Leseprobe Isabelle & Ethan

Kapitel 1

Vihaze-Tierrettung,

Wheelers Hill, Australien

Isabelle

Seichter Wind weht durch mein mittelbraunes Haar, das mir in leichten Wellen offen über die Schultern fällt. An die hohen Temperaturen muss ich mich noch gewöhnen, denn die Sommer in Deutschland werden nicht ansatzweise so heiß. Ich klettere aus dem Jeep meiner Mitfahrgelegenheit, schließe die Tür und sehe mich aufgeregt um. Der Staub, den ich bei dem Sprung aus dem Jeep aufgewirbelt habe, legt sich langsam. Ich setze einen Hut auf, den meine Mutter mir als Abschiedsgeschenk mitgegeben hat, um mich vor der prallen Sonne zu schützen. Glückselig und voller Vorfreude schmunzele ich in mich hinein, sehe mich schon mit Koalas schmusen und beim Fläschchen geben der kleinen Kängurubabys.

Antonia, eine deutsche Auswanderin, die ebenfalls in der Vihaze-Tierrettungsstation arbeitet, geht an mir vorbei. Sie war so aufmerksam, mich am Flughafen abzuholen und hierher mitzunehmen. Ich habe kein Hotel gebucht, denn während meines Aufenthaltes darf ich bei Victor und Hazel Harrot in einem kleinen Ort wohnen, der etwa vierzig Minuten von Melbourne entfernt liegt. Das Rentnerpaar hat die Station gegründet, deren Name sich aus den Vornamen der beiden zusammensetzt.

Meine Heimat Köln in Deutschland habe ich für ein Auslandssemester verlassen, weil ich nicht nur mehr über Koalas erfahren, sondern meiner großen Leidenschaft – der Kryptozoologie – nachgehen möchte. Und was eignet sich in Australien und Umgebung besser, als die Suche nach dem Tasmanischen Tiger? In den letzten Jahren, so habe ich es der Presse entnommen, hat es zahlreiche Sichtungen gegeben. Nicht ohne Grund fiel meine Wahl auf das Vihaze, denn zwei ihrer Mitarbeiter, Tom und Sarah, wohnen einem kleinen Forschungsteam bei. Außerdem ist der leitende Professor der Bruder von Hazel Harrot.

Bei vier Forschungsteams in Tasmanien habe ich angefragt, doch nur diesem einen schienen meine Fachkenntnisse als Biologiestudentin und dem halb beendeten Studium zur Veterinärmedizinerin ausreichend zu sein. Der Nachteil und wahrscheinlich auch Grund, dass ich diesem Team beiwohnen darf: Sie haben ihren Sitz auf dem australischen Festland und reisen nur alle vierzehn Tage nach Tasmanien. Aber besser alle zwei Wochen als überhaupt nicht. Bedingung für meine Teilnahme war, dort an den Uni-freien Tagen im Vihaze zu arbeiten, denn dort wird, wie Antonia mir auf der Fahrt hierher erzählt hat, jede helfende Hand gebraucht. Auf mich wartet das volle Programm: zwei Tage Uni, vier Tage Tierstation und einen Tag frei. Na ja und vier Abende, an denen ich mir meinen Aufenthalt durch einen Putzjob finanziere. Ein besseres Ablenkungsprogramm hätte ich mir nicht vorstellen können. So habe ich gar keine Zeit dazu, mich mit Heimweh oder anderen unnötigen Dingen zu beschäftigen, die einem das Leben schwer machen. Abenteuer Australien: Ich komme!

„Isabelle? Wo bleibst du?“, ruft Antonia, die mir vorausgelaufen ist. Sie grinst mir entgegen, während ich noch schwer damit beschäftigt bin, alle Eindrücke in mich aufzunehmen.

„Komme schon.“ Über den staubigen Boden halte ich auf das Grundstück zu, das durch einen in die Jahre gekommenen Maschendrahtzaun vor Eindringlingen, aber eher vor Ausbrechern geschützt werden soll. Auf der Fahrt hat Antonia mir von dem vierhundert Hektar großen Gelände erzählt. Der Schwerpunkt der Station liegt auf der Rettung von Kängurus, aber auch Wombats, Koalas und Quokkas leben hier.

Antonia hat ein halsbrecherisches Tempo drauf, das ich nur mit Mühe mithalten kann. Ich bin nicht unsportlich, aber Australiens Hitze und ich haben uns noch nicht richtig angefreundet. Erst kurz vor dem Eingang drosselt Antonia ihre Schrittgeschwindigkeit. Sie drückt die laut quietschende Klinke des Eingangstores herunter und winkt mich ungeachtet dessen, dass ich bereits leicht atemlos bin, hinter sich her. Hinter dem Tor bleibt sie stehen, sieht auf die Uhr an ihrem Handgelenk und scheint darauf zu warten, dass ich ihr folge. „Gleich ist Fütterungszeit. Dann werden wir Victor und Hazel wahrscheinlich im Futterhaus antreffen. Komm mit.“

Während ich hinter Antonia hereile, die offenbar mühelos in der Lage ist, zehn Kilometer am Tag zurückzulegen, sehe ich mich um. Die Umgebung wirkt etwas trostlos. Über eine schmale Spur durchqueren wir eine Gruppe ausgetrockneter Bäume. Mitten auf dem Weg entdecke ich eine Ameisenstraße und steige hektisch darüber hinweg, um Antonia nicht aus den Augen zu verlieren. Es geht weiter über staubige Wege und abgesackte Steinplatten, bis ich in der Ferne schließlich eine kleine Containergruppe ausmache. Es sind Container, wie ich sie vom Hafen bei uns in Deutschland kenne, nur dass eine der langen Seiten aufgeschweißt, mit einem Maschendrahtzaun versehen und so zu einem Kleingehege umfunktioniert worden ist. Keine schlechte Idee für eine Rettungsstation mit begrenztem Budget. Dass ich hier keine Luxusanlage antreffen würde, war mir schon vor meiner Anreise klar, denn Hazel hatte am Telefon von einer „sehr bescheidenen“ Station gesprochen. Doch alles war besser, als in Deutschland zu bleiben. Bei diesem … diesem … ach, ich will gar keinen Gedanken mehr an den Mann verschwenden, der mir so skrupellos das Herz gebrochen hat.

„Hast du schon mal mit Tieren gearbeitet?“, reißt mich Antonias helle Stimme aus meinen Gedanken.

„Hm?“ Hallo, Gehirn. Jemand zu Hause? „Oh, jaaa“, sage ich langgezogen. „Schon sehr oft sogar. Ich habe einige Praktika in Zoos und Tierparks während meiner Semesterferien absolviert.“

Antonias Kopf schnellt während des Gehens zu mir herum und ich kassiere staunende und zugleich argwöhnische Blicke. „Wow. Nicht schlecht. Die meisten Studenten nutzen ihre freie Zeit eher, um die Füße hochzulegen, wenn nicht gerade eine Klausur ansteht.“

„Die Füße kann man nach dem Studium immer noch hochlegen, sonst kommt man ja nie voran“, gebe ich altkluger als beabsichtigt zurück.

„Hört, hört.“ Antonias Worte klingen inzwischen bewundernd. „Eine Fleißige können wir hier gut gebrauchen.“

Ja, ich bin eine kleine Streberin, aber wenn man aus dem unteren Mittelstand kommt und sich von Anfang an das Studium so gut wie selbst finanzieren muss, lernt man, Werte mit anderen Augen zu betrachten. Ich habe nie etwas geschenkt bekommen. Den Führerschein nicht und den Studienplatz ebenfalls nicht. Meine Eltern haben zwei echte Knochenjobs. So möchte ich später nicht enden. Das Geld reicht gerade so zum Leben, aber noch lange nicht für Luxus. Aber der ist für mich so oder so zweitrangig. Für mich zählen Gesundheit, Freunde, Familie und eine fundierte Ausbildung mehr als jedes dicke Bankkonto. Und mir ist schnurzpiepegal, was Antonia oder andere von mir halten. Ich weiß, für wen ich das alles hier tue: Für mich.

Wir halten auf eine große Halle zu, die mit einem Wellblech überdacht ist. Dieses ist zu den Seiten hin so schräg abgesunken, dass man den Eindruck bekommt, es könne jeden Augenblick einstürzen. Die Seitenwände bestehen ebenfalls aus Wellblech, während die Rückwand eine Mauer ist, die aus verschieden großen und unterschiedlich farbigen Steinen zusammengesetzt wurde. Das große, mit Rostflecken gespickte Schiebetor am Eingang steht offen. Insgesamt wirkt alles auf mich wie wild zusammengeschustert, erfüllt jedoch seinen Zweck: Die vielen Fässer und Futtersäcke, die im Inneren zu sehen sind, trocken und winddicht aufzubewahren. Vor den Bottichen stehen ein Mann und eine Frau. Sie haben uns den Rücken zugewandt und offenbar noch keinerlei Notiz von Antonia und mir genommen, obwohl wir keine zehn Meter von ihnen entfernt sind. Wahrscheinlich hat das Gehör der beiden altersbedingt ein wenig nachgelassen.

„Hi, Hazel. Hi, Victor!“, ruft Antonia, die in ihrer beigefarbenen Cargohose, der gleichfarbigen Bluse und der Mütze auf ihrem Kopf in Kombination mit ihrem strammen Marsch wie ein Parkranger mit Militärausbildung wirkt – jedoch ein netter Parkranger. Ich bin ziemlich gut darin, Menschen zu lesen und einzuschätzen und meine, mir bereits ein genaues Bild von ihr machen zu können. Aber auch sie hat mich während unseres ersten Gesprächs auf der Fahrt hierher wie ein Inspektor unter die Lupe genommen und ich denke, wir mögen uns. Neben ihr bin ich die einzige Deutsche, eine Tatsache, die verbindet. Ich glaube, wir werden uns gut verstehen. Voller Stolz hat Antonia erzählt, dass sie praktisch auf der Station großgeworden ist, weil sie Hazels Nichte ist. Im Alter von fünf Jahren ist sie mit ihrer Mutter von Deutschland nach Australien ausgewandert. „Fernbeziehungen halten nie ewig“, hat Antonia gesagt. Seitdem lebt sie hier und könnte sich nicht vorstellen, jemals von hier wegzugehen.

Hazel und Victor, die einen Stapel Knollen stückweise portionieren, drehen die Köpfe in unsere Richtung.

Als wir schließlich die Halle betreten, legen die beiden fast synchron die Messer auf den Holzschneidebrettern ab und wischen sich die Hände an den Schürzen sauber, die sie vor sich tragen. Schon auf den ersten Blick wirken sie wahnsinnig sympathisch.

Hazel hat feines, weißes Haar, das sie zu einem modischen Knoten zusammenhält. Ich finde, sie hat große Ähnlichkeit mit der Schauspielerin Helen Mirren, während Victor optisch eher einem Al Pacino nahekommt.

„Isabelle. Schön, dass du da bist. Herzlich willkommen im Vihaze.“ Hazel streckt mir freundlich lächelnd die Hand hin, die ich beherzt schüttele. Danach wende ich mich Victor zu, der einen kräftigen Händedruck hat, aber wie Hazel ein sehr herzliches Lächeln im Gesicht trägt.

„Ja, gut“, unterbricht Antonia etwas schroff unsere Begrüßung und zieht ihren Rangerhut zurecht. „Ich werde dann mal den Rundgang machen. Ihr nehmt Isabelle nachher mit?“

Antonia drückt mich zum Abschied an sich. „Hat mich gefreut, dich kennenzulernen.“ Dann lässt sie mich los und nickt uns zu.

Ich sehe Antonia nach, bis sie hinter einer Ecke verschwindet und zucke zusammen, als ich eine Berührung seitlich auf meinem Oberarm wahrnehme. Unvermittelt blicke ich an meiner Schulter entlang und stelle beruhigt fest, dass sich nicht etwa eine dicke Spinne über mir abgeseilt hat, sondern dass es Hazels Hand ist. Ihre Haut ist faltig und rau. Sie hat offenbar ihr Leben lang viel mit angepackt.

„Wir freuen uns auch sehr, dass du hier bist. Die Anreise war sicher anstrengend.“

„Halb so wild. Ich denke, an das Klima gewöhne ich mich schnell.“

„Hast du schon Tom und die anderen aus dem Team kennengelernt?“, will Victor wissen, woraufhin ich mit dem Kopf schüttele.

„Antonia hatte in unserem ersten Skype-Gespräch ein paar Namen genannt, aber die Gesichter dazu kenne ich noch nicht.“

„Ist nicht schlimm. Also Tom ist eine unserer Aushilfen. Genau wie Sarah. Aber die lernst du noch kennen“, erklärt Hazel freundlich und legt eine Hand auf Victors immer noch erhobenen Hände und drückt sie sanft herunter. „So und jetzt füttern wir gemeinsam die Tiere, ich zeige dir alles und dann wartet zu Hause ein leckeres Essen auf uns. Na, wie hört sich das an?“

„Wunderbar“, schwärme ich und bin von diesem alten Pärchen jetzt schon vollkommen angetan.

Kapitel 2

Hawthorn East, Victoria

Isabelle

Einige Tage später habe ich mich eingelebt. Ich sitze auf meinem Bett in dem Zimmer, das ich unterhalb des Daches in Hazel und Victors Haus bewohne. Es ist gemütlich hier. Eine Vintage-Uhr aus den Zwanzigerjahren hängt über der Tür an der Wand und in dem prall gefüllten Bücherregal ist sogar eine alte Märchensammlung zu finden, wie damals bei meiner Großmutter zu Hause. Hazel und Victor haben viel mit meinen verstorbenen Großeltern gemein. Der herzliche Charakter und diese familiäre Art, bei der man sich nur wohlfühlen kann.

Die beiden nutzen diesen Raum als Gästezimmer, zeitweise als Arbeitszimmer. Ich musste schmunzeln, als Hazel erzählte, dass Victor einen ganzen Tag gebraucht hat, um die Papiere zu sortieren, die sich auf seinem Schreibtisch bis an die Decke gestapelt haben. So viele Umstände wegen mir! Ich mag die beiden.

Von meinem Bett aus blicke ich durch das Fenster auf die Straße. Da es unweit des Hauses ziemlich steil bergab geht, kann man bei gutem Wetter bis zum Kern des kleinen Städtchens blicken, das vierzig Minuten von Melbourne entfernt liegt. Bis zum Vihaze sind es weitere vierzig Minuten, jedoch in die andere Richtung. Hier im beschaulichen Örtchen Hawthorn East sind die Preise niedriger als in der City. Zumindest haben mir das die Schilder in den vielen leerstehenden Häusern verraten, die zum Verkauf stehen. Hazel meinte, es sind die jungen Leute, die die Häuser geerbt haben und sie verkaufen, statt selbst einzuziehen, da es hier im Ort nur wenige Geschäfte gibt. Alles Große spielt sich in Melbourne ab. Melbourne floriert - ist der Spielplatz der jungen Leute, hat Victor gesagt. Dort gibt es Bars, Casinos, Geschäfte …

Langsam ziehe ich die Beine ran und lasse sie unter das Laken auf meinem Bett gleiten. Ich bin müde, doch ich möchte noch ein wenig den Ausblick genießen und in mich gehen. Schnell schnappe ich mir mein Smartphone, um meinen Eltern eine Nachricht zu schreiben, bevor ich es verschlafe.

Liebe Mama, lieber Papa, ich hoffe, dass es euch gut geht. Hier in Australien kann es einem nur gut gehen, denn jeden Tag scheint die Sonne und Hazel & Victor sind wirklich sehr lieb. Fühlt euch gedrückt. Ich habe euch lieb.

Kurz checke ich noch den Nachrichteneingang in der stillen Hoffnung, eine reumütige SMS meines Ex-Freundes zu entdecken, doch seit der Trennung herrscht Funkstille. Ich seufze schwer, lege das Handy auf die Seite und lehne mich zurück. So ruhig und entspannt, wie ich es hier bin, bin ich ewig nicht gewesen. Nach Australien zu reisen, war wirklich eine richtig gute Idee.

Gerade, als meine Augenlider immer schwerer werden und ich kurz davor bin, meine Entscheidung über Schlafen oder Wachbleiben zu überdenken, klopft es zaghaft. Überrascht drehe ich den Kopf in Richtung Tür. „Herein?“

Mit einem leisen Quietschen öffnet sie sich und Hazel kommt dahinter hervor. In ihren Händen hält sie zwei Tassen, aus denen es dampft und die herrlich nach Schokolade duften. „Möchtest du auch eine?“

Freudestrahlend nicke ich und rutsche ein Stück zur Seite, um Hazel auf meinem Bett Platz zu machen.

Sie setzt sich vorsichtig im Schneckentempo neben mich, wohl bedacht darauf, die heiße Schokolade nicht zu verschütten. „Bist du schon aufgeregt wegen morgen?“

„Ja, ein wenig.“ Umsichtig setze ich die heiße Tasse an die Lippen und nippe an meinem Kakao. Er schmeckt himmlisch.

„Und wie lief es heute in der Rettung?“ Hazels Mundwinkel zuckt, während sie mich liebevoll ansieht.

„Gut. Ich habe eimerweise Scheiße geschleppt, gekehrt und mich mit den Tieren beschäftigt.“

Hazel kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Tja …“ Sie legt den Kopf schief und zieht die Mundwinkel kurz nach oben. „So fangen wir alle an. Der Mist gehört dazu. Was glaubst du, wie stinkend Victor und ich manchmal nach Hause kommen?“ Ihr herzliches Lachen steckt mich an. „Zum Glück riecht man das irgendwann nicht mehr. Aber spätestens nach einer erholsamen Dusche ist alles gut.“

„Das glaube ich dir gern. Vielen Dank noch mal, dass ihr mich so nett bei euch aufgenommen habt. Das weiß ich wirklich zu schätzen.“

Hazel nickt und streicht mir durch das offene Haar. „Ist doch selbstverständlich. Du bist so eine liebe, junge Frau. Dein Freund zu Hause vermisst dich sicher schon.“

Ich schlucke hart. Jetzt hat Hazel es geschafft, mir bei aller Sympathie ungewollt einen Schlag zu versetzen. „Ich habe keinen Freund … mehr“, antworte ich und lasse den Kopf sinken. „Wir haben uns getrennt, kurz bevor ich hergekommen bin.“

„Das tut mir leid. Aber hoffentlich nicht wegen deines Aufenthaltes hier?“

Mein Herz fühlt sich schwer wie Blei an. Ich schüttele den Kopf und sehe plötzlich alles, wie durch einen Schleier, da sich eine Armee Tränen in meine Augen geschlichen hat.

Hazels Hand streicht über meine Schulter. „Möchtest du darüber reden?“

Diese Frage ist es, die der Tränenarmee den Startschuss gibt, loszustürmen und meine Wangen hinunter zu kullern. „Er hat mich betrogen. Wir waren ein Jahr lang ein Paar.“ Meine Nase beginnt zu glühen und fühlt sich immer verstopfter an, je mehr ich heule. Mir wird ein Taschentuch gereicht, in das ich beherzt hineinschnaufe. Ich fürchte, eines wird nicht ausreichen.

„Das tut mir sehr leid. So eine liebe, junge Frau wie du hat das nicht verdient. Aber schau dich an. Du bist jung, hübsch und klug. Dir steht die Welt offen. Wenn nicht in Deutschland, dann vielleicht hier.“ Hazels einfühlsame Worte sind Balsam für mein gekränktes Herz. „So einen Kerl wie deinem … wie heißt er?“

„Sascha“, antworte ich schluchzend und schnäuze mich erneut.

„So ein Kerl wie dieser Sascha hat dich überhaupt nicht verdient. Und sei froh, dass du nur ein Jahr verschwendet hast. Manche vergeuden ihr halbes Leben an den Falschen und merken es nicht einmal.“ Hazel legt ihre Hand auf meiner Schulter ab. Als ich hochschaue, sehe ich, dass sie mich liebevoll anlächelt. „Zum Glück habe ich mit Victor einen guten Fang gemacht.“

„Das glaube ich dir. Er ist auch sehr nett. Man merkt, wie nahe ihr euch steht.“ Sofort muss auch ich lächeln, denn es geht mir schon viel besser. „Danke, Hazel. Es tat gut, mal Ungesagtes rauszulassen.“

Sie steht auf, nachdem ich meine Tasse geleert habe, und dreht sich kurz vor der Tür noch einmal zu mir um. „Wenn du hier richtig Fuß gefasst hast, wirst du diesen Mann getrost zu den Akten legen können. Vertrau mir.“

Und genau das versuche ich nun zu tun.

„Gute Nacht, Isabelle.“

„Gute Nacht, Hazel“, sage ich und kurz darauf gleitet die Tür leise ins Schloss. Ich bin wieder allein mit meinen Gedanken, die mich nicht mehr so sehr quälen wie noch vor einigen Minuten. Mein Neustart wird mir gelingen. Davon bin ich jetzt überzeugt.

Kapitel 3

Melbourne, Victoria

Isabelle

Meinen Coffee-to-go-Becher fest an mich gedrückt, quetsche ich mich aus der überfüllten Bahn. Überall um mich herum herrscht hektisches Menschentreiben. Mit Sportschuhen, einer weißen Jeans und einem schwarzen Shirt eile ich vom Bahnhofsgelände auf die Flinders Street. Von hier ist es nicht mehr weit bis zu meinem Ziel, der Taylor Real Estate Agency. Da ich nicht als Kundin dort erscheine, war es nicht nötig, mich schick zu machen.

Ich bin inzwischen seit einer Woche in Melbourne. In der Zeit, die ich nicht in Tasmanien oder der kleinen Auffangstation verbringe, bin ich an einer der australischen Universitäten, damit ich keinen Unterricht verpasse. Zweimal in der Woche – das war Bedingung. Ziemlich viele Aufgaben auf einmal. Nach einer ausgiebigen Beratung haben mein Dickkopf und ich uns trotzdem dafür entschieden. Auch, wenn das bedeutet, dass ich nebenher noch einen anderen Job ausüben muss, um meinen Lebensunterhalt zu sichern. Meine Eltern hätten mich lieber in Deutschland behalten, doch mein gekränktes Herz, das vor Liebeskummer zerrissen ist, schrie nach Aufbruch und das Abenteuer Australien schien mir perfekt dafür.

Die Stelle bei Taylor Real Estate ist neben der Arbeit im Forschungsteam meine beste Einnahmequelle. Ich habe mich dort als Raumpflegerin beworben und heute ist mein erster Tag. Das Bewerbungsgespräch lief über Skype noch von Deutschland aus, denn für meine Einreise brauchte ich ein Working-Holiday-Visum und eine Arbeitgeberbestätigung.

Seichter Wind weht mir ins Gesicht und durch mein gewelltes Haar, das mir bis unter die Brust reicht. Es dämmert bereits und obwohl es fast zwanzig Uhr am Abend ist, ist es immer noch recht warm.

Ich weiß nicht viel über meinen neuen Arbeitgeber. Nur, dass eine Jennifer Bourne meine Ansprechpartnerin bei Taylor Real Estate ist, ein riesiges Unternehmen, das Immobilien aufkauft, unstrukturiert und weiterverkauft. Dort beschäftigt man keine Fremdfirmen, sondern besteht auf eigenem Putzpersonal. Jennifer kenne ich bisher nur vom Skype-Gespräch. Sie war sehr nett und hat mich erst für heute zum Arbeiten bestellt, damit ich in Ruhe bei meiner Gastfamilie ankommen konnte.

Gedrängt von Menschen, die mir nach Feierabend hektisch in Richtung U-Bahn entgegenkommen, bahne ich mir den Weg über die Flinders Street in Richtung Treasury Gardens, einem Park, der direkt vor dem riesigen Komplex von Taylor Real Estate liegt.

Es ist nicht mein erster Aufenthalt in Melbourne City. Vor ein paar Tagen bin ich bereits hier gewesen und habe den Weg zur Arbeit geübt.

Ich flaniere an ein paar Boutiquen und Lebensmittelläden vorbei. Die Fußwege sind völlig überlaufen, da die Geschäfte bald schließen. Auf den Straßen herrscht reger Feierabendverkehr. Schon komisch: Alle wollen nach Hause. Nur mich zieht es zur Arbeit.

Während ich weiterlaufe, beobachte ich die Menschen, die mir entgegenkommen. Die meisten von ihnen sehen recht unbekümmert aus, während ich mich in dieser riesigen und fremden Stadt - so könnte man sagen - verloren fühle. Wie es wohl ist, hier dauerhaft zu leben? Victor meinte, es sei kein Problem mein Visum von sechs auf zwölf Monate zu verlängern. Ein Jahr ohne meine Eltern und Freunde. Herzukommen war nach der Trennung von Sascha ein Leichtes, aber so lange zu bleiben? Mal sehen. Ob ich in einem Jahr auch so entspannt hier herumlaufe? Vielleicht mit Freunden? Die einzige Clique, in die ich bisher aufgenommen wurde, ist die Rentner-Clique in meinem neuen Zuhause und die Kollegen in der Station. Aber ich hätte gern Freunde, die nicht nur Kollegen sind. Mit denen man ausgehen und feiern kann.

Tom, Sarah und Antonia sind leider gar keine Partymenschen. Vom „aufregenden“ Australien hatte ich mir mehr erhofft.

Aber ich bin schon gespannt auf die Leute im Forschungsteam um Professor Warren. Leider kenne ich sie noch nicht, da sie gerade auf der Insel sind und ich als Neuling ausgerechnet dann angekommen bin, als sie nicht da waren.

Ich habe den Park fast erreicht. Der Geruch von frisch gemähtem Gras und Blumen dringt mir in die Nase. Für einen kurzen Augenblick bleibe ich stehen und schließe die Augen, während ich die von der Feuchtigkeit der Rasensprenger geschwängerte Luft einsauge. Das Geräusch der Sprenger, die ihr Bestes geben, den saftig grünen Rasen instand zu halten, entspannt mich. Melbourne ist zweifelsohne eine Stadt mit Stil. Das fängt beim Rasen an, reicht über die akkurat geschnittenen Hecken und die sauberen Gehwege. Es hätte mich auch sehr verwundert, wenn die Mitarbeiter von Taylor Real Estate von ihren Büros aus auf einen ungepflegten Park gucken würden.

Taylor Real Estate, der Name schwingt in meinem Kopf hin und her, während ich die Augen aufschlage und meinen Weg fortsetze. Die letzten Meter laufe ich, da ich viel zu spät dran bin. Kurz davor bleibe ich stehen und lasse den Blick zum bestimmt zehn Meter hohen Tower wandern.

Der Komplex sieht aus wie ein gigantisches Aquarium. Überall blau-scheinende Glasfenster. Ein richtiger Eyecatcher. Mit gekräuseltem Mund wandert mein Blick wieder hinab und verharrt auf meinen Turnschuhen. Angemessen gekleidet für einen Besuch bin ich wohl doch nicht. Mir wird ein wenig mulmig, doch ich fange mich schnell wieder. Schließlich bin ich zum Putzen da. Oder ist der Laden etwa so nobel, dass selbst die Raumpfleger im Anzug ihrer Arbeit nachgehen?

Aus dem Eingang tritt eine Gruppe Menschen. Drei Männer im Anzug und zwei top gestylte Frauen in teuer anmutenden Kostümen. Sie unterhalten sich angeregt und ich vermute, dass es sich um Angestellte handelt, die gerade ihren Feierabend antreten. Ihr Arbeitstag endet und meiner beginnt … jetzt. Shit. Ein Blick auf meine Armbanduhr verrät, dass ich in fünf Minuten im Büro dieser Jennifer aufschlagen muss.

Hektisch haste ich die Treppen hinauf, trete über die Türschwelle auf feinsten Marmorboden und finde mich in einer großen Eingangshalle wieder. Wie erschlagen bleibe ich stehen und sehe mich um. Der Laden ist viel nobler, als ich angenommen habe.

Gegenüber zweier Aufzüge steht ein Tresen, hinter dem eine Dame mittleren Alters sitzt. Sie trägt eine Brille mit rotem Rand auf der Nase und hat die braunen Haare, die ein paar gräuliche Strähnen zieren, am Hinterkopf zusammengesteckt. Ihr Kostüm aus feiner Seide verrät mir ihre wichtige Position. Die Frau hinter dem Tresen koordiniert Termine, leitet Klienten von hier nach da und scheint unabkömmlich.

Ein wenig unsicher und leise trete ich an sie heran und spähe über den Tresen.

Die Frau, die gerade dabei ist, Unterlagen in einen Ordner zu heften, sieht nicht mal zu mir auf.

Ich überlege, ob ich durch ein Räuspern auf mich aufmerksam machen soll – schließlich habe ich es eilig.

„Bin gleich für Sie da“, murmelt sie blitzartig, bevor ich einen Ton von mir geben kann. Sie hat mich also doch wahrgenommen.

Fahrig schaue ich mich in der Halle um, weil ich die Frau nicht anstarren will und zucke kräftig zusammen, als ich ein lautes Räuspern wahrnehme.

„Bitteschön. Was kann ich für Sie tun? Wir schließen gleich.“ Die Augen der Dame wirken auf mich eine Nuance zu eingebildet, obwohl auf ihren Lippen ein kleines Lächeln liegt.

„Ich möchte zu Jennifer Bourne.“

„Haben Sie einen Termin?“ Der autoritäre Ton ihrer Frage wirkt etwas einschüchternd. Trotzdem lasse ich mich von ihr nicht aus dem Konzept bringen. Was denkt sie, wer sie ist?

„Ja“, halte ich in selbstbewusster Tonlage dagegen.

„Haben Sie auch einen Namen?“ Inzwischen klingt sie recht ungehalten.

„Ja.“

Die Frau schiebt ihre Sehhilfe ein Stück herunter und mustert mich über den Brillenrand hinaus. „Und der wäre?“

„Ihre Majestät Elisabeth die Zweite, durch die Gnade Gottes Königin von Australien und Ihre anderen Reiche und Territorien, Oberhaupt des Commonwealth, du Schnepfe“, antworte ich schmunzelnd in meinen Gedanken und muss mich grinsend räuspern. „Isabelle White. Also eigentlich Weiß, aber wir sind hier im englischsprachigen Raum. Das klingt besser, oder?“ Jedes Mal, wenn ich aufgeregt bin, plappere ich wirres Zeug und hasse mich dafür. So, wie jetzt. Isabelle White. Wie komme ich nur auf so einen Blödsinn? Identitätsverdrängung von Isabelle Weiß - Ex-Freundin von Sascha, dem treulosen Banker? Wahrscheinlich. Ich will in Melbourne neu anfangen, also wische ich die Tafel ab und schreibe eine neue Geschichte.

Zu meiner Verwunderung schreibt die Dame, auf deren Schild Mrs Green steht, sich diesen Namen genauso auf und nickt. „Vierzehnter Stock. Zimmer zwei.“

„Danke sehr“, antworte ich geschwollen und bedenke die Unsympathin mit einem affektiert freundlichen Nicken.

Schmunzelnd verlasse ich den Tresen und quetsche mich in einen der Aufzüge, dessen Türen sich gerade schließen. Die Vierzehn hat noch niemand gedrückt, also erledige ich das schnell, bevor ich mich in eine der hinteren Ecken stelle, um noch einmal in mich zu gehen. Vor mir steht eine Frau in einem ziemlich heißen Abendkleid. Ein bisschen zu overdressed, um eine Immobilie zu kaufen, wie ich finde. Hier in Melbourne scheint eben vieles anders zu sein als zu Hause.

Die Frau vor mir sieht während der Fahrt nach oben immer wieder auf das Display ihres Handys und stöhnt entnervt. Da ist wohl noch jemand spät dran.

Mir fällt auf, dass ich meinen Kaffeebecher noch nicht geleert habe und diesen immer noch fest umklammert an mich drücke. Ich nehme den Deckel ab, um mit dem Strohhalm, der am Ende wie ein Löffel geformt ist, noch schnell den Schaum auszuschaufeln, bevor ich den Rest austrinke, als plötzlich der Aufzug heftig ruckelt und ins Stocken kommt.

Ich verliere das Gleichgewicht und werde unfreiwillig gegen die Frau geschleudert. Mein Kaffeebecher leider auch.

„Verdammt noch mal!“, flucht sie.

Der Aufzug nimmt wieder Fahrt auf, ehe die Dame und ich uns aufgerichtet haben.

Die Frau, die nur wenig älter als ich sein muss, starrt entsetzt an ihrem Kleid hinab. „Sag mal, spinnst du? Weißt du eigentlich, wie teuer dieses Kleid ist?“

„Entschuldigung. Das war keine Absicht.“

„Pah! Keine Absicht“, schimpft sie und wirft mir einen abschätzigen Blick zu, als sei ich nur niederes Volk. „Den Job für heute kann ich vergessen. Den Arbeitsausfall bezahlst du mir und das Kleid auch!“

„Moment mal!“, werfe ich ein und straffe die Schultern – bereit, aus der Defensive in den Angriff überzugehen. „Das war höhere Gewalt! Dafür haftet höchstens der Laden hier“, verteidige ich mich entschieden. Mich trifft keine Schuld, trotzdem fühle ich mich mies. Welchen Job ich ihr wohl ruiniert habe?

Der Lift hält ein paar Etagen später. Die hübsche, mit Kaffee überschüttete Frau steigt mit einem lauten Pfff aus und lässt mich allein mit meiner Nervosität zurück, die wegen des Vorfalls überdimensionale Ausmaße angenommen hat. Fängt ja gut an, Isabelle. Erst schnatterst du unten am Tresen abstruses Zeug vor dich hin, kommst, ich werfe einen Blick auf meine Uhr, zu spät und ruinierst einer armen Frau Job und Kleid. Und nun steht mir mein erster Arbeitstag noch bevor. Das kann ja heiter werden.