Leseprobe Jahre des Umbruchs

Hochzeitswalzer

27. September 1919

Schlag Mitternacht! Magdalena nahm Tanzhaltung an und musste lächeln. Ihr Ehemann hielt sie deutlich dichter an seine Brust gepresst als von der Etikette vorgeschrieben. Die Geiger spielten die ersten Takte von Johann Strauß’ „An der schönen blauen Donau“ und schon drehten sie sich beschwingt im Kreis. Ohne zu zögern, überließ sie Matthias die Führung.

„Endlich bist du dort, wo du hingehörst“, flüsterte er ihr zärtlich zu. „Bei mir, an meinem Herzen.“

Sein warmer Atem streifte ihre Wange. Der leichte Hauch erzeugte ein sanftes Kribbeln und einen wohligen Schauer in ihr. Glück durchströmte Magdalena wie eine Quelle, die in ihrem Inneren sprudelte. Matthias’ Nähe, seine Wärme und seine Hand an ihrem Rücken versetzten sie in eine erwartungsvolle Spannung. Bald schon würde sie neben ihm im Bett liegen … Knopf für Knopf werde ich dein Kleid öffnen und jedes Stück Haut küssen, das zum Vorschein kommt, hatte er am Nachmittag in der Scheune zu ihr gesagt.

Forschend sah er sie an. „Woran denkst du, Liebste?“

„An nichts Besonderes.“ Magdalena spürte, wie ihr das Blut heiß ins Gesicht schoss. Als anständige Frau durfte sie ihm doch nicht eingestehen, dass sie an später dachte.

Ob Matthias wohl ahnte, welche Empfindungen er in ihr entfachte? Bei diesem Gedanken stolperte Magdalena beinahe über ihre eigenen Füße und die Wirklichkeit hatte sie wieder. Noch waren sie in der Blauen Forelle – mitten auf der Tanzfläche.

„Schenk ein, Johann!“, brüllte Michael, der Mann ihrer besten Freundin Constanze. Sein hellblonder Schopf stach neben den dunklen Flechten seiner Frau besonders auffällig heraus.

Der Tanz endete. Das war das Zeichen für ihre Ziehschwester Berta und Constanze, die Braut nach nebenan in den Gastraum zu führen, wo die unverheirateten Mädchen sich versammelt hatten. Ein lautes Stimmengewirr, Kichern und Zigarettenrauch schlugen Magdalena entgegen. Vorsichtig lösten ihre Begleiterinnen die Haarnadeln aus dem Schleier. Den zarten Stoff drückten sie ihr in die Hand. Berta verband ihr die Augen mit einem schwarzen Seidentuch, geleitete sie mit Constanze zu den wartenden Mädchen und drehte sie im Kreis, bis Magdalena protestierte.

„Hört auf, mir wird schwindelig.“ Lachend und mit ausgestreckten Armen spielte sie die „Blinde Kuh“. Schon nach zwei Schritten hatte sie ein „Opfer“ erhascht. Sie löste die Augenbinde. Vor ihr stand eine von Matthias’ Cousinen. Ein blondes Mädchen, das errötend zu den Burschen am anderen Ende des Raumes hinübersah. Magdalena setzte ihr den Schleier auf, den Berta und Constanze feststeckten. Die Junggesellen johlten, als Matthias sein Einstecktuch in die Runde der Burschen warf. Der junge Mann, der es ergatterte, eilte herbei und bat das selig lächelnde Mädchen um den nächsten Tanz. Ein großer Tross begleitete die beiden zum Tanzsaal.

„Das ist die Gelegenheit“, flüsterte Matthias ihr zu.

Verstohlen strebten sie auf den Ausgang zu. Nur noch an einem vollbesetzten Tisch und einer Magd der Gronaus vorbei, die ein Tablett mit schmutzigem Geschirr zur Küche brachte.

„Wollt ihr etwa schon gehen? Das kommt nicht infrage. Der Matthias und ich haben noch nicht ordentlich angestoßen.“

Magdalena fand den bulligen, rotgesichtigen Mann, der sie ansprach, nicht sonderlich sympathisch. Am frühen Abend hatte sie einmal mit ihm getanzt. Ihre armen Füße! Puh, wenn er im Leben genauso rücksichtslos zutrat.

Er packte Matthias am Arm. „Deine junge Stute kannst du noch früh genug einreiten.“

„Hast du denn gar keine Manieren? Solche Reden in Gegenwart meiner Frau zu schwingen“, fuhr Matthias ihn an.

Das grölende Gelächter am Tisch brach ab.

„Hab dich nicht so, wegen eines harmlosen Scherzes.“ Der Kerl winkte den Wirt herbei. „Schenk dem Bräutigam ordentlich was ein und ich könnt’ auch Nachschub gebrauchen!“

Johann, Bertas Mann und Pächter der Blauen Forelle, nahte mit einem Tablett und setzte allen in der Runde randvoll gefüllte Schnapsgläser vor die Nase. Ein paar leere sammelte er ein, zwinkerte Magdalena zu und eilte mit dem benutzten Geschirr zur Küche. Sie tauschte einen Blick mit Matthias und beschloss, ihn seinem Schicksal zu überlassen. Diesem ungehobelten Menschen würde sie keine Gesellschaft leisten. Sie machte kehrt, blieb da und dort stehen und tauschte ein paar Worte mit den Gästen an den anderen Tischen.

Weiter vorne entdeckte sie eine hochaufgeschossene Gestalt, deren vorgestreckter Kopf und runder Rücken das Bild einer Schildkröte in ihr heraufbeschwor. Offensichtlich strebte der junge Mann mit der schlechten Haltung zum Tanzsaal. Sie erwischte ihn ein paar Schritte vor der Tür.

„Herr Burger?“

Hellwache Augen hinter runden Brillengläsern musterten sie eindringlich. Er war es tatsächlich. Den angehenden Kollegen hatte ihr der Dorflehrer vor fünf Jahren bei Bertas Hochzeit vorgestellt.

„Was für ein Zufall. Ich habe Sie gesucht, Magdalena Scholtes.“

„… und ich Sie gefunden, obwohl ich jetzt Gronau heiße.“

„Darf ich Ihnen gratulieren, gnädige Frau.“

„Sehr gerne, danke. Es tut mir leid, dass ich Sie vorher nicht bemerkt habe, sonst hätte ich Sie eher begrüßt.“

„So unverschämt, mich selbst zu Ihrem Fest einzuladen, bin ich nicht“, entgegnete er lachend. „Ich logiere hier. Ihre Freundin Berta war so nett, meine Reservierung trotz der Feierlichkeit aufrechtzuerhalten.“

„Dann war der Aufenthalt länger geplant? Verbringen Sie Ihren Urlaub in der Gegend?“

Ein wehmütiger Ausdruck huschte über sein Gesicht, während er ihre Züge eingehend betrachtete. „Ich bewerbe mich um die Nachfolge von Herrn Lehrer Lanz. Zudem wollte ich die Bekanntschaft mit einem jungen Mädchen vertiefen, das bislang in Trauer war.“

Meinte er damit etwa sie?

„Natürlich plante ich auch, bei meinem Kollegen vorbeizuschauen, der mich für die Stelle empfohlen hat. Noch ist die Sache nicht spruchreif.“

„Keine Sorge, ich erzähle es nicht weiter. Hat Herr Lanz Sie schon empfangen können?“ Obwohl Magdalena dem Dorflehrer als Kind manche der zehn Plagen an den Hals gewünscht hatte, bedauerte sie von Herzen, dass er in einen der ersten Giftgasangriffe der Feinde geraten war. Seine Lungen hatten sich von dem Schaden nicht mehr erholt.

„Bei jedem Wort, das er spricht, ringt er um Atem. Es ist schwer zu ertragen, hilflos neben ihm zu sitzen.“ Eugen seufzte. „Ich hätte eher herkommen sollen.“

Magdalena beschloss, diese Bemerkung taktvoll zu übergehen. „Haben Sie nicht Lust, ein wenig mitzufeiern, um auf andere Gedanken zu kommen?“

Nach kurzem Zögern antwortete er: „Wenn ich Sie um den nächsten Tanz bitten darf, gnädige Frau?“

Sie neigte den Kopf. „Gerne.“

„Dann hoffe ich nur, dass ich Ihre Füße nicht zu sehr malträtiere.“

„Wie nett von Ihnen, mich vorzuwarnen.“ Magdalenas Lachen erstarb, als ihre Schwiegermutter unvermittelt aus einer dunklen Ecke des Saales auf sie zusteuerte.

„Wo steckt denn Matthias? Ich habe ihn aus den Augen verloren.“

„Er sitzt dahinten bei …“ Magdalena wies Richtung Tür.

„… Wilhelm Zänder. Er ist ein Cousin deines Mannes. Besser, du merkst dir den Namen“, tadelte ihre Schwiegermutter sie scharf. „Und wer ist dieser Herr?“

„Darf ich dich mit Eugen Burger bekannt machen, liebe Schwiegermama, einem Kollegen von Herrn Lanz. Er war Gast auf Bertas Hochzeit.“

Lieselotte reichte ihm huldvoll die Hand. Eugen verneigte sich und machte einen vorschriftsmäßigen Diener. Irgendwo im Saal lachte jemand. Wortfetzen drangen an Magdalenas Ohren, während zwischen ihnen Dreien angespanntes Schweigen herrschte. Ein ungezwungenes Gespräch mit ihrer Schwiegermutter zu führen, war ihr in der gesamten Verlobungszeit nicht gelungen. Die Musiker spielten ein neues Stück. Mariposa, einen flotten Foxtrott, dessen Rhythmus ins Blut ging.

„Unser Tanz.“ Eugen reichte Magdalena den Arm, führte sie aufs Parkett und sie reihten sich bei den anderen Paaren ein. „Dass Sie meinen Vornamen noch kennen, hätte ich nicht gedacht.“

„Sie waren auf Bertas Hochzeit so nett zu mir.“

„Demnach bin ich Ihnen in guter Erinnerung geblieben?“

„In sehr guter. Außerdem haben Sie mich angeschwindelt, Herr Burger. Sie tanzen ausgezeichnet.“

„Finden Sie? Meine sechs Schwestern haben mir jegliches Talent abgesprochen.“

Sie lachte noch, als Matthias auftauchte. Er trat an sie heran und tippte Eugen an die Schulter, um sie abzuklatschen. Anstandslos überließ ihr Tänzer ihm seinen Platz, verneigte sich und ging mit schnellen Schritten davon.

Matthias’ Blick tauchte in ihren, wanderte weiter zu ihrem Mund und von da hinunter zu ihrem Busen. Magdalena stockte der Atem.

„Ich wollte, wir wären allein.“ Matthias schluckte hörbar, während er ein wenig Abstand zwischen sie legte. „Ich sollte das Thema wechseln, sonst wird es peinlich.“

„Gut, reden wir von etwas anderem. Ein Wunder, dass du überhaupt noch tanzen kannst, bei den Mengen an Schnaps, mit denen sie dich abfüllen.“

„Neidhammel sind das, die haben einen seltsamen Sinn für Humor.“

„Was meinst du damit?“, fragte sie verblüfft.

„Wie soll ich es sagen.“ Matthias’ Lippen streiften ihr Ohr. „Wenn ein Mann zu besoffen ist, begehrt er sein Mädchen zwar noch. Doch sein bestes Stück bringt das, was es soll, nicht mehr zustande …“

„Damit hast du offensichtlich keine Probleme.“

„Weil ich nicht daran denke, mir die Hochzeitsnacht verderben zu lassen.“

„Aber du trinkst doch unentwegt.“

„Stimmt. Allerdings füllt Johann, der Prachtmensch, meine Gläser seit geraumer Zeit mit Wasser. Die anderen sind längst so angeheitert, die kriegen von unserer kleinen Abmachung nichts mit.“ Matthias grinste verschmitzt.

„Wie wäre es, wenn wir durch die Gartentür verschwinden?“, schlug Magdalena ihrem Liebsten vor.

„Was für eine glänzende Idee.“ Er zog ihre Hand an die Lippen.

Sie strebten geradewegs auf die Küche zu, als eine stark parfümierte, üppige alte Dame in einem raschelnden silbergrauen Seidenkleid samt altmodischer Taillenschleppe heranrauschte. Ihr unscheinbarer Mann blieb zwei Schritte hinter ihr stehen.

„Junge Liebe ist etwas Wunderbares. Doch wenn erst einmal der Alltag eingezogen ist …“ Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wir wollen uns von deinen Eltern verabschieden. Habt ihr sie irgendwo gesehen, Matthias?“

„Nein, leider nicht, Tante Ernestine.“

„Dann wünschen wir euch noch eine schöne Feier. Eduard, komm.“

Ihr Gatte nickte ihnen gottergeben zu und folgte seiner Frau.

„Meinst du es stimmt?“, fragte Magdalena ihren Liebsten beklommen. „Frisst der Alltag die Liebe auf?“

„Doch nicht unsere!“

Nachdenklich sah sie dem ungleichen Pärchen nach. Tante Ernestine hatte ihre Schwiegermutter gefunden. Die alte Dame sagte etwas zu ihr und Lieselotte schaute lächelnd zu Matthias hinüber. Doch als ihr Blick Magdalena streifte, flammte blanker Hass in ihren Augen auf. Im nächsten Moment war der Ausdruck jedoch wieder verschwunden.

„Magdalena …?“

Ob es nur Einbildung gewesen war? Sie war sich nicht sicher.

„Entschuldige, ich war kurz abgelenkt …“

In der Küche wurden sie freudig von den Ferber-Schwestern begrüßt. Alle Drei hatten Schürzen über ihre dunkle Festtagskleidung gebunden, was die ohnehin auffallende Familienähnlichkeit ihrer rundlichen Gesichter zusätzlich betonte. Selbst heute, wo sie eigentlich mitfeiern sollten, konnten oder wollten sie nicht aus ihrer Haut: Sie hielten Geschirrtücher in den Händen.

Linda, die Älteste, stupste Berta an, die mit dem Rücken zu ihnen am Spülstein stand. „Guck doch mal, wer da ist.“

Magdalenas Ziehschwester wandte den Kopf. „Ihr wollt euch heimlich rausschleichen, stimmt’s?“

Sie nickten.

Berta trocknete die Hände rasch an der Schürze ab, eilte zum Büffet und holte etwas heraus. „Nimm den Frisierumhang und häng ihn über dein Kleid. Dat is ne gute Tarnung. Dat Weiß is zu auffällig.“

„Du bist ein Schatz.“ Magdalena entfaltete den Stoff, warf ihn über und band eine Schleife unter ihrem Kinn. „Ich danke dir.“

Berta rückte den Umhang zurecht und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Einen Moment, ich bin gleich wieder da.“

Unwillkürlich sah Magdalena ihr nach und musste auf einmal an die denken, die der Tod ihr entrissen hatte. Ihre Eltern und Lorenz, den unbekümmerten, ältesten Bruder.

„Braucht ihr Licht“, fragte Linda. „Draußen is et finster. Wartet, ich zünd euch eins an.“

Ein Streichholz zischte, ein Flämmchen leuchtete auf.

Berta kehrte mit einer Kappe in der Hand zurück und drückte sie Matthias in die Hand. „Hier, die zieh über.“

„Wunderbar, danke!“ Er setzte sie auf, zog sie tief in die Stirn und griff nach der Sturmlampe. „Ihr seid die Besten.“

Linda öffnete die Hintertür und spähte hinaus. „Da ist gerad’ keiner. Schnell, fort mit euch.“

„Danke für eure Hilfe!“ Zusammen mit ihrem Liebsten huschte Magdalena hinaus in den Garten.

Dunkelheit umfing sie und kühle Luft, die unverkennbar nach Kuhdung roch. Matthias fasste nach ihrer Hand und hielt die Lampe so, dass sie den Weg erkennen konnten. Ein Hund bellte in der Ferne. Bei einer der Hecken kraspelte etwas in den trockenen Blättern, irgendein Nager oder ein Igel.

Bevor sie verstohlen wie Diebe aus dem Garten schlichen, warf Magdalena einen flüchtigen Blick auf die Blaue Forelle und ihr Elternhaus, das an die Wirtschaft angebaut war. Ihr zukünftiges Heim lag gleich gegenüber. Sie wandte den Kopf, fasste nach Matthias’ Hand und überquerte gemeinsam mit ihm die Straße. Seite an Seite betraten sie den Hof. Vor der massiven Eingangstür machten sie Halt. Matthias war ihr so nah, dass sie seine Wärme spürte und sein Rasierwasser roch. Würziger Zypressenduft gemischt mit dem von Kräutern und Heu.

„Meine Magdalena, meine Liebe, mein Leben.“ Er presste seine Lippen auf ihren Mund.

Sein Kuss schmeckte nach Wein, wurde leidenschaftlicher, schmeckte nach mehr. Obwohl sie aufgeregt und vor dem ersten Mal ein bisschen ängstlich war, erwiderte sie seine Zärtlichkeiten hingebungsvoll. Viel zu schnell löste er seine Lippen von ihren.

„Uns wird niemals etwas trennen, das schwöre ich dir. Gott segne deinen Einzug.“ Er reichte ihr die Lampe, öffnete die Tür und legte ihr einen Arm um die Taille. Den anderen schob er unter ihre Knie. Wie ein Federgewicht hob er sie hoch und trug sie über die Schwelle ins Innere seines Elternhauses. Ohne sie abzusetzen, schloss er die Tür.

„Lass mich runter!“

„Nein.“

„Ich bin doch zu schwer.“

„Dass ich nicht lache.“

Auch bei den Gronaus führte eine Treppe von der Küche in den ersten Stock. Dort lag ihr Zimmer. Während er durch den Flur auf die Stufen zuschritt, stieg ihr der intensive Duft von Lavendel und Kernseife in die Nase. Sie durchquerten das Reich ihrer Schwiegermutter. Hastig schob Magdalena den Gedanken an Lieselotte und ihren verstörenden Blick beiseite. Sie lehnte den Kopf an Matthias Schulter, lauschte seinem Atem und spürte sein Herz schlagen. Ihres klopfte bis zum Hals.

Antonias Verehrer

28. September 1919

Seufzend massierte Antonia Scholtes ihre pochenden Schläfen mit Mittel- und Zeigefingern und strich zwischendurch die Falten auf ihrer Stirn glatt. Nach dem Abendessen hatten die Ferber-Schwestern und Berta sie mit den Worten „Sie solle auf der Hochzeit ihrer Schwägerin Spaß haben“ in den Festsaal geschickt. Hier saß sie nun. Zwar nicht allein, aber dennoch einsam und viel zu nüchtern unter den angeheiterten Gästen. Die Pärchen an ihrem Tisch brachen unglücklicherweise zum Tanzsaal auf, als ein Tango gespielt wurde. Nur ihr Sitznachbar blieb zurück, ein Mann um die Mitte dreißig, der sich prompt erhob. „Darf ich bitten.“

Ein auffallend rotes Gesicht, ein eigenartig dürrer Hals und ein fliehendes Kinn zeichneten ihn aus und Antonia verspürte nicht die geringste Lust, diesen sinnlichen Tanz mit ihm zu absolvieren.

„Danke, nein, ich bin Witwe.“

„Ich weiß, ich habe mich nach dir erkundigt. Du warst mit dem ältesten Bruder der Braut verheiratet. Wilhelm Zänder, ich bin ein Vetter des Bräutigams. Ledig und sehr gut situiert.“

„Ich wüsste nicht, dass ich Ihnen erlaubt hätte, mich zu duzen.“

Irgendwer am Nachbartisch brach in lautes Gelächter aus, andere fielen ein. Ein dröhnender Missklang in ihren Ohren.

„Liebe, verehrte Cousine, wir sind doch über Braut und Bräutigam verschwägert“, gab er verdattert zurück.

„Eine sehr weitläufige Verwandtschaft. Daher verbitte ich mir diese Vertraulichkeit.“

„Aber ich möchte dich näher kennenlernen.“

„Sie sind ein unverheirateter Mann und ich bin Witwe. Im Gegensatz zu Ihnen, kann ich es mir Gerede nicht leisten.“ Antonia brach ab, verärgert darüber, dass ihr der letzte Satz herausgerutscht war. Näher kennenlernen. Einem Kerl sah die Dorfgemeinschaft, sah die Gesellschaft alles nach. Männer durften sich austoben. Wenn ein Bursche bei einem Mädchen zum Schuss kam und hinterher mit seinem Heldenstück prahlte, klopften die anderen ihm dafür anerkennend auf die Schulter. Sofern eine Frau – ob nüchtern oder in angetrunkenem Zustand – einem Mann derart offene Avancen machte wie dieser Wilhelm ihr, hätte sie den Ruf einer verkommenen Schlampe für alle Zeit weg. Was für eine erbärmliche Heuchelei!

Ihr Nacken kribbelte. Sie wandte den Kopf und entdeckte ihren Oberknecht in ein angeregtes Gespräch mit Johann versunken. Wie immer machte Alphons eine gute Figur. Nicht nur auf Festen, sondern auch im Alltag achtete er peinlich darauf, adrett auszusehen. Seine Fingernägel wiesen allenfalls schmutzige Ränder auf, wenn er direkt von der Feldarbeit kam. Mit längeren Bartstoppeln hatte Antonia ihn noch nie gesehen. Zudem verwendete er Rasierwasser wie die feinen Herren aus der Stadt, benutzte reichlich Pomade und den Scheitel trug er stets schnurgerade gezogen. Gutes Benehmen hatte er sich auch irgendwo abgeguckt. Und was genau ging sie das an? Ob er ihren Blick bemerkt hatte? Jedenfalls kam er auf sie zu.

„Ist mit Ihnen alles in Ordnung, Frau Scholtes?“ Alphons Stimme ging ein bisschen schleppend, ganz nüchtern war er sicher auch nicht mehr. Mitgefühl schwang in seinen Worten, als er weitersprach: „Sie sehen ein wenig blass aus.“

Ahnen konnte er es nicht, aber sie hasste diesen Tonfall. Bist du wieder traurig, meine Kleine? Ich weiß etwas, das dich trösten wird. Erinnerungen an ihren Onkel überfluteten sie. Die geheuchelte Anteilnahme, bevor das Monster über ihre Hand strich, ihre Wangen, ihre Schenkel … Egal, ob jung oder alt, dick oder dünn, groß oder klein, hübsch oder hässlich. Männer waren alle gleich. Viel zu heftig fuhr sie Alphons an: „Selbst wenn dem nicht so wäre, was ginge dich mein Befinden an?“

„Eine Menge“, erwiderte er offener, als es sonst seine Art war. „Ich wünsche keinem Menschen, dass es ihm nicht gut geht oder gar, dass er krank wird. Am wenigsten Ihnen. Aber ich bin Ihr Angestellter. Insofern betrifft es mich schon, wenn Ihnen etwas fehlen würde. Außerdem haben Sie einen kleinen Sohn, an den Sie bei allem denken müssen.“

Lorenz’ Kind. Wie konnte Alphons es wagen, Frieder zu erwähnen? Empört wollte Antonia ihm über den Mund fahren, hielt aber inne. Denn sie kannte die Antwort. Mehr noch als sein leiblicher Onkel Heiner vertrat er die Vaterstelle an ihrem Sohn. Aufmerksam musterte sie sein Gesicht. Seine braunen Augen sahen ein bisschen glasig aus, jedoch ohne den verschleierten Blick und das gierige Verlangen, das sie bei anderen, bei Wilhelm, anwiderte. Ihr Ärger verflog.

„He du, Kerl, verzieh dich gefälligst in den Stall, wo einer wie du hingehört! Mein Cousinchen und ich wollen uns ungestört unterhalten.“ Wilhelms Aussprache war feucht.

Als ein Speicheltropfen Antonias Wange traf, wischte sie ihn angeekelt weg. Ihr reichte es. Entschlossen schob sie den Stuhl zurück und erhob sich. „Mir ist tatsächlich nicht gut. Ich gehe nach Hause. Auf Wiedersehen.“

Sie nickte dem Vetter des Bräutigams kurz zu.

„Aber … ich … dachte, dass wir beide, also dass du und ich …“ Wilhelm packte sie am Handgelenk. „Bleib halt!“

„Loslassen! Lassen Sie mich sofort los!“ Keiner, kein Mensch durfte sie ungefragt anfassen. Sie holte mit der freien Hand aus. Doch Alphons hatte den Mann blitzschnell gepackt. Um ihren Oberknecht nicht aus Versehen zu treffen, ließ sie den Arm sinken.

„Hast du Frau Scholtes nicht gehört? Nimm deine dreckigen Pfoten von ihr oder ich verpass dir eine Tracht Prügel, die du dein Lebtag nicht vergisst.“

Breitbeinig stand Alphons da. Sehr groß war er nicht, aber drahtig. Seine zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen gaben seinem eher gutmütigen, etwas weichen Gesicht einen harten Ausdruck.

Der perplexe Wilhelm ließ locker. Antonia war frei.

„Sag doch gleich, dass du es mit deinem Knecht treibst“, zischte er bösartig. „Da brauchst du bei mir nicht die Prüde zu spielen, du Fotz…“

Mit voller Wucht schlug sie in sein widerlich grinsendes Gesicht, das Klatschen bereitete ihr zumindest eine kleine Genugtuung. Sie wirbelte zu Alphons herum. „Und du? Meinst, mir helfen zu müssen, und machst alles nur schlimmer.“

„Wat is dat denn?“ Ein paar Männer vom Nachbartisch waren aufmerksam geworden, stießen sich gegenseitig an und verrenkten die Köpfe. „Wat is die Antonia denn heut für ne Furie, Alphons.“

„Weibersleut! Wer weiß schon, wat in denen vorgeht.“ Johann brachte eine Flasche mit Schnaps an den Tisch und schenkte Wilhelm ein Glas voll. „Komm, ich geb dir auch einen aus, Alphons. Dat beruhigt die Gemüter.“

Die Männer am Nachbartisch lachten.

„Na, wegen mir.“ Alphons ging zu ihnen und drehte einen Stuhl um. Rittlings nahm er darauf Platz.

Mühsam versuchte Antonia Haltung zu bewahren. Bei dem Gedanken daran, dass Wilhelm sein Gift weiterversprühte und ihre Ehre in den Schmutz zog, ballte sie in hilflosem Zorn die Fäuste. Sie wählte den Weg zur Küche der Blauen Forelle und war froh, dass die Verbindungstür zwischen ihrem Haus und der Gastwirtschaft nach wie vor existierte. Jetzt über den Hof gehen zu müssen: Vorbei an Besoffenen, die in die Büsche spien, an Festgästen, die vor dem Häuschen beim Misthaufen Schlange standen, oder Kerlen, die dort ungeniert Wasser abschlugen. Vor der Vorstellung grauste ihr – heute besonders. Auf dem Küchentisch stapelten sich benutzte Gläser. Sie machte Platz für eine Magd der Gronaus, die eine Schüssel mit Gulaschsuppe auftrug.

„Na so wat, gehst du schon?“ Linda hängte Geschirrhandtücher zum Trocknen über die Leine im Eck neben dem Herd. „Zu meiner Zeit haben wir bis zum frühen Morgen getanzt.“

„Besser, ich wäre bei euch geblieben.“ Antonia seufzte. Die Frauen würden ohnehin von dem Vorfall erfahren, also schilderte sie kurz, was geschehen war.

„Ach, der Willi, den nimmt keiner Ernst“, winkte Berta ab. „Lass dich nit beirren.“

Die drei Ferber-Schwestern nickten zustimmend. Dabei sah Antonia förmlich, wie es in den Köpfen der Frauen ratterte. Alphons und seine Herrin? Konnte es sein? Steckte hinter dem Gerücht vielleicht ein wahrer Kern? Wenn schon diese Vier zweifelten, was würden dann die anderen denken? Antonia durchquerte den Raum und hielt auf eine dunkle Tür zu, die Verbindung zwischen der Gastwirtschaft und ihrem Haus. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss, das Heiner nach dem Tod seines Vaters auf ihren Wunsch hatte anbringen lassen, und wünschte den Frauen eine „gute Nacht“. Sie trat über die Schwelle, schloss die massive Tür, sperrte ab und schob den Riegel vor. Zu lauschen hatte keinen Zweck. Selbst wenn sie ihr Ohr ans Holz presste, hörte sie nur, dass gesprochen wurde. Die Worte konnte sie nicht verstehen.

Das Flämmchen einer Petroleumlampe wies ihr den Weg zum Ofen. Sie öffnete die Klappe. Die orangerote Glut glomm auf. Antonia legte ein paar dürre Ästchen und ein Scheit nach. Oben, unter dem Dach ihres Hauses, schliefen ihr zweijähriger Sohn und ihre Mägde. Die beiden Mädchen könnten tausend Eide schwören, dass ihre Herrin keine unziemlichen Herrenbesuche empfing. Es würde nichts nutzen. Aufstöhnend sank Antonia auf die Bank. Sie stützte ihre Ellenbogen auf die Tischplatte, barg ihren Kopf in den Händen und schmeckte das Salz ihrer Tränen. Eine Weile blieb sie reglos sitzen. Genug geheult! Zornig wischte sie die Feuchtigkeit mit ihren Fingern fort. Sie musste nachdenken.

Schmerzhafte Begegnungen

28. September 1919

Heiner saß in einer dunklen Ecke, wo er sein Bein ausstrecken konnte, ohne dass jemand über die Prothese stolperte. Er hatte sie länger getragen als gewöhnlich und sein Stumpf schmerzte. Vielleicht sollte er das Fest verlassen und auf sein Zimmer gehen? Wie von selbst wanderte sein Blick zu Constanze. Die beste Freundin seiner Schwester. Das erste Mädchen, das ihn geküsst hatte. Sie ließ fast keinen Tanz aus und er beneidete jeden Mann, der sich mit ihr im Kreis drehte. Der seine Hand auf ihren Rücken legen, ihren Duft riechen, ihre Wärme und die Seide ihres blauen Kleides unter seinen Fingern spüren durfte. Ihr schwarzes, hochgestecktes Haar glänzte, die dunklen Augen blitzten. Ihre Wangen waren mittlerweile gerötet. Ihr weiter Rock schwang herrlich um ihre schlanken Fesseln.

Hör auf, du Narr! Sieh anderswohin!

Wilhelm suchte eindeutig Streit. Offensichtlich ging es um Antonia, die den Saal kurz zuvor verlassen hatte. Jede Wette, da würden im Lauf des Abends noch die Fetzen fliegen.

„Der Schlampe sollte es mal ein richtiger Kerl besorgen …“

„Halt’s Maul!“ Alphons’ zorniger Gesichtsausdruck sprach Bände.

„Hurt die nur mit dir herum oder rutschen alle Knechte …“

„Jetzt reicht’s!“ Wutschnaubend sprang Alphons auf. Sein Stuhl polterte zurück. Er streifte sein Jackett ab, drückte es einem seiner Freunde in die Hand und krempelte die Hemdsärmel hoch. „Ich warte draußen.“

Ohne darauf zu achten, wie Wilhelm reagierte, stürmte er los. Die Männer am Tisch hielt es genauso wenig auf ihren Plätzen wie Heiner. Das Ganze ging erstaunlich leise und verstohlen über die Bühne. Damit die Weibersleut nicht auf die Auseinandersetzung aufmerksam wurden und ihnen den Spaß verdarben.

„Wird’s bald, Willi. Auf geht et, raus mit dir!“

Diese Prügelei wäre ein gefundenes Fressen für Lorenz gewesen. Der hätte Alphons angefeuert und sicher auch selbst mitgemischt. Die Begeisterung seines älteren Bruders für solch raue Auseinandersetzungen hatte Heiner nie uneingeschränkt geteilt, selbst als er noch kein Krüppel gewesen war. Er verwarf den Gedanken, hinauszugehen. Er tat besser daran, seine Prothese abzulegen. Er humpelte hinaus auf den Flur. Als er die erste Stufe in Angriff nahm, tippte jemand ihm auf die Schulter. Er zuckte merklich zusammen.

„Entschuldige, habe ich dich erschreckt?“

Die Stimme der Frau, zu der sein Sehnen ging. Er wandte den Kopf. Dunkle Haare, ein blaues Kleid. „Constanze? Du? Ich habe dich nicht kommen hören.“

„Wie auch, bei dem Lärm …“ Musik drang vom Tanzsaal herein und die Hochzeitsgäste unterhielten sich lautstark miteinander.

„… ich will mich noch ordentlich von dir verabschieden, vorhin kam uns Friederike dazwischen und ich konnte dir nicht so Lebewohl sagen, wie es um mein Herz bestellt ist. Auch wegen Michael nicht …“

Sie redete eigentümlich viel und schnell.

„… ein bisschen eifersüchtig ist mein Mann nämlich auf dich, seit ihm einer seiner Freunde gesteckt hat, dass du mein erster Schwarm warst. Also dachte ich mir, wenn er hinausgeht, packe ich die Gelegenheit beim Schopf. Es gibt doch eine Schlägerei?“

„Alphons Freunde und dein Mann werden nicht zulassen, dass Wilhelm kneift, obwohl er sich noch ziert. Aber es ist schon spät. Ich bin auch morgen Vormittag noch im Lande.“

„Da fahren wir in aller Frühe nach Merzig. So oft wie vorher kann ich meinen Bruder nicht mehr in der Irrenanstalt besuchen, wenn das Kind erst da ist.“ Sie legte eine Hand auf ihren gewölbten Bauch. „Mutter sagt, dass du letzthin bei ihm warst?“

„Leider geht es Carl nicht besser. Dieser verfluchte Krieg hat ihn zerstört …“

„… und uns alle verändert. Eigentlich sollte ich dir böse sein. Du wärest hochgegangen, ohne ein Wort zu mir zu sagen. Ich dachte, wir wären Freunde.“

„Das sind wir.“ Er reichte ihr die Hand. „Verzeih mir, ich wollte nicht stören. Dann also hier und jetzt: Leb wohl, Conni. Alles Gute für dich und dein Kind.“

„Du humpelst ein wenig. Hast du Schmerzen im Stumpf?“

„Gut beobachtet.“ Statt zum Tanzsaal zurückzukehren, blieb sie stehen. Er wusste nicht wie, Treppensteigen bereitete ihm längst keine Schwierigkeiten mehr, aber er verfehlte die nächste Stufe. Er schwankte und packte den Handlauf fester.

Constanze war sofort bei ihm. „Ich begleite dich.“

„Unsinn! Wenn dich einer sieht.“

„Keiner wird etwas dabei finden, wenn ich dir behilflich bin.“

Klar, er war halt ungefährlich. Ein Krüppel und kein Mann. Sie wich nicht von seiner Seite, bis sie oben vor seinem Zimmer standen. Er drückte die Klinke hinunter. „Danke, Conni. Also dann, auf Wiedersehen.“

Constanze schlüpfte nach ihm ins Zimmer hinein und schloss die Tür von innen. „Du wunderst dich und hältst mich für aufdringlich. Glaub nicht, dass ich das nicht merke. Heiner, ich will dich nicht ärgern. Ich möchte, also ich wollte … allein mit dir sein, weil ich mich bei dir entschuldigen muss.“

„Wofür denn?“ Verwirrt sah er sie an. Wenn sie nicht an ihren Ruf dachte, war es seine Pflicht, sie daran zu erinnern: „Bitte, du solltest nicht hier sein!“

„Hör mich einfach an. Es tut mir leid, dass ich dich, nun ja, immer wieder mit meiner Zuneigung belästigt habe.“ Sie brach ab, schien verlegen.

„Wovon redest du?“ Er begriff schlichtweg nicht, worauf sie hinauswollte.

„Nicht nur damals, als ich noch ein halbes Kind war und dich auf die Wange geküsst habe.“

Redete sie von dem unschuldigen Schmatzer, den sie ihm gegeben hatte, als er in den Krieg ziehen musste?

„Obwohl einem Jungen wie dir das sicher besonders unangenehm war … Ich hatte ja keine Ahnung, dass manche Männer nicht … also nicht mit Frauen.“

Heiner starrte sie sprachlos an. Hielt ausgerechnet sie ihn für einen, der sich zu seinem eigenen Geschlecht hingezogen fühlte? Das kam unerwartet – und wenn es nicht so bitter gewesen wäre, hätte er laut aufgelacht. Ging dieses Gerücht über ihn etwa im Dorf um? Warfen sie ihm ernsthaft vor, dass er nicht hinter jedem Rock herrannte? Oder dass er, im Gegensatz zu vielen seiner Kriegskameraden und Lorenz, keine Lust gehabt hatte, zu käuflichen Mädchen zu gehen und sich mit Tripper und Syphilis anzustecken?

„Mich …“ Zieht es nicht zu Männern! Mit Mühe würgte er den Impuls ab, der ihn dazu drängte, heftigen Protest gegen Constanzes Annahme einzulegen.

War es nicht das Beste für sie alle, wenn er sie in ihrem Irrtum beließ? Na gut, sollte sie ihn für einen vom anderen Ufer halten.

„Bist du mir jetzt böse, weil ich es erwähnt habe?“ Ihre Stimme klang längst nicht mehr so fest wie am Anfang.

Sie machte eine Pause, also erwartete sie irgendeine Antwort von ihm. „Du brauchst nicht weiterzureden. Danke, danke für … alles. Du bist sehr mutig. Wenn du mich dann bitte entschuldigst. Ich muss mein Bein hochlegen.“ Sollte er seinen Worten Nachdruck verleihen? Sollte er Licht machen? Platz nehmen, anfangen, seine Prothese abzuschnallen? Vor ihr? Unschlüssig stand er da, kehrte ihr schließlich den Rücken zu und griff nach Lorenz’ Sturmfeuerzeug. Es lag auf dem Nachttisch. Da es recht klobig war, hatte er es nicht in die Hosentasche seines guten Anzugs gesteckt. Während er die gewohnten Handgriffe ausführte, das Glas der Lampe hochschob und den Docht ansteckte, gewann er seine Fassung zurück. Das Lämpchen flackerte. Schließlich wandte er sich um. Das Licht beschien Constanzes Gesicht mit seinem schwachen Schein.

„Es tut mir leid, ich hätte nicht davon anfangen sollen. Es ist viel einfacher, sich ein Gespräch vorzustellen, als es zu führen. Eigentlich wollte ich dir nur sagen, dass es mir egal ist. Also, wen du liebst …“ Sie schluchzte auf. „Weil ich dich immer mögen werde. Ich meine … als Freundin. Alles Gute, Heiner.“

Ihre Augen glänzten feucht.

„Leb wohl und lass es dir gut gehen, Conni!“ Zu seiner Überraschung machte sie einen Schritt vor, legte die Arme um seinen Hals und wollte ihn zum Abschied auf die Wange küssen. Wie schon einmal vor fünf Jahren. Ihre Lippen streiften sein Kinn und fanden seinen Mund. „Lass sie los, schieb sie sofort weg!“, mahnte der bessere Teil in ihm. Er wollte nicht auf ihn hören, konnte nicht und küsste sie zurück.

Mit Inbrunst tat er das, was er schon den ganzen Tag hatte tun wollen. Er küsste sie, wie er sie im letzten Jahr hätte küssen sollen, sehnsüchtig und leidenschaftlich. Als ob es nur das Heute und kein Morgen gäbe. Aufstöhnend vergrub er seine Hände in ihrem seidenweichen Haar, spürte ihren gerundeten Bauch, der gegen seinen Körper drückte, ihre Finger in seinem Schopf und wollte sie nicht mehr loslassen. Ihr Duft und ihre Nähe erregten ihn. Er begehrte sie – spürbar. Deswegen schämte er sich nicht. Sie war es, die ihre Arme sinken ließ und erschrocken zurückwich.

„Aber … du, … also …“

„Nein, Conni, ich bin es nicht, ich war’s nie. Sondern einfach nur anders als Lorenz und die meisten Burschen im Dorf, die es mit jeder treiben. Und dumm war ich, ein verfluchter Idiot. Zu stolz, dir zu zeigen, was ich für dich fühle. Es tut mir leid.“ Er hatte keine Ahnung, was er mehr bedauerte: Dass er damals nicht mutig genug gewesen war, ihr seine Liebe zu gestehen? Oder diesen Kuss und ihre Umarmung, die ihn dazu zwangen, die jämmerliche Wahrheit zu offenbaren.

„Sag das nicht.“ Sie strich ihm zärtlich über die Wange. „Es war doch auch mein Fehler. Ich wollte nicht mehr warten. Außerdem, was hätte daraus werden sollen? Hier wärest du nicht glücklich geworden. Michael ist ein guter Mann und ich liebe ihn. Das ist die reine Wahrheit.“

Warum klangen ihre Worte dann nach Lüge?

„Leb wohl, Heiner, vergiss mich …“

„Du weißt, dass ich das nicht kann.“

„Ich sollte mich nicht darüber freuen und tue es trotzdem.“ Sie riss die Tür auf. „Leb wohl!“

„Bitte, bleib!“, hätte er am liebsten laut hinausgeschrien. „So in Tränen aufgelöst, kannst du nicht hinunterlaufen. Bleib bei mir, Conni! Jetzt, für immer!“ War es denn unmöglich, einen Fehler wieder gutzumachen? Er wollte sie nicht gehen lassen. Er hörte ihr Weinen, ihre Schritte auf dem Flur und der Treppe. „Conni, warte …“

„Nein, bitte, Heiner, leb wohl …“

Was sollte er tun? Ihr nachlaufen? Sie auf Knien anflehen, ihn nach Düsseldorf zu begleiten? Eine schwangere, verheiratete Frau? Er blieb stehen, lauschte ihrem schnellen Treppab und schloss die Tür.

Draußen im Hof johlten Männer. Heiner öffnete den Verschluss seiner Prothese. Den künstlichen Unterschenkel stellte er an seinen Platz in der Ecke, riss das Fenster auf und spähte hinaus. Die Straßenlaterne beschien die Gesichter der Umstehenden. Fratzen, die voller Spannung auf das Schauspiel warteten, das die zwei Kontrahenten ihnen liefern würden. Die Zuschauer eines Gladiatorenkampfs im Trierer Amphitheater dürften ähnliche Begeisterung gezeigt haben. Er sah sie förmlich in dem Oval sitzen. Die beiden Gegner, Wilhelm und Alphons, unten in der Arena – mit Kurzschwert und Schild bewaffnet. Schließlich beugte er sich vor und griff zu Skizzenblock und Bleistift, beides lag neben ihm auf dem Nachttisch. Das Spektakel hatte begonnen …

***

Alphons grinste und spuckte aus. Kein schlechter Schlagabtausch, bis jetzt! Wobei Geben seliger denn Nehmen war. Ein Eimer kaltes Wasser über den Kopf hatte seinen Kontrahenten und ihn einigermaßen nüchtern gemacht. Aber die Wut auf Wilhelm war deswegen noch lange nicht verflogen. Sein Gegner war fast einen Kopf größer als er und mit einer entsprechenden Reichweite gesegnet. Zum Ausgleich für dieses Manko war er selbst deutlich schneller und beweglicher als der schwerfällige Koloss. Er roch Wilhelms Schweiß, aber auch seinen eigenen.

„Schlag zu, Alphons!“ Die Männer, die unter seiner Leitung für Antonia arbeiteten, feuerten ihn begeistert an. „Ja, so is et gut, hau drauf.“

Er stand in geduckter Haltung und seitlich zu Wilhelm, dem er dadurch wenig Angriffsfläche für einen Schlag bot. An seiner eigenen Deckung gab es nichts auszusetzen, die seines Gegners wies mittlerweile eine Lücke auf. Wilhelm war während des Kampfs nachlässig geworden und hatte seine Fäuste ein wenig sinken lassen. Alphons Rechte schnellte vor. Ein harter Treffer landete in Wilhelms Gesicht. Nase und Lippen bluteten und er taumelte zurück. Gut so!

Alphons setzte nach, schlug mit der Linken zu und rammte seinem Gegner die Faust in den Bauch. So fest, dass sie schmerzte. Stöhnend ging Wilhelm in die Knie. Der Kerl war bedient.

Alphons schüttelte beide Hände aus. „Wenn du noch mal deine Lügen verbreitest, hau’ ich dich zum singenden Ascheneimer, also halt in Zukunft die Fresse.“

Wilhelm, der auf den Boden gesunken war, wischte seine aufgeplatzte Unterlippe ab und nickte.

„Dat hast du gut gemacht!“ Zwei Kameraden klopften Alphons auf die Schultern, nahmen ihn in ihre Mitte und stiefelten los. „Dat wird gefeiert.“

Na, so etwas, oben in der Gastwirtschaft stand Heiner mit Zeichenblock am offenen Fenster.

„Noch ein Zuschauer.“ Alphons winkte ihm zu. „Los, komm halt runter und sauf einen mit, wenn wir dir schon als Motiv gedient haben!“

Heiner lachte. „Na gut, das bin ich dir wohl schuldig.“

„Ich bleib aber noch ein paar Minuten draußen“, rief Alphons ihm zu. „Die frische Luft tut mir gut.“ Was hatte er sich nur dabei gedacht? Antonia würde toben, wenn sie erfuhr, dass er sich wegen ihr mit Wilhelm geprügelt hatte. Er seufzte. Die Zuschauer verzogen sich in die Blaue Forelle. Wilhelm hockte gedemütigt am Boden. Dem war es sicher nicht eilig, in die Gastwirtschaft zu kommen.

Erstaunt bemerkte er Heiner, der auf seine Krücken gestützt in den Garten hinausspähte. Wie kam der so schnell her? Vielleicht auf dem Treppengeländer hinuntergerutscht?

„Achtung, hinter dir!“ Heiner riss eine seiner Krücken hoch und hüpfte los.

Alphons wirbelte herum. Wilhelm! Gehört hatte er ihn nicht. Sein Gegner hielt etwas Helles, Faustgroßes in der erhobenen Hand, die der Dreckskerl blitzschnell hinuntersausen ließ. Alphons riss seinen rechten Arm hoch. Der harte Schlag traf ihn mit voller Wucht. Greller Schmerz überflutete ihn. Stöhnend sackte er zusammen …