vor mich und sagte laut und deutlich: „Ida! Mach mal eine Pause.” Sofort wurde es still am anderen Ende und ich wagte es, das Handy wieder normal ans Ohr zu halten. Erneut holte ich Luft. „Ich weiß noch gar nicht, ob ich das Erbe überhaupt antreten soll”, sagte ich langsam. Die Stille am anderen Ende blieb bestehen.

„Ida?”, fragte ich vorsichtig.

Immer noch nichts.

„Ida? Komm schon”, versuchte ich es erneut.

Ich vernahm ein Seufzen und dann sagte Ida: „Stella, du bist manchmal eine richtige Spielverderberin, weißt du das eigentlich?”