Leseprobe Jahre im Wandel

Die Weihnachtskrippe

23. Dezember 1923

Magdalena saß in der Stube auf der Bank am Esstisch, gähnte und lehnte den Kopf an die Schulter ihres Mannes Matthias. Er war sicher auch müde. Jedenfalls hatte er dunkle Schatten unter den Augen. Ihr sechs Wochen alter Sohn hielt sie beide ganz schön auf Trab. Momentan schlummerte Martin friedlich in der Wiege, die hinten im Eck der Stube neben einem Ohrensessel ihren Platz gefunden hatte. Beneidenswert. Ihnen gegenüber saß ihr Bruder Heiner, der unverschämt ausgeruht aussah. Vor zwei Tagen war er aus Düsseldorf gekommen. Nicht nur, um das Weihnachtsfest mit ihnen zu feiern, sondern auch, um seinen Neffen in Augenschein zu nehmen, der ungefähr zwei Monate vor dem Geburtstermin am Martinstag auf die Welt gekommen war.

Immer wieder suchte Heiner ihren Blick. Bestimmt wollte er das Gespräch fortsetzten, in dem es um seine Herzensangelegenheit gegangen war. Vor dem Essen war Matthias ahnungslos hineingeplatzt. Magdalena richtete sich auf und nickte ihrem Bruder kaum merklich zu. Leicht war es nicht für ihn. Er in Düsseldorf und seine Liebste in Leiwen. „Freiwillige vor! Wer von euch hilft mir, die Krippe aufzubauen?“

„Hier, ich!“ Heiner hob sofort die Hand.

„Mich lass bitte aus!“, wehrte Matthias ab. „Meine Mutter hat ihre Figuren mit Argusaugen bewacht und mir tut heute noch der Hintern weh, wenn ich daran denke, dass mir einmal eine der Figuren hinuntergefallen und zerbrochen ist …“

Seine Mutter hatte ihn nach dem Motto: „Wer seine Kinder liebt, züchtigt sie“ erzogen. Unmittelbar nach Martins Geburt war sie einer Herzkrankheit erlegen. Seither brauchte Magdalena keine harschen Befehle oder Demütigungen mehr zu befürchten und statt Trauer beschlich sie mitunter ein Gefühl der Erleichterung.

„… Lenchen, ich bleibe freiwillig hier und hüte unseren Sohn.“

„Das nenne ich einen vorbildlichen Vater“, scherzte Heiner, der trotz seiner Unterschenkelprothese schneller aufgestanden war als sie.

„Wir sprechen uns wieder, wenn du selbst Kinder hast. Außerdem willst du deiner Schwester sicher eine Menge Düsseldorfer Kunstszenen-Klatsch erzählen. So oft siehst du sie schließlich auch nicht mehr.“

Heiner grinste, ging voraus und öffnete die gegenüberliegende Tür. Im Wohnzimmer duftete es herrlich weihnachtlich nach Nadelwald und Bienenwachs. Der Baum war etwas krumm gewachsen, was der üppige Weihnachtsschmuck mehr als wettmachte: Zuckerstangen, Äpfel, Strohsterne, Lametta, bunte Glaskugeln und ein paar vergoldete Walnüsse.

Die Kisten mit den Krippenfiguren hatten die Mägde bereits gestern heruntergetragen und den gusseisernen Ofen in der Frühe eingeheizt. Zu Weihnachten sollte es mollig warm sein im Wohnzimmer. Den schönsten Raum im Haus benutzten sie, wie es im Dorf üblich war, nur an hohen Feiertagen, zu besonderen Gelegenheiten oder für ausgewählte Gäste. Eine Schale mit Plätzchen stand auf dem Tisch. Magdalena griff nach einer Zimtwaffel und sog den leckeren Duft ein. „Möchtest du auch eine?“

„Später vielleicht.“

Gemeinsam hoben sie den Deckel von der Kiste. Erwartungsvoll sah Magdalena ihren Bruder an. Jetzt hatte er die Chance zu reden – und schwieg. Er griff nach einem der in Zeitungen eingeschlagenen Päckchen, wickelte das Papier ab und stellte einen der Heiligen Drei Könige auf den Tisch. Magdalena strich die Zeitung glatt. Sonst linste sie gerne in die alten Artikel hinein, doch er griff schon nach der nächsten Figur und befreite sie von ihrer Hülle. Bei Heiners Tempo hatte sie nicht einmal die Chance, die Überschriften zu lesen. Sie legte die Zeitung beiseite und breitete ein Leintuch über den Beistelltisch, auf dem der Stall thronen sollte. In dem Moment seufzte Heiner laut auf und ließ seine Hände sinken. „Es ist nicht zum Aushalten! Da will ich der Frau, die ich über alles liebe, einen Heiratsantrag machen, will wissen, ob sie mich nimmt. Pustekuchen – in ihrem letzten Brief stand, dass ihre Familie und sie ein paar Tage zu Verwandten fahren und erst heute Nacht von dort zurückkehren – Esther und ich treffen uns deshalb erst morgen.“

Seine Ungeduld fand sie verständlich, aber da klang noch mehr an. „Ich dachte, du wärest längst im Reinen mit ihr. Ihr kennt euch seit drei Jahren, habt ihr eure Zukunftspläne wirklich noch nicht besprochen?“

„Im Grunde schon, aber mein Übertritt klappt nicht und damit bricht die Voraussetzung für die Einwilligung ihrer Eltern weg. Also muss ich erst mit Esther reden und klären, wie sie unter diesen Umständen zu mir steht.“

„Braucht ihr die Zustimmung ihrer Eltern denn?“

„Nein, das nicht. In ein paar Wochen wird Esther einundzwanzig.“

„Na also. Damit ist sie volljährig.“

„Nichts, na also! Sie ist gläubig …“

„Wie lange weißt du schon, dass du nicht zum Judentum konvertieren kannst?“ Magdalena griff nach einem der kleineren Päckchen und wickelte ein Schäfchen aus. Sie gönnte ihrem Bruder das Glück mit Esther von Herzen, trotzdem war sie insgeheim froh, dass er katholisch blieb. Die Leute im Dorf hätten Heiner den Abfall von der Kirche nie verziehen. Ihm in Düsseldorf machte die Verachtung der anderen vielleicht nichts aus. Aber ihre Familie und sie mussten hier leben.

„Seit ungefähr sechs Wochen.“ Ihr Bruder hielt Maria in Händen und stellte sie neben den bärtigen, sehr viel älteren Joseph, den er zuvor ausgepackt hatte.

„Und du hast ihr die ganze Zeit keinen Ton davon gesagt?“ Ihr Blick blieb an dem ungleichen Paar hängen. Wieso war er so verzagt? Fürchtete er, als Krüppel mit einer Unterschenkelamputation nicht gut genug für die acht Jahre jüngere Esther zu sein?

„Ich habe ihr einen Brief geschrieben, aber nicht abgeschickt. Ich muss sie sehen, wenn ich ihr sage, wie die Dinge stehen. Wenn ich Esthers Ja-Wort habe, treten wir gemeinsam vor ihre Eltern und ich werde um sie kämpfen. Aber erst muss ich wissen, wie sie reagiert.“

Was für eine vertrackte Situation.

„Triffst du sie morgen bei ihren Eltern?“ Magdalena wickelte das nächste Päckchen aus, begutachtete das Jesuskind mit seinen drallen Armen und speckigen Beinen und legte den Wonneproppen in die Krippe. Ihr Sohn hatte deutlich weniger Fett auf den Rippen.

„Ist das hier die heilige Inquisition?“, fragte Heiner halb im Spaß, halb im Ernst. „Ich habe sie in meinem letzten Brief gebeten, mir morgen Mittag mit ihrem Bruder ein Stück entgegenzugehen. Wenn sie meinen Antrag annimmt, begleite ich sie nach Hause und stehe für uns ein. Wenn alle Stricke reißen, bleibe ich bis nach der Mitternachtsmette, um ihren Vater zu beweisen, wie ernst es mir mit dem Übertritt war.“

„Muss das sein? Damit brüskierst du die Leute im Dorf!“ Dass jeder in Wingert seine Sonntagspflicht erfüllen und – zumal an Weihnachten – die Messe besuchen musste, wenn er nicht von der Gemeinschaft geächtet werden wollte, wusste er ganz genau. Das brauchte sie ihm nicht zu erklären.

„Wenn ich Esther sonst nicht kriege?“ Heiner seufzte. „Außerdem hast du heute selbst die Sonntagsmesse geschwänzt!“

„Na, hör mal! Das ist etwas ganz anderes! Ich komme gerade erst aus dem Kindbett!“ Magdalena stemmte ihre Fäuste in die Hüften, während er ungerührt den Ochsen auspackte. „Seit Martins Geburt habe ich mich noch nicht wieder in der Öffentlichkeit gezeigt.“

Heiner runzelte die Stirn. „Fabrikarbeiterinnen können von so einem Luxus nur träumen. Die müssen spätestens drei Wochen nach der Entbindung wieder ranklotzen – achtundfünfzig Stunden in der Woche. Und weil ihr Lohn hinten und vorne nicht reicht, stehen manche mir sonntags Modell.“

„Und die Kinder?“ Magdalena dachte an ihren Sohn, den sie nur mit sorgsamer Pflege durchgebracht hatte.

„Landen meist in Heimen oder Waisenhäusern. Anders geht es nicht. Ihre Großmütter schuften oft selbst noch in der Fabrik und Krippenplätze sind rar.“ Heiner platzierte einen Schäfer, der Ausschau nach einem verlorenen Lamm hielt, etwas abseits von den anderen Figuren. „Die Frauen müssen aus Not heraus arbeiten gehen. Dazu sollte keine Mutter gezwungen sein.“

„Da sind wir einer Meinung.“ Manchmal vergaß Magdalena über ihren Sorgen die Dankbarkeit: Selbst in schlechten Zeiten hatten ihre Familie und sie immer genug Essen und ein Dach über den Kopf gehabt.

Während Heiner die Figuren in der Krippe zurechtrückte, sammelte sie die Zeitungen zusammen. Ihr Bruder erbat eine weitere Decke und verwandelte die Kiste kurzerhand in einen Hügel auf dem die Heiligen Drei Könige samt Kamel ihren Platz fanden. Zuletzt traten sie ein paar Schritte zurück und betrachteten das Krippenspiel. Edel sah es aus. Aber eins stand fest: Im nächsten Jahr, wenn Martin ein Krabbelkind war, würde sie Figuren aus Holz aufstellen. „Heiner …“

„Hm?“ Er zuckte zusammen, als sie ihm ihre Hand auf den Arm legte. Vermutlich hatte er an Esther gedacht. „Ich wünsche dir alles Glück der Welt für morgen.“

Muttergefühle

24. Dezember 1923

Magdalena saß in dem mit dunkelgrünem Samt bezogenen Ohrensessel in der Stube und stillte Martin. Matthias schmierte ihr ein Brot, schnitt es in handliche Häppchen und setze den Teller mit ihrem Frühstück auf den kleinen Beistelltisch in ihrer Reichweite.

„Was war denn heute Nacht mit ihm los?“

Abwechselnd hatten Matthias und sie das brüllende Kind herumgetragen und vergebens versucht, es zu beruhigen.

„Wenn ich das wüsste.“ Endlich war der kleine Vielfraß satt. Bäuchlings legte Magdalena Martin auf ihren Unterarm und er hob den Kopf, zumindest versuchte er es.

„Schau dir unseren kleinen Kämpfer an, Lenchen!“

Die neue Position schien ihrem Sohn recht gut zu behagen. Allerdings nicht sehr lange, schon quengelte er wieder los.

„Bleib sitzen und iss.“ Matthias nahm ihr das Kind ab und vergaß dabei nicht, Martins Kopf zu stützen. „Na du, willst du in die Küche? Oder lieber hinüber zu Tante Berta in die Blaue Forelle?“

Martin gluckste, während Magdalena ihr Frühstück verspeiste.

„Ich sehe schon, das ist die richtige Richtung. Wollen wir weiter zum Laden der Ferber-Schwestern?“

Martin zog eine Schnute.

„Oha, möchtest du etwa nach Düsseldorf zu Onkel Heiner? Tja, das hast du nicht richtig durchdacht. Der ist doch hier. Und, was sagst du dazu?“

Das Bäuerchen, das Martin gequält hatte, löste sich.

Magdalena kicherte. „Da hast du deine Antwort.“

„Zu schade, dass ich in die Schiefergrube muss. Bis nachher, ihr zwei.“ Matthias reichte ihr das Kind.

Nachdem er die Tür geschlossen hatte, legte sie ihren Sohn behutsam in die Wiege und breitete ein mit Daunen gefülltes Kopfkissen über ihn. Sein Federbett. Der Bezug zeigte den gestiefelten Kater, der fröhlich pfeifend durch eine hügelige Landschaft in Richtung einer Burg wanderte. Ihre Freundin Friederike hatte die Zeichnung Heiners zufällig in die Finger bekommen, seine Zustimmung eingeholt und daraus ein Geschenk für Martin angefertigt.

Der Kleine schaffte es irgendwie, die Arme aus der Decke zu befreien. Er ruderte mit den Händen herum und quäkte leise. Magdalena sank gähnend in den Ohrensessel. Ob sie überhaupt alles richtig machte? Seit sie selbst Mutter geworden war, vermisste sie ihre eigene mehr denn je. Sie wischte über ihre feuchten Augen, beugte sich vor und schubste die Wiege sanft an. Leise knarrten die Kufen auf den Dielen hin und her. Martins Protest wurde schwächer. Als er ganz abgeflaut war, ließ Magdalena ihre Hand sinken. Endlich Ruhe! Eigentlich hätte sie jetzt aufstehen und nach nebenan in die Küche gehen sollen, um bei den Vorbereitungen für das Weihnachtsessen zu helfen. Hüpfende Schritte, die vor der Tür abrupt Halt machten. Sie sprang auf. Einen Moment zu spät.

„Mutter schickt mich“, krähte ihr Neffe Frieder unbekümmert. Goldblonde Locken umspielten ein Engelsgesicht. Haarfarbe und blaue Augen hatte der Junge von ihrer Schwägerin Antonia geerbt. Abgesehen davon glich er seinem verstorbenen Vater, Magdalenas ältestem Bruder Lorenz, Zug um Zug. In seinen Händen hielt Frieder eine große, wohl nicht allzu schwere Schachtel.

„Pst! Nicht so laut!“

„Wiegenkinder sind blöd. Die schlafen immer bloß …“

Wenn es nur so wäre!

„Da ist eine Tüte mit Plätzchen drin. Gefällt dir das Papier? Ich habe die Weihnachtsbäume darauf selbst gedruckt. Papa hat Kartoffelstempel für mich geschnitzt.“ Alphons, Antonias zweiter Mann, zog Lorenz Kind wie sein eigenes groß und ihr Neffe lief ihm hinterher wie ein Hündchen.

„Was für eine schöne Idee! Sag deinen Eltern herzlichen Dank. Ich habe auch etwas für dich.“ Gefolgt von ihrem neugierigen Neffen eilte sie in die Küche hinüber.

Zwei gerupfte Gänse lagen auf dem mit einem Wachstuch geschützten Tisch. Einige Flaumfedern waren auf den Boden gefallen. Die restlichen steckten in einem Stoffbeutel und würden als Ersatz für verklumpte in Kissen oder Bettdecken dienen. Traudl, die Köchin, rief die jungen Mägde an den Tisch.

„Die sind ja schon tot“, maulte Frieder. „Das Schlachten hätte ich mir gern mal angeschaut. Mama wird immer böse, wenn ich sage, dass ich zugucken will.“

„Da hat sie recht. Das ist nichts für kleine Kinder“, gab Magdalena zurück.

„Ich bin schon sechs!“

Die mollige Traudl wandte den Kopf zu ihnen um und lachte. „Kinderwille Kälberdreck und wer ihn tut, der is ein Depp.“

„Pff!“ Frieder machte kehrt und stapfte in die Stube zurück.

Magdalena kniete beim Küchenschrank nieder. In dem Abteil für Krimskrams lagerten derzeit einige Plätzchentüten und Zuckerzeug: Bonbons und Karamellen.

„Wenn die Gäns gerupft sin, müsst ihr die Federkiele abflammen.“ Mit dem Schürhaken zog die Köchin die Abdeckung eines der Kochfelder beiseite und entfernte die Eisenringe, die für unterschiedlich große Töpfe gedacht waren. Feuer züngelte aus der Öffnung empor. Als Traudl das Tier über die Flammen hielt, stieg Magdalena der strenge Geruch verbrannter Federn in die Nase.

„Jetzt bist du dran, Ida. Und gib acht! Soll ich Ihnen unterdessen einen Malzkaffee kochen, gnädige Frau?“, fragte Traudl.

„Nein danke. Wie ich sehe, hast du alles wunderbar im Griff.“

Die Köchin strahlte. Mit einer Tüte Naschwerk in der Hand ging Magdalena zur Stube zurück. Die Tür war zugezogen. Sie drückte die Klinke herunter. Frieder stand mit dem Rücken zu ihr an der Wiege. Lächelnd trat sie näher. Dass sein kleiner Vetter ihn doch interessierte, hatte sie nicht erwartet.

„Schau einmal, hier sind ein paar …“ Der Rest des Satzes blieb ihr im Hals stecken. Ein Schreckenslaut entfuhr ihrer Kehle. „Was tust du da?“ Die Tüte mit den Plätzchen glitt Magdalena aus den Fingern und fiel mit einem leisen Schlag zu Boden.

„Er sollte nicht frieren, da habe ich ihn zugedeckt.“ Mit großen blauen Augen sah er unschuldig zu ihr auf und lächelte. „Wenn ich die Decke nicht festhalte, rutscht sie runter …“

„Aber du … du …“

Er presste das Kissen über Martins Mund und Nase! Selbst jetzt drückte er noch zu!

„Sofort weg da!“ Sie packte Frieder und zerrte ihn rüde von ihrem Sohn fort. Er stolperte zurück, ihr war es egal.

„Martin!“ Hastig riss sie das Kissen von dem Gesicht ihres Sohnes.

Einen Moment blieb es still. Ein leises Wimmern. Gott sei Dank. Ihm war nichts passiert! Sie hob ihr Kind aus der Wiege, strich ihm über den Kopf und hielt Martin an ihrer Brust geborgen. Erst jetzt schlug der Schock durch. Ihre Beine zitterten, kalter Schweiß lief ihr den Rücken hinunter. Mit ihrem Sohn im Arm sank sie auf den Sessel und atmete ein paar Mal tief durch. „So etwas darfst du nicht tun! Niemals, Frieder. Hörst du?!“

„Er hat ein bisschen geweint und ich dachte, ihm ist kalt. Mutter sagt, dass Babys es immer warm haben sollen.“ Ihr Neffe beobachtete sie sehr genau. „Hast du dich erschreckt?“

„Ja, sehr!“ Bei ihrer Antwort huschte ein zufriedener Ausdruck über sein Gesicht. Nein, das konnte nicht sein. Er war ein Kind, der Sohn ihres ältesten Bruders – und kein Monster. Trotzdem hätte sie ihn am liebsten an den Schultern gepackt und wütend aus dem Zimmer gejagt. „Wenn wieder etwas mit Martin ist und du helfen willst, holst du in Zukunft bitte mich oder einen anderen Erwachsenen.“

„Das mache ich“, antwortete Frieder fügsam.

Aber es würde kein nächstes Mal geben. Magdalena war fest entschlossen, ihren Sohn nie mehr mit ihm allein zu lassen. Jedenfalls nicht in nächster Zeit. Ob Frieder überhaupt begriffen hatte, was sie derart aufregte? Mühsam schluckte sie ihren Ärger hinunter und beschloss, ihm die Situation zu erklären, da Antonia ihm offensichtlich die elementarsten Dinge nicht beigebracht hatte. „Weißt du, Martin ist noch so klein, er kann deine Hände nicht wegschieben. Er hätte ersticken können, wenn du ihm das Kissen auf Mund und Nase drückst. So etwas darfst du nicht tun, niemals!“

„Oh, ach so“, meinte er. „Wollen alle Frauen Kinder?“

„Alle sicher nicht.“

„Meine Mutter möchte unbedingt eine Schwester für mich haben. Mich fragt sie gar nicht.“

„Würdest du dich denn über ein Geschwisterchen freuen?“

„Nein, ich glaube nicht.“

Aus einem Impuls heraus kniete Magdalena vor ihm nieder. „Aber es ist doch schön, wenn du jemanden zum Spielen hast.“

„Was soll ich denn mit einem Mädchen spielen?“

„Vielleicht wird es ein Brüderchen?“

„Mama will aber ein Mädchen. Und wenn es weint, bin bestimmt ich schuld. Ich bin immer an allem schuld.“

„Wolltest du darum nicht, dass Martin schreit?“

„Ja!“ Frieder schniefte. „Ich dachte, du sagst es der Mama. Die schimpft sogar, wenn ich Spinnen die Beine ausreiße. Du verrätst mich doch nicht? Sonst krieg ich Haue.“

„Nein, das mache ich nicht, das verspreche ich dir.“ Von den Erziehungsmethoden ihrer Schwägerin hielt Magdalena nicht gerade viel und sie hoffte nur eins, dass Martin später einmal nicht so über sie redete wie Frieder über seine Mutter.

Er deutete auf die Cellophantüte, die am Boden lag. „Ist die für mich?“

Magdalena nickte.

Frieder holte sie und besah die Plätzchen von allen Seiten. „Na ja, ein paar sind noch heile. Ich muss jetzt gehen.“

Erleichtert atmete Magdalena auf. Sie legte Martin in seine Wiege zurück, lauschte seinen Atemzügen und beobachtete ihn, sein zartes Gesicht mit der kleinen Nase. Irgendwann wurde sie ruhiger, schließlich gähnte sie sogar. Aber schlafen? Höchstens kurz die Lider schließen …

***

Als sie die Augen öffnete, saß Heiner schräg gegenüber auf dem dunkelgrünen Sofa mit dem Nussbaumumbau, in den ein ovaler Spiegel eingelassen war. Zu Lebzeiten ihrer Schwiegermutter hatte keine der Mägde oder gar Magdalena es je gewagt, stehen zu bleiben und ihre Konterfeis zu bewundern. Selbst Wochen nach Lieselottes Tod befolgten sie dieses ungeschriebene Gebot noch. Ihr Bruder hielt einen Stift in der Hand, ein Zeichenblock lag vor ihm.

„Malst du etwa mich?“ Sie schaute zur Wiege und die Erinnerung kam wieder hoch. Frieder mit dem Kissen über Martin gebeugt.

„Hätte ich dich wecken und um Erlaubnis bitten sollen?“

„Wie lange sitzt du denn schon da?“

„Ungefähr seit einer Stunde.“

„Ausgerechnet heute nicke ich einfach ein!“ Martin! Wie hatte sie schlafen können?

Heiner legte den Stift beiseite. „Die Zeichnung interessiert dich nicht? Du mit offenem Mund, sichtlich schnarchend.“

„Zeig her!“, befahl sie gespielt streng.

„Wie gnädige Frau wünschen.“ Er trat an die Wiege und reichte ihr das Blatt.

Den Sessel, die Wiege und ihren Körper hatte er mit ein paar Strichen skizziert, ihren linken Arm auf der Lehne nur angedeutet. Die rechte Hand lag im Schoß, den Kopf hielt sie nach unten geneigt und ein wenig zur Seite gedreht. Die kurzen, dunklen Locken umkringelten die Wangen. Ihre Gesichtszüge waren deutlich sorgfältiger ausgearbeitet. Die geschlossenen Lider, der leicht geöffnete Mund, die kleine Stupsnase. Sah sie wirklich so aus? Zierlich und schmal, beinahe wie ein übermüdetes Kind – und gleichzeitig mütterlich? Dabei fehlte ihr jeder Instinkt. Sonst wäre sie nicht so vertrauensselig in die Küche gegangen, um Plätzchen zu holen.

Heiner beugte sich über die Wiege und musterte ihren Sohn. „Wenn meine Erinnerung mich nicht trügt, sieht er genauso aus wie unser Neffe in dem Alter.“

„Das stimmt nicht“, fuhr sie auf. „Die beiden gleichen sich kein bisschen!“

„Du klingst verärgert? Hat Frieder etwas angestellt?“

Sollte sie ihm die Wahrheit sagen und aus einer Mücke einen Elefanten machen? Frieder war ein Kind! Er hatte es nicht böse gemeint. „Ich bin einfach nur todmüde und erschöpft.“

„Dann geh hoch und leg dich hin. Ich kümmere mich so lange um den Kleinen.“

Magdalenas Blick ging aus dem Fenster und wanderte von der Blauen Forelle schräg gegenüber zu ihrem Elternhaus. Inzwischen wohnte Antonia mit ihrem zweiten Mann dort. Es war direkt an den Tanzsaal der Gastwirtschaft angebaut, einen ehemaligen Stall – und seit sie Matthias vor vier Jahren in ihr neues Zuhause gefolgt war, sah sie die Gebäude von dieser Warte aus.

Magdalena hielt das Bild, das ihr Bruder gezeichnet hatte, immer noch in den Händen. Sie zwang sich zu einem Lächeln und gab es ihm zurück. „Die Zeichnung wäre ein wunderbares Weihnachtsgeschenk für Matthias.“

„Vielleicht zusätzlich.“

Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete sie Herrn Kornbach, der mit seinem Sohn die Straße entlang Richtung Wald hochmarschierte. Ob sie Holz schlagen wollten?

„Ich habe mich gestern über den Kornbach gewundert. Der hat Matthias und mich kaum gegrüßt.“

„Wir gelten als Judenfreunde. Das passt seiner neuen Frau nicht. Insbesondere du stehst im Blickpunkt des Interesses. Jeder im Ort weiß, wohin es dein Herz zieht.“

„Haben die nichts Besseres zu tun, als über mich zu klatschen?“, fragte ihr Bruder kopfschüttelnd.

„Offensichtlich nicht. Die neue Frau Kornbach ist im Hetzen ganz groß und ihr Mann frisst ihr aus der Hand. Sie ist in München aufgewachsen und eine glühende Anhängerin Adolf Hitlers und seiner Ideen. Bei jeder Gelegenheit plappert sie etwas von ‚Deutschland den Deutschen‘ und dass Juden die ‚Ursache allen Übels‘ seien.“

„Ein Glück, dass die Hitler-Partei nach dem November-Putsch verboten worden ist.“

„Du solltest sie mal von dem Kerl schwärmen hören. Ein schöner Mann sei er, ihr Idol, und wie er reden könne …“

„Der gelackte Affe schön? Hoffentlich verschwindet der lange hinter Gittern. Und jetzt geh nach oben und ruh dich aus. Dein Sohn ist in den besten Händen.“

„Das will ich meinen.“ Lydia, die Cousine ihres Schwiegervaters, eine hagere, hochgewachsene ältere Dame, die Matthias und Heiner noch ein Stück überragte, trat mit ihrem Strickzeug in der Hand ein. Ursprünglich war sie gekommen, um Matthias Mutter zu pflegen, inzwischen stand sie Magdalena mit Rat und Tat zur Seite und war ihr eine unentbehrliche Stütze geworden.

Im Schlafzimmer warf Magdalena einen Blick auf die Uhr. Kurz nach neun. Noch vier Stunden, bis ihr Bruder Esther die entscheidende Frage stellen würde. Sie war selbst ganz aufgeregt.