Leseprobe Das Erbe der Freiheit

1

Saint-Malo, Mai 1688

Grau. Wie die Zeit zwischen Nacht und Tag, nur dass diese Nacht niemals vergeht.

Ich sah an mir hinab. Immer nur grau, tagaus, tagein. Farbe meines Kleides, Farbe meines Lebens. Grau wie die Fassade des Hauses, in dem ich lebte, wie die ganze Kalksteinstadt und die Mauern, die sie umgaben.

Das Quietschen des Fensters schmerzte in meinen Ohren, als ich beide Flügel aufstieß, um mehr Licht in den hohen Raum zu lassen. Ich beugte mich hinaus, sog die frische Morgenluft ein und reckte den Hals, um einen Blick auf die Bürgersfrauen zu erhaschen, die die nahe Querstraße entlang nach Saint-Vincent schritten. Sie folgten dem Klang der Glocken, die zum Gottesdienst riefen, und ihre goldbestickten Hauben und samtenen Gewänder glänzten in der Frühsommersonne. Ich drängte das aufkeimende Neidgefühl zurück und rückte mein eigenes schlichtes Leinentuch auf dem Kopf zurecht.

Wenigstens muss ich mich nicht in ein Korsett schnüren lassen!

Lautes Lachen zwang mich, in die entgegengesetzte Richtung zu schauen. Die drei halbwüchsigen Söhne der Nachbarsfamilie und ihre jüngere Schwester waren einmal mehr ihrer Kinderfrau entwischt und tollten in der Gasse umher, während sich die Ärmste mühte, sie wieder einzufangen. Mein Blick blieb an dem Mädchen haften. Die Wangen gerötet und eine Stoffpuppe umklammernd, versuchte sie, mit ihren Brüdern Schritt zu halten. Trotz der Anstrengung kicherte sie so heftig, dass sie sich verschluckte. Ich musste die Augen schließen. War ich je ein Kind gewesen? Ich konnte mich nicht erinnern …

Das Glockengeläut dröhnte durch den Morgen, doch nach mir rief es nicht. Sonntag, Tag der Ruhe und des Gebets. Nicht jedoch für Dienstmädchen. Nicht im Hause Bellier.

»Lianne!«

Die Stimme übertönte das Läuten wie ein Peitschenknall. Ich riss die Augen auf.

»Denkst du, eine solche Faulheit steht dir zu?«

Java stand im Morgenrock in der Tür und rümpfte die Nase. Das strohblonde Haar fiel ungekämmt über ihre Schultern, die in mühevoller Arbeit aufgedrehten Ringellöckchen des Vortages hatten sich in schlaffe Wellen verwandelt.

»Ich bin nicht faul!«

Auch wenn ich meine Tätigkeit kurz unterbrochen habe, bin ich wenigstens angezogen zu dieser Stunde!

Ich biss mir auf die Unterlippe, um der Versuchung zu widerstehen, den Gedanken laut zu äußern. Ein leichtes Kopfschütteln angesichts der Widersinnigkeit der Anschuldigung erlaubte ich mir dagegen.

»Sei nicht so patzig, Dienstmagd! Du dachtest wohl, alle seien in der Kirche und du könntest müßig sein, was?«

»Warum seid Ihr nicht in der Kirche, Mademoiselle Java?« Mühsam hielt ich meine Stimme im Zaum. Ich war mir meiner Stellung bewusst, doch die verzogene Tochter des Hauses brachte mich regelmäßig dazu, innerlich vor Wut zu schäumen.

»Keine Lust.« Das Mädchen hob die Schultern, sichtlich bemüht, Gleichgültigkeit zu zeigen, obgleich seine Augen blitzten. »Nachdem wir gestern endlich einmal Gesellschaft hatten, wollte ich mir nicht den Morgen mit dem Singsang des Pfarrers verderben. Ich sagte, dass ich mich unwohl fühle, da hat Vater mir gestattet, zu Hause zu bleiben.« Sie warf ihr Haar zurück. »Er tut eben immer, was ich will!«

»Schön für Euch.«

Ich wandte mich wieder meinem Wassereimer und der Bürste zu, kniete nieder und fuhr fort, die Dielen im Arbeitszimmer des Hausherrn zu schrubben. Dies tat ich jede Woche, sobald der Herr zur Kirche ging. An allen anderen Tagen war es mir verboten, den Raum allein zu betreten.

Java reckte den Hals, was unnötig war, da ich ohnehin schon am Boden hockte. Wenn man sie so sah, wusste man, woher der Ausdruck hochnäsig rührte.

»Ich wünsche, mein Mittagessen heute im Bett einzunehmen!« Damit schlug sie die schwere Eichenholztür hinter sich zu.

Das Krachen ließ mich zusammenfahren, obwohl ich die übliche Art Javas, ein Zimmer zu verlassen, längst kannte. Sie würde ihrem Vater erzählen, dass sie mich untätig erwischt hatte, und den Bericht gewiss noch gehörig ausschmücken. Es hätte mir gleichgültig sein können, wäre das Verhältnis zu meinem Herrn nicht in letzter Zeit äußerst angespannt gewesen. Ich hatte keine harte Strafe zu befürchten, und doch wurde mir bang. Ich kannte Javas Boshaftigkeit und machte mir keinerlei Hoffnung, dass sie bei der Wahrheit bleiben würde. Seit ihrer Kindheit war sie zu maßlosen Übertreibungen und Niedertracht fähig wie zu kaum etwas anderem.

Das Mädchen war nur ein knappes Jahr jünger als ich, und ich konnte mich deutlich an Java in ihren frühen Jahren erinnern. Dagegen schien es mir, als sei ich selbst nie Kind, sondern immer schon Dienstmagd gewesen. Ein Ereignis aus meinen ersten Tagen im Hause der Familie Bellier erschien mir so lebhaft vor Augen, als sei es erst gestern geschehen.

 »Putz meine Schuhe!«, fauchte die winzige Java und warf mir ihre Pantoffeln vor die Füße. Ich hob sie schweigend auf und betrachtete sie von allen Seiten. Verkrusteter Matsch bedeckte das Leder. Mein Blick ging zum Fenster; die Sonne brannte vom Himmel, wie schon seit Tagen. Der Boden musste staubtrocken sein …

Seufzend blickte ich auf meine nassen Hände hinab, die die Bürste hielten. Die Haut war rau und aufgesprungen, und auf meinem rechten Handrücken breitete sich ein wässriger Blutfleck aus. Ich rutschte auf Knien voran, bearbeitete gründlich Stück für Stück den Boden des Arbeitszimmers, damit der Herr nur ja keinen Grund fand, mich zu sich zu rufen. Durch das geöffnete Fenster drang das Sonnenlicht herein, schaffte es jedoch nicht, die Düsternis aus dem Raum zu verdrängen. Zu viel dunkles Holz, zu viel Schwere. Zu viel von meinem Herrn. Ich schüttelte mich und arbeitete schneller.

Das Glockengeläut endete mit dumpfem Nachhall, und in der folgenden Stille war mein Schrubben das einzige Geräusch. Ich hielt inne und lauschte. Offenbar hatte das Kindermädchen von nebenan Erfolg gehabt. Auch in unserem Hause war kein Laut zu hören. Bald jedoch würde es vorbei sein mit der Ruhe. Aus der Küche würde das Scheppern von Töpfen und Geschirr erklingen, die donnernde Stimme des Herrn und Javas verlogenes Jammern. Nur meine Herrin verursachte kaum je Geräusche. Obgleich sie nur einmal wöchentlich ausging, um die Kirche zu besuchen, schien es stets, als sei sie gar nicht vorhanden. Äußerlich ähnelte sie Java mit ihrer hellen Haut und dem blonden Haar, sie war jedoch von viel zarterer Gesundheit. Madame musste häufig das Bett hüten oder saß im Sessel und stickte. Sie aß selten mit der Familie. Brachte ich ihr stattdessen einen reich gefüllten Teller auf das Zimmer, so sah er, wenn ich ihn später wieder abholte, so aus, als hätte lediglich ein Vögelchen daran gepickt. Die wenigen Worte, die sie an mich richtete, waren stets freundlich. Laute Äußerungen und jegliche Art von Aufregung schienen sie zu schwächen, sodass sie darauf verzichtete. Ganz im Gegensatz zur übrigen Familie …

Der Gedanke an meinen Herrn brachte mich zurück in die Wirklichkeit, und ich fuhr rasch mit dem Schrubben fort. Die Zeit drängte, denn der Boden musste getrocknet sein, wenn Monsieur Bellier aus der Kirche kam. Seit Jahren erledigte ich die immer gleichen Arbeiten gewissenhaft, doch neuerdings hatte ich Mühe, mich zu konzentrieren.

Als Marthe nach mir rief, tat ich eben die letzten Bürstenstriche.

»Komm endlich, Mädchen, das Gemüse putzt sich nicht von allein!«

Ich eilte in die Küche, wusch mir die Hände mit sauberem Wasser und griff nach Messer und Rüben. Es waren einmal mehr die großen blassen Dinger mit dem üblen Geruch anstatt der süßen roten oder dunkelgelben. Nur zu den seltenen Gelegenheiten, wenn die Herrschaften Besuch empfingen, glichen die Mahlzeiten denen der anderen wohlhabenden Familien. Die Köchin berichtete oft von den Köstlichkeiten, die ihre Freundinnen zubereiten durften, und beklagte sich in der Abgeschiedenheit unserer Räume bitterlich über den eintönigen Dienst im Hause Bellier. Rüben, Kohl, derbes Fleisch Tag für Tag. Zu viel Genuss schien dem Hausherrn nicht zu behagen. Wenn Marthe zuweilen frische Kräuter auf dem Markt erstand, um etwas mehr Geschmack an die Gerichte zu bringen, erntete sie bereits Stirnrunzeln.

Die Küche füllte sich eben mit dem wenig angenehmen Duft des Mittagessens, als lautes Poltern die Ankunft des Herrn und seiner geräuschlosen Gattin ankündigte. Die schweren Stiefel krachten auf die Holzdielen, und augenblicklich tönte Javas Wehklagen vom oberen Stockwerk hinab. Ich spähte durch die halb geöffnete Küchentür in die Diele und sah einen Zipfel des blassgelben Kleides der Herrin um die Ecke entschwinden. Nicht einmal der Stoff gab ein Rascheln von sich. Dann erschien die mächtige, dunkle Gestalt des Herrn. Er blieb stehen und wandte sich in meine Richtung. Ich fuhr zurück und hielt den Atem an. Augenblicke später donnerten die Stiefel die Treppe hinauf.

»Dass sich der Herr weigert, nach der Mode zu gehen«, raunte die Köchin und schüttelte ihren runden Kopf. »Dieser Lärm! Und die kostbaren Dielen wird er auch noch zerstören! Wenn ich da an die anderen Herrschaften denke, die feinen Spangenschuhe …«

Marthe sah so entzückt aus, als würde im nächsten Augenblick ein hübsch gekleideter Kavalier in die Küche stolzieren, um sie zum Tanze aufzufordern. Ich musste lächeln. Mein Herr in zierlichen Schuhen? Nein, gewiss nicht. Er genoss seine lautstarken Auftritte zu sehr.

Als hätte ich es heraufbeschworen, ertönte das Poltern der derben Stiefel erneut, und die Küchentür flog auf.

»Meine werte Familie ist wieder einmal unpässlich«, schnaubte der Hausherr. »Da jede der Damen auf ihrem Zimmer zu speisen wünscht, werde ich dasselbe tun.« Er streckte die Rechte aus, und die Köchin reichte ihm eilfertig einen reichlich gefüllten Teller. Wortlos verschwand er in Richtung seines Arbeitszimmers.

Als er fort war, konnte ich wieder atmen. Ich hatte eben begonnen, Rüben und Fleisch für die Damen anzurichten, als ich die Stimme des Herrn meinen Namen bellen hörte. Marthe nahm mir den Fleischspieß aus der Hand und sah mich mitleidig an. Sie dachte wohl, dass ich nun Ärger bekäme. Wenn sie gewusst hätte … Ich schluckte und machte mich auf den Weg über den Flur.

Im Arbeitszimmer angekommen, fiel mein Blick sogleich auf den vergessenen Wassereimer. Ich spürte die Röte in meinem Gesicht aufsteigen, murmelte eine Entschuldigung und wollte den Eimer aufnehmen, doch da stand mein Herr schon dicht neben mir. Ich wagte nicht, ihn anzusehen, und umso deutlicher nahm ich seinen allzu vertrauten Männergeruch wahr. Leder und Schweiß, kaum überdeckt von einem Hauch Parfüm. Ich begann zu zittern.

»Sieh mich an.«

Gehorsam blickte ich zu meinem Herrn auf. Er stand so nah, dass ich den Kopf weit in den Nacken legen musste, um ihm ins Gesicht zu sehen. Er kratzte sich den kurzen, pechschwarzen Bart und musterte mich mit einer mir unerklärlichen Mischung aus Abscheu und Verlangen. Dann nahm er mein Kinn in eine Hand und flüsterte: »Noch biete ich dir ein Geschäft an. Noch. Ich bin es gewohnt zu bekommen, was ich begehre. Und für gewöhnlich gewährt man es mir freiwillig. Insbesondere wenn ich bereit bin zu bezahlen. Doch falls du nicht in meinen Vorschlag einwilligst, so bin ich durchaus in der Lage, mir auch ohne deine Zustimmung zu nehmen, was ich will. Wenn du mein weiches Bett verschmähst, soll es meinetwegen hier auf den Dielen geschehen, die du so brav geschrubbt hast. Ich werde nicht mehr lange warten!«

Er ließ mich los, stieß mich von sich und wandte sich seinem Schreibtisch zu. Ich ergriff den Putzeimer und eilte zur Tür, da ertönte die tiefe Stimme hinter mir.

»Bedenke, ob du mich wirklich zum Feind willst. Solltest du mit dem Gedanken spielen, in einen anderen Haushalt zu wechseln, so sei dir sicher, dass ich das zu verhindern weiß. Du gehörst mir. Ich vermag deinen Ruf in dieser Stadt mit Leichtigkeit zu zerstören. Und wohin würdest du gehen ohne eine neue Anstellung? Zu deiner Mutter

Er spuckte das letzte Wort aus und ließ ein kurzes, spöttisches Lachen hören. Ich floh vor der Stimme, die mich bis in meine Träume verfolgte, hinaus in den Hof, ließ den Eimer fallen und verkroch mich zwischen der aufgehängten Wäsche, bis sich mein Atem beruhigt hatte.

Der Tag verging, ohne dass ich erneut auf den Hausherrn traf. Ich sehnte in jüngster Zeit die Abende herbei, und als ich endlich die Tür meiner Kammer hinter mir schließen und den Riegel vorschieben konnte, war mir, als fiele eine gewaltige Last von meinen Schultern. Ich entzündete eine Kerze, ließ mich auf dem schmalen Bett nieder und nahm meinen Handspiegel vom Nachttisch, das einzig Wertvolle, das ich besaß. Ich wusste, ich hatte ihn mit in den Haushalt der Belliers gebracht, doch die Erinnerung, ob meine Mutter oder eine andere Person ihn mir überlassen hatte, wollte sich nicht einstellen. Und dies war nicht das Einzige, was ich vergessen hatte. Meine Vergangenheit war nur eine Ansammlung von verschwommenen Bildern und Gefühlen …

Mit den Jahren hatte das Silber seinen Glanz verloren und war schwarz angelaufen, doch noch immer schenkte es mir Freude und Trost, dieses winzige Stück Kindheit zu betrachten. Ich fuhr mit dem Finger die eingravierten Blüten auf der Rückseite nach, die zarten Blätter und verschlungenen Ranken, dann drehte ich den Spiegel um.

Ein blasses, müdes Gesicht blickte mir entgegen, mit Augen so grau wie die Haube auf dem Kopf. Ich nahm sie ab, löste das Haarband und schüttelte mich. Glatt und braun fielen die Strähnen über meine Schultern. Wie der Rest von mir war mein Haar nichts Besonderes. Weder strohblond wie Javas noch pechschwarz wie das so vieler Mädchen in dieser Gegend, auch nicht goldlockig wie das meiner jüngsten Schwester. Was fand der Herr nur an mir, dass er mir um jeden Preis näherkommen wollte, notfalls mit Gewalt? Gewiss, mit den Jahren in seinem Hause war ich vom kleinen Mädchen zur jungen Frau geworden, was er jedoch kaum bemerkt haben konnte unter den unförmigen Kleidern, die ich trug. Warum war seine Gleichgültigkeit in Verlangen umgeschlagen? Was sollte ich gegen sein Drängen tun?

Nichts, flüsterte es in mir. Er hat doch recht, wohin sollst du schon gehen?

Auf keinen Fall zu meiner Mutter. Das wäre noch unerträglicher als der Zustand im Haushalt der Belliers. Nichts war so schlimm wie die Kälte, die diese Frau verströmte und die mich jedes Mal umfing, wenn ich sie und meine jüngeren Geschwister besuchte. Am nächsten Tag war es wieder so weit, und schon jetzt breitete sich bei dem Gedanken ein dumpfer Schmerz in mir aus. Am Vormittag würde ich das vornehme Kaufmannshaus meines Dienstherrn verlassen, um meine Verwandten in der Handwerkergasse zu besuchen. In der früheren Schreinerei würde ich meine Mutter treffen und ihr das Geld übergeben, das ich in der vergangenen Woche erarbeitet hatte.

Ich wusste erst seit etwa eineinhalb Jahren von meinen Geschwistern. Nachdem ich in den Haushalt der Belliers gekommen war, hatte ich meine Mutter nicht mehr gesehen. Ich hatte die Frau nicht erkannt, die an meinem sechzehnten Geburtstag im Trauergewand vor mich getreten war, unlängst Witwe geworden und mit zwei kleinen Kindern an den Händen, das dritte im Tuch vor die Brust gebunden. Seit jenem Wintertag, der auf mehr als eine Art frostig gewesen war, erhielt ich den Lohn für meine Arbeit jeden Montagmorgen ausgezahlt und brachte ihn sogleich zu meiner Mutter. So hatte diese es bestimmt, als ich sie nach Jahren wiedergesehen hatte, und ich tat, was sie von mir erwartete. Was sonst hätte ich tun sollen? Mein Leben war die Arbeit. Ich hatte kein Zuhause wie die Köchin, die abends zu Mann und Kindern heimkehrte. Ich war für alle nur das Mädchen. Mein einziges Bestreben durfte es sein, die Herrschaft zufriedenzustellen.

Zu den ersten Besuchen war ich mit der Zuversicht aufgebrochen, bei meiner Mutter ein Stückchen Familie zu finden, etwas Freundlichkeit, vielleicht gar Liebe. Diese Hoffnung hatte sich jedoch als töricht erwiesen, denn bisher war ich jedes Mal enttäuscht und traurig ins Haus der Belliers zurückgekehrt. Die Herzlichkeit meiner Geschwister vermochte mich nicht über die Kälte der Mutter hinwegzutrösten. Irgendwann konnte ich mir nicht mehr einreden, dass sie nur Zeit brauchte, mich kennenzulernen. Ihr Verhalten hatte sich in den vergangenen Monaten nicht verändert. Sie nahm mein Geld an, doch sie gab mir nichts dafür zurück. Und ich erduldete es, obwohl es mir das Herz brach. Meine Mutter war nicht einfach eine kalte Person, denn meinen Geschwistern gegenüber verhielt sie sich überaus liebevoll. Was hatte ich ihr getan, dass sie mich so hasste?

 Ich starrte mein Spiegelbild an. Graue Augen, von Schatten umrahmt, starrten zurück, riesengroß in dem blassen Gesicht. Das einzig Farbige waren die Lippen, die obere zu schmal, die untere zu voll, beide zu rot. War ich jemand, den man hassen musste? Ich war gewiss nicht schön, doch zum Fortlaufen hässlich auch nicht. Und ich hatte, seit ich denken konnte, nie einem Menschen etwas zuleide getan.

Ich drehte den Spiegel hin und her und betrachtete mich von allen Seiten. Sah ich meinem Vater ähnlich? Ich wusste nicht, wer er war, ob er lebte oder bereits tot war. Ich erinnerte mich nicht, ihn je gesehen zu haben, und meine Mutter verweigerte jede Auskunft über ihn.

Ihr ähnelte ich kaum, außer im Wuchs und in wenigen Gesichtszügen. Auch wenn die meiner Mutter so viel verhärmter waren als meine eigenen. Obwohl – zeichneten sich nicht auch auf meinem Gesicht schon die Falten der Bitterkeit ab? Schnell lächelte ich mein Spiegelbild an, und die Züge meiner Mutter verschwanden. Nein, so wollte ich nicht aussehen, wenngleich mein Leben und meine Zukunft nichts Gutes verhießen.

Was wäre wohl aus mir geworden, wäre ich nicht in Armut geboren? Wie oft fragte ich mich, was hinter diesen grauen Augen steckte und für immer unentdeckt bleiben würde. Wäre ich klug genug gewesen, all die Dinge zu lernen, die Java lernen durfte? Sie verabscheute den Unterricht, und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als ihren Platz einnehmen zu dürfen. Das Leben war ungerecht!

In letzter Zeit fiel es mir schwerer und schwerer, in meiner Rolle der Dienstmagd zu verharren. Immer wieder musste ich mich daran erinnern, dass mir Widerworte nicht zustanden. Monsieur Bellier gegenüber hätte ich ohnehin nie welche geäußert, und Madame würde gewiss zu Staub zerfallen, wenn man ein unerwartetes Wort an sie richtete. Java hingegen … Ich wusste, ich sollte es, doch ich fühlte mich ihr nicht unterlegen. Was machte sie zu einem besseren Menschen, als ich es war? Sicherlich nicht ihr Umgang mit anderen. Ihr Aussehen? Vielleicht, aber konnte dies so wichtig sein? Am Ende blieben es doch nur ihre Herkunft und ihr Geld, die sie von mir unterschieden. Und es erzürnte und betrübte mich gleichermaßen, dass sie die Möglichkeiten nicht nutzte, die ihr zur Verfügung standen und die ich so gern gehabt hätte.

Ich seufzte und schüttelte mich. Solche Gedanken waren sinnlos und standen mir nicht zu. Ich war und blieb eine Dienstmagd, hatte kein Recht auf eine eigene Persönlichkeit, Hoffnungen und Wünsche. Wie mich Java stets wissen ließ, waren Dienstboten allein zur Bequemlichkeit der Herrschaften auf der Welt. So stünde es geschrieben, behauptete sie, und ich konnte mir gut vorstellen, dass ein hoher Herr, vielleicht gar der König, diese Regel aufgestellt hatte. Er war es schließlich, der die Gesetze schuf, denen sich alle Menschen im Lande beugen mussten.

Eine Sache jedoch gab es, die ich mir erlaubte, so ungehörig es für eine Magd auch sein mochte. Mein Geheimnis, der einzige Teil von mir, der nur mir allein gehörte. Meine einzige Freude, wenn mir mein vorbestimmtes Leben wieder einmal zu eng wurde, wenn es in mir schrie: Da gibt es noch mehr!

Ich griff unter das Bett und holte meinen Schatz hervor, ein Stückchen Kohle aus dem Herd und einen dünnen Stapel Papierreste. Der Herr verlangte von mir, alles Papier ins Feuer zu werfen, das er achtlos auf dem Boden seines Arbeitszimmers verteilte, sobald er es nicht mehr benötigte. Manchmal aber glättete ich ein zerknülltes Blatt oder riss von einem bekritzelten Stück ein noch unbeschriebenes Eckchen ab, und so hatte ich heimlich meinen Schatz zusammengetragen. Wenn ich dann abends in meiner Kammer saß, das Kohlestückchen über das Papier gleiten ließ und nach und nach ein Bild entstand, wie klein es auch sein mochte, versank ich in einer Welt, die schöner war als jeder Traum.

2

»Lianne!«

Drei kleine Körper flogen mir entgegen. Sechs Ärmchen umfingen mich, kaum dass ich in die Gasse der Handwerker eingebogen war.

»Guten Tag, meine Schätze.« Ich küsste die bleichen Gesichter meiner Geschwister.

Jean, mit fast sieben Jahren der Älteste, drängte seine Schwestern beiseite und strahlte mich an. »Ich habe gestern einen Fisch gefangen!«

»Das ist wundervoll, Jean.« Ich tätschelte ihm das Haar, dann riss sich der Junge von mir los. Er stieß die Tür zu seiner Behausung auf und schlüpfte hinein, dicht gefolgt von den Mädchen.

»Frau Mutter, Lianne ist da!«

Ich holte tief Luft und trat mit eingezogenem Kopf durch den niedrigen Durchgang neben der mit Brettern vernagelten Schreinerei. Meine Mutter hätte die Werkstatt weiterführen dürfen, doch der einzige Geselle hatte sich nach dem Tode des Meisters aus dem Staub gemacht, und den beiden Lehrjungen war es nicht erlaubt gewesen, in einem Witwenbetrieb ohne Gesellen zu bleiben.

»Du kommst spät«, ertönte es aus einer Ecke des Zimmers.

Wenn du wüsstest, wie langsam ich gegangen bin, nur um nicht anzukommen …

»Guten Tag, Frau Mutter.«

Die Gestalt löste sich aus den Schatten der düsteren Behausung und trat auf mich zu. Eine Weile hielt ich dem Blick der schwarzen Augen stand, dann senkte ich zuerst die Lider.

»Hier ist das Geld.« Ich streckte meiner Mutter einen Beutel entgegen.

»Ist es diesmal mehr?«

Ich schüttelte den Kopf. Meine Mutter ergriff den Beutel, leerte ihn in ihre Schürzentasche und gab ihn mir zurück. Dann deutete sie auf einen der beiden Stühle, die vor dem Kamin standen. Ich setzte mich und starrte in die kalte Asche. Meine Geschwister hatten abermals kein warmes Frühstück bekommen.

»Geht hinaus und spielt, meine Kleinen.«

Die liebevolle Stimme meiner Mutter versetzte mir einen Stich. Wie gern hätte ich einmal, nur ein einziges Mal, diesen Klang an mich gerichtet vernommen. Doch ich kannte den Ablauf der wöchentlichen Besuche zu genau, um noch Hoffnung zu haben. Meine Mutter hatte mich fortgeschickt, als ich ein kleines Mädchen gewesen war, und noch immer schien es in ihrem Leben keinen Platz für mich zu geben außer der Verpflichtung, meinen Lohn abzuliefern. Ich erinnerte mich nur undeutlich an die Zeit vor meinem Umzug in den Haushalt Bellier, wohl aber an das Gefühl, als ich das Haus hatte verlassen müssen, das mein Zuhause gewesen war. Lange Jahre hatte ich mir gewünscht, zurückgeholt zu werden, doch es war nie geschehen.

»Nun bringst du mir seit einem Jahr jede Woche die gleiche Summe.« Mutter setzte sich nicht, sondern blickte von oben auf mich herab. Ich fröstelte. »Es ist zu wenig für uns alle, so können wir nicht überleben! Gibt es wirklich keine Möglichkeit, uns mehr zu bringen?«

Ich starrte auf meine rissigen Hände und schüttelte den Kopf.

»Du arbeitest wohl schlicht nicht gut genug! Lebst ja auch bequem in dem feinen Haushalt, hast es warm und isst die besten Dinge«, die Stimme wurde schneidend, »während deine armen Geschwister hartes Brot nagen, tagein, tagaus.«

In mir regte sich Widerstand, ein ungewohntes Gefühl, das einer Dienstmagd nicht zustand und das ich bisher nur Java gegenüber nicht immer hatte unterdrücken können. Ich besiegte den Wunsch, Mutter die Meinung zu sagen, und bemühte mich um einen versöhnlichen Tonfall.

»Ich bekomme ja erst seit kurzer Zeit Lohn. Es ist doch besser als nichts. Vorher …«

»Vorher«, fiel Mutter mir ins Wort, »konnte ich noch die fertigen Gegenstände und Werkzeuge aus der Schreinerei verkaufen, um uns am Leben zu halten. Zum Glück wurdest du gerade rechtzeitig sechzehn Jahre alt, als das Geld zu Ende ging.«

»Warum habe ich früher nie Lohn bekommen?«

»Einem Kind, das man durchfüttert, Lohn zahlen? Das wäre wohl zu viel verlangt, nicht wahr? Anscheinend hast du mit sechzehn endlich angefangen, mehr einzubringen, als du kostest. Das ist der Grund. Aber es ist nicht genug! Es muss doch eine Möglichkeit geben, mehr zu verdienen. Los, sag schon! Ich erkenne, dass du etwas verheimlichst! Willst du, dass ich Jean arbeiten schicken muss? Weißt du, wie klug er ist? Er könnte die Schule besuchen! Dazu wird es jedoch nicht kommen, da du nicht bereit bist, deine Familie nach besten Kräften zu unterstützen!«

Inzwischen rannen Tränen mein Gesicht hinab. Dabei hatte ich mir so fest vorgenommen, diesmal nicht zu weinen! Doch meine Mutter stand über mich gebeugt, eine finstere, bedrohliche Gestalt, und mein Herz zog sich vor Angst zusammen. Ich wollte die Worte nicht sagen, und doch kamen sie heraus.

»Ja, es gibt eine Möglichkeit. Der Herr verlangt andere Dienste von mir, die er auch bezahlen will. Doch das kann ich nicht tun! Ich kann es nicht!« Ich schluchzte auf und schlug die Hände vor mein Gesicht.

»Du kannst es nicht? Oh doch, du kannst. Und du wirst! Sollen deine Geschwister betteln gehen? Soll deine Mutter eine Dirne werden, damit uns der Hungertod erspart bleibt?«

Ich blickte auf, sah ihr in das verbitterte Gesicht, und die Wut gewann die Oberhand über die Verzweiflung.

 »Dasselbe verlangt Ihr auch von mir!«

Kaum hatte ich ausgesprochen, traf mich Mutters flache Hand hart auf die Wange.

»Das ist etwas vollkommen anderes! Bist du dir zu fein für deinen Herrn? Du solltest dich geehrt fühlen, immerhin bist du keine Schönheit. Weißt du, wie viele Weibsbilder ihn begehren?«

»Frau Mutter, das darf nicht Euer Ernst sein, dass ich mich verkaufen soll«, flüsterte ich, wissend, dass es sehr wohl ihr Ernst war. Dennoch hoffte ich verzweifelt darauf, sie würde mir das Gegenteil beweisen.

»Warum nicht? Du wirst ohnehin nie aus jenem Haushalt herauskommen. Da kannst du auch das Beste daraus machen.«

»Das Beste? Frau Mutter, wie könnt Ihr so etwas sagen? Wünscht Ihr Euch denn nicht für mich, dass ich glücklich werde? Dass ich mich einmal verliebe und heirate und …«

»Liebe?« Das Wort klang wie ein Schwerthieb. »Sieh dir an, wohin mich die Liebe gebracht hat. Ich weiß kaum, wie ich überleben soll. Vergiss diese Träumereien und sorge dafür, dass ich nächste Woche mehr Geld erhalte!«

Ich sprang auf und rannte aus dem Raum. In der Gasse spielten meine Geschwister mit anderen Handwerkerkindern, doch selbst ihr Lachen und der Anblick der kleinen Köpfchen mit den in der Sonne glänzenden Haaren ließen mein gefrorenes Herz nicht auftauen. Schnell huschte ich in entgegengesetzter Richtung fort. Es war mir unmöglich, mit ihnen zu sprechen.

Als ich außer Sichtweite war, verlangsamte ich meine Schritte, trottete durch die Straßen zum Haus der Belliers und grübelte, nicht zum ersten Mal, wodurch meine Mutter so hart geworden war. Die Bitterkeit über den frühen Tod ihres Ehemannes war verständlich und entschuldbar, aber wie konnte sie so von der Liebe sprechen? Sie war es nicht, die die Familie in Armut gestürzt hatte. Meine Mutter hatte einen anständigen Mann gehabt, Marthe hatte mir von seinem guten Ruf als Schreiner berichtet. Und obwohl ich wusste, dass ich als Dienstmagd leben und sterben würde, so sollte doch eine Mutter Besseres für die Tochter erhoffen und ihr nicht im Gegenteil alle Zuversicht nehmen. Ich seufzte und rieb mir mit dem Ärmel das Gesicht. Es war aussichtslos, die Frau verstehen zu wollen.

Ich wählte den Weg vorbei an Saint-Vincent. Obwohl ich den Gottesdienst nie besuchen durfte, liebte ich die mächtige Kathedrale, die so hoch vor mir aufragte, als wollten ihre Türme und Dächer die Wolken aufspießen. Mein Blick fiel auf ein zerlumptes, schmutziges Mädchen, das vor den Toren der Kirche kniete und bittend die Hand ausstreckte. Rasch wandte ich den Kopf ab, doch es half nichts. Im Geiste sah ich meine Geschwister dort hocken. Sie allein hatten mich liebevoll aufgenommen und waren mir in dem einen Jahr, das wir uns nun kannten, so wichtig geworden. Doch war es meine Aufgabe, sie zu versorgen? Ich gab, was ich konnte. Musste ich auch noch meinen Körper, meine Ehre hergeben für sie? Jean war klug genug, um zur Schule zu gehen, hatte meine Mutter gesagt. Hatte sie je darüber nachgedacht, ob ich vielleicht ebenfalls klug war?

Du bist kein Kind mehr, Lianne. Hör auf zu träumen.

Nein, kein Kind mehr. Aber warum sollte ich nicht träumen dürfen? Auch wenn ich für niemanden mehr war als das Mädchen, wollte ich nicht den letzten Rest von mir hergeben, nur weil meine Mutter es forderte! So lange hatte ich alles getan, was von mir verlangt wurde, hatte gedient, verdient, nie etwas für mich behalten. Gehörte ich deshalb den anderen? Konnten sie mit mir machen, was ihnen beliebte?

Ja, hallte es in meinen Ohren.

Nein!, wollte ich schreien.

Da war es wieder, dieses neue Gefühl, dieses Auflehnen gegen eine Wirklichkeit, die unabänderlich war. Stand es mir zu, Nein zu sagen? Wer war ich, mich zu widersetzen?

Was sollte ich nur tun?

3

Le Havre, Januar 1670

Das Klappern von zwei Paar Schuhabsätzen hallte durch die stille Gasse. Wenige Menschen waren an diesem Winterabend unterwegs, und von ihnen hatte es kaum jemand so eilig wie Robina. Das lange Kleid bis zu den Knien gerafft, hastete sie voran.

»Mademoiselle, so wartet doch!«

Robina hörte das Schnaufen der Zofe hinter sich, dachte jedoch nicht daran, langsamer zu werden. Zu wichtig war es ihr, dem Vater von dem heutigen Unterricht zu erzählen. Etwas so Aufregendes hatte sie noch nie gelernt!

So rannte sie mit wehendem Umhang und lautem Lachen um die nächste Hausecke, uneinholbar für die ältere Frau. Die Haube glitt ihr vom Haar, doch es bekümmerte sie nicht. Sie wusste, die Zofe würde das feine Stück aufheben. Da verstummten auch schon die Schritte hinter ihr, und leises Schimpfen drang an ihr Ohr. Dann war sie zu weit voraus, um die Zofe hören zu können. Später hatte sie eine Strafpredigt zu erwarten, doch Robina fürchtete diese nicht. Letztlich tat jeder der Dienstboten, was sie wollte. Dafür sorgte ihr Vater, und sie dankte es ihm mit gebührender Bewunderung und vorbildlichem Gehorsam – wann immer er in der Nähe war. War er es nicht, fand sich stets die eine oder andere Gelegenheit, den eigenen Willen durchzusetzen … Ihr war bewusst, wie glücklich sie sich über diesen Zustand schätzen konnte, denn sie erlebte in den Häusern ihrer Freundinnen andere Sitten. Deren Väter waren nicht wie ihrer, längst nicht so liebevoll, großherzig und fröhlich!

Als Robina endlich ihr Zuhause erreichte, musste sie sich mit aller Kraft gegen die schwer beschlagene Eingangstür stemmen, damit sich diese öffnete. Dann stürmte sie mit glühenden Wangen in die Diele und den endlosen Flur entlang, dass die langen Haare flogen. Sie rannte vorbei an den Gemälden und Statuen, auf das Arbeitszimmer des Hausherrn zu. Sie brannte darauf, ihm zu berichten, was sie an diesem kalten Tag gelernt hatte. Wie gut, dass ihr Vater es ihr erlaubte, zusammen mit den Töchtern der Blanchets in deren Haus Unterricht zu erhalten.

»Herr Vater!« Das Laufen nahm ihr den Atem, doch sie verlangsamte ihre Schritte nicht. »Ich habe so viel über Indien erfahren! Nun kenne ich sogar ein paar Worte der Sprache! Wenn erst das Schiff ankommt, werde ich den Kapitän …«

Ihre Mutter trat ihr so plötzlich in den Weg, dass Robina gegen sie prallte und ins Straucheln kam. Nur mit Mühe konnte sie sich auf den Beinen halten.

»Frau Mutter, warum erschreckt Ihr mich so?«

Das Gesicht bleich und versteinert, sprach die Ältere: »Es wird kein Schiff ankommen.«

»Kein Schiff? Aber …«

»Es ist alles verloren. Das ganze Geld. Dein Vater. Du und ich.«

»Was – wo ist Herr Vater?«

Die Mutter schwieg. Sie bemühte sich nicht einmal, Robina aufzuhalten, als diese sich an ihr vorbeidrängte und voller schrecklicher Vorahnungen in das Arbeitszimmer stürzte.

 Ihr Vater lag rücklings am Boden, der Hausdiener hockte neben ihm, ein abgeschnittenes Stück Seil in den Händen. Der Rest davon hing am Deckenbalken. Ein umgestürzter Stuhl lag mitten im Raum. Robina schrie auf. Sie starrte auf das blau angelaufene, leblose Gesicht des Vaters, die hervorquellenden Augen und die blutroten Striemen, dort, wo der Hausdiener eben erst das Seil entfernt hatte. Sie fühlte sich, als läge um ihren eigenen Hals ebenfalls eine Schlinge, die sich fester und fester zog und ihr den Atem nahm. Sie fiel auf die Knie, heftiges Würgen erschütterte ihren Körper, sie vermochte jedoch nicht, den Blick von dem Grauen abzuwenden, das dort vor ihr lag. Ihr herzensguter Vater, das Liebste in ihrem Leben – es durfte nicht sein! Ihre Augen sahen die Tatsachen, doch ihr Herz weigerte sich, sie zu begreifen. Sie sprang auf, packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn, richtete den schlaffen Oberkörper auf, wollte ihren Vater zurückholen, wie er am Morgen gewesen war, heiter, zu Späßen aufgelegt, trotz der mürrischen Miene der Mutter. Sie flehte, küsste das starre Gesicht, dann ließ sie entsetzt den Körper fallen, als die Wirklichkeit sie mit einem Schlag einholte. Ihr Schrei schien nicht enden zu wollen.

Schließlich wurde eine Decke über den Toten gelegt. Die Zofe erschien und schleppte Robina mithilfe des Dieners in ihr Zimmer. Sie legten sie auf das weiche Bett, wischten ihr mit kühlen Tüchern die Stirn ab und redeten beruhigend auf sie ein. Als dies keinen Erfolg brachte, schlug ihr die Zofe ins Gesicht, einmal, zweimal, doch es half alles nichts. Bald schon hatte sie sich heiser gebrüllt, doch sie konnte nicht aufhören, der Schrecken wollte nicht nachlassen, das Bild ihres Vaters erschien wieder und wieder vor ihren Augen. Als ihr die Zofe einen Becher an den Mund hielt und bittere Flüssigkeit hineingoss, verschluckte sich Robina, und erst der nachfolgende Hustenanfall ließ sie verstummen, da er ihr den Atem nahm. Dann setzte die Wirkung der Arznei ein, ein Gefühl der Lähmung breitete sich in Robinas Körper und auch in ihrem Geiste aus, und sie sank ermattet in die Kissen.

Die folgenden Tage durchlebte Robina wie von einem dichten Nebel umgeben, der alle Sinne dämpfte. Sie fühlte weder Hitze noch Kälte, sie schmeckte nicht, was die Zofe sie zu essen und zu trinken zwang. Worte erklangen undeutlich, ein stetiger, stummer Tränenschleier nahm ihr die Sicht. Sie wandelte ziellos durch das Haus, auf der Suche nach etwas, von dem sie wusste, dass sie es nicht finden würde. Menschen kamen und gingen, manche sprachen freundlich mit ihr, die meisten jedoch scherten sich nicht um die junge Tochter des großen Handelsherrn, der zu hoch hinaus gewollt hatte und so tief gefallen war. Laute, ärgerliche Stimmen ertönten, wenn Geschäftspartner ihr investiertes Geld zurückforderten, das so leichtsinnig verspielt worden war. Robina hörte die anklagenden Worte.

Größenwahnsinniger. Leichtgläubiger Narr. Marodes Schiff. Falsche Jahreszeit.

Und über allem schwebte die wohlklingende Stimme des von der Mutter beauftragten Advokaten, beschwichtigend, vermittelnd. Die Hausherrin selbst ließ sich nicht blicken. Aus ihrem Zimmer erklang kein Laut. Sie rief nie nach ihrer Tochter.

Schließlich, Tage später, ging Robina von sich aus zu ihr, auf der Suche nach ein wenig Halt. Die Mutter saß aufrecht im Stuhl, das Trauergewand mit dem steifen Kragen hochgeschlossen, das Gesicht unbeweglich wie das einer Statue.

Robina schluckte und sprach: »Frau Mutter, ich bin so traurig.«

Sie streckte die Arme aus, hoffte entgegen jeglicher Erfahrung, ihre Mutter würde sie an sich ziehen und trösten, doch diese streifte sie nur mit einem Blick und murmelte: »Noch ein Problem, das ich lösen muss.«

Robina wurde übel. Mit einem Schlage wurde ihr bewusst, dass sie kein geliebtes, behütetes Kind mehr war, nie mehr sein würde. Sie war ein Problem. Unbändige Wut stieg in ihr auf, die die tagelangen Tränen augenblicklich versiegen ließ. Sie schlug die Tür zum Zimmer der Mutter zu, rannte in ihr eigenes und schloss sich ein. Dann begann sie, die Wände mit Schlägen und Tritten zu bearbeiten.

»Warum, Herr Vater? Wie konntet Ihr mich allein lassen? Mit dieser Frau, von der Ihr genau wusstet, dass ich ihr nichts bedeute? Ich war immer Euer Kind, niemals ihres!«

Brennender Schmerz schoss in ihre Hände und Gelenke, doch sie hörte nicht auf, genoss vielmehr das Gefühl, noch am Leben zu sein. Sie schlug und trat und schrie, bis ihr das Haar nass von Schweiß am Kopf klebte und sie erschöpft zusammenbrach.

In diesem Augenblick fühlte Robina ihr Herz zu Stein werden.

Fortan weinte und wütete sie nicht mehr. Scheinbar gleichgültig nahm sie alles an, was ihr die Tage brachten. Und es waren zahlreiche Veränderungen, die sie durchmachen musste. Als Erstes verbot ihre Mutter den Unterricht, den sie sich nicht länger leisten konnten. Die Wände der Flure zierten statt der Gemälde nur noch eckige Flecken, auf den Holzdielen lagen keine Teppiche mehr. Schließlich musste Robina ihre Kleidertruhen leeren, durfte nur eines der schönen Gewänder behalten, die übrigen wurden ebenso verkauft wie ihre Ketten und Schmuckspangen. Sie tat, wie ihr befohlen wurde, und beklagte sich nicht. Das Personal wurde entlassen, auch die Zofe. Diese war zwar streng gewesen, aber dennoch Robinas einzige weibliche Vertraute im Hause, da ihre Mutter nie als eine solche aufgetreten war. Dennoch nahm sie gefasst Abschied von der älteren Frau.

Von nun an war Robina gezwungen, allein für ihre Wäsche und ihr Essen zu sorgen. Dieses fiel so bescheiden aus, dass sie kaum je satt wurde. Jedes Mal, wenn sie die Mutter um eine Münze bitten musste, um auf dem Markt die nötigsten Lebensmittel zu erstehen, schnürte es ihr die Kehle zu. Doch selbst wenn sie schwitzend über die Töpfe gebeugt in der Küche stand, das Haar unter einem Tuch verborgen und die Schürze des ehemaligen Hausmädchens über dem schlichten Trauerkleid, erklang kein Jammern aus ihrem Munde. Wen hätte es auch gekümmert? Die Mutter und ihr parfümierter Advokat waren selten zu sehen, und Freunde kamen nicht mehr in das Haus, das früher stets ein Ort fröhlicher Zusammenkünfte gewesen war. Nun herrschte Stille über die breiten Flure und die hohen Räume.

Ebenso wenig kam es für Robina infrage, ihrerseits Besuche bei ihren einstigen Freundinnen zu unternehmen. Weder besaß sie derzeit die angemessenen Kleider für gesellschaftliche Treffen, noch hätte sie die mitleidigen Blicke oder höhnischen Bemerkungen ertragen, die mit Sicherheit nicht ausgeblieben wären. Nicht einmal die Töchter der Blanchets hatte sie wiedergesehen seit dem Abend, an dem ihre Welt aus den Angeln gehoben worden war. Seit diesen letzten fröhlichen Stunden, bevor das Unheil über sie hineingebrochen war. Sie konnte sich kaum noch an das Gefühl erinnern, glücklich gewesen zu sein.

Die meiste Zeit des Tages verbrachte Robina in der Einsamkeit ihres Zimmers. Sie las in den Aufzeichnungen, die sie während der vergangenen Jahre im Unterricht gemacht hatte, und schwor sich, nicht zugrunde zu gehen. Das Leben musste doch noch etwas für sie bereithalten, selbst wenn die Vorzeichen nun so ungünstig standen …