Leseprobe Kaltes Vergessen

Kapitel 1

1984

Am meisten schockierte Elisabeth das ausgestochene Auge.

Sie war an diesem lauen, sonnigen Ostersamstag mit Mann und Labrador Tessie am Totenmaar unterwegs. Auf halber Strecke an der alten sechseckigen Holzhütte unterhalb der Martinskapelle jaulte die Hündin auf. Da sie sonst friedfertig war und nur selten bellte, blieb das Ehepaar verdutzt stehen. Nun zerrte Tessie an der Leine in Richtung See.

„Elisabeth, halt mal den Hund, ich schau nach, was los ist“, verkündete ihr Mann und marschierte los. Doch schon nach wenigen Schritten blieb er stehen, würgte und übergab sich. Elisabeth, zutiefst beunruhigt, lief ihm nach.

Diese fünf Schritte würde sie für den Rest ihres Lebens bereuen.

Der erste Streifenwagen, der eintraf, war mit Polizeihauptmeister Herbert Schüller und Polizeiobermeister Heinz Sartorius besetzt. Eine Viertelstunde nach dem Notruf, den die Eheleute Schmidt vom nahe gelegenen Segelflugplatz abgesetzt hatten, erreichten sie den Parkplatz an der alten Kapelle. Über den Rundwanderweg machten sie sich an den Abstieg, ließen den alten Friedhof links liegen.

So ganz glauben konnten sie nicht, was die Eheleute gemeldet hatten. Sicherlich war das wieder nur ein Spaß von jungen Leuten, die zu gerne hier verboten zelteten und sich gegenseitig mit alten Gruselgeschichten Angst einjagten. Die waren bestimmt mit einem Scherz zu weit gegangen.

Der See ruhte friedlich unter ihnen. Zwei blendend weiße Schwäne ließen sich im hellen Sonnenschein auf dem Wasser treiben und leise brummend suchten die ersten frühen Bienen Nektar. In dieser Idylle störte lediglich das Schwirren der Fliegen, das plötzlich an ihre Ohren drang, kaum dass sie die alte Holzhütte beim See erreicht hatten. Trotzdem waren sie nicht auf das Bild vorbereitet, das sich ihnen bot.

Sartorius war vorneweg gegangen. „Verdammte Scheiße.“

Fassungslos starrte er auf das wirre Knäuel aus zerfetztem Zeltstoff und blutigen Körpern. Auf einem zusammengefallenen Zelt lag eine halb nackte Mädchenleiche, ihr Kopf eine einzige Masse aus Blut und Knochensplittern. Dass es sich überhaupt um das Antlitz eines Mädchens handelte, erkannte er nur an dem blonden halblangen Haar, das verfilzt von Blut einer grotesken Hochsteckfrisur glich. Jeans und Schlüpfer waren ihr bis zu den Fußknöcheln heruntergezogen.

Ihr rechtes, leicht angewinkeltes Bein ruhte auf dem leblosen Kopf der zweiten Mädchenleiche, die fast komplett in eine blutrot verfärbte, ehemals hellbraune Filzdecke eingehüllt war. Nur der dunkle Pferdeschwanz mit rosafarbener Haarschleife wies sie als weibliches Wesen aus. Auch ihr Schädel war oberhalb der Augenbrauen eine einzige blutige Masse. Ihre verschleierten Augen starrten in den Himmel, schienen Gott oder ein Monster um Gnade anzuflehen.

Auf der rechten Seite des Zelts, halb unter der blutgetränkten Plane, krümmte sich ein junger Mann mit geöffnetem Jeanshemd und über der Brust gekreuzten Armen. Sein rechtes Bein klemmte unter dem Körper der unteren Mädchenleiche. Sein Kopf wurde von dem über ihm zusammengefallenen Zelt bedeckt.

Ganz oben auf dem Leichenhaufen lag ein weiterer toter Jugendlicher auf dem Rücken. Auch sein Gesicht von Schlägen malträtiert und blutüberströmt, wenn auch nicht so schlimm wie bei den anderen.

Sartorius war seit über zwanzig Jahren Polizist. Zunächst in Frankfurt am Main und dann, weil es ihm dort zu brutal zuging, hier in der Eifel. Er hatte schon viele Tote gesehen, bei Autounfällen, nach dem goldenen Schuss oder Messerstechereien im Bahnhofsviertel. Doch nichts hatte ihn auf diese surreale Szene vorbereitet. Entsetzen wütete in seinem Kopf. Tote Jugendliche, fast noch Kinder, dachte er und bebte innerlich vor Empörung. Das Bedürfnis, zu ihnen zu gehen, die Blutungen zu stoppen, sie zu retten, war übermächtig. Aber er wusste, es war zu spät.

Schüller trat neben ihn.

„Oh mein Gott, das sind ja fast noch Kinder“, stöhnte er auf und bewegte sich einen Schritt auf den Leichenberg zu. Dort ging er in die Knie und legte die Hände über Kreuz auf die Brust des zuoberst liegenden Jungen, wie um Wiederbelebungsmaßnahmen durchzuführen.

„Mensch, lass das, siehste denn nicht, dass die alle tot sind?“

Doch Schüller konnte offenbar nicht anders. Er drückte und drückte, war so völlig darauf konzentriert, dass er nicht den zuckenden Fuß bemerkte.

„Oh Gott, der lebt ja noch“, entfuhr es Sartorius. Sich über den Jugendlichen beugend, fühlte er nach dem Puls am Hals. Tatsächlich, er konnte einen schwachen spüren.

„Ich lauf zum Wagen und fordere Verstärkung und einen Rettungswagen an“, brüllte er unnötig laut im Umdrehen.

Diesmal nahm er den Weg über den Friedhof, das ging schneller. Noch im Rennen hört er ein Schluchzen. Verwirrt blieb er stehen. Warf einen Blick in die Runde, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. Weiter, zum Wagen. Doch schon nach ein paar Schritten hört er es wieder, diesmal wie das Wimmern eines verletzten Hundes. Ruckartig blieb er stehen. Drehte sich um, hatte nun eine andere Perspektive und konnte hinter den großen Doppelgrabstein bei den Steinstufen zur Pforte der Kapelle sehen. Dort hockte ein junges Mädchen, mit dem Rücken an den Grabstein gelehnt. Vorsichtig ging er näher. Sofort zuckte sie panisch zusammen, strampelte hilflos, versuchte, auf die Beine zu kommen.

„Ruhig, ganz ruhig“, versuchte Sartorius sein Glück, doch das Mädchen, das den gehetzten Blick eines angeschossenen Rehes hatte, wich zurück. Ihre Jeans war an den Knien aufgerissen und im Schritt blutig. Ein Träger ihres Tops war gerissen, das Gesicht von Schrammen überzogen. Blut war auch in ihrer engelsgleichen Haarpracht.

Das ist doch die Pfarrerstochter, schoss es Sartorius durch den Kopf.

„Komm her, Mädchen, ich will dir doch nur helfen“, versuchte er erneut, sie zu beruhigen. Diesmal schien er zu ihr durchzudringen.

Verzagt, mit schwimmenden Augen, sah sie zu ihm auf. Er streckte die Hand aus, nickte wohlwollend und trat einen Schritt näher. Wieder dieses Wimmern, doch ihr Blick hielt ihn fest. Noch ein Schritt und er erreichte ihren Arm, auch der zerkratzt.

Was hatte man ihr nur angetan?, fragte Sartorius sich, als er sie hochzog und in den Arm nahm. Sie schlotterte wie Espenlaub und fühlte sich eiskalt an.

„Komm mit, Mädchen“, flüsterte er ihr ins Ohr. Ihren Vornamen wusste er nicht und sie mit Fräulein Zamanka anzusprechen, erschien ihm zu unpersönlich. Vorsichtig zog er sie mit sich zum Streifenwagen und schob sie auf den Rücksitz des funkelnagelneuen Mercedes, der ganze Stolz der Dienststelle. Sofort setzte er sich auf den Fahrersitz und forderte über das Funksprechgerät Verstärkung und zwei DRK-Rettungswagen aus der Leopoldstraße in Daun an.

Zeitgleich mit dem Rettungswagen traf Kriminalmeisterin Janna Habena an der Martinskapelle ein. Sie verrichtete an diesem Feiertag Bereitschaftsdienst im Kriminalkommissariat Daun und war im Erstzugriff zuständig für alle Vorgänge, die das Einschalten der Kriminalpolizei erforderten.

Janna war todmüde. In der Nacht hatten Viele zu viel getrunken und selbst in einem ruhigen Örtchen wie Daun war es zu Randale zwischen einer Gruppe einheimischer Jugendlicher und Auswärtigen gekommen. Zudem hatte sich an der Lindenstraße ein Exhibitionist gezeigt. Nachdem sie mit den Kollegen von der Streife angekommen war, wurde schnell klar, dass es nur ein Besoffener war, der die Hose nicht schnell genug zubekommen hatte.

Zu guter Letzt hatten ein paar junge Leute „Autowackeln“ gespielt. Sie schaukelten geparkte Luxuslimousinen so lange hin und her, bis die Alarmanlage losging.

An Schlaf war nicht mehr zu denken gewesen.

Der Einsatz am Ostersamstagmorgen hatte zunächst geklungen, als sei ihre Anwesenheit nicht erforderlich. Alle glaubten, es handele sich um einen weiteren Spaß von Jugendlichen – bis der Funkspruch des Kollegen alle aufscheuchte.

In dem Streifenwagen der Bereitschaftspolizei auf dem Parkplatz bei der Kapelle saß Kollege Sartorius auf dem Rücksitz und hielt ein junges Mädchen in den Armen. Gerade winkte er die Rettungssanitäter weiter.

„Unten bei der Hütte liegt ein Junge, der schlimm verletzt ist. Ich warte mit Fräulein Zamanka auf den nächsten Rettungswagen.“

Janna kannte sich nach ihrer kurzen Dienstzeit von knapp drei Monaten noch nicht in der Dauner Umgebung aus. Hatte keine Ahnung, wo hier eine Hütte sein sollte. Also folgte sie den Sanitätern, die mit einer zusammengeklappten Trage über den Friedhof liefen. Im Eiltempo rannten sie weiter eine Erdtreppe runter, die mit ihren zu hohen hölzernen Setzstufen zum Stolpern einlud. Endlich sah sie vor sich eine Holzhütte und ein paar Meter entfernt am Ufer des Sees einen zweiten Streifenbeamten. Die Sanitäter waren gerade bei ihm angekommen, erstarrten aber mitten in der Bewegung.

Janna holte auf, erreichte sie und erstarrte ebenfalls. Einen Moment lang war sie zu schockiert, konnte weder sprechen noch denken.

„Was zum Teufel ist denn hier passiert?“, entfuhr es ihr, kaum, dass sie wieder ein Wort herausbekam.

Normalerweise ließ sie sich nicht so schnell aus der Fassung bringen, war selbst bei unappetitlichen Dienstaufgaben nicht empfindlich. Wollte allen Kollegen beweisen, wie hart sie im Nehmen war, härter als alle anderen zusammen. Doch hier fiel ihre sonst auch in den übelsten Situationen perfekt aufgesetzte Fassade der Standhaftigkeit in sich zusammen.

Gerade untersuchte der ältere Sanitäter einen Jungen, der rücklings auf einer halb nackten Mädchenleiche lag. Janna konnte unter ihr weitere Körper ausmachen. Als die Rettungssanitäter den Jugendlichen von dem Leichenberg runtergehoben und auf die inzwischen aufgeklappte Trage bugsiert hatten, war das ganze Ausmaß des Gemetzels zu erkennen.

Das Gesicht der nun zuoberst liegenden Mädchenleiche war im Gegensatz zu dem des Jungen völlig zertrümmert. Die Zähne waren aus dem Unterkiefer herausgebrochen, der Oberkiefer zerbrochen und der Schädel ein einziger Klumpen aus Fleisch und Blut. In dem vielen Rot leuchteten lediglich die Knochensplitter weiß. Zudem konnte Janna unzählige Messereinstiche im Hals und Nacken erkennen. Doch am schlimmsten war die mit Blut gefüllte leere Augenhöhle, da, wo eigentlich ihr rechtes Auge sein sollte.

Schräg unter ihr lag ein weiteres weibliches Opfer, eingehüllt in eine Decke. Nur der Kopf war sichtbar. Janna wünschte, er wäre bedeckt. So aber musste sie den Anblick des freiliegenden Schädelknochens und der Platz- und Schürfwunden am rechten Arm und Hals ertragen. Der Täter hatte das Mädchen fast skalpiert. Die blutigen Flecken auf der Decke zeugten von unzähligen Messerstichen in den Oberbauch. Sie hatte wohl versucht, sich mit ihrem rechten Arm zu schützen, den linken hatte sie nicht rechtzeitig aus der Decke winden können. Ob es ihr geholfen hätte, wagte Janna zu bezweifeln. Noch nie hatte sie solch eine unglaubliche Brutalität gesehen.

Das letzte Opfer schien männlich zu sein, das konnte man lediglich an dem Bürstenhaarschnitt erkennen, von dem Gesicht war nicht viel übrig geblieben. Janna entdeckte mehrere Einstiche in die Wangen und Nase.

Das war endgültig zu viel für sie. Janna rannte zum nächsten Busch und übergab sich.

Der mit der eilends in der Kriminalinspektion Trier, Abteilung K1, eingesetzten Mordkommission „Eifelmaar“ eingetroffene Gerichtsmediziner Dr. Wolfgang Heimann von der Rechtsmedizin der Universität des Saarlandes legte sich bei dem Todeszeitpunkt nicht eindeutig fest.

„Die Totenstarre ist vollständig eingetreten, also ist der Mord“, er runzelte die Stirn, „sind die Morde vor mindestens sechs Stunden begangen worden, mindestens. Nachts ist es ja noch richtig kalt, das könnte den Vorgang verlangsamt haben“, stellte er fest, während er versuchte, das Bein der zuoberst liegenden jungen Frau zu bewegen.

„Haben Sie schon Aufnahmen von den Toten gemacht? Kann ich sie bewegen?“

„Helge, komm mal rüber und schieß ein paar Bilder von der Toten hier“, wies Kriminalhauptkommissar Helmuth Berg, Leiter der Mordkommission und stellvertretender Kommissariatsleiter der Kriminalinspektion Trier, den mitgekommenen Erkennungsdienstler Helge Reuter an.

Drei tote und zwei schwer verletzte Jugendliche erforderten die ganze Erfahrung der Kripo und wer, wenn nicht Berg – nach fast fünfundzwanzig Jahren Dienstzeit, immer an der Front –, sollte das besser können? Sieben Jahre noch, dann war es vorbei, dann musste er seinen Platz räumen. Ihm graute schon jetzt davor.

„Jetzt dürfen Sie sie umdrehen, Doc“, erlaubte Berg nach fünf Minuten.

Vorsichtig legte der Gerichtsmediziner die Hand unter die Schulter der zuoberst liegenden Leiche und drehte sie, sodass ihr Rücken zu sehen war. Das Schulterblatt war blaurot angelaufen. Vorsichtig, als könne er ihr noch wehtun, drückte der Arzt zwei Finger in den Rücken.

„Die Totenflecken sind bereits fest.“

„Was bedeutet?“

„Dass sie vor mindestens zehn Stunden gestorben ist. Totenflecken sind erst danach unveränderlich.“

„Können Sie den Todeszeitpunkt noch genauer eingrenzen?“, hakte Berg nach.

„Wenn ich sie im Institut habe, werde ich die Restkörpertemperatur messen, dann wissen wir es wesentlich genauer. Mehr kann ich jetzt noch nicht sagen. Kommen Sie morgen früh ins Institut, dann erfahren Sie mehr.“

„Weiß jemand, wer die Jugendlichen sind?“, fragte Berg in die Runde der inzwischen eingetroffenen Beamten. Doch er erntete nur Kopfschütteln. Keiner mochte zu lange in die geschundenen Gesichter der gestern noch lebenden Teenager schauen.

„Ich glaube, einer der Kollege von der Streife, die als Erste vor Ort war, könnte sie kennen. Zumindest die Überlebende hat er mit Namen angesprochen.“

„Und wo ist der? Und wer sind Sie?“

Unwirsch betrachtete Berg die junge Frau vor sich. Groß und schlaksig war sie, die Arme viel zu lang und der Körper zu dünn. Die halblangen rotblonden Schlottenhaare machten sie auch nicht attraktiver. Zu allem Unglück trug sie eine dieser neuartigen ausgewaschenen Jeans, die aussahen, als wären sie zu oft bei neunzig Grad zusammen mit Bleiche gewaschen worden. Dazu einen kribbelbunten Pullover. Er war viel zu lang für den Anorak, der vorne verdächtige Flecken aufwies.

Berg schüttelte den Kopf.

Der Anblick der toten Jugendlichen setzte auch ihm zu, mehr als ihm lieb war. Er konnte es der jungen Beamtin nicht verdenken, dass sie sich übergeben hatte. Die kleinen Spuren von Erbrochenem auf ihrem Anorak und der säuerliche Geruch hatten sie entlarvt. Sie war wohl nicht die Einzige gewesen, der der Anblick zu viel war.

Davon abgesehen hatten Frauen an einem solchen Ort nichts zu suchen. Und trotzdem drängten sie in die Kripo und nahmen den Familienvätern die Arbeitsplätze weg. Ein Elend war das. Er würde ihr schon zeigen, dass sie sich selbst mit diesem Job überforderte.

„Janna Habena, Polizeimeisterin. Ich hatte Bereitschaftsdienst im Kriminalkommissariat Daun, als die Meldung reinkam. Der Kollege ist mit dem verletzten Mädchen ins Maria-Hilf-Krankenhaus gefahren. Sie war so verstört, dass sie ihn nicht loslassen wollte. Der Arzt meinte, es wäre besser, wenn er mitkäme.“

„Und der zweite Streifenbeamte?“

„Sitzt oben im Dienstwagen, ich hab ihn schon befragt. Er kannte die jungen Leute auch nicht. Ihm hat das Ganze schwer zugesetzt.“

„Kein Wunder, wer bleibt schon ruhig bei drei toten Teenagern? Gut, dann fahren Sie ins Krankenhaus und fragen den Kollegen nach den Namen der anderen Opfer. Irgendwie müssen wir mit dem Schlamassel hier weiterkommen. Außerdem will ich sofort informiert werden, wenn die beiden Überlebenden vernehmungsfähig sind. Machen Sie dem Arzt mal ein bisschen Dampf.“

„Könnte es sein, dass sie in Gefahr sind, wenn rauskommt, dass sie überlebt haben?“

Berg runzelte die Stirn. Möglich war alles in solch einem Fall.

„Und deshalb werden Sie diesen wunderschönen Ostersamstag im Krankenhaus verbringen. Sorgen Sie dafür, dass die beiden, falls möglich, nebeneinanderliegende Zimmer bekommen, und dann setzen Sie sich davor und bleiben sitzen, bis ich Ihnen eine Ablösung schicke. Und wenn die Ablösung da ist, werden Sie bleiben und aufpassen, ob einer der beiden was zu sagen hat. Ich erwarte Sie dann heute Abend gegen neunzehn Uhr im Präsidium zur Besprechung.“

Als Janna das Maria-Hilf-Krankenhaus erreichte, wurden die beiden überlebenden Opfer noch untersucht. Vor dem Untersuchungsraum für das Mädchen saß der Kollege Sartorius.

„Hat sich schon was ergeben?“

Sartorius schüttelte den Kopf. „Sie hat eine Beruhigungsspritze bekommen, hat gar nicht aufgehört zu schlottern, das arme Ding.“

„Kennen Sie die Opfer? Der Leiter der Mordkommission hat gefragt und ich dachte, weil Sie den Namen dieses Mädchens kannten, dass Sie vielleicht auch den Rest erkannt haben.“

Sartorius sah zu Janna auf, sein Blick war äußerst beunruhigt.

„Oh mein Gott, das Mädchen hier ist die Pfarrerstochter von der evangelischen Kirchengemeinde. Ich hab sie erst nicht erkannt. Und der junge Mann heißt Sebastian Hoffmann. Seinen Eltern gehört der örtliche Boschdienst. Dann werden die anderen auch Kinder aus dem Ort sein. Daran hab ich noch gar nicht gedacht. Ich muss hin und nachsehen. Meine Enkelin Karin ist mit der Zamanka in einer Klasse.“

Panisch sprang er auf, wurde von Janna jedoch wieder auf die Bank gedrückt.

„Ruhig Blut, rufen Sie von der Zentrale aus zu Hause an. Ich gehe mit Ihnen. Im Moment ist doch jemand bei ihr, oder?“

„Sicher, ein ganzes Team versorgt die beiden. Alle waren geschockt, als sie erfahren haben, was los ist.“

„Okay, dann los, ich muss gleich zurück. Hab den Auftrag, auf die beiden aufzupassen.“

„Aufzupassen?“ Ruckartig blieb Sartorius stehen.

„Man weiß ja nie, rein vorsorglich“, beruhigte Janna ihn.

An der Zentrale angekommen, erfuhren sie, dass die Telefone bereits heiß liefen. Alle machten sich Sorgen, wer die Opfer wohl waren, ob man sie kannte, ob man sie vermisste.

Sartorius verließ das Krankenhaus in Richtung Totenmaar, nachdem ihm seine Tochter versichert hatte, dass Karin friedlich in ihrem Bett schlief. Doch der Weg fiel ihm sichtlich schwer. Janna beneidete ihn nicht.

In der Zentrale veranlasste sie, dass die beiden Verletzten in nebeneinanderliegenden Krankenzimmern untergebracht wurden. Dafür verlegte man andere Patienten. Alle wollten helfen.

Dann setzte sie sich in den Gang vor den Untersuchungszimmern und wartete.

Eine Stunde später kam Chefarzt Dr. Bernhard Kuckartz aus dem Untersuchungsraum des Mädchens. Er hatte es sich nach seiner Aussage nicht nehmen lassen, sie höchstpersönlich zu untersuchen.

„Die Patientin ist noch nicht ansprechbar. Wir mussten ihr Beruhigungsmittel spritzen. Die Verletzungen sind nicht so schlimm, die sind in ein paar Tagen vergessen, hauptsächlich Schürfwunden und Kratzer. Aber sie wurde wohl vergewaltigt. Auf jeden Fall hatte sie kürzlich Geschlechtsverkehr, denn ihr Jungfernhäutchen wurde penetriert. Blut haben wir gefunden, ihr eigenes, aber Sperma war keins in der Vagina. Der Täter war offenbar sehr vorsichtig. Wir haben trotzdem einen Abstrich gemacht und ihr Höschen in eine Tüte gepackt. So ganz eindeutig ist der Befund der Vergewaltigung allerdings nicht. Wir haben keine Hämatome an den Oberschenkelinnenseiten gefunden. Das heißt aber nicht viel. Diese Spreizverletzungen sind kein absoluter Beweis, ihr Fehlen beweist also auch nicht das Gegenteil. Ihren Reaktionen nach muss sie jedenfalls Schreckliches erlebt haben. Wenn Sie mich fragen, war das eine Vergewaltigung, Beweise hin oder her.“

„Wann kann ich denn mit ihr sprechen? Wir sind dringend auf ihre Aussage angewiesen“, hakte Janna nach.

„Wie gesagt, die Patientin ist derzeit sediert. Ich gebe Ihnen Bescheid, wenn es so weit ist. Im Moment muss sie vor allem geschont werden.“

„Hat sie irgendetwas gesagt, mit dem wir was anfangen könnten?“

„Nein, erst war sie panisch, vor allem als wir den Polizeibeamten rausschickten, und jetzt ist sie apathisch. Sie braucht viel Zeit und die werden wir ihr gönnen, nicht wahr?“, setzte er mit einem vielsagenden Blick einen Schlusspunkt unter die Diskussion.

„Und wie sieht es bei dem jungen Mann aus?“

„Der ist deutlich schwerer verletzt und bewusstlos. Er hat wohl mehrere Schläge auf den Kopf bekommen. Gleich machen wir eine Computertomografie, um festzustellen, wie schlimm es tatsächlich ist. Ansonsten weist er lediglich Abwehrverletzungen an den Händen und Armen auf. Wenigstens hat er keine Schnitt- oder Stichverletzungen.“

Ein junger Schutzpolizist trat auf sie zu. Endlich kam die Ablösung, bestens.

„Kann ich mich zu der Patientin ins Zimmer setzen? Wir haben die Befürchtung, dass sie in Gefahr sein könnte.“

Schockiert sah der Chefarzt Janna an. „So schlimm ist es?“

Janna nickte.

„Okay, ausnahmsweise dürfen Sie sich zu ihr reinsetzen. Aber Sie werden sie nicht ansprechen und vor allem nicht bedrängen. Sobald sie aufwacht, rufen Sie einen Arzt, ist das klar?“

„Natürlich“, erwiderte Janna.

Kapitel 2

Ich schreckte hoch. Neben mir saß ein Mensch. Aber ohne meine Brille konnte ich nicht genau erkennen, wer es war. Panisch versuchte ich, von ihm wegzukommen. Unter das Bett zu flüchten, in dem ich lag, ohne zu wissen, wo und warum. Die Umgebung war mir fremd, alles in kaltem Weiß, ein gleichmäßiger Piepton hinter mir und eine Nadel in meinem Arm. Sie brannte bei der hektischen Bewegung höllisch. Der an ihr hängende Schlauch war gefüllt mit einer klaren Flüssigkeit. Mein Herz klopfte so heftig, dass ich dachte, es würde gleich platzen. Dabei war meine Brust zu eng, ich bekam kaum Luft. Das Hemd, das ich trug, war in Sekunden klatschnass.

Nur weg, war alles, was ich denken konnte. Nur weg.

„Ruhig, ganz ruhig, ich ruf sofort einen Arzt“, hörte ich hinter mir. Doch die fremde Stimme beruhigte mich nicht. Ein Schrei suchte sich seinen Weg, hing aber unter meiner zu engen Brust fest. Ich fing an zu japsen, glaubte, zu ersticken. Ich sterbe, war mein letzter Gedanke. Dann sackte ich weg.

Ich tauchte wieder auf aus dem Nirgendwo. An den weißen Raum konnte ich mich erinnern. Auch an den fremden Menschen in dem Zimmer. Panisch warf ich einen Blick in die Richtung, in der er gesessen hatte, und schoss hoch, bereit zur Flucht. Und tatsächlich saß er noch immer da. War nicht verschwunden, wie es nach Albträumen der Fall ist.

Doch irgendetwas lähmte mich. Meine Angst vor ihm war da, aber ich konnte mich nicht rühren. Vorsichtig warf ich einen weiteren Blick in seine Richtung. Jetzt hatte er bemerkt, dass meine Augen offen waren. Ganz ruhig blieb er sitzen, bewegte sich nicht. Versuchte nicht, zu mir zu kommen. Trotzdem wollte ich weg, weg aus diesem Zimmer und vor allem weg von ihm.

In diesem Moment öffnete sich eine Tür, die ich zuvor nicht bemerkt hatte. Herein kam eine weiß gekleidete Frau; alles, was weiter entfernt war, konnte ich deutlicher sehen. Mein müdes Hirn flüsterte mir den Begriff ‚Krankenschwester‘ zu. Krankenschwester? Hatte der Mensch nicht von einem Arzt gesprochen?

Ich war nur einmal im Leben im Krankenhaus gewesen. Das war lange her, als mein Großvater starb. Der Geruch hier und das viele Weiß erinnerten mich daran.

Langsam sackte die Erkenntnis in mein Bewusstsein. Ich war in einem Krankenzimmer. Warum nur? Doch bevor ich mir weitere Gedanken darüber machen konnte, trat die Krankenschwester an mein Bett und strich sanft über meinen Kopf.

„Ganz ruhig, du bist hier in Sicherheit.“

Ich bekam besser Luft, musste nicht mehr japsen.

„So ist’s gut. Tief durchatmen, wir wollen dir alle nur helfen.“

Ich sank etwas entspannter zurück aufs Bett. „Und wer ist das da?“, flüsterte ich ihr zu. Sie durfte mich nicht mit dem fremden Wesen allein lassen.

„Das ist eine ganz liebe Polizeibeamtin, die aufpasst, dass dir nichts passiert. Sie ist dein persönlicher Schutzengel.“

Schutzengel? Das klang gut. Auch wenn ich nicht wusste, wovor sie mich beschützen sollte.

„Haben Sie meine Brille? Ich kann fast nichts sehen.“

„Nein, aber ich werde deine Eltern danach fragen.“

Meine Augen fielen wieder zu. Alles wurde ruhig um mich herum und ich schlief ein.

Das Schlagen einer Tür weckte mich. Ruckartig setzte ich mich auf. Wo war ich nur? Hektisch sah ich mich um, erkannte wieder den fremden Menschen auf einem Stuhl links von mir an der Wand. Ich versuchte wegzukommen, aus dem Bett zu springen, doch alle Bewegungen fühlten sich an wie in Zeitlupe. Das Bein, das ich über die Bettkante schwang, brauchte gefühlte Minuten, bis es den eiskalten Fußboden berührte. Richtig aufsetzen konnte ich den Fuß nicht mehr, zwei Hände rissen mich zurück. Ich fing an zu schreien, schrie um mein Leben. Irgendjemand setzte mir meine Brille auf und da erkannte ich das Wesen als junge Frau. Noch ein paar Japser und ich hatte mich so weit beruhigt, dass ich wieder Luft bekam. Ich erinnerte mich wieder an den Schutzengel.

Die Tür öffnete sich.

„Was ist los? Soll ich einen Arzt holen? Braucht sie mehr Beruhigungsmittel?“, hörte ich hinter mir.

„Nein“, sagte die junge Frau an meiner Seite, „ich glaube, sie kommt jetzt ohne aus, oder?“

Ich nickte und ließ mich zurück auf das Bett sinken.

„Weißt du, warum du hier bist?“

Ich schüttelte erneut den Kopf. Mein Hirn arbeitete so langsam, dass ich die Bilder, die mir durch den Kopf schossen, kaum halten konnte.

Nur eine Folge von Wörtern erschien in diesem Gewirr ganz klar: See, Stein, rot, See, Stein, tot.

Was hatte das zu bedeuten? Verwirrt schüttelte ich den Kopf.

„Können wir reden?“, hörte ich die junge Frau fragen.

Mein Mund war wie zugeschweißt. Nichts konnte ich über die Lippen bringen.

Ich schloss die Augen.

Aus großer Ferne hörte ich eine Männerstimme. „Wir werden die Anxiolytika und Schlafmittel jetzt langsam runterfahren. Bis dahin müssen Sie sich gedulden.“

Eine Frauenstimme erwiderte: „Wir brauchen unbedingt ihre Zeugenaussage. Ohne die kommen wir nicht weiter. Wir haben nicht die geringste Ahnung, was passiert ist, ob weiter Gefahr für sie oder andere besteht. Das müssen Sie doch verstehen.“

„Fräulein Habena, ich habe vollstes Verständnis für Ihre Situation. Aber hier geht es um meine Patientin. Und die braucht Ruhe. Sie wurde geschlagen und vergewaltigt. Wer weiß, was sie alles durchmachen musste. Ich werde nicht zulassen, dass Sie sie mit Ihren Fragen zu früh zurück in diese Hölle schicken.“

Als ich das nächste Mal aufwachte, hielt meine Mutter meine Hand, ich fühlte mich nicht mehr wie unter Wasser. Die junge Polizistin war noch immer da.

„Erinnerst du dich, was passiert ist?“, hörte ich Mutti fragen. Dabei tätschelte sie meine Hand.

Ich schüttelte den Kopf.

„Kannst du dich daran erinnern, dass du mit deinen vier Freunden am Weinfelder Maar zelten warst?“

Wieder schüttelte ich den Kopf. Ich und Freunde? Das konnte nicht sein. Ich war doch immer allein, niemand wollte mich in seiner Clique haben. Das musste ein Irrtum sein. Ich schloss die Augen, mein Hirn war noch nicht bereit, das Denken wieder aufzunehmen.

„Bitte, wir brauchen ganz dringend deine Hilfe. Denk nach, das kannst du doch nicht vergessen haben. Britta, Anette, Marc und Sebastian waren mit dir am See.“

Sebastian! Etwas zog sich in mir zusammen. Und dann kam mit einem Schlag die Erinnerung, wie ein Faustschlag in den Magen.

Der Tag war drückend heiß, ganz ungewöhnlich für April. Dieses Jahr lag Ostern kurz vor dem Maianfang. Ein idealer Tag zum Zelten, dachten wir. Was für ein Irrtum!

Es verblüffte mich schon, dass die sagenhafte, umworbene Britta und Anette, die als Erste in unserer Klasse einen festen Freund hatte, ausgerechnet mich, das Klassenpummelchen, fragten, ob ich mitmachen wollte. Natürlich wollte ich. Nichts lieber als das.

Immer hatte ich am Rande gestanden, war ausgeschlossen gewesen, wenn beim Handball die Mannschaften ausgewählt oder in den Pausen auf dem Schulhof heimlich die ersten Zigaretten rumgereicht wurden. Klar, ich war schließlich nicht nur fett, ich war auch noch die Tochter des Pfarrers. Langweiliger ging nicht. Im Klassenzimmer unseres altehrwürdigen Thomas-Morus-Gymnasiums saß ich meistens allein, es sei denn, ein neuer Mitschüler wurde eingeführt. Der musste neben mir sitzen.

Wenn andere kicherten, stand ich allein in der Ecke und starrte in irgendein Buch, das ich vorgab zu lesen. Das gelang mir nie. Über den Rand lugte ich zu den anderen. Doch als wäre die Buchoberkante ein Stacheldrahtzaun, schaffte ich es nie, die Grenze zu überwinden und zu den anderen zu kommen.

Als Britta letztes Jahr in unsere Klasse kam, landete sie wie alle Vorgänger zunächst neben mir. Das Niveau der Neuen ließ sich daran ablesen, wie schnell sie von diesem Platz wieder verschwanden. Bei Britta dauerte es nur einen Tag, das war neuer Rekord. Und sie hatte die Wahl zwischen dem Platz neben Heike, unserer Klassensprecherin, und dem bei Anette. Es wurde später viel spekuliert, warum sie sich ausgerechnet neben Anette setzte, doch eins steht fest: Die beiden hatten sich gesucht und gefunden. Sie hingen nur dann nicht zusammen ab, wenn Anette bei ihrem Freund Marc war. Gerüchten zufolge war aber auch das nicht immer der Fall.

Zu gerne hätte ich neben Anette gesessen. Nicht nur, weil ich dann auf der Beliebtheitsskala in der Klasse ganz oben gestanden hätte, sondern auch, weil Anettes Freund Marc der beste Freund von Sebastian war. Und Sebastian war der Hit. Alle Mädels schwärmten ihn an, nicht nur ich. Mit seiner Größe von einsneunzig und einem Körper, der der Marmorstatue des Hermes von Praxiteles perfekt glich, wie Maren, unsere Klassenbeste, einmal feststellte, war er ein Adonis. Er hatte gerade das Abitur bestanden und uns unglücklich im Pausenhof zurückgelassen, auf dem wir ihm jeden Tag mit schwärmerischen Blicken gehuldigt hatten. Natürlich hatte er uns nicht wahrgenommen.

Selbstredend hatte ich nicht die geringste Chance bei Sebastian, doch träumen durfte ich von ihm, und das machte ich ausgiebig. Überhaupt verbrachte ich die Tage damals am liebsten mit Träumen. Was hätte ich auch sonst unternehmen sollen, so allein?

Und dann geschah das Wunder: Britta, die große Britta, von allen geliebt und umschwärmt, fragte mich, ob ich mit ihr und Anette zusammen eine Nacht zelten wollte. Ich konnte mein Glück nicht fassen. Ohne meinen gestrengen Vater zu fragen, sagte ich sofort zu. Endlich dazugehören! Das würde ich mir von ihm nicht verderben lassen. Gottlob – eigentlich durfte ich dieses Wort wegen ihm nie gebrauchen, war es doch in seinen Augen bereits blasphemisch – stand meine Mutter immer hinter mir. Sie hatte wohl ein schlechtes Gewissen, weil ich äußerlich nach ihr schlug und mein Vater sie sicherlich nicht wegen ihres Aussehens geheiratet hatte. Dafür hatte ich seine Haare geerbt, das einzig Hübsche an mir: lange blonde, leicht gewellte Rauschgoldengellocken. Leider zwang er mich, sie immer als strengen Dutt zu tragen.

Mutter erlaubte mir sofort, mit den beiden Mädchen zu zelten, und erklärte sich auch bereit, das meinem Vater beizubringen. Ich hatte den Verdacht, dass sie ihm nicht ganz die Wahrheit sagte. Doch das war mir egal. Zu viel stand auf dem Spiel: meine Chance, endlich dazuzugehören.

Ich war total aufgeregt, als ich zu Brittas Eltern eingeladen wurde. Gesichtskontrolle, wie sie es kichernd nannte. Was sie damit meinte, verstand ich damals noch nicht. Brav erschien ich zum Nachmittagstee und stellte mich vor. Ganz entzückt von der Vorstellung, dass ihre Tochter mit der Pfarrerstochter befreundet war, gestatteten sie ihr die Nacht am See. Gemeinsam berichteten wir Anettes Eltern von der Erlaubnis, sodass sie ihrer Tochter die Zustimmung nicht mehr verweigern konnten.

Und so planten und kicherten wir gemeinsam. Gemeinsam, ein großes Wort, wenn man das Gefühl nicht kennt. Brittas Vater stellte ein kleines Spitzdachzelt zur Verfügung und Anettes Eltern stifteten den Propangaskocher, auf dem wir die vorher von ihrer Mutter zubereitete Linsensuppe erhitzen konnten. Mein Vater gab uns seinen Segen.

Dem Gottesdienst am Gründonnerstag zur Einsetzung des Abendmahls durch Jesus konnte ich nur mit Mühe folgen, in der Nacht zu Karfreitag kaum schlafen. Ich sollte mit den beiden zelten. Darum hätten sich alle Mädels in der Klasse gerissen, die Jungs natürlich auch. Wahnsinn!

Wir waren um fünf Uhr nachmittags verabredet. Eigentlich war das Zelten am Weinfelder Maar verboten. Deshalb hatten wir unseren Eltern auch nicht erzählt, wo genau wir zelten würden. Aber abends war es dort immer leer, außer jungen Leuten traute sich niemand bei Dunkelheit dorthin. Unter ihnen galt eine Nacht dort als Geheimtipp. Wegen der Nähe zum Wasser mit dem angeblich mit Mann und Maus versunkenen Schloss sowie des nahen Friedhofs konnte man sich in der Eifel keinen unheimlicheren Ort nachts vorstellen. Das machte den großen Reiz für die Teenies aus, die sich einen Spaß daraus machten, sich beim Lagerfeuer Gruselgeschichten zu erzählen. So hatte ich zumindest gehört.

Die beiden holten mich zu Hause ab. Wir waren schwer beladen. Jede trug einen Rucksack, gemeinsam und abwechselnd trugen wir das Zelt zwischen uns. Was hoffte ich auf Klassenkameraden auf dem Weg zum Maar, damit sie sehen konnten, dass ich nicht mehr die Außenseiterin war. Und tatsächlich trafen wir einige. Alle blieben mit offenen Mündern stehen, konnten nicht glauben, dass ich, ausgerechnet ich, dabei sein durfte.

Zwei Kilometer waren es. Ich kann mich nicht erinnern, jemals glücklicher gewesen zu sein als in jener Stunde auf dem Weg zum Weinfelder Maar – dem Totenmaar.

Bald schon kamen die sanften Hänge, bewachsen mit Eifelgold – dem im Sonnenlicht golden blühenden Besenginster – in Sicht. Dieses Jahr war er früh dran wegen der unerwarteten Wärme. In der Senke unter uns lag das türkis scheinende Wasser des Maares.

Als Zeltplatz suchten wir uns den kleinen Rastplatz schräg unterhalb der Martinskapelle mit dem alten Friedhof aus. Ich stolperte mehrfach über die Erdstufen, deren Setzstufen aus altem Holz ein wenig die Kanten überragten. Britta zog genervt die Augenbrauen hoch, ich errötete. Irgendwie schaffte ich den Rest des Weges ohne Straucheln. Erleichtert setzte ich das Zelt vor der alten Holzhütte mit Bank ab. Knapp unterhalb erkannte ich ein nettes lauschiges Uferplätzchen, ideal zum Zelten.

Britta zog sofort ihre Schuhe aus und stapfte in das eiskalte Wasser.

„Herrlich“, verkündete sie ihrer Gänsehaut zum Trotz. Als sie auch Hose und Bluse auszog, unter denen ein knapper, knallgelber Bikini zum Vorschein kam, hatte ich Gelegenheit zu studieren, was uns unterschied. Ihre Beine waren vorgebräunt und ohne diese unansehnlichen Haare, die bei mir munter sprossen und die abzurasieren mein Vater strikt verbot. Um ihre gertenschlanke Taille und die großen runden Brüste hätten sie Supermodells beneidet. Mit ihrem modisch halblangen Haar, stets leicht verwuschelt, als käme sie frisch aus dem Bett, ähnelte sie Brigitte Bardot in deren besten Zeiten.

Errötend und neidisch wandte ich den Blick ab. Damit die beiden meine Verlegenheit nicht bemerkten, fing ich an, das Zelt aus seinem Sack zu ziehen.

Ich hatte es noch nicht ausgebreitet, da vernahmen wir Motorengeräusch. Verwundert mich aufrichtend, erhaschte ich einen vielsagenden Blick zwischen Britta und Anette. Noch bevor ich darüber nachdenken konnte, hörten wir, wie sich jemand näherte.

„Auweia, das gibt Ärger“, stellte ich fest in der Annahme, dass wir nun von unserem trauten Plätzchen vertrieben würden. Ich hoffte nur, dass mein Vater das nicht mitbekam.

„Ach was, bleib cool“, erwiderte Anette.

Erstaunt sah ich auf dem Weg zwei Männer näher kommen. Bei einem genaueren Blick durch meine stets leicht verschmierte Brille erkannte ich Marc und dahinter – Sebastian. Ich konnte es nicht fassen, da kam mein Traummann des Weges. Sofort lief ich puterrot an und blickte entsetzt und hilflos zu den beiden anderen. Doch die taten so, als wäre es das Normalste der Welt, dass die Jungs kamen. Verblüfft und enttäuscht verstand ich, auf einen Schlag wurde mir meine Rolle an diesem Karfreitag bewusst: ich war nur das Alibi, die Garantie für die Eltern der beiden Mädels, dass alles okay war.

Ich hätte heulen können. Doch sofort war mir klar, dass ich das nicht tun durfte, wenn ich nicht den letzten Rest von Akzeptanz in der Klasse verlieren wollte. Alle hatten uns zusammen gesehen. Ich musste also nur die Klappe halten und mitmachen, was auch immer. Keiner durfte merken, dass ich nur geduldet war – wie immer. Zudem hatte ich die einmalige Chance, Sebastian einen Abend lang nahe zu sein.

Natürlich hatten auch sie ein Zelt und Rucksäcke dabei. Wenigstens zogen die Mädels eine Show vor mir ab, in der sie die Überraschten spielten mit viel „Na so was, was macht ihr denn hier?“ und „Was ein Zufall!“.

Ich spielte mit.

Gemeinsam bauten wir die Zelte auf. Dann zog auch Anette ihren Badeanzug an und die Mädchen gingen unter lautem Geschrei ins Wasser. Sebastian und Marc zückten große Messer und fingen an, sich Angeln zu schnitzen. Doch kaum standen sie in der Nähe des Wassers, spritzte Britta beide nass. Sofort entledigten sich die Jungs ihrer Klamotten und eilten zu den Mädels ins Wasser. Unter lautem Gejohle tobten sie, spritzen sich nass und tauchten sich unter. Neidisch beobachtete ich von meinem sicheren Platz bei unserem Zelt, wie Britta von Sebastian immer wieder umarmt und hochgehoben wurde. Wieder stiegen mir Tränen in die Augen. Das musste ich mir dringend abgewöhnen.

Klar war er an Britta interessiert, wie alle anderen Jungs auch. Wie hätte es auch anders sein können? Dabei war sie doch Michaels Freundin. Das wusste ich, weil der neben uns wohnte und ich die beiden öfter heimlich Händchen haltend beobachtet hatte.

Plötzlich schossen Marc und Sebastian aus dem Wasser auf mich zu. Ehe ich michs versah, packten sie mich an den Beinen und Armen und schaukelten mich dicht am Ufer hin und her. Meinem Geschrei zum Trotz ließen sie irgendwann los und ich landete unsanft im eiskalten Wasser. Natürlich verschluckte ich mich und bekam kaum Luft in die Lungen, bevor ich versank. Kurz schaffte ich es zurück an die Oberfläche, nur um gleich wieder unterzugehen. Niemandem in der Klasse hatte ich erzählt, dass ich nicht schwimmen konnte.

Wild um mich schlagend versuchte ich, Boden unter die Füße zu bekommen, doch vergebens. Das Totenmaar senkte sich gleich am Ufer in seine stolze Tiefe. Ich bekam keine Luft mehr, wollte schreien. Strampelte hilflos mit Armen und Beinen, sank immer tiefer.

Fast schon besinnungslos spürte ich, wie ich an den Haaren nach oben gezogen wurde. Viel zu früh öffnete ich meinen Mund zum Schrei, bekam Wasser in die Kehle und Luftröhre, prustete, noch immer unter Wasser, glaubte, nun habe meine letzte Stunde geschlagen. Im letzten Moment schoss mein Kopf aus dem See, bevor ich die Besinnung verlor.

Als ich aufwachte, sah ich zuerst Sebastian, der dicht über mich gebeugt mein Gesicht tätschelte. Er tat das tatsächlich! Trotz aller Wut, aller Schmerzen, aller Angst genoss ich den Augenblick. Er hörte auf, als er meinen Blick sah, und entschuldigte sich wortreich für ihren schiefgegangenen Spaß.

Zunächst war ich nicht in der Lage, zu reagieren, prustete, heulte und schnappte noch immer nach Luft. Sebastian richtete meinen Oberkörper auf, sodass das Atmen besser funktionierte. Ihm wollte ich verzeihen – den anderen nicht. Bestimmt hatten Britta und Anette die beiden zu diesem miesen Spielchen angestiftet. Doch nun taten sie bestürzt, wollten mich beruhigen.

Mir reichte es. Wieder war ich das lächerliche Dickerchen, das nun, aus dem Wasser gezogen, noch unattraktiver war als ohnehin schon. Außerdem hatte ich ohnehin keine Kleidung zum Wechseln mitgebracht.

„Ich gehe nach Hause“, brachte ich mühsam krächzend hervor.

Bestürzt sahen sich die anderen an. Klar, ihre Alibifrau wollte verschwinden. Wenn das rauskam, würden sie Riesenärger bekommen, weil sie ohne mich hiergeblieben waren. Und wenn ich dann noch erzählte, dass Sebastian und Marc hier gewesen waren …

„Das kannst du nicht machen, wir haben uns doch so auf die Nacht hier gefreut“, zwitscherte Britta und Anette nickte so heftig, dass ich fürchtete, ihr fiele deshalb der Kopf ab.

„Ich kann“, brachte ich mühsam hervor und versuchte, aufzustehen.

„Das geht doch nicht“, kam nun von Anette.

„Und ob das geht“, erwiderte ich, jetzt auf den Knien. „Ich hab eh keine anderen Klamotten dabei und so nass kann ich nicht bleiben.“

Das sahen sie ein.

„Sebastian, kannst du nicht Katharina zum Umziehen heimfahren? Jetzt ist doch eh gerade Gottesdienst, da ist niemand bei ihr zu Hause.“

Sie dachte aber auch an alles, diese blöde Schlampe. Doch die Idee, allein mit Sebastian im Auto unterwegs zu sein, hatte in der Tat etwas für sich. Meine Wut fing an, zu verrauchen.

„Komm, Katharina, sei lieb, wir machen uns einen schönen Abend, wenn ihr zurück seid. Wir zünden schon das Lagerfeuer an und mit Sebastians Wagen seid ihr im Nullkommanix wieder zurück. Stimmt‘s, Sebastian? Das machst du doch gerne.“

„Klar, aber erst muss Katharina was trinken auf den Schreck und gegen die Halsschmerzen.“

Halsschmerzen? Wie kam er denn darauf? Aber das war mir egal. Er dachte an mich, wollte mir etwas Gutes tun. Das allein zählte. Sebastian tauchte nach kurzer Zeit wieder am Zelt der Jungs auf, in der Hand ein Glas, gefüllt mit einer goldgelben Flüssigkeit. Sofort schmeckte ich den Alkohol darin und schob das Glas weg.

„Ich trinke keinen Alkohol.“

„Ach was, sei doch kein Spielverderber. Ist nur ganz wenig gegen die Kälte. Du musst doch frieren, so nass, wie du bist. Nicht, dass du dir noch eine Erkältung holst“, schob er grinsend hinterher.

Unsicher sah ich Sebastian an, der mich schelmisch anlächelte. Wie hätte ich da widerstehen können?

Außerdem, was blieb mir übrig? Wenn ich jetzt die Geschichte platzen ließ, wäre ich das Gespött der ganzen Klasse.

Wild entschlossen leerte ich das Glas in einem Zug und nickte.

Sebastians rostroter Käfer stand auf dem Parkplatz hinter der Kapelle. Eingehüllt in ein großes Badehandtuch von Britta kuschelte ich mich auf den Beifahrersitz. Ich musste schrecklich aussehen nach dem unfreiwilligen Bad. Doch Sebastian lächelte mich lieb an und streichelte über meinen Arm. Sofort bekam ich Gänsehaut.

„Frierst du?“

Hilflos ob so viel Aufmerksamkeit von ihm, schüttelte ich den Kopf. Mehr bekam ich nicht hin.

„Es tut mir so leid. Hätten wir gewusst, dass du nicht schwimmen kannst, hätten wir das nie gemacht. Soll ich es dir beibringen?“

Ich wurde rot, konnte wieder nur nicken, diesmal zustimmend.

Viel zu schnell für meinen Geschmack kamen wir bei mir zu Hause an. Vorsichtshalber parkte Sebastian um die Ecke in einer anderen Straße. Nicht auszudenken, wie meine Eltern reagieren könnten, wenn sie mich bei ihm im Auto entdecken würden, auch wenn das unwahrscheinlich war, da tatsächlich gerade der Gottesdienst stattfand und meine Mutter meinen Vater stets dorthin begleitete.

Im Eiltempo riss ich mir die nassen Kleider vom Leib und versteckte sie auf unserem Dachboden. Mutter hatte die dumme Angewohnheit, mein Zimmer in meiner Abwesenheit zu kontrollieren, ich hatte sie einmal dabei erwischt.

Meine Haare trocken zu föhnen dauerte ewig, es waren einfach zu viele. Als ich sie zu meinem gewohnten Dutt zusammenfassen wollte, erstarrte ich. Und wenn nicht? Wenn ich sie einfach wie alle anderen Mädchen offen ließ? Mein Vater war nicht da. Warum sollte ich sie wie immer verstecken? Ich grinste mich im Spiegel an. Wenn ich doch nur Make-up gehabt hätte.

Kurz entschlossen zog ich meine alte, inzwischen zu enge Jeans an. Nackte Beine konnte ich Sebastian nicht zumuten, hatte ich doch nun erkannt, wie haarlos sie auszusehen hatten. Abgesehen davon, dass sie eindeutig zu dick waren. Dann quetschte ich mich in das enge Top, das meinen bereits stolzen Busen prächtig zur Geltung brachte, wie ich fand. Zu guter Letzt zog ich die Brille ab und ersetzte sie durch die Kontaktlinsen. Die ruhten schon viel zu lange in ihrer Schachtel. Ich konnte mit ihnen wesentlich schlechter sehen als mit Brille, doch das war mir egal.

Eine Viertelstunde nach unserer Ankunft stand ich schon wieder vor unserem Haus. Doch kaum hatte ich den Bürgersteig erreicht, stand plötzlich Michael vor mir, Nachbarsjunge und Freund von Britta. Er hatte seinen Bundeswehrsack geschultert. Offenbar kam er gerade aus der Gerolsteiner Eifelkaserne, wo er seit drei Monaten seinen Grundwehrdienst absolvierte. So traurig sah er aus, dass ich innehielt, um ihn zu begrüßen.

„Alles klar?“, brachte ich mitfühlend hervor. „Hast du frei über Ostern?“

Er nickte.

„Hey, Mann, ist doch toll!“, versuchte ich ihn zu ermuntern.

„Klar“, erwiderte er mit noch mürrischerem Gesichtsausdruck als zuvor.

„Was ist los?“

„Nichts ist los. Britta wollte mich am Bahnhof abholen, aber sie war nicht da. Das ist los“, brachte er mit zusammengekniffenen Lippen hervor.

Britta, immer nur Britta. Nicht nur, dass sie Michael zum Freund hatte, nun machte sie auch noch Sebastian schöne Augen, meinem Sebastian. Ich spürte Neid und Eifersucht. Einmal wollte ich einen Mann für mich, und zwar Sebastian. Und was war? Sie flirtete mit ihm, das hatte ich am See beobachtet. Vielleicht könnte ich ihr die Suppe versalzen.

„Kann sie auch nicht“, setzte ich also an. „Wir zelten am See.“ Vielleicht würde er sie dort abholen und ich wäre dann allein mit Sebastian. Anette und Marc waren sicherlich voll und ganz mit sich beschäftigt.

„Wie?“

„Na ja, mit ein paar Freunden“, ergänzte ich. Es war ein unglaubliches Gefühl, so zu tun, als würde ich dazugehören.

„Mit Jungs?“, hakte er nach.

„Nur Sebastian und Marc“, ergänzte ich, in Gedanken bereits im Wagen sitzend.

„Was ist los?“, kam von einem erblassenden Michael.

Erschreckt über seine Reaktion wiegelte ich ab. „Alles ganz harmlos, mach dir keine Gedanken.“

„An welchem See?“, rief er mir hinterher.

Doch ich winkte ihm nur zu. Schließlich war ich keine Petze.

Sebastian staunte nicht schlecht über mein verändertes Aussehen und fuhr mir durch die Haare. „Du siehst ja aus wie ein Rauschgoldengel.“

Ich glühte vor Stolz. Und vor Glück, als er mir während der Fahrt immer wieder übers Bein strich. Ich fühlte mich ganz leicht und auch ein wenig trunken. Das musste von dem Likör kommen, den mir Sebastian vor unserer Fahrt verabreicht hatte. Noch nie hatte mich ein Junge am Bein gestreichelt. Es löste warme Wellen in meinem Körper aus, die sich in meinem Schoß konzentrierten. Solche Gefühle kannte ich kaum, wenn, dann nur aus Träumen.

Auf dem Parkplatz angekommen, hielt er mich zurück, als ich aussteigen wollte. „Nicht so schnell“, flüsterte er mir ins Ohr, während er mich immer näher an sich heranzog.

„Warum hast du es denn so eilig?“

Hatte ich nicht und so ließ ich nicht nur zu, dass er mich küsste – der erste echte Zungenkuss meines Lebens –, sondern auch, dass er mit der Hand unter mein Top fuhr. Wie genoss ich seine warme Hand an meiner Brustwarze.

Und ließ auch zu, dass er mich zwischen den Beinen zunächst sanft, dann immer fordernder streichelte.

Als er meine Jeans öffnete, zögerte ich. So kannte ich mich gar nicht. Was war nur los mit mir? Ich hatte doch meine Prinzipien und meine Religion. Niemals vor der Ehe, das hatte ich mir geschworen. Und doch ließ ich Sebastian gewähren. Wissend, dass ich das nicht tun durfte, nicht zulassen konnte. Eigentlich hätte ich empört aus dem Wagen springen und weglaufen müssen. So hatte es mir meine Mutter eingetrichtert. Doch nun saß ich hier und ließ einen Jungen mit mir machen, was er wollte. Und das Schlimmste, es gefiel mir. Es war, als wäre mir mein Denken abhandengekommen und ersetzt worden durch eine Erregung, wie ich sie noch nie gespürt hatte. Erregung, die meine Beine zu Butter werden ließ. Was war nur los mit mir?

Aber wie auch hätte ich mich ihm, der großen Liebe meiner jungen Jahre, verweigern können? Alle anderen Mädels hatten es bestimmt auch schon gemacht. Ich wollte sein wie sie. Meine Vagina brannte, forderte mehr, als ich vor der Ehe zu geben geplant hatte. Lähmte mich, ertrug nicht, es an dieser Stelle enden zu lassen. Wollte alles. Ich kannte mich nicht wieder. Irgendetwas schien meinen Widerstand ausgeschaltet zu haben. War das die Liebe?

Ich konnte mich nicht entziehen. Vorsichtig tastete ich nach der Beule hinter dem Reißverschluss seiner Jeans, zog ihn runter und wagte mich mit der Hand in seine Hose. Wurde weggetragen von der Erregung, die mich erfasst hatte, und dem Nie-mehr-enden-lassen-Wollen.

Er musste mich lieben, da war ich mir sicher. Das machten Männer nur mit Frauen, wenn sie sie heiraten wollten. Sonst würde er das nicht tun, nicht so weit gehen.

Und so ließ ich auch zu, dass er mir die Hose runterzog, mein Höschen zerriss und sich auf mich legte. Die kurze Unterbrechung, während er sich ein Kondom überzog, erschien mir endlos. Als er endlich sein Glied in mich stieß und dabei mein Jungfernhäutchen zerriss, war ich überzeugt: Das ist Liebe für den Rest meines Lebens.

Geschockt riss ich meine Augen auf. Das konnte nicht wahr sein, das durfte nicht wahr sein. Wenn meine Mutter das erführe oder erst mein Vater. Die Augen meiner Mutter waren nur wenige Zentimeter von mir entfernt und schauten in mein Innerstes. Ich hielt das nicht aus, musste den Kopf abwenden.

„Ich kann mich an nichts erinnern.“

„An gar nichts?“, hakte die Polizistin hinter Mutter nach.

„An absolut nichts.“

Kapitel 3

Sie hatten die ganze Umgebung akribisch nach Hinweisen – der Tatwaffe oder irgendetwas, das Licht in diesen grauenhaften Dreifachmord bringen könnte – abgesucht. Doch gefunden hatten sie nichts. Unglaublich eigentlich nach diesem Massaker. Der Täter musste doch komplett blutbesudelt gewesen sein, vielleicht sogar selbst verletzt. Doch es fand sich keine Blutspur. Vielleicht hatte aber auch das Zelt, das sich über den Toten befunden hatte, den Täter vor dem Blut geschützt. Fußabdrücke hätten sie bei dem trockenen und felsigen Boden ohnehin nicht finden können. Wo mochte der Täter nach diesem Gemetzel hingegangen sein?

Kriminalhauptkommissar Helmuth Berg sah sich suchend um. Vor ihm auf dem Totenmaar schaukelten die Begleitboote der Taucherstaffel der Freiwilligen Feuerwehr Bitburg. Seit Stunden suchten sie den Grund des Maars, das an manchen Stellen immerhin gute fünfzig Meter tief war, nach der Tatwaffe ab. Das Messer hatten sie nicht gefunden. Und den Stein, mit dem die übelsten Verletzungen der Opfer verursacht worden waren, würden sie nach den vielen Stunden ohnehin nicht mehr identifizieren können. Das Wasser hatte mit Sicherheit das Blut daran aufgelöst.

Die Opfer waren inzwischen in der Gerichtsmedizin. Nur das aufgeschlitzte Zelt lag noch vor ihm. Doch Berg konnte das Bild der toten Teenager einfach nicht aus seinem Gedächtnis verbannen.

Schwer wog das drückende Gefühl der Verantwortung auf seinen Schultern, ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Es gab Fälle, die selbst alte Hasen wie ihn zutiefst erschütterten. Die man nie mehr loswurde und die einen grundlegend veränderten.

Da stand er nun, den Geruch von Tod in der Nase, und wusste, dass dies so ein Fall war.

Inzwischen kannten sie wenigstens die Namen der Opfer. Der erste Streifenbeamte vor Ort hatte sie alle identifizieren können, als er im Krankenhaus gewesen war. Danach war der alte Polizist in Tränen ausgebrochen. Der Anblick hatte Berg schwer zugesetzt. Als der Mann wieder zu Luft gekommen war, hatte er Berg erzählt, dass seine Enkelin in dieselbe Klasse wie die weiblichen Opfer gegangen war.

Auch vom Krankenhaus gab es keine guten Nachrichten. Die beiden Überlebenden würden noch Tage brauchen, bis sie vernommen werden könnten.

Zum wiederholten Male beugte er sich zu dem zerschnittenen Zelt. Es war mit seinen Leinen zwischen zwei jungen Bäumen aufgespannt gewesen, da der Boden für das Einschlagen von Heringen zu felsig war. Der Mörder hatte die Leinen gekappt, das Zelt war auf die Dreiergruppe darin niedergegangen und sie hatten sich nicht mehr befreien können. Ein perfider Plan, der auf logisches, gezieltes Handeln hinwies. Seltsam, denn die Verletzungen und der Zustand der Leichen sprachen eine andere Sprache.

Vorsichtig hob Berg den zerfetzten und blutigen Stoff an. Der Mörder hatte durch den Stoff hindurch auf die darunter Zappelnden eingestochen und dann wohl auch noch einen Stein benutzt. Zu guter Letzt musste er das Zelt aufgeschnitten haben. Ein Fetzen von einem Meter Breite war herausgeschnitten und dann zur Seite geschlagen worden. Durch diesen hatte der Mörder das blonde, sterbende Opfer herausgezerrt und ihm die Jeans samt Schlüpfer bis zu den Fußknöcheln heruntergezogen. Offenbar wollte er auch dieses Mädchen vergewaltigen, genau wie die Pfarrerstochter.

Wo wohl der schwer verletzte Junge währenddessen gewesen war? Berg schüttelte den Kopf. Und wieso lag er beim Auffinden rücklings auf dem Mädchen? Hatte er mit letzter Kraft versucht, sich schützend auf Britta zu legen? Und warum hatte der Mörder ihn am Leben gelassen? Hatte er ihn für tot gehalten und deshalb von ihm abgelassen? Auch die beiden Streifenpolizisten hatten zunächst geglaubt, dass er tot sei.

Vielleicht waren dem Mörder auch einfach die Kraft und die Wut ausgegangen. Wer mochte schon verstehen, was in solch einem kranken Hirn vor sich ging?

Das zweite Zelt stand völlig unversehrt wenige Meter entfernt an seinem Platz. Berg erhob sich mühsam aus der Hocke und ging hinüber. Der Reißverschluss war offen und in dem Zelt lagen zwei Schlafsäcke ordentlich nebeneinander. Nur ein wenig zerwühlt waren sie, als habe jemand unruhig darin geschlafen. Auch dieses Zelt war zwischen zwei Bäumen festgespannt. Wegen der zwei Schlafsäcke ging Berg davon aus, dass dieses Zelt den Jungs gehört hatte. Außerdem hatten sie darin eine Flasche Asbach Uralt und eine große Flasche Afri-Cola entdeckt. Die Flasche Weinbrand war zur Hälfte leer, die Colaflasche kaum angebrochen. Ein paar zerknäulte Plastikbecher lagen auf dem Boden verteilt herum. In einer Ecke entdeckte er noch eine Flasche Limoncello di Sorento, Zitronenlikör, wie Berg vermutete. Der war sicher nicht für die Jungen gedacht gewesen.

Langsam kroch er rückwärts aus dem Zelt. Früher wäre ihm das leichtgefallen, doch heute tat ihm schon nach wenigen Momenten gebückt im Zelt und dem Rumkriechen der Rücken weh. Erneut ließ er seine Blicke schweifen hin zum anderen Zelt und dem abgebrannten Lagerfeuer, um das noch Luftmatratzen drapiert waren. Aus einer war die Luft entwichen. Ein Kofferradio lag auf der Seite, ein Knopf abgebrochen.

Wenige Meter entfernt hingen über Uferbüschen trockene Badeanzüge und Handtücher. Offenbar waren die Jugendlichen in dem noch eisigen Wasser schwimmen gewesen.

Welch ein tragisches Ende für einen solchen Tag.

Ein wenig wunderte sich Berg allerdings schon darüber, dass die jungen Mädchen allein mit zwei jungen Männern zelten durften. Das war doch sehr ungewöhnlich und leichtsinnig von den Eltern gewesen. Aber dass so ein Ausflug in Mord und Totschlag enden würde, nein, damit hatte niemand rechnen können. Nicht hier in der tiefsten Eifel.

Berg schüttelte wieder den Kopf. Wie konnte man Menschen, fast noch Kindern, so etwas antun? Doch er wusste es ja besser. Natürlich gab es Ungeheuer in Menschengestalt, Soziopathen, die kein Mitleid empfanden, wenn sie andere leiden sahen. Die nur sich und ihr eigenes Vergnügen und Wohlbefinden im Auge hatten. Vermutlich hatte es der Mörder auf die Mädchen abgesehen gehabt. Und war bei einer ja auch zum Zuge gekommen. Wie es Katharina wohl gelungen war zu fliehen?

Berg sah den Fußweg hinauf. Vor seinem geistigen Auge rannte sie wieder. Schwer verletzt und vergewaltigt. Was für ein Monster hatte das getan? Ob der Mörder sie wegen der anderen nicht verfolgen konnte?

Wenn sie doch nur mit ihr reden könnten.

Doch jetzt stand ihm der Weg zu den Eltern bevor. Die Benachrichtigung der Angehörigen gehörte zu den schwersten Aufgaben bei der Kripo. Dieser Pflicht musste er während seiner Dienstzeit für seinen Geschmack schon viel zu oft nachkommen. Er hielt sich für nicht ungeschickt beim Überbringen einer solch vernichtenden Nachricht. Doch er ahnte, dass ihm seine ganze Erfahrung aus all den Jahren hier nicht helfen würde.

Den Pfarrer und seine Frau hatten sie sofort informiert. Die junge Beamtin hatte sich den Namen gemerkt und der Rest war Routine gewesen. Dieser Gang war nicht schwer gewesen. Auch wenn ihre Tochter geschunden und vergewaltigt worden war, so lebte sie wenigstens. Für Fragen war keine Zeit gewesen, die Eltern waren sofort ins Maria-Hilf-Krankenhaus an die Seite ihrer Tochter geeilt. Berg konnte es ihnen nicht verdenken. Auch drängte deren Vernehmung nicht.

Die Wahl der nächsten Familie hatte Berg Sartorius, dem Polizeibeamten, der die Jugendlichen erkannt hatte, überlassen. Nach seinem Zusammenbruch bei der Identifizierung hatte er sich so weit erholt, dass er Berg begleiten konnte. Schließlich kannte er sich nicht nur in Daun aus, er kannte auch alle Opfer und deren Familien persönlich.

Sartorius hatte sich für die Eltern des blonden Opfers, Britta Niemeyer, entschieden. Sie gehörten nicht zu seinem engsten Bekanntenkreis wie die anderen Familien.

„Ich habe vorhin in der Dienststelle nachgefragt, weil ich die Familie kaum kenne. Sind erst vor einem Jahr hergezogen. Aufgefallen sind sie noch nie. Scheinen aber anständige Leute zu sein. Er arbeitet bei der Stadtverwaltung als Steuersachbearbeiter, die Mutter ist Hausfrau. Wie man hört, hatte er vorher eine tolle Stelle in einem Ministerium in Trier. Keine Ahnung, warum er die zugunsten seines neuen Pöstchens bei der Stadt aufgegeben hat.“

Kaum waren sie mit dem Zivilwagen vor dem Haus der Familie vorgefahren, wurde die Haustür aufgerissen. Mit wehendem Rock stürmte eine Frau mittleren Alters auf sie zu.

„Haben Sie meine Britta gefunden?“, rief sie, im Laufschritt zu ihrem Wagen rennend. Sie beugte sich zu dem Rücksitzfenster und starrte hinein. Als könnte sie nicht glauben, dass ihre Tochter nicht darin saß, verharrte sie einen langen Moment so.

„Wo ist sie? Wieso haben Sie sie nicht im Wagen? Liegt sie im Krankenhaus? Haben Sie sie gefunden? Was ist los, Mann? Reden Sie endlich!“

Als Berg stumm blieb, versteinerte ihr Gesicht. Ihr Blick wurde erst misstrauisch, dann panisch. Sie schnappte nach Luft, hyperventilierte. Schließlich fasste sie Berg an beiden Schultern und versuchte ihn zu schütteln. Doch dafür war Berg zu massiv. Wie eine alte deutsche Eiche, sagte seine Frau immer. Und an die lehnte sich Brittas Mutter nun, geschüttelt von Schluchzern. Sartorius trat hinzu und legte der Frau seine Hand beruhigend auf die Schulter. Ihm standen dabei Tränen in den Augen.

Unbemerkt hatte sich ihr Mann genähert. Obwohl sein Gesicht ebenfalls versteinert war und sein Körper völlig verkrampft schien, packte er seine Frau und zog sie von Berg und Sartorius weg.

„Können wir reinkommen?“

Der Mann nickte nur zur Antwort.

Das typische Siebziger-Jahre-Wohnzimmer hatte eine Holzfacettendecke aus Eiche und einen grünen Teppichboden. Das einzig Besondere war eine halbhohe Kommode, auf der viele Fotos in Silberrahmen standen. Berg trat näher. Von jedem der Bilder lachte ihn ein junges Mädchen an. Eine Schönheit mit blonden halblangen Haaren und Schmollmund. Niedlich sah sie aus, das musste selbst Berg in seinem Alter zugeben. Wie tragisch!

Die Frau sank laut weinend mit vor das Gesicht geschlagenen Händen auf einen tannengrünen Zweisitzer. Berg spürte wie immer in solch einer Situation seine Ohnmacht, Hilflosigkeit und Grobheit, die ihm sonst bei seinem Job zugutekam. Jetzt wünschte er sich deutlich mehr Feingefühl. Er seufzte.

„Herr Niemeyer, es tut mir sehr leid“, wandte er sich an den Ehemann, der noch immer mit versteinertem Gesicht vor ihm stand.

Mit gestreckten Beinen, denen die Knie zu fehlen schienen, stapfte Niemeyer zu seiner Frau und ließ sich neben sie plumpsen, noch immer mit gerade ausgestreckten Beinen. Grob fasste er ihre Hände und zog sie ihr vom Gesicht, umfasste sie krampfhaft. Berg war nicht klar, ob er seine Frau trösten oder sich an ihr festklammern wollte, um nicht unterzugehen.

„Dann ist es also wahr“, brachte der Mann nach einem Moment des Schweigens hervor. Mit dem Kopf nickte er in Richtung des Wohnzimmertisches, auf dem ein bunter Frühlingsblumenstrauß leuchtete.

„Das ist ihr Geburtstagsstrauß, sie wird heute fünfzehn“, brachte er mit ersterbender Stimme heraus. Seine Frau starrte ihn an, Tränen glitzerten auf ihrer Wange.

Dann wandte sie erstaunlich ruhig den Kopf zu Berg. „Was ist passiert?“

Berg war perplex ob der plötzlichen Veränderung im Verhalten der Frau. Während ihr Mann sich nicht mehr rührte, nur an ihren Händen festklammerte, reckte sie den Rücken und sah ihm fest in die Augen.

„Wir wollen genau wissen, was mit unserem kleinen Mädchen passiert ist. Und dann wollen wir sie sehen.“

Er schluckte. Irgendwie musste er die beiden davon abhalten. Keine Eltern dieser Welt sollten ihr Kind so sehen. Schlimm genug, wenn Kinder vor den Eltern starben, aber den Anblick des zertrümmerten Gesichtes dieses zuvor so bildschönen Mädchens würden sie nicht ertragen. Da war er sicher. Unterstützung suchend blickte er zu Sartorius, doch der rührte sich so wenig wie der Ehemann.

Doch nun musste er erst mal zur Sache kommen.

So schonend wie möglich, unter Weglassung der grausigsten Details, berichtete Berg von den Geschehnissen am Totenmaar.

„Aber wieso waren dort zwei junge Männer?“, brachte die Mutter fassungslos hervor. „Sie wollten doch zu dritt in Brittas Geburtstag hineinfeiern. Wir waren so glücklich, dass Britta sich mit der Tochter des Pfarrers angefreundet hatte. Unsere Tochter war schon immer sehr erwachsen für ihr Alter und so sah sie auch aus. Man konnte ihr aber blindlings vertrauen. Immer hielt sie sich an Absprachen, war pünktlich zu Hause.“

Berg bemerkte einen schnellen Blick ihres Mannes zu ihr, etwas schien ihn aus der Schockstarre befreit zu haben. Es war aber nichts Gutes, wie er an den Augen des Mannes ablesen konnte. Auch versuchte die Mutter zu sehr, ihre Tochter als Musterexemplar eines braven Mädchens darzustellen. Dahinter verbarg sich doch etwas, was mit Sicherheit wichtig war.

„Wie lange wohnen Sie hier schon?“, versuchte er der Sache auf den Grund zu gehen.

„Ein gutes Jahr.“

„Gab es für Ihren Umzug einen besonderen Anlass?“, hakte Berg nach. Sein komisches Gefühl verstärkte sich, als die Mutter bei solch einer simplen Frage einen Schweißausbruch bekam und ihre Hände zu zittern anfingen.

Wieder dieser Blick des Vaters.

„Nein, überhaupt nicht. Wir fanden nur, dass die Stadt für ein Mädchen in der Pubertät zu gefährlich ist“, antwortete die Frau etwas zu schnell.

„Fand Britta das auch?“

„Na ja, so ganz glücklich war sie nicht darüber. Schließlich hatte sie ganz viele Freunde in Trier. Aber dann hat sie eingesehen, dass es das Beste für sie ist.“

„Gab es Ärger?“, bohrte Berg weiter.

„Was denn für Ärger?“

Doch der Blick des Vaters sprach Bände.

„Frau Niemeyer, wir müssen alles wissen. Wir haben es hier mit einem grausamen Mord zu tun und bisher keine Ahnung, warum er geschah. Wenn es da was in der Vergangenheit Ihrer Tochter gibt, dann müssen Sie uns das sagen!“

„Nein, da ist nichts. Was reden Sie denn da? Wollen Sie unser armes kleines Mädchen jetzt noch in den Schmutz ziehen? Nix war da, sie war eine Musterschülerin, sang im Kirchenchor und war überall beliebt.“

Die letzten Worte waren fast nicht mehr zu verstehen vor lauter Schluchzern.

Berg war klar, dass er hier zunächst nicht weiterkam. Die Eltern jetzt zu quälen, ertrug selbst er nicht. Nein, es reichte erst mal.

Horst Niemeyer begleitete sie zur Tür und zu Bergs Verwunderung folgte er ihnen nach draußen.

„Also ich muss Ihnen da noch was sagen“, brachte Niemeyer mühsam heraus.

Berg nickte.

„Also unsere Britta ist ein bildhübsches Mädchen.“

„Und weiter?“

„Na ja, also in Trier, wo wir vorher gewohnt haben, also da gab es einen jungen Mann, na ja, nicht mehr ganz jung, schon Anfang dreißig. Also dieser junge Mann, ein Kollege von mir im Ministerium, Andreas Meiser, der hat also, na ja, wie soll ich sagen? Also der hatte es auf unser Mädchen abgesehen. Britta kann gar nichts dafür. Sie ist einfach zu hübsch. Sie hat allen Jungs den Kopf verdreht, dabei ist sie doch noch ein kleines Mädchen.“

„Und was war jetzt mit dem jungen Mann?“

„Na ja, also der hat sich eingeredet, dass auch Britta was von ihm will. Dabei hat sie ihm nie einen Grund dafür gegeben. Sie hat mich öfter von der Arbeit im Finanzministerium abgeholt und da glaubte er wohl, das würde sie wegen ihm machen. Das hat der sich doch glatt eingeredet, der Mistkerl. Und von da an hat er sie nicht mehr in Ruhe gelassen. Irgendwann hat er sie nach der Schule abgefangen und ihr vorgegaukelt, dass er sie nach Hause fahren wollte. Und unsere naive Britta hat ihm das geglaubt. Sie ist also zu ihm ins Auto gestiegen. Und dann hat er versucht, sie zu vergewaltigen, dieses Schwein. Gottlob kam rechtzeitig ein Streifenwagen vorbei und hat unser Mädchen gerettet. Und für was?“

Die ganze Hoffnungslosigkeit einer Zukunft ohne seine vergötterte Tochter lag in seinen Augen, als er Berg ansah.

„Wir sind dann weggezogen, dachten, auf dem Land kann ihr so was nicht passieren. Wir wollten sie beschützen.“

Ein Schluchzer schüttelte ihn.

„Die ganze Zeit haben wir sie nichts unternehmen lassen, waren nur noch auf ihre Sicherheit bedacht. Das Zelten war die erste Freiheit, die wir ihr nach dem schlimmen Erlebnis damals erlaubt haben. Und das auch nur, weil sie am nächsten Tag fünfzehn wurde und die Pfarrerstochter mitgemacht hat. Wer ahnt denn schon, dass hier so was passieren würde?“

Nun, das klang zumindest nach einem Tatverdächtigen, fand Berg. Sartorius war derselben Meinung. Diesen Meiser würden sie ganz genau unter die Lupe nehmen. Auch wenn Berg sich kaum vorstellen konnte, woher Meiser hätte wissen können, was die Mädchen vorhatten. Es sei denn, eine von ihnen hätte es ihm erzählt. Und da käme nur Britta in Frage.

Welch bittere Ironie des Schicksals, dass Brittas Eltern extra von Trier weggezogen waren, um ihre Tochter vor der bösen Welt zu schützen, schoss es Berg durch den Kopf, als er in seinen Dienstwagen einstieg.

Als Nächstes waren sie zu den Eltern von Anette Dobrindt gefahren.

„Er ist Lehrer an der Berufsschule in Gerolstein, sie ist auch Hausfrau, sie wohnen nur zwei Straßen von uns entfernt“, berichtete Sartorius. „Das Mädchen ist recht hübsch und war schon seit Längerem mit dem Marc befreundet, dem jungen Mann, der auch tot ist. Aber ganz anständig. Ich kann mir gar nicht erklären, wieso der am See war.“

Das konnten auch Anettes Eltern nicht.

„Zu dritt wollten sie eine Nacht am Totenmaar verbringen. Ganz recht war uns das ja nicht. Aber als die Pfarrerstochter mitkam und erzählte, dass selbst ihr Vater nichts dagegen hat, und auch Niemeyers ihr Einverständnis gegeben hatten, wollten wir Anette den Spaß nicht verderben. Wieso aber Marc und Sebastian da waren, wissen wir nicht. Das ist uns einfach unbegreiflich. Unsere Tochter hat uns nie angelogen.“

Herbert Dobrindt hatte die Worte kaum herausgebracht, da entwich seiner Frau ein Laut, halb Schrei, halb Wehklage. Sie starrte Berg an, als wolle sie ihm als Überbringer der schlechten Nachricht an die Kehle gehen. Er wappnete sich, doch sie verharrte endlose Sekunden bewegungslos auf der Stelle, wie festgefroren. Plötzlich lief ihr Gesicht tiefrot an.

„Sie lügen, mein Kind ist nicht tot.“

Verlegen und weil er den leidvollen Blick nicht ertragen konnte, starrte Berg auf ein Bild an der Wand. Ihn lachte ein überdurchschnittlich hübsches Mädchen an, mit tiefblauen Augen und offenem Gesichtsausdruck. Anette Dobrindt. Ihre Mutter war seinem Blick gefolgt, stürzte zu dem Bild und riss es an sich. Sie stürmte auf Berg zu und hielt ihm das Foto dicht unter die Nase.

„Das ist meine Tochter und sie kann nicht tot sein, geben Sie das sofort zu.“

Hilflos schüttelte Berg den Kopf. Viel war von Anettes Gesicht nicht übrig geblieben, doch es reichte, um sie auf dem Foto zu erkennen.

„Bitte sagen Sie, dass das nicht stimmt.“

Sie packte ihn am Kragen und versuchte ihn zu schütteln wie Brittas Mutter zuvor. Verrückt. Ob die Frauen glaubten, so eine andere Antwort aus ihm rausschütteln zu können? Er bedauerte zutiefst, dass es ihnen nicht gelang.

Wie es Berg hasste, schlechte Nachrichten zu überbringen. Gleich zu Beginn seiner Arbeit bei der Polizei hatte er als Streifenpolizist einer Familie die Nachricht überbringen müssen, dass ihr Sohn einen Tag nach seinem achtzehnten Geburtstag bei der Probefahrt seines Geburtstagsgeschenkes, einem funkelnagelneuen Golf, sich und seine Schwester totgefahren hatte. Danach hatte Berg geglaubt, dass es nicht schlimmer kommen könne, und sich zum ersten Mal im Leben allein betrunken. Leider nicht zum letzten Mal.

Nun hatte er das Gefühl, den Boden unter sich zu verlieren.

Um ihr Zeit zu geben, sich wieder zu fassen, schwieg Berg. Zum wiederholten Male wurde ihm klar, wie furchtbar es im Grunde war, im Haus dieser Familie zu stehen und ihr Leben einfach so zu zerstören. Und nicht zum ersten Mal dankte er Gott dafür, dass er und seine geschiedene Frau keine Kinder hatten bekommen können. Wenn er sich vorstellte, eins davon wieder zu verlieren, kaum dass man sie aus dem Gröbsten raushatte, nein, dann lieber auch keine Freuden vorher. Zu groß musste der Verlust des Kindes sein, um ihn ertragen zu können.

Plötzlich kippte Anettes Mutter um. Sartorius musste den Notarzt rufen.

Marcs Vater war vor drei Jahren bei einem Arbeitsunfall tödlich verletzt worden. Er hatte einem Trupp Gleisarbeiter angehört, zu deren Sicherung er eingesetzt war. Warum er als Sicherungsposten selbst vom Zug erfasst wurde, blieb wohl ein ewiges Rätsel, wie Sartorius berichtete. Die Mutter musste seitdem verschiedene Putzstellen annehmen, um Marc und seinen jüngeren Bruder Kevin durchzubringen.

Nun saß sie vor ihnen mit kalkweißem Gesicht, ihre Hand zerquetschte fast die eines Teenagers, der die beiden Beamten unwillig anstarrte. Der Mutter waren offenbar die Tränen schon vor Jahren ausgegangen. Berg fühlte sich an eine Mumie erinnert, so verhärmt und vertrocknet wirkte sie.

„Mein Sohn war ein guter Junge. Er hätte so gerne das Abitur gemacht. Aber das ging nicht. Wir brauchten das Geld, das er als Lehrling bei Beckmanns bekam. Sebastian hat ihm die Lehrstelle im Boschdienst seiner Eltern verschafft. Sie waren so zufrieden mit ihm, dass sie ihn übernehmen wollten. Und dann hatte er ja auch die Anette, so ein liebes und hübsches Mädchen. Ich war so glücklich für ihn, dass er sie gefunden hat. Der Tod seines Vaters damals hat ihm schwer zu schaffen gemacht, er ist lange nicht darüber weggekommen. Und nun das!“

Sie wurde von einem trockenen Schluchzen geschüttelt.

Berg bedauerte sie zutiefst. Wusste aber auch, dass er sich emotional nicht in das Elend dieser Frau reinziehen lassen durfte, wollte er nicht den Überblick verlieren.

Er räusperte sich.

„Hatte Ihr Sohn Feinde? Irgendwen, mit dem er Ärger hatte?“

Ihr kurzes, empörtes Kopfschütteln sagte mehr als tausend Worte.

Fragend sah Berg zu Sartorius, der, für die Frau unmerklich, mit dem Kopf nickte, für Berg hinreichende Bestätigung dafür, dass da wirklich ein guter Junge gestorben war.

Berg wandte sich an den Bruder.

„Hast du eine Idee, wer deinem Bruder so was antun könnte? Hatte er Ärger mit anderen Jugendlichen? Ist er irgendwem auf die Füße getreten?“

„Mein Bruder wurde von allen geachtet. Er war der Stärkste in der Schule und hat mich immer beschützt. Und beim Fußball wollten ihn alle in ihrer Mannschaft haben. Das können Sie natürlich nicht verstehen. Er war einfach klasse und nun lassen Sie mich gefälligst in Ruhe.“

Der Junge sprang auf und ließ sich auch nicht von der Hand der Mutter, die ihn festzuhalten versuchte, aufhalten.

„Kevin“, rief sie ihm hilflos hinterher. Doch der drehte sich nicht um, sondern rannte, immer zwei Stufen gleichzeitig nehmend, eine Treppe hinauf und verabschiedete sich türknallend.

„Ich weiß nicht, was mit ihm los ist, er ist sonst so lieb“, versuchte seine Mutter ihn zu entschuldigen.

Doch das brauchte sie nicht. Berg kannte diese Reaktion von Kindern und Heranwachsenden auf den Tod älterer Geschwister. Der Junge brauchte Zeit und die wollte ihm Berg geben. Auch wenn das gegen die Regeln verstieß.

Denn ihm war schmerzlich bewusst, dass die ersten achtundvierzig Stunden nach dem Dreifachmord unaufhaltsam ihrem Ende entgegentickten. Nach einem Verbrechen waren sie entscheidend für die Ermittlungen. Waren sie rum, wurde die Aufklärung immer zäher, blieb meist im Morast stecken und würde schlimmstenfalls im Sand verlaufen.

Jetzt, an diesem Samstagabend, waren die ersten vierundzwanzig Stunden rum.

Nun blieb ihnen nur noch die Fahrt ins Krankenhaus zu Katharina und Sebastian und zu dessen Eltern. Vielleicht hatten die beiden Jugendlichen inzwischen etwas Wichtiges gesagt und Licht ins Dunkel dieses unfassbaren Massakers gebracht. Doch Chefarzt Dr. Bernhard Kuckartz, der sie in seinem Arztzimmer empfing, enttäuschte sie.

„Wir haben vor ein paar Stunden eine Röntgenaufnahme von Sebastians Schädel gemacht. Gottlob ist die Verletzung nicht so schlimm wie befürchtet. Er wird keine bleibenden Schäden davontragen.“

„Wann können wir denn mit ihm reden? Er ist unser wichtigster Zeuge neben dem Mädchen.“

„Ich denke, dass Sie morgen Vormittag kurz mit ihm reden können, jetzt ist es noch zu früh. Er ist auch noch sediert.“

„Und Katharina?“

„Da müssen Sie mit Ihrer Frau Kollegin sprechen. Die sitzt schon den ganzen Tag neben ihr am Bett und versucht ihr Glück. Zwischenzeitlich ist Katharina mehrfach aufgewacht, aber sie brach jedesmal in Panik aus.“

„Hat sie irgendwas gesagt, was uns weiterhelfen könnte?“, bohrte Berg nach.

„Nein, und das wird sie wohl auch nicht so schnell.“

Danach hatte Berg Sartorius entlassen. Der war kurz vor dem Umkippen gewesen, das wollte Berg ihm ersparen. Am nächsten Morgen stand die Obduktion an. Auch das war eindeutig zu viel für Sartorius. War auch nicht nötig. Er konnte einen anderen Kollegen mitnehmen, dieser hatte mehr als genug.

Berg hatte so vielen Obduktionen beigewohnt, dass es ihm in der Regel nichts mehr ausmachte. Aber in diesem Fall mit den vielen toten Teenagern war das was anderes. Davor graute selbst ihm. Außerdem war es immer gut, wenn zwei Paar Augen dabei waren.

Anschließend wollte er sich selbst ein Bild von Katharinas Amnesie machen und Sebastian endlich befragen.

Ihm fiel die junge Beamtin ein. Eine Frau in solch einem Job, ne, das passte nicht.

Vielleicht wurde ihr das selbst klar, wenn sie das erste Mal eine Obduktion an Jugendlichen miterlebte.