Leseprobe Je kälter der Tod

DIE LEGENDE VON BEDDGELERT

Prinz Llewellyn hatte einen treuen Hund namens Gelert. Eines Tages ging er zum Jagen aus und ließ den Hund zurück, damit dieser seinen jungen Sohn bewachte. Bei seiner Rückkehr fand er eine leere Krippe und einen blutverschmierten Hund vor. Aus Zorn und Verzweiflung zog er sein Schwert und erschlug Gelert. Erst als der Hund schon im Sterben lag, bemerkte Llewellyn den Kadaver eines mächtigen Wolfes, der am Boden lag, und fand den kleinen Prinzen, sicher in einer Ecke schlafend. Er stürmte zu Gelert, doch es war zu spät. Der Hund starb in seinen Armen.

Dem Hunde zu Ehren errichtete er ein beeindruckendes Grabmal, das noch heute zu sehen ist, in dem Ort namens Beddgelert – Gelerts Grab.

Heute glaubt man, dass sich ein geschäftstüchtiger Gastwirt im neunzehnten Jahrhundert diese dramatische Legende ausdachte. Wissenschaftler gehen mittlerweile davon aus, dass sich der Name auf einen alten Heiligen bezieht, nicht auf Llewellyns Hund.

1. Kapitel

Colonel Arbuthnot schritt über das federnde Gras und blies seine Wangen auf, während trompetenartige Laute von seinen geschürzten Lippen kamen. Das Lied war gerade so als Men of Harlech erkennbar. Schafe sahen vom Grasen auf und stoben auseinander, verschreckt von den seltsamen Geräuschen, die aus dem Mund des Colonels kamen, und den Schlägen, mit denen sein mit einem silbernen Knauf verzierter Spazierstock gegen Büschel aus Ginster und Farn stieß.

Obwohl er auf die Achtzig zuging, war der Colonel eine imposante Gestalt, mit aufrechter Haltung und zielgerichtetem Schritt. In seinen besten Tagen war er ein stattlicher Mann gewesen und er glaubte noch immer gern, dass die Damen ihn für attraktiv hielten. Stolz trug er einen gepflegten, kleinen Schnurrbart, doch dieser Tage hingen seine schweren Wangen zu beiden Seiten herab und seine einst furchterregenden Augenbrauen stachen wie Krabben über den verblassten, wässrig blauen Augen hervor. Obwohl es Hochsommer war, trug der Colonel sein gewohntes Tweedsakko, darunter eine kanariengelbe Weste, ein kariertes Hemd, und um den Hals eine Seidenkrawatte mit Paisley-Muster. Sein einziges Zugeständnis an die Jahreszeit war ein verblasster Panama-Strohhut, den er trug, wann immer es möglich war, um die kahle Stelle auf seinem Schädel vor der Sonne zu schützen. Die Kinder von Llanfair imitierten den unverwechselbaren Gang des Colonels, jedoch nur hinter seinem Rücken.

Eine steife Bergbrise wehte Colonel Arbuthnot ins Gesicht. Er hielt inne und atmete tief ein.

»Ah«, sagte er und schlug sich auf die Brust. »Schon besser.«

Zum ersten Mal seit Monaten fühlte er sich lebendig. Gott, es tat gut, dieser trostlosen Wohnung in London zu entkommen. All diese endlosen Tage der Stille, nur unterbrochen von strammen Spaziergängen zur Bibliothek, um Zeitungen zu lesen, die er sich nicht länger leisten konnte, oder, an schönen Tagen, zwei Runden um den See im Park, für die Gesundheit. Zum Glück hatte er zu wohlhabenderen Zeiten eine lebenslange Mitgliedschaft in seinem Club erstanden, doch er ging kaum noch hin. Das schien wenig Sinn zu haben, seit der alte Chaterham vergangenes Jahr gestorben war. Jetzt war er der einzige, der von seiner Generation noch übrig war, und die jüngeren Burschen interessierten sich nicht dafür, was er zu erzählen hatte. Sie hielten ihn für einen alten Zausel und ließen sich Ausreden einfallen, um davonzueilen – die jüngere Generation schien stets in Eile zu sein. Ständig diesen verdammten Mobiltelefonen ausgeliefert. Keine Zeit, das Leben zu genießen. Colonel Arbuthnot bemitleidete sie. Er hatte immerhin mal das gute Leben gekannt. Er hatte Tiger gejagt, mit Maharadschas diniert und in Marmorpalästen mit schönen Frauen geschlafen. Die Jugend verstand nichts von Jagdsport, Konversation oder Liebe. Keine Manieren und keine Zeit, stellte der Colonel fest und enthauptete brutal eine große Distel.

Wolken jagten über ihn hinweg und eröffneten kurze, verlockende Ausblicke auf Berge, Seen und steile, mit Schafen übersäte Wiesen. Er hatte nicht bemerkt, wie hoch er schon geklettert war. Nicht schlecht für einen Senioren, sagte er sich. Er würde wetten, dass diese jungen Schwächlinge im Club nicht mit ihm Schritt halten könnten, obwohl sie behaupteten, so viel Zeit in ihren Fitnessclubs zu verbringen, um sich in Form zu halten.

Unter ihm lag das Dorf Llanfair wie eine Reihe aus Puppenhäusern: Sie säumten die Straße, die zum Pass emporstieg und sich um Mount Snowdon wand. Mit zärtlichem Blick sah der Colonel hinab. Mit seinen einfachen, schiefergedeckten Cottages konnte es kaum mit der Schönheit der idyllischen, gemütlichen britischen Dörfer mit ihren Reetdächern und Bauerngärten mithalten. Aber die Kulisse, hoch oben am Pass, mit Gipfeln, die zu beiden Seiten in die Höhe ragten, war spektakulär. Am hinteren Ende des Dorfes machte er die Silhouette des Red Dragon aus, das bemalte Schild des Pubs pendelte an der Frontseite. Genau so sollte ein Pub sein, sagte er sich und nickte zufrieden. Immer genug Burschen mit Zeit zum Plaudern, die Frauen beschränkten sich üblicherweise auf die Lounge, wo man sie sehen, aber nicht hören konnte; genau so mochte er es. Entzückende Kreaturen, diese Frauen, aber sie tendierten zu bedeutungslosem Geschwätz, wenn man sie nicht an die Kandare nahm – bis auf Joanie. Sie war nie geschwätzig gewesen. Sie hatte mit einem sanften Lächeln auf den Lippen seinen Geschichten gelauscht und stets über seine Witze gelacht. Gott, er vermisste sie immer noch so sehr …

Immerhin waren sie im Pub von Llanfair höflich genug, sich seine Geschichten anzuhören. Sie gaben sogar vor, interessiert zu sein. »Haben Sie denn je einen Tiger erlegt, Colonel?«, würden sie fragen. Und er könnte antworten: »Einen Tiger erlegt? Ich kann euch erzählen, wie ich an einem Tag drei Tiger zur Strecke gebracht habe. Wir mussten natürlich behaupten, der Maharadscha hätte sie erlegt. Das Protokoll verlangte es so. Aber in Wirklichkeit war es jedes Mal meine Kugel, die ihnen den Rest gegeben hat. Einer war ein riesiges Tier, zweieinhalb Meter lang. Zu Hause auf meinem Kaminsims steht ein Foto von ihm …«

Der Colonel lächelte in der Erwartung, darum gebeten zu werden, diese Geschichte erneut zu erzählen. Hier in Llanfair lebten nette Kerle – einfache, walisische Dörfler natürlich, aber bei ihnen fühlte er sich willkommen. Er wusste, dass das in großem Gegensatz zu dem stand, wie sie die meisten Außenstehenden behandelten. Er hatte erlebt, wie sie mitten im Gespräch ins Walisische wechselten, weil ein Tourist hereinkam. Doch er nahm an, dass seine walisische Frau ihn irgendwie akzeptabel gemacht hatte.

Er erinnerte sich daran, wie Joanie ihn zum ersten Mal mit nach Wales nahm, als sie gemeinsam Heimaturlaub hatten. Bis dahin war ihm nicht klar gewesen, dass Wales ein fremdes Land war. Sie eine Sprache sprechen zu hören, die er nicht verstand, hatte ihn erstaunt und beeindruckt – es war eine Seite von ihr, die er nie erwartet hatte. Jetzt an Joanie zu denken, ließ das bleierne Gefühl in sein Herz zurückkehren. Es war verblüffend, dass man einen Menschen so lange vermissen konnte. Sie war seit zehn Jahren tot und es fühlte sich immer noch an, als wäre es gestern gewesen.

Im Sommer nach Joanies Tod war er nach Wales gekommen, um die Bedeutung von allem zu verstehen, und war von der stillen, schroffen Schönheit der Berge Snowdonias geheilt und verzaubert worden. Aus purem Glück hatte er eine Anzeige für ein Sommerquartier auf dem Hof der Owens oberhalb von Llanfair gesehen. Sein Blick schweifte über das Dorf hinaus, zu dem quadratischen, getünchten Bauernhaus im Schutze windgepeitschter Bäume. Auf diese Anzeige zu antworten, war die glücklichste Entscheidung, die er je getroffen hatte, und er hatte in seinem Leben gewiss glückliche Momente gehabt – wie damals, als ihn ein heranstürmendes Nashorn knapp verfehlte, oder als Charlottes Ehemann in Kaschmir auf ihn geschossen und ihn nicht getroffen hatte, als er aus dem Fenster des Hausbootes in den See sprang.

Mrs. Owens verwöhnte ihn schamlos, kochte seine Lieblingsgerichte und ermutigte ihn, sich zwei- oder dreimal von den Speisen nachzunehmen, die sein Arzt ihm verboten hatte. Sie machte seine Wäsche, bügelte sie und hielt sein Zimmer in makelloser Ordnung, ohne einen Wirbel um ihn zu machen. Er hatte die Tage frei, um sie in der guten, frischen Luft zu verbringen, über Anhöhen zu wandern, zu versuchen Wildblumen oder Vögel zu identifizieren, oder seiner wahren Leidenschaft nachzugehen, der Archäologie. Er war ein begeisterter Amateurarchäologe, seit er im Alter von acht Jahren in der Nähe seines Zuhauses in Yorkshire auf einem Feld eine römische Münze gefunden hatte. Er war von der Ehrfurcht darüber ergriffen, dass zweitausend Jahre alte Gegenstände zu seinen Füßen lagen und darauf warteten, wiederentdeckt zu werden. Wenn er aus einer anderen Familie käme, wäre er vielleicht nach Oxford oder Cambridge gegangen, um Alte Geschichte zu studieren, aber Arbuthnots gingen stets zur Armee. Er seufzte.

Seine Leidenschaft für Archäologie war einer der Gründe, die ihn nach Wales zurückzogen. Er wollte derjenige sein, der zweifelsfrei bewies, dass König Artus tatsächlich existiert hatte. Es gab natürlich genügend regionale Legenden, die das stützten. Oben auf dem Mount Snowdon gab es den Bwlch y Saethau (den Pass der Pfeile), wo Artus tödlich verwundet wurde, als er dabei war Mordred zu besiegen. Man erzählte sich, dass Excalibur aus dem Llyn Llydaw aufgetaucht war, dem See, der sich in die Ausläufer des Snowdon schmiegte. Er konnte ihn jetzt sehen, glitzernd im hellen Sonnenlicht. Selbst der Gipfel des Snowdon wurde von den Ortsansässigen Yr Wyddfa genannt, was Grabstätte bedeutete. Nur ein großer König wäre auf der Spitze des höchsten Berges von Wales beerdigt worden. Wenn er bloß etwas Handfestes finden könnte, um Artus’ Existenz zu belegen. Das war es, was ihn dieser Tage auf Trab hielt.

Er ließ sich auf einer Felszunge nieder und holte sein Fernglas heraus. Es hatte in der Bronzezeit ein Fort gegeben, das den Pass bewachte. Wenn er dafür Belege finden könnte, wäre das ein Anfang.

Sein Blick glitt von der Spitze des Snowdon über die anderen Gipfel, deren Namen er vergessen hatte, und wieder hinab zum Dorf. Es war ein gutes Fernglas, in Deutschland gefertigt, früher, als man Dinge so baute, dass sie lange hielten. Er machte eine Gestalt aus, die auf der gewölbten Steinbrücke über dem kleinen, lauten Gebirgsbach saß. Das musste dieser dämliche Briefträger sein, entschied er – der, den sie Briefträger-Evans nannten. Er setzte sich immer hin und las die Post, ehe er sie austrug. Seltsam, dass das niemanden zu kümmern schien … Sein Blick wanderte die Straße hinauf. Er sah den jungen Polizisten auf seiner Nachmittagsrunde. Er mochte Constable Evans – gutaussehender, junger Bursche, breit gebaut wie ein Rugby-Spieler, nicht wie manche dieser verweichlichten Männer heutzutage, mit ihren furchtbaren Ohrringen. Colonel Arbuthnot hatte oft seinen Rat zu den besten Wanderpfaden eingeholt, oder wenn es um die Identität gewisser Vögel oder Blumen ging. Natürlich hatte der junge Kerl eine einfache Stelle an Land gezogen, als Leiter einer Nebenstelle der Polizei in einem Dorf wie Llanfair. Schwerlich eine Brutstätte der Kriminalität, stellte der Colonel fest, während er die leeren Straßen und die spielenden Kinder auf dem Schulhof wahrnahm.

Er stellte scharf, in der Hoffnung, einen Blick auf die Lehrerin zu erhaschen. Ein hübsches, junges Fohlen, schlank und anmutig. Sie erinnerte ihn an Joanie, als sie sich auf dieser Gartenparty in Delhi zum ersten Mal begegnet waren. Er hörte das entfernte Schlagen einer Glocke und die Kinder bildeten unverzüglich zwei Reihen und marschierten im Gänsemarsch ins Gebäude.

Der Blick des Colonels wanderte weiter. Die letzten zwei Häuser im Dorf waren zwei Kapellen, zu beiden Seiten der Straße. Er hatte nie verstehen können, warum ein Dorf in der Größe Llanfairs zwei Gotteshäuser brauchte – aber die Waliser liebten natürlich ihren Glauben. Sie hielten endlose Predigten durch und sangen bei jeder Gelegenheit Kirchenlieder. Und es war guter Gesang, nicht das halbherzige Gemurmel der Gemeindemitglieder der All Saints Church zuhause in Kensington.

Das Fernglas strich noch einmal träge über das Dorf, dann versteifte sich der Colonel und blinzelte, um eine Gestalt scharf zu sehen. »Außerordentlich!«, sagte der Colonel laut. »Das kann nicht sein.« Jemand stand mitten auf der Dorfstraße und sah sich interessiert um. Es schien dem Colonel fast, als träfen sich ihre Blicke, obwohl er wusste, dass das unmöglich war. Doch er spürte, dass der stechende Blick auf dem Felsen ruhte, auf dem er jetzt saß. Dann drehte sich die Gestalt um und verschwand im Schatten zwischen zwei Cottages.

Der Colonel stieß einen Seufzer aus und schüttelte den Kopf. Das Augenlicht musste ihn ob seines hohen Alters im Stich lassen. Er hatte gerade jemanden gesehen, der unmöglich hier sein konnte. Es war aberwitzig. Seine Augen spielten ihm einen Streich.

Er ließ das Fernglas sinken, saß da und starrte ins Leere. Natürlich irrte er sich, redete er sich ein. Jeder Mensch hatte einen Doppelgänger, oder? Er stand auf und klopfte seine Hose ab. Verflixt unangenehm, wenn das wirklich der war, für den er ihn hielt. Verflixt unangenehm für sie beide, nahm er an.

Dann geschah etwas, das alles andere aus seinen Gedanken vertrieb. Er starrte auf die Felsen, auf denen er gerade gesessen hatte. Sie waren mit Ginster und Farnkraut überwuchert, aber sie hatten eine gewisse Ebenheit und Regelmäßigkeit an sich. Als er sich genauer umsah, konnte er erkennen, dass sie ein perfektes Rechteck um eine grasbedeckte Fläche bildete. Aufgeregt zog er am Ginster, ohne die Kratzer der Dornen zu bemerken, und stellte fest, dass er definitiv auf eine alte Mauer starrte. Er kletterte darüber und machte sich daran, Gras und Unkraut aus dem Weg zu schieben. Ja, hier war der Eingang, und kurz dahinter etwas, das wie eine glatte Steinplatte aussah! Der Colonel ließ sich auf die Knie fallen und zerrte das Unkraut beiseite, blind gegenüber allem und jedem um ihn herum …

2. Kapitel

Constable Evan Evans von der Polizei von Nordwales ging langsam die Hauptstraße von Llanfair entlang. Um genau zu sein, war es die einzige Straße in Llanfair, abgesehen von den schlammigen Wegen, die zu einigen Bauernhäusern führten. Wie viele walisische Dörfer war es in der Blütezeit der Schiefersteinbrüche entstanden. Es war ein schlichter Ort – zwei Reihen steinerner Cottages, ein paar Läden, eine Zapfsäule und zwei Kapellen säumten die Straße, die zum Pass am Fuße des Mount Snowdon anstieg. Es konnte manchmal düster und windig sein, wenn Wolken und Schnee die höhergelegenen Gipfel verhüllten, doch die spektakuläre Lage machte den Mangel an architektonischen Wunderwerken wett.

Constable Evans hielt auf der alten Steinbrücke an, die den rauschenden Gebirgsbach überspannte und sah sich mit Genugtuung um. Llanfair mochte nicht der schönste oder aufregendste Ort der Welt sein, aber das war ihm recht. Er ließ das klare Wasser auf sich wirken, das über moosbewachsene Steine tanzte, und verfolgte es bergauf bis zu dem hellen Band aus Wasser, das von der senkrechten Bergflanke stürzte. In der Brise vernahm er gerade noch das leise Blöken der Schafe. Es war das einzige Geräusch, abgesehen von dem Plätschern und Gurgeln des Wassers und dem Seufzen des Windes in den Erlen am Ufer.

Evan blickte die Straße hinauf. Es herrschte kein Verkehr, was für einen sonnigen Sommernachmittag ungewöhnlich war, obwohl es langsam spät wurde. Die meisten Touristen waren wohl schon zurück in ihren Hotels oder Gästehäusern und erörterten, ob sie an einem primitiven Ort wie Wales wohl mexikanisches Essen oder Pizza finden könnten.

Obwohl es schon fast sechs Uhr war, stand die Sonne noch hoch am Himmel. So weit im Norden würde sie erst nach neun untergehen. Die langen, hellen Abende waren einer der Vorteile am Leben in Nordwales. Er stand da, atmete tief durch und war mit der Welt im Reinen.

Er vernahm das Geräusch rennender Füße auf der Straße hinter sich und drehte sich herum, um eine Gruppe von Dorfjungen in Fußballtrikots an sich vorbeirennen zu sehen.

»Hallo, Mr. Efans! Sut yrch chi?«, riefen sie in ihren hohen, melodischen Stimmen und benutzten dabei die Mischung aus Walisisch und Englisch, in der sie sich üblicherweise unterhielten.

»Hallo Jungs. Ihr seid wohl unterwegs zum Fußballtraining?«, rief Evans zurück.

Sie nickten und ihre Gesichter leuchteten erwartungsvoll. »Wir spielen am Samstag unten in Beddgelert – das große Spiel des Jahres!«, sagte einer von ihnen.

»Letztes Jahr haben sie uns geschlagen, aber dieses Mal werden wir’s ihnen zeigen«, fügte ein anderer hinzu.

»Werden Sie zusehen, Mr. Efans?«, fragte der erste Junge. »Es wird gut. Wir haben jetzt Ivor in der Mannschaft und der ist unheimlich schnell. Er hat beim Sportfest den Hundert-Meter-Sprint gewonnen.«

»Wenn ich kann, werde ich da sein«, rief Evan ihnen nach, als sie die Straße hinauf Richtung Schulhof rannten. Er lächelte, während er ihnen nachsah, und erinnerte sich an sich selbst in ihrem Alter – zu kurz geraten, spindeldürr und nur aus Beinen bestehend, wie sie.

Ein Dorfpolizist – oder die Präsenz der Gemeindepolizei, wie sie es heute nannten – war die beste Art von Polizist, die man werden konnte, fand er. Es war erstaunlich, für das bezahlt zu werden, was er am liebsten tat: herumlaufen und mit Leuten sprechen.

Vor ein paar Jahren hatte es eine landesweite Initiative gegeben, die Polizeikräfte zu modernisieren und zu optimieren. Sie hatten alle Nebenstellen geschlossen und vom Hauptquartier aus große Bereiche mit Streifenwagen abgedeckt. Doch sie hatten bald ihren Fehler erkannt. Eine Polizeipräsenz in den Dörfern, ein einheimischer Polizist, der alles und jeden kannte, war die beste Abschreckung vor Kriminalität. Also eröffneten im ganzen Land wieder die Nebenstellen und Polizeitruppen der Gemeinden.

Evan hatte vor einem guten Jahr von diesem Schritt erfahren, als er sich noch von dem seelischen Schock durch den Tod seines Vaters erholte. Sie hatten zusammen im harten Revier des Hafenviertels von Swansea gearbeitet, als sich sein Vater bei einer Drogenrazzia eine Kugel einfing. Danach wollte er nicht länger Teil einer Truppe sein, in der gute Leben so bedeutungslos weggeworfen wurden.

Jetzt war er froh, sich für diese Stelle entschieden zu haben, anstatt den Polizeidienst zu quittieren. Er hatte es nie bereut herzukommen. Er mochte die Einheimischen. Sie mochten ihn. Die Gangart war langsam und die Berge warteten darauf, von ihm erklettert zu werden, wann immer er Freizeit hatte.

Er blickte zu den Gipfeln hinauf. Snowdon leuchtete in diesem rosaroten Licht des frühen Abends. Evan sah auf die Uhr … vielleicht wäre noch Zeit, um schnell auf den Bwlch y Moch zu klettern, nachdem er abgeschlossen und die Uniform abgelegt hätte – wenn er ins Haus hinein- und wieder herausschlüpfen konnte, ohne dass seine Vermieterin ihn hörte.

Er wohnte bei Mrs. Williams, seit er nach Llanfair gekommen war und war weitestgehend zufrieden. Sie war eine freundliche, mütterliche Frau, doch sie hatte zwei Schwächen: Sie war entschlossen, ihn wie einen preisgekrönten Truthahn zu mästen, indem sie ihm täglich drei gewaltige Mahlzeiten vorsetzte, und sie war ebenso entschlossen, ihn mit ihrer Enkelin Sharon zu verheiraten, die selbst gebaut war wie ein preisgekrönter Truthahn.

Evan seufzte und lief weiter die Straße hinauf, vorbei an einer Reihe von Läden zu seiner Rechten. G. Evans, Metzger, lag direkt neben R. Evans, Milch und Milcherzeugnisse. Das Monopol wurde vermiest von T. Harris, Gemischtwaren und Post. Als Evan vorbeiging, wurde die Tür des ersten Ladens aufgeworfen, ein dicker Mann mit blutbespritzter Schürze sprang heraus und schwang sein blutrünstig aussehendes Fleischerbeil.

»Nos da, guten Abend, Gesetzes-Evans«, rief er. »Heute irgendwelche saftigen Morde aufgeklärt?« Er lachte laut über seinen eigenen Witz.

»Noch nicht, Fleischer-Evans«, rief Evan zurück. »Aber es ist ja noch Zeit, nicht wahr? Planen Sie, einen zu begehen?«

»Könnte ich wohl«, gab Fleischer-Evans zurück, während das Lächeln aus seinem Gesicht verschwand. »Ich würde gerne all diese verdammten Touristen umbringen. Warum können die uns nicht in Ruhe lassen? Das wüsste ich gern.«

Evan sah sich auf der menschenleeren Straße um. Selbst zum Höhepunkt der Sommerferien konnte man Llanfair kaum als Touristen-Hochburg bezeichnen. Hier gab es wenig, das zum Verweilen einlud – eine Zapfsäule mit einer kleinen Imbissbude und Postkarten, die bei der Post und im Gemischtwarenladen verkauft wurden. Einige Cottages boten Gästezimmer an, und im Frühling waren vier neue Ferienbungalows auf dem Land der Morgans aufgetaucht, aber das war das ganze Ausmaß des Hotel- und Gastgewerbes hier im Dorf. Die gut betuchten Fahrer der BMWs und Jaguars verweilten im neuen Everest Inn, weiter oben am Pass. Evan blickte zu dem überwucherten, schweizerischen Chalet, dessen Bau die Einheimischen so erzürnt hatte. Es wirkte immer noch fürchterlich fehl am Platz – eine Art Disney-Berg-Fantasie an einem kahlen, walisischen Hang.

»Wir werden hier ja nun nicht gerade von Touristen überrannt, oder?« Evan sprach seine Gedanken laut aus. »Und Tankwart-Roberts freut sich über das zusätzliche Geld, das er mit seinem Imbiss verdient.«

Fleischer-Evans schnaubte angewidert. »Der Mann würde für zwei Pence seine eigene Mutter verkaufen«, sagte er. »Und dieser Idiot von Milchmann-Evans auch.« Das fügte er lautstark hinzu und blickte hoffnungsvoll zur offenen Tür des Milchladens. Eines seiner größten Hobbys war der Streit mit seinem direkten Nachbarn. Doch niemand kam aus dem Milchladen um die Herausforderung anzunehmen.

»Milchmann-Evans?«, fragte Evan. »Was verkauft er denn?«

Fleischer-Evans lehnte sich zu ihm, als würde er ein großes Geheimnis enthüllen. »Er plant, sein eigenes Eis zu machen, das ist es«, zischte er. »Er glaubt, dann kämen die Touristen gelaufen. Ich sagte ihm, dass ich keine weiteren Touristen in der Nähe meines Ladens sehen will!«

Evan grinste. »Aber die Touristen belästigen Sie doch nicht, oder?«

Er konnte sich nicht vorstellen, dass allzu viele Besucher von außerhalb einen Grund finden würden, bei einem Metzger hereinzuschauen.

»Diese Leute, die in den neuen Ferienbungalows wohnen, schon«, sagte Fleischer-Evans. Er blickte zu den vier neuen Gebilden aus Holz und Glas hinauf, die auf dem Gelände standen, das einst Taff Morgans Bauernhof gewesen war. Sie waren im Frühling gebaut worden und die Dorfbewohner beschwerten sich, dass Taffs Sohn Ted nicht einmal gewartet hatte, bis sein armer Vater unter der Erde war, ehe er alles mit seiner hochtrabenden Londoner Art verdarb. Nicht dass er dem Ort je auch nur nahegekommen wäre. Ein Bauunternehmer war eines Tages einfach mit einem Auftrag aufgetaucht und Mr. Ted Morgan hatte sich nicht einmal blickten lassen, um die Ergebnisse zu begutachten.

Fleischer-Evans kam näher, noch immer das Fleischerbeil in der Hand. »Wollen Sie wissen, was heute passiert ist?«, fragte er vertraulich. »Eine dieser Engländerinnen aus den Bungalows besaß die Frechheit mich zu fragen, ob ich anständiges, englisches Lamm hätte! Ich sagte ihr, dass ich an dem Tag, an dem ich ausländisches Lamm verkaufen müsste, meinen Laden für immer dicht machen würde.«

Evan versuchte, nicht zu lächeln. »Ich gehe nicht davon aus, dass sie je die Gelegenheit hatte unser einheimisches, walisisches Lamm zu probieren«, sagte er leichthin.

»Dann ist es verdammt noch mal Zeit dafür, oder nicht?«, blaffte Fleischer-Evans. Er ging in seinen Laden zurück und drehte sich dann noch einmal zu Evan um.

»Wir sehen uns dann im Dragon, ja?«

Evan nickte. »Davon gehe ich aus. Sobald ich in der Polizeistation alles dichtgemacht habe.«

»Es muss hart sein, all das Laufen, auf und ab, und immer für einen Tee anzuhalten«, sagte Fleischer-Evans.

Evan lächelte, obwohl er nie ganz sicher war, ob Fleischer-Evans einen Scherz machte.

»Es ist harte Arbeit, aber jemand muss sie tun, nicht wahr?«, konterte er. »Bis dann. Wedeln Sie nicht so viel mit diesem Teil herum, ja? Sonst muss ich Sie für das Tragen einer tödlichen Waffe vorladen.« Er winkte dem Metzger freundlich zu und ging weiter die Straße hinauf.

Die Jungen waren schon mitten in ihrem Fußballtraining, als er die Dorfschule erreichte. Er hielt einen Augenblick lang an und sah zu, wobei sein Blick zu dem Schulgebäude aus grauem Stein wanderte. Bronwen blieb oft lange, um die Stunden des nächsten Tages vorzubereiten. Er hoffte, dass sie ihn bei einem flüchtigen Blick sehen, und für eine Unterhaltung herauskommen würde. Evan war eigentlich nicht schüchtern, wenn es darum ging, mit Frauen zu sprechen, aber bei Bronwen Price ließ er es absichtlich langsam angehen. Manchmal fragte er sich, ob sie nicht ein wenig zu ernst und gebildet für ihn war. Er wusste sehr wohl, dass in einem Dorf wie Llanfair alle nach einer zweiten Verabredung mit derselben Frau die Hochzeit planen würden. Es war nicht so, als wollte er nicht eines Tages heiraten, aber er hatte es auch nicht besonders eilig.

Bronwens Gesellschaft und ihre dezente Weisheit genoss er allerdings sehr wohl. Sie war die eine Person, mit der er reden konnte, wenn ihn etwas beschäftigte. Sie war eine gute Zuhörerin und fällte keine vorschnellen Urteile. Wie sie dasaß, den Kopf leicht zur Seite geneigt, wodurch das lange, aschblonde Haar wie ein Vorhang aus goldenem Regen herabfiel, hatte ihn häufig dazu angespornt, weit mehr zu sagen, als er beabsichtigt hatte. Und er war mit einem seltsam zufriedenen Gefühl gegangen.

Doch Bronwen kam heute nicht aus der Schule und Evan führte seine Wanderung zum oberen Ende der Dorfstraße fort. Die zwei letzten Gebäude waren beide Kapellen. Zur Linken stand die Bethel-Kapelle, Hochwürden Parry Davies, Sonntagsschule zehn Uhr morgens, Gottesdienst sechs Uhr abends (Predigt auf Englisch). Zur Rechten stand die Beulah-Kapelle, Hochwürden Powell-Jones, Gottesdienst um sechs Uhr abends (Predigt in Walisisch und Englisch). Sie rahmten die Straße ein, zwei schlichte Spiegelbilder aus grauem Stein, sie glichen sich bis hin zu den identischen Anschlagtafeln neben den Haupteingängen. Nur die Bibeltexte auf den Tafeln unterschieden sich.

Sollte ein Außenstehender innehalten und sich fragen, warum ein Dorf von der Größe Llanfairs zwei Kapellen brauchte, hätten die Botschaften auf den Anschlagtafeln ihm einen Hinweis geben können. Die beiden Kapellen befanden sich in einem andauernden Krieg. Heute lautete die Botschaft vor der Bethel-Kapelle: »Die Rache ist mein, spricht der Herr«, während Beulah verkündete: »Vergib deinen Feinden. Halte die andere Wange hin!«

Evan grinste. Der Krieg der Tafeln war der gesittete Weg, mit dem die Hochwürden Parry Davies und Powell-Jones aufeinander losgingen. Wenn einer ein neues Zitat anbrachte, eilte der andere ohne Umschweife zu seiner Bibel, um ihn zu widerlegen oder zu übertrumpfen. Es gab keine leidenschaftlichere Feindseligkeit als die zwischen zwei rivalisierenden Christen, fand Evan.

Er hatte das Ende des Dorfes erreicht. Vor ihm schlängelte sich die Straße zum Pass hinauf, ein graues Band zwischen grünen Hügeln. Das einzige Gebäude war das Everest Inn, das mit Holzschindeln gedeckte Dach des schweizerischen Chalets leuchtete in der Abendsonne. Evan hielt inne und suchte die höherliegenden Hügel ab. Er machte eine Gestalt aus, die sich über die Bergweiden bewegte, und sah ein helles Funkeln. Das war wohl der silberne Griff des Spazierstocks des Colonels, entschied er. Auf dem Abstieg, nach einer seiner Expeditionen. Er bewunderte die Kraft und Entschlossenheit des alten Mannes. Er musste auf die Achtzig zugehen, dennoch hielt er sich dort oben auf, wanderte umher, ob es feucht oder trocken war, entschlossen, König Artus’ Krone aufzutreiben, oder vielleicht die vermodernden Reste der Tafelrunde.

Als Evan den Blick zurück zur Polizeistation schweifen ließ, erregte etwas weiter unten am Berg seine Aufmerksamkeit. Ein hellroter Blitz auf der Wiese hinter der Bethel-Kapelle. Es war ein kleines Mädchen mit rotblonden Locken in einem hellroten Kleid. Sie sprang so leicht durch das Gras, das sie wie schwerelos wirkte. Evan erkannte sie nicht als eines der Dorfkinder. Sie musste eine Fremde sein, die in den Ferienhäusern wohnte, und er fand sie zu jung, um allein draußen zu sein, selbst an einem sicheren Ort wie Llanfair.

Er suchte die Straße nach einem Anzeichen dafür ab, dass jemand sie im Auge behielt, sah niemanden und beschloss, selbst ein Auge auf sie zu haben. Das da oben war ein ungeheuer hoher Berg und er wollte nicht, dass sie zu weit fort irrte. Dann hielt sie in ihrem Aufstieg inne und machte sich auf den Rückweg. Evan seufzte erleichtert. Sie war schon fast wieder an der Trockenmauer, als sie zu rennen begann. Evan sah, dass sie auf ein junges Lamm zusteuerte, das alleine, nicht weit von der Mauer entfernt stand. Er hörte, wie sie ihm zurief und sah wie sie die Arme auseinanderriss, als erwartete sie, dass es wie ein Welpe zu ihr kommen würde. Seltsamerweise rannte das Lamm nicht davon. Das kleine Mädchen nahm es in die Arme und hob es hoch. Es war schwerer als erwartet und sie taumelte mit vor Anstrengung gerötetem Gesicht vorwärts. Evan fragte sich, was sie mit ihm anstellen wollte und wo sie es hinzubringen gedachte.

Doch er fand es nicht heraus, weil das Lamm strampelte und verzweifelt blökte. Seine Schreie drangen ans Ohr seiner Mutter, die nicht allzu weit entfernt graste. Das alte Schaf hob den Kopf und trottete dann heran, um ihr Junges zu beschützen. Das kleine Mädchen sah sich um und erblickte ein großes Schaf, das unter bedrohlichem Geblöke auf sie zu stürmte. Sie ließ das Lamm fallen und floh zurück zur Mauer, so schnell ihre kleinen Füße sie trugen.

Evan rannte ihr entgegen, für den Fall, dass sie Hilfe brauchte, um über die Mauer zu kommen. Doch sie kletterte hinauf und sprang auf der anderen Seite herunter, ihre Augen noch immer schreckgeweitet. Sie rannte die Böschung hinab, wurde immer schneller und schoss geradewegs auf die Straße. Unterbewusst hatten Evans Ohren vor einer Weile das Heulen eines herannahenden Wagens vernommen. Das Heulen war jetzt zu einem Brüllen geworden. Das kleine Mädchen hörte es auch und erstarrte mitten auf der Straße, während das Auto die Passstraße heraufraste.

Evan stürzte auf die Straße, schnappte sie und schwang sie zur Seite, als der Wagen ins Schlingern geriet, Bremsen kreischten und die Hupe plärrte. Er verfehlte sie beide um wenige Zentimeter und kam quietschend zum Stehen.

»Puh, das war knapp«, rief der Fahrer, ganz grün im Gesicht.

»Zum Glück ist nichts passiert«, rief Evan zurück. Er winkte dem Fahrer, als das Auto weiterfuhr. »Alles ist gut, Liebes. Nichts passiert.« Er lächelte zu dem Kind hinab, das angefangen hatte zu weinen.

Ein Schrei ließ ihn aufblicken. Eine junge Frau rannte mit schreckgeweiteten Augen über die Straße. Ihr Haar hatte einen dunkleren Rotton als die Haare des Mädchens, aber sie war unverkennbar ihre Mutter.

»Jenny! Meine Güte, Jenny! Was ist passiert? Geht es ihr gut?«, kreischte sie.

Evan setzte das kleine Mädchen ab. »Alles gut. Nur ein kleiner Schrecken, nicht wahr, Kleines?«, fragte er das Mädchen. Er verschwieg, dass auch er einen leichten Schrecken davongetragen hatte. Er spürte, dass sein Herz noch immer pochte.

»Der Bär hat mich verfolgt«, sagte Jenny, eilte zu ihrer Mutter und klammerte sich an ihre Beine. »Er hat mich angeknurrt.«

»Ein Bär?« Die Mutter blickte fragend zu Evan.

»Sie meint ein Schaf«, sagte Evan. »Sie hat ein Lamm hochgehoben und dessen Mutter verfolgte sie.«

Die junge Mutter blickte Evan entschuldigend an, als sie das Kind in die Arme schloss. »Wir sind aus Manchester. Sie hat noch nie ein Schaf gesehen.«

Das kleine Mädchen schluchzte an der Schulter ihrer Mutter, ihr kleiner Körper zuckte mit jedem Schluchzer. Die Frau hielt sie noch fester. »Du warst ein böses Mädchen, ohne Mami rauszugehen, hörst du?«

Das kleine Mädchen nickte, ihre Unterlippe zitterte.

»Ich fürchte, das ist meine Schuld«, sagte die Frau und richtete sich wieder auf. Evan stellte interessiert fest, dass ihr Akzent mehr nach London als nach Manchester klang. »Es war so ein schöner Tag, dass ich alle Türen offenstehen ließ. Sie muss vorne rausgegangen sein, als ich damit beschäftigt war, ihr einen Tee zu machen.« Sie blickte zu der Reihe von Cottages gegenüber, wo eine Haustür weit offenstand. »Ich dachte, an einem Ort wie diesem könnte nicht viel passieren, wenn man Fenster und Türen offenlässt«, fügte sie hinzu.

»Es gibt immer noch Autos auf der Straße«, sagte Evan. »Bei Kindern kann man nie vorsichtig genug sein, nicht wahr?«

»Da haben Sie recht.« Sie schüttelte den Kopf und schenkte ihm ein verzweifeltes Lächeln. »Sie ist ein kleiner Affe. Interessiert sich für alles Mögliche, sobald ich ihr den Rücken zukehre, nicht wahr, du schreckliches, kleines Monster?« Sie hätschelte das Kind im Nacken, wodurch das kleine Mädchen aufhörte zu weinen und vor Freude quiekte.

Jetzt da der Schock überstanden war, bemerkte Evan, dass sie eine gutaussehende, junge Frau war, obwohl ihr hellrotes Haar, die gezupften und nachgezogenen Augenbrauen und ihr starkes Make-up in Llanfair genauso fehl am Platz wirkten wie die knappen, weißen Shorts und das Träger-Oberteil mit Hawaii-Druck, die sie trug. Nicht, dass sie ihr nicht gestanden hätten, mit diesen langen Beinen …

Evan zwang seine Gedanken, zum Geschäftlichen zurückzukehren. »Dann sind Sie hier im Urlaub?«

Die junge Frau sah auf, das kleine Mädchen klammerte sich immer noch an ihren Hals. »Nein, wir sind vor ein paar Tagen hergezogen.«

»Hergezogen? Für immer, meinen Sie?« Evan war überrascht. Üblicherweise wusste die Gerüchteküche Bescheid, sobald jemand Neues ins Dorf kam. Diese Frau schien sich unbemerkt eingeschlichen zu haben.

»Ich kann noch nicht sagen, für wie lange es sein wird.« Die Frau lächelte wieder. Da lag etwas Wehmütiges in ihrem Lächeln. »Ich dachte, wir versuchen es mal hier. Ich wollte, dass sie an einem gesunden und sicheren Ort aufwächst, weit weg von all den Drogen und Verbrechen.«

»Aber warum hier?«, fragte Evan. »Sie sind keine Waliserin, oder?«

Sie kicherte. »Wenn Sie gehört hätten, wie ich versuche Chlanfair zu sagen, wüssten Sie die Antwort. Nein, ich habe keine Verbindungen hierher, was einen Teil des Reizes ausmacht, nehme ich an.«

»Warum dann hier? Waren Sie als Kind in den Ferien hier?«

Sie hielt einen Augenblick inne und starrte an ihm vorbei in die grünen Hügel. Evan fragte sich, ob er zu neugierig war. »Tut mir leid, dass ich Sie so ins Kreuzverhör nehme«, sagte er. »Ich überlasse Sie wieder ihrem Tee.«

»Ich weiß selbst nicht genau, was mich herkommen ließ«, sagte sie als er sich entfernte. »Ich habe den Ort vorher nicht einmal gesehen – zumindest nicht in natura. Ich, na ja, hörte davon und es schien wie ein guter Ort, um ein Kind großzuziehen.«

»Und was halten Sie jetzt davon, da Sie hier sind?«, fragte Evan.

Sie blickte die Straße hinauf und hinunter. Ein paar Männer gingen auf dem Weg zum Pub vorüber, Hände in den Taschen und Mützen tief ins Gesicht gezogen. Die Straße hinunter trat eine Frau aus ihrem Cottage, und rief im Gehen eine Flut walisischer Schimpfwörter über die Schulter.

Die junge Frau wandte sich wieder Evan zu. »Ich hätte nicht erwartet, dass es so … anders ist. Ich werde niemals lernen, Walisisch zu sprechen. Ich nehme an, ich werde immer eine Außenstehende sein.«

»Lassen Sie den Leuten Zeit«, sagte Evan. »Sie sind ziemlich freundlich, sobald sie sich an Sie gewöhnen. Waliser sind einfach ein wenig scheu und argwöhnisch gegenüber Fremden.«

»Sie wirken nicht allzu scheu.« Die Frau schenkte ihm ein herausforderndes Lächeln.

»Ach, nun, das ist mein Job, nicht wahr?« Evan spürte, dass er rot anlief und verfluchte seine helle, keltische Haut dafür, die kleinste Verlegenheit preiszugeben.

»Dann sind Sie der Dorfpolizist, ja?«

Evan nickte. »Constable Evans. Ich leite die Polizeistation der Gemeinde.«

Sie bekam einen Arm frei, obwohl sich das kleine Mädchen noch immer an sie klammerte, und streckte ihm die Hand entgegen. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Constable Evans. Ich bin Annie. Annie Pigeon.«

»Schön Sie kennenzulernen, Annie.« Evan nahm ihre Hand. »Willkommen in Llanfair. Wenn Sie Hilfe brauchen, kommen Sie zu mir.« Er schenkte ihr ein freundliches Lächeln. »Ich mache mich besser auf den Weg. Ich muss mich im Hauptquartier melden, ehe ich zur Nacht zusperre. Wir sehen uns, Annie, und wir auch, Jenny. Und renn nicht mehr ohne deine Mama auf die Straße, ja?«

Das kleine Mädchen blickte ihn schüchtern an und vergrub dann das Gesicht an der Schulter ihrer Mutter.

»Sie ist gegenüber Fremden recht scheu, so wie ihr Waliser«, sagte Annie mit herausforderndem Blick. »Ich mache mich besser wieder ans Kochen, sofern man Baked Beans und Frankfurter Würstchen als Kochen bezeichnen kann. Wir sehen uns, Constable, oder haben Sie einen Vornamen?«

»Evan.«

»Evan Evans?« Sie stieß ein spitzes Lachen aus. »Das ist so verdammt walisisch, walisischer geht es nicht, oder?«

Evan lief weiter, als sie sich auf ihre Haustür zubewegte.

»Tschüss, Evan«, rief sie ihm nach. »Wir sehen uns. Komm schon Jenny, verabschiede dich.«

Er drehte sich um, doch Jennys Gesicht war immer noch vergraben. Er ging weiter die Straße hinab, fasziniert von Annie Pigeon, die spontan an einem Ort auftauchte, den sie nie zuvor besucht hatte. Warum? Warum sollte ein Großstadtmädchen aus England in ein abgelegenes Dorf in Wales ziehen? Er hatte das Gefühl, dass es keinen Mr. Pigeon gab, und wahrscheinlich nie gegeben hatte. Für eine alleinerziehende Mutter würde es nicht leicht werden, soviel war sicher. Man konnte nicht abstreiten, dass die Waliser lange brauchten, bis sie sich Fremden gegenüber erwärmten, und die meisten Menschen in Llanfair sprachen eher Walisisch als Englisch. Er würde tun müssen, was in seiner Macht stand …

Er hielt abrupt inne, als er mehr spürte denn sah, dass ihn jemand beobachtete. Bronwen Price lehnte sich über das Tor zum Schulhof. Ihr aschblonder Zopf hing über einer Schulter und der Wind wehte ihr lose Strähnen ins Gesicht. Sie trug einen langen, blauen Baumwollrock und eine blaue Jeansbluse, die zu ihren Augen passte.

»Guten Abend, Evan«, sagte sie und wiederholte dabei seinen Namen exakt so, wie Annie ihn hinterhergerufen hatte.