Leseprobe Inselglück

Kapitel 1

Ein scharfer Nordwestwind trieb die schaumgekrönten Wogen vor sich her, als würde er ein wildes Spiel mit ihnen spielen. Krachend schlugen sie an den Strand, liefen aus und zogen sich wieder zurück, ehe ihre Nachfolger nach dem Sand griffen.

Ganz still stand Meike am Wellensaum und zog den Kragen ihrer Jacke enger um den Hals. Gischt übersprühte ihr Gesicht, und sie fröstelte, während sie die Augen schloss und sich ganz ihren Empfindungen hingab. Die kalte Nässe auf ihrer Haut, der Wind, der nach ihren Haaren griff und mit wilder Leidenschaft hindurchfuhr, der Geruch nach Salz und Jod und die Macht der Sturmböen, die sie packten und versuchten, sie zum Schwanken zu bringen. Doch sie hielt stand, als wäre sie mit dem Sandstrand verwachsen. Sie liebte die Winterstürme über der Nordsee, die über den Himmel jagenden tiefgrauen Wolken und die beständig heranrauschenden Wogen, die erst unmittelbar vor ihr Halt machten, als würden sie ihr ihren Respekt erbieten.

Diese Augenblicke, in denen es nur sie und die Nordsee gab, waren es, die ihr Kraft gaben. Kraft und Mut, den Erinnerungen die Stirn zu bieten, die sie immer wieder überfluten und mit sich reißen wollten wie die Wellen den Strand.

Seit sie Sylt, ihre Heimatinsel, verlassen hatte und hierher nach Cuxhaven gekommen war, war kaum ein Tag vergangen, an dem sie nicht am Strand entlanggewandert war. Sie brauchte die Nähe des Meeres, den Wind und die Weite um sich herum wie andere Menschen die Luft zum Atmen. Doch seit jenem Tag vor nunmehr zwei Jahren, drei Monaten und fünfundzwanzig Tagen, an dem sich ihr Leben von Grund auf verändert hatte, hatte all das noch an Bedeutung für sie gewonnen. Ja, man konnte sagen, dass es seitdem überlebenswichtig geworden war.

Denn wenn sie hier stand, der Sturm sie durchschüttelte und die Kälte durch ihre Kleidung hindurch bis auf ihre Haut drang, fühlte sie sich lebendig. Und sie spürte, dass sie nicht mehr hilflos war wie damals. Nein. Seitdem hatte sie mit jedem Tag an Kraft gewonnen, und die Nordsee war es, die sie ihr verliehen hatte. Sie war so groß und rau, so kalt und unnachgiebig, unangreifbar und kühn, und Meike hatte sie sich zum Vorbild genommen. Das war nicht schwer, weil sie direkt am Meer aufgewachsen war. Umso schwerer war es allerdings gewesen, die Schatten hinter sich zu lassen, die jener Tag heraufbeschworen hatte.

Nun stand sie hier, öffnete ihre Augen wieder, genau im rechten Augenblick. Das Sturmschwarz über ihr riss auf und ließ einige Sonnenstrahlen hindurch, und sie zauberten einen versilberten Schimmer auf die tiefgrauen Wellen, wie ein Fünkchen Hoffnung. Ganz tief sog Meike die kalte Luft in ihre Lungen und spürte, wie neue Kraft sie durchströmte und neuer Mut.

Es wurde Zeit, bald begann ihre Arbeit. Bedauernd bewunderte sie noch einmal das Lichtspiel der Sonnenstrahlen auf der Oberfläche des Wassers, ehe sie sich abwandte und den Strand hochlief. In ihrer kleinen Wohnung bereitete sie sich noch einen letzten Kaffee zu, ehe sie losmusste, das war ihr kleines Ritual geworden. Während sie umrührte, dachte sie an das wunderbare Schauspiel, dessen Zeugin sie gerade hatte sein dürfen.

Ihr Telefon klingelte und riss sie aus ihren Gedanken. Im ersten Jahr nach dem Vorfall hatte sie jedes Mal zu zittern begonnen und mitunter sogar hyperventiliert aus Angst, er könnte es sein. Dabei war dieser Gedanke vollkommen hirnrissig, denn woher hätte er ihre Nummer haben sollen? Damals hatte sie ihre Freunde und Verwandten gebeten, sie nur noch per E-Mail zu kontaktieren. Inzwischen hatte sich ihre Panik so sehr gebessert, dass sie Anrufe wieder zuließ, und das lag unter anderem an ihrem täglichen Training an der Nordsee.

Dennoch war sie erleichtert, als sie die Nummer ihrer besten Freundin Dani erkannte. Lächelnd nahm sie das Gespräch an.

„Sitzt du?“, platzte Dani anstelle einer Begrüßung heraus.

„Moment. Ich nehme dich mit in die Stube.“

Mit ihrem Handy in der Hand setzte sich Meike in den Sessel und wartete gespannt auf die Neuigkeit ihrer Freundin. Es musste sich um etwas wirklich Aufregendes handeln, denn Dani klang atemlos und schien es nicht erwarten zu können, es loszuwerden.

„So, ich sitze und …“

„Wir heiraten!“, rief Dani begeistert, noch ehe Meike zu Ende gesprochen hatte.

„Was?“, rief sie zurück. „Wirklich? Das ist ja …“

„Ja! Ich könnte abheben! Torben hat mir einen Antrag gemacht, genau an unserem vierten Jahrestag. Ist das nicht großartig?“

„Und wie! Das ist wirklich wunderschön.“

„Es war wie im Film. Wir gingen am Strand spazieren, und plötzlich ging er vor mir auf die Knie und zog einen Ring aus seiner Tasche. Ich hab geheult wie ein Schlosshund.“

„Das kann ich mir vorstellen. Wie romantisch! Oh, Süße, das ist so schön. Ich freu mich riesig für euch.“ Meike spürte, wie sie vor lauter Rührung selbst ganz feuchte Augen bekam.

„Torben ist wirklich das Beste, was mir je im Leben passiert ist.“ Dani machte eine kleine Pause. „Du kommst doch zur Hochzeit, oder?“ Plötzlich klang sie ganz anders. Unsicher. Besorgt. Ihre Freude schien wie weggewischt.

Meike schluckte. „Ich, äh …“

„Du bist meine beste Freundin. Tu mir das bitte nicht an, Meike. Ohne dich heirate ich nicht! Und das musst du dann Torben klarmachen.“ Sie seufzte so laut, dass es durch das Telefon zu hören war. „Wie lange warst du jetzt nicht mehr hier? Knapp zweieinhalb Jahre? Wie lange willst du dir dein Leben noch von den Erinnerungen verderben lassen?“

Für einen Moment musste Meike durchatmen, um den Stimmungsumschwung zu verarbeiten. Und um die Bilder wieder zu verscheuchen, die Dani gerade heraufbeschworen hatte.

„Du hast ja recht“, sagte sie leise.

Als sie ihre Heimatinsel Sylt verlassen und hierher nach Cuxhaven gezogen war, um ihren Erinnerungen zu entfliehen, war sie fest entschlossen gewesen, nie wieder zurückzukehren. Dabei wusste sie, dass sie ihren Eltern und Freundinnen damit das Herz brach, und auch ein Teil ihres eigenen Herzens war seitdem zu Eis erstarrt. Damals jedoch war es ihr als einzig möglicher Ausweg erschienen, um überhaupt weiterleben zu können. Je länger sie jedoch fort war, je mehr neuen Lebensmut ihr die Nordsee schenkte, desto öfter musste sie an zu Hause denken, an Mama und Papa, Dani und die anderen, all das, was sie zurückgelassen hatte. War es das wert? Durfte sie zulassen, dass dieses Arschloch, das sie für sich Monster nannte, immer noch so große Macht auf sie ausübte?

Je mehr Zeit verging, desto öfter hatten sich die guten Erinnerungen vor die schrecklichen geschoben, hatten sie übertüncht wie mit frischer Farbe, und sie spürte mehr und mehr, dass ihr Entschluss bröckelte, Sylt niemals wiedersehen zu wollen. Dass sie keine Lust mehr hatte, wegen dieses Typen in der Fremde zu hocken und ihre Lieben zu vermissen. Um ehrlich zu sein, hatte sie während einiger besonders mutiger Momente sogar bereits darüber nachgedacht zurückzukehren.

„Natürlich hab ich recht“, sagte Dani. „Bitte, Meike, an meinem Hochzeitstag brauche ich dich an meiner Seite. Und am besten auch vorher schon. Wer soll mir sagen, welches Brautkleid mir am besten steht? Oder welche Frisur? Wer soll meine Trauzeugin sein, wenn nicht du?“

Meike war gerührt. Mit einem Mal spürte sie wieder, wie sehr sie ihre Freundin vermisste. Und, wenn sie ehrlich war, wie sehr sie Sylt vermisste.

„Ich soll deine Trauzeugin sein?“, flüsterte sie.

„Natürlich, was denkst du denn? Dafür kommst nur du infrage. Wir beide kennen uns schon unser ganzes Leben. Und denk doch mal an deine Eltern. Was meinst du, wie sie sich freuen würden, wenn du sie mal besuchst. Sie werden auch nicht jünger, weißt du?“

Ja, das wusste sie. Meike dachte oft an ihre Eltern, und wie jedes Mal plagte sie das schlechte Gewissen. Sie hatte sie alleingelassen mit ihrer kleinen Frühstückspension. Aber nach den Ereignissen damals hatte sie es dort einfach nicht mehr ausgehalten und war auf das Festland geflohen. Und das war eine gute Entscheidung gewesen. Sie hatte in Cuxhaven sofort einen Job in einem Hotel gefunden, hatte nette Kolleginnen, sich eine gemütliche kleine Wohnung eingerichtet und fühlte sich wohl hier. Und, was viel wichtiger war, sicher. Mit der Zeit verblassten die Bilder, die sie lange bis in ihre Träume verfolgt hatten. Dennoch war sie seitdem nie wieder auf der Insel gewesen. Ihre Eltern besuchten sie regelmäßig in Cuxhaven, und auch Dani kam so oft wie möglich her.

Aber hatte ihre Freundin nicht recht? Waren fast zweieinhalb Jahre nicht genug? Und war es überhaupt einzusehen, diesem verdammten Schwein noch mehr Raum in ihrem Leben zu gewähren? Nur noch einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden?

„Ich komme“, sagte sie entschlossen und spürte ihren Herzschlag vor lauter Aufregung bis in der Kehle.

„Im Ernst?“

Danis Begeisterung war so laut, dass Meike das Telefon etwas von ihrem Ohr entfernen musste. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, und sie spürte, wie es ihr mit jedem Atemzug besserging.

Sie würde es tun. Nach all der Zeit würde sie zum ersten Mal wieder die Insel betreten, die ihre Seele zerbrochen und sie fast das Leben gekostet hatte.

„Ja. Vorausgesetzt, du sagst mir, wann und wo.“

„Ach so, ja, klar. Schon bald! In gut drei Monaten, Mitte Mai. Die Trauung soll im Hörnumer Leuchtturm stattfinden.“

„Wow, das ist ja klasse! Das ist die ideale Location für euch.“

„Finden wir auch. Immerhin habe zumindest ich noch nie woanders gelebt als in Hörnum. Torben, okay, der stammt aus Westerland, aber das macht ja nichts.“

Dani plapperte noch weiter, aber Meikes Gedanken drifteten ab. Sie hatte bis zu ihrer Flucht ebenfalls in der Nähe von Hörnum gewohnt, und ihre Eltern lebten jetzt noch dort. Wäre all das nicht geschehen, würde sie wahrscheinlich immer noch dort wohnen und gemeinsam mit ihren Eltern die Pension führen. Plötzlich schlug ihr Herz schneller, als sie sich das vorstellte. Wäre es nicht viel schöner als die Arbeit hier im Hotel, so viel Spaß sie ihr auch bringen mochte? Sylt war ihr Zuhause, und die Pension gehörte ihren Eltern und nicht irgendwelchen Fremden.

„Und die Feier?“, erkundigte sie sich schließlich. „Wo soll die stattfinden?“

„Das müssen wir uns alles noch überlegen. Es dürften so ungefähr sechzig Gäste kommen, allzu klein sollten die Räumlichkeiten also nicht sein. Eigentlich hatte ich ja immer von einer Hochzeit in eurem Frühstücksraum geträumt“, gestand Dani. „Der ist so gemütlich eingerichtet, und dann dieser grandiose Ausblick direkt auf die Nordsee. Aber der dürfte wohl leider zu klein sein.“

Die unvermittelte Erwähnung des Frühstücksraums brachte schlagartig die Sehnsucht zurück. Meike sah ihre Mutter vor sich, die mit einem warmen Lächeln den Gästen Kaffee einschenkte, sah Papa, der Obst kleinschnitt und ihr dabei zuzwinkerte. Wie hatte sie es bloß die ganze lange Zeit ohne die beiden ausgehalten?

„Sechzig Gäste würden ihn komplett überfordern“, stimmte sie zu und spürte, wie ihr Hals eng wurde. „Ich würde sagen, zwanzig wäre die Obergrenze, höchstens fünfundzwanzig.“ Rasch schluckte sie die Wehmut hinunter, um das Glück ihrer Freundin nicht zu trüben.

„Nee, das kriegen wir nicht hin“, erklärte Dani. „Wir wollen gern alle, die uns wichtig sind, dabeihaben. Schließlich wird das der wichtigste Tag in unserem Leben.“

Meike fiel etwas ein. „He, ich hab dir doch mal von Sophie erzählt, meiner ehemaligen Kollegin.“

„Meinst du die, die nach Sylt gezogen ist?“

„Genau. Sie arbeitet in einem Hotel in List. Es liegt direkt am Strand und ist ziemlich groß. Soll ich dir mal ihre Nummer geben?“

„Das klingt toll. Klar, gerne. Ich ruf da gleich an, nachdem ich mit Torben darüber gesprochen habe.“

Mit einem Mal war Meike ganz aufgeregt. Durch ihre Entscheidung, es endlich zu wagen und wieder einmal auf ihre Heimatinsel zu fahren, hatte sie das Gefühl, als hätte sich in ihrem Inneren ein Schalter umgelegt, der sie bisher gelähmt hatte, und sie spürte, wie etwas in ihr wieder in Bewegung geriet.

Nachdem das Telefonat mit Dani beendet war, rief sie kurzentschlossen gleich bei ihren Eltern an.

„Meike“, rief ihre Mutter erfreut. „Das ist aber schön. Wie geht’s dir denn? Ist etwas passiert?“

In Mamas Stimme hörte Meike die Hoffnung. Ihre Eltern hatten damals, als sie weggezogen war, sehr unter der Trennung gelitten und diese bis heute nicht richtig verwunden. Jedes Mal, wenn sie miteinander sprachen, konnte Meike die Hoffnung heraushören, sie würde zurückkehren. Konkret zu fragen, trauten sich ihre Eltern hingegen schon lange nicht mehr, nachdem Meike ihnen in der Anfangszeit mehr als einmal sehr harsch erklärt hatte, mit Sylt nichts mehr zu tun haben zu wollen.

„Nein“, erwiderte sie. „Wobei, doch. Dani rief mich gerade an. Stell dir vor, sie und Torben wollen heiraten.“

„Was? Das ist ja eine tolle Neuigkeit. Ich hab mir schon sowas gedacht. Die beiden sind so ein nettes Paar.“

Erneut wusste Meike nur anhand des Klanges der Stimme ihrer Mutter, was sie damit ausdrücken wollte. Wann ist es denn bei dir endlich soweit, Kind? Ist es nicht langsam an der Zeit, mit dieser Sache abzuschließen, so furchtbar sie auch war?

Möglich, dass sie damit recht hatte. Jedoch gab es niemanden, den sie vorstellen konnte. Mit dem Thema Männer war sie durch. Jedenfalls hatte sie das bisher gedacht. Aber nachdem sie die Liebe und Zärtlichkeit in Danis Stimme gehört hatte, stellte sie fest, dass ihr doch etwas fehlte. War es nicht so, dass sie sich nach jemandem sehnte, an den sie sich auch einmal anlehnen konnte? Jemandem, dem sie ihr Herz ausschütten, der für sie da sein würde. Und sie für ihn. Bisher hatte sie ihre Last allein getragen und war daran gewachsen, war beständig stärker geworden. Doch wäre es nicht schön, auch mal wieder schwach sein zu dürfen, ohne dass diese Schwäche ausgenutzt wurde?

„Ich freu mich auch total für die beiden.“

„Und, ähm …“ Ihre Mutter zögerte. „Was ist dir mit? Willst du herkommen? Ich meine, Dani ist deine beste Freundin, oder?“

„Ja, das ist sie.“ Meike machte eine Pause, um die Spannung zu steigern. „Und ich werde ihre Trauzeugin sein.“

Stille. Drei Sekunden, vier. Nur der Atem ihrer Mutter war durch die Leitung zu hören. Fünf Sekunden.

„Heißt das etwa …?“, begann sie vorsichtig.

Meike nickte, auch wenn Mama das natürlich nicht sehen konnte. Es war, als müsste sie es vor sich selbst bestätigen.

„Ja, ich werde zur Hochzeit kommen. Und wenn ich so lange Urlaub bekomme, werde ich schon eher kommen, damit ich Dani helfen und unterstützen kann. Sie wird ja enorm viel zu tun haben.“

„Oh, Kind, das ist ja …“ Schniefte sie etwa?

„Hör mal, Mama. Wo ich doch gerade so mutig bin … Ich weiß, dass ihr es in den letzten Jahren nicht leicht mit mir hattet. Ihr habt so viel Arbeit und seid trotzdem immer zu mir gekommen, um mich zu besuchen. Und deshalb hab ich mir überlegt, zu euch zu fahren. Wenn es möglich ist, schon kommendes Wochenende. Was sagst du dazu?“

„Was ich dazu sage?“, echote ihre Mutter. „Du würdest uns überglücklich machen. Du weißt doch, wie wir dich vermissen.“

„Also dann ist es abgemacht. Ich sehe zu, einen oder zwei Urlaubstage dranhängen zu können, damit es sich auch lohnt.“

Meike spürte, wie Gefühle in ihr aufstiegen, die sie lange nicht gespürt hatte. Zuversicht. Freude. Doch vor allem Glück. Warm und angenehm strömte es durch ihre Adern und breitete sich wohltuend in ihrem ganzen Körper und ihrer Seele aus.

Sie würde endlich damit beginnen, sich von den Schatten ihrer Vergangenheit zu lösen und sie hinter sich zu lassen. Sie war siebenundzwanzig Jahre alt. Da wurde es höchste Zeit, dass sie das Leben wieder beim Schopf packte und sich nicht mehr von Bildern und Erinnerungen erschrecken ließ.

 

Sobald sie ihre Arbeit begann, sprach sie ihren Chef Rainer auf ihre Urlaubspläne an.

„Wir haben Februar“, sagte er. „Du weißt ja selbst, dass momentan nicht viel los ist. Fahr ruhig und bleib ein paar Tage länger.“

„Danke. Und wie sieht es Mitte Mai aus? Meine Freundin auf Sylt heiratet.“ Sie wusste aus eigener Erfahrung, dass das Geschäft zu dieser Jahreszeit bereits brummte, und wappnete sich für eine Absage.

„Das ist ja schön“, sagte er. „Du sprichst aber nicht von Sophie, oder? Das hätte Markus mir bestimmt längst erzählt.“

Markus, Sophies Lebensgefährte, war ein guter Freund von Rainer und arbeitete als Manager im Sylter Hotel.

„Nein. Es handelt sich um eine andere Freundin von mir, meine älteste und beste Freundin. Wir haben uns schon im Kindergarten kennengelernt und sind seit dem ersten Tag befreundet.“

„Na, da wäre ich ja ein Unmensch, wenn ich dir Steine in den Weg legen würde, oder? Du hast schon so oft Kolleginnen zuliebe deinen Urlaub in die Nebensaison verlegt, Meike. Jetzt bist du mal dran. Es wäre ja noch schöner, wenn du meinetwegen die Hochzeit deiner besten Freundin verpassen würdest.“

„Danke.“ Meike strahlte.

Wieder zu Hause machte sie sich sofort daran, Pläne für den bevorstehenden Urlaub zu schmieden und Tickets für den Zug nach Sylt zu bestellen.

Vor ihrem Fenster heulte immer noch der Wintersturm, kalter Regen klatschte an die Scheibe, und bereits am frühen Nachmittag wurde es dunkel.

In ihr jedoch schien heller Sonnenschein. Es kam ihr vor, als wäre durch ihren Entschluss eine staubige Gardine beiseite gezogen worden, die zuvor das Licht ferngehalten hatte. Nun schien es wieder in ihr Herz und erfüllte sie mit Vorfreude.

Kapitel 2

Der Taxifahrer startete den Motor und fuhr davon. Meike sah dem Wagen hinterher, bis er hinter einer Kurve verschwand. Jetzt, wo sie hier stand, vor ihrem Elternhaus etwas außerhalb von Hörnum, zum ersten Mal nach plötzlich endlos scheinenden Jahren, hämmerte ihr Herz vor Anspannung in ihrer Brust, und für einen Moment bedauerte sie ihren Mut und wünschte sich, gar nicht erst ausgestiegen, sondern mit dem Taxi gleich wieder zurückgefahren zu sein. Unwillkürlich suchten ihre Blicke die Straße ab, scannten die vorbeifahrenden Autos, die Gesichter der Insassen. Aber natürlich konnte sie nichts entdecken, was ihren beschleunigten Herzschlag erklären könnte.

Sie wandte sich dem rot verklinkerten Friesenhaus zu, dem Reetdach, den weißen Sprossenfenstern und der wunderbaren grün-weiß bemalten Eingangstür, und spürte ein warmes Glücksgefühl in sich aufsteigen. Gleich darauf wurde ihr übel, denn ein Rascheln lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Rosenhecken, und sofort waren die Erinnerungen wieder da. Wahrscheinlich würde auch eine ganze Lebensspanne nicht ausreichen, um endgültig vergessen zu können, egal, wie weit sie fortrannte. Mühsam zwang sie sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen, bis sich die Enge in ihrer Brust etwas auflöste. Erneut sah sie zu den hübschen Fenstern des Hauses empor, sah sich selbst als Kind dahinterstehen und hinausschauen, und plötzlich kam es ihr vor, als wäre sie nie weggewesen und hätte erst gestern hier gestanden. Alles war so vertraut. Sie war zu Hause. Daran konnte kein Zweifel bestehen. Zu Hause bei all der Liebe und Geborgenheit ihrer Kindheit. Und zu Hause bei den schrecklichsten Erinnerungen, die sie sich vorstellen konnte.

Sobald sie erneut zu den Hecken schauen wollte, schloss Meike die Augen und hielt ihr Gesicht in den kalten Wind, der von der Nordsee heraufwehte. Unmittelbar hinter dem Haus, das inmitten der Dünen lag, erstreckte sich der weitläufige, hellsandige Strand, und dahinter brachen sich die grauen Wellen, auf denen heute weiße Schaumkronen hüpften, und trugen das Rauschen der Brandung heran. Meike liebte und hasste diesen Klang. Er trug die schönsten und zugleich schrecklichsten Erinnerungen ihres Lebens in sich. Die Bilder unbeschwerter Zeiten sowie purer Verzweiflung.

Auch nun überlief ein Schauder ihren Rücken. Es war, als würde der Klang der Brandung die Erinnerungen geradezu aus ihrem Kopf herausspülen, als wollte er sie zwingen, sich damit auseinanderzusetzen.

Das konnte er vergessen. Meike stellte sich die Truhe vor, in der alles eingeschlossen war. Sie öffnete den Deckel und stopfte die Bilder, die daraus hervordrängen wollten, wieder zurück. Dann schloss sie ab, schob die Truhe in eine dunkle Ecke zurück und verbarg den Schlüssel in einer Schublade. So hatte es ihr damals die Therapeutin während ihrer einzigen Sitzung vorgeschlagen. Allerdings sollte sie diesen Trick erst anwenden, nachdem sie alles verarbeitet hatte. Sie jedoch war nie wieder hingegangen. Stattdessen war sie weggezogen und hatte ein neues Leben begonnen. Alles war gut. Sie hatte einen Job, nette Kolleginnen und wohnte in einer winzigen, aber gemütlichen Wohnung. Klar, sie war schon einsam, aber das hatte sie nicht gestört. Im Gegenteil, sie wollte es so.

Rasch öffnete sie die Augen und warf erneut einen Blick auf das Haus. Sie wusste, wenn man aus einem der Fenster im Obergeschoss hinaussah, hatte man den Eindruck, von dort aus direkt ins Meer springen zu können. Damals, als sie noch hier lebte, hatte sie sich häufig zum Lesen dorthin zurückgezogen, in den Friesengiebel, und sie hatte oft hinausgesehen und von der weiten Welt geträumt, die am anderen Ende der Nordsee auf sie warten mochte.

Nun war sie wieder hier, nachdem sie beinahe am Leben zerbrochen war, und während das Haus in all seiner Schönheit sie abwartend ansah, fragte sie sich, ob sie nicht doch einen Fehler begangen hatte, indem sie hergekommen war. War sie wirklich schon so weit?

Zögernd griff sie nach ihrem Koffer und ging ein paar Schritte näher heran. Um das Haus herum führte eine niedrige Mauer aus groben Feldsteinen, hinter der große Hecken aus Syltrosen und üppige Hortensienbüsche wuchsen. Jetzt, im Februar, waren sie kahl, aber Meike wusste, wie prächtig sie im Sommer aussahen.

Eine der Gardinen bewegte sich, und Meike entdeckte einen Schatten, der gleich darauf verschwand.

Langsam ging sie weiter. In Cuxhaven, in der sicheren Geborgenheit ihrer Wohnung, war sie sicher gewesen, es schaffen zu können. Hier jedoch schien das Haus vor ihren Augen immer höher in den Himmel zu wachsen und aus seinen Fenstern auf sie hinabzustarren.

Über ihm jagten dunkle Wolken dahin, die diesen Eindruck noch verstärkten. Der Wind rauschte in den Rosenhecken.

Einen Schritt vor der Tür blieb sie erneut stehen und atmete tief durch. Alles in ihr drängte zur Flucht. Hau ab, solange du noch kannst, flehte eine Stimme in ihr.

Doch dann hörte sie das Klicken des Türgriffs, und schon wurde sie langsam aufgezogen.

Die Gestalt ihrer Mutter erschien. Ihr blondes Haar war zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden. Sie trug eine grüne Strickjacke, die sie jetzt wegen der Zugluft vor der Brust zusammenhielt, und sah sie an. Ihr Gesicht war von Linien durchzogen, an die sich Meike nicht erinnerte, doch ihre blauen Augen blickten so klar, wie sie sie kannte.

Und mit einem Mal brach all die lang unterdrückte Sehnsucht über Meike zusammen. Mit einem Satz war sie bei ihr und warf sich in ihre Arme.

Ihre Mutter zog sie an sich und drückte sie fest. „Moin, Meike. Wie schön, dass du endlich wieder hier bist“, flüsterte sie.

„Hallo, Mama“, sagte Meike in deren Haar hinein. Plötzlich schien es ihr, als wären die vergangenen Jahre einfach verschwunden und hätten sich im Nichts aufgelöst, und sie wäre niemals weg gewesen.

„Komm doch rein, es ist kalt hier draußen.“ Die Augen ihrer Mutter schimmerten feucht, als sie nach Meikes Arm griff und sie sanft ins Haus zog.

Nichts hatte sich hier verändert. An den Wänden hingen immer noch die Bilder, die sie seit ihrer Kindheit kannte: die Nordsee bei Sturm, der Lister Leuchtturm, das Rote Kliff überzogen von einer dünnen Schneeschicht, dieses Haus im Sonnenschein. Und die gerahmte Fotografie von ihren Eltern und ihr, aufgenommen am Strand, als sie fünfzehn Jahre alt war. War es wirklich schon zwölf Jahre her? Damals lagen noch keine bedrückenden Schatten über ihrem Leben, es schien nur Sonnenschein zu geben.

„Es ist Meike“, rief Mama in die Stube hinein. „Papa hat Grippe. Eigentlich müsste er im Bett bleiben. Aber für deine Ankunft ist er extra aufgestanden. Du kennst ja seinen Dickschädel.“

Meike war gerührt. Hinter ihrer Mutter betrat sie das gemütliche Wohnzimmer. Dominiert wurde es vom großen Kachelofen, in dem ein warmes Feuer flackerte. Graues Licht schien durch die rotweiß-karierten Vorhänge hindurch, beleuchtete den Tisch, auf dem drei Tassen und eine Kaffeekanne standen, und die Couch sowie den Sessel gegenüber.

Darin saß ihr Vater und sah ihr entgegen, eine Wolldecke auf dem Schoß, ein stilles Lächeln lag auf seinen Lippen und tiefe Freude in seinen Augen.

„Papa“, rief Meike, lief die wenigen Schritte zu ihm und umschlang ihn mit den Armen. Ein großes Glücksgefühl stieg in ihr auf. Sie war wieder zu Hause.

„Meine Kleine“, krächzte er und erwiderte ihre Umarmung. „Halt lieber Abstand zu mir, ich will dich nicht anstecken.“

„Und wenn schon! Ich hab dich viel zu lange nicht gedrückt.“

Vorsichtig löste sie sich von ihm und musterte sein Gesicht. Wie warm seine Augen blickten. Ein Gefühl der Zärtlichkeit überschwemmte sie wie Brandungswellen den Strand. Plötzlich bereute sie es, fortgegangen zu sein. Damit hatte sie ihren Eltern großen Kummer bereitet. Sie waren auch nicht mehr die Jüngsten. Wer konnte schon sagen, wie viel gemeinsame Zeit ihnen noch blieb?

„Wir sind sehr froh, dass du gekommen bist, Meike“, begann Mama, als hätte sie Meikes Gedanken gelesen. „Natürlich können wir uns vorstellen, wie schwer das für dich gewesen sein muss.“

Konnten sie das wirklich? Auf der langen Fahrt hierher hatte Meike unentwegt das schrecklichste Erlebnis ihres Lebens wieder vor Augen gehabt. Sie hatte keinen Blick für die Schönheit der Landschaft, als sie im Zug sitzend über den Hindenburgdamm gefahren war und sich zu beiden Seiten das Wattenmeer erstreckte. Als sie am Bahnhof in Westerland ausstieg und all die vertrauten Häuser und Straßen sah, wäre sie am liebsten sofort wieder eingestiegen und zurückgefahren. Nie mehr hatte sie zurückkommen wollen auf die Insel, auf der ihr Leben zu einem Albtraum geworden war. Das schlimmste jedoch war die Strecke zwischen Hörnum und ihrem Elternhaus, die Stelle kurz vor der Einfahrt in ihre Wohnstraße. Im Taxi hatte sie ihre Augen fest zugekniffen und krampfhaft an etwas anderes gedacht, während sie ihre Fäuste so fest geballt hatte, dass ihre Fingernägel tiefe Spuren in die Handflächen gegraben hatten.

Hilflos hob sie die Schultern. „Es tut mir leid, dass ich euch so lange allein gelassen habe“, sagte sie leise.

„Zerbrich dir darüber mal nicht den Kopf“, rief Papa angestrengt fröhlich und hustete. „Natürlich fehlst du uns jeden Tag. Aber wichtig ist nur, dass es dir gut geht.“

„Ihr wart immer für mich da.“ Erschrocken spürte Meike, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. „Und ich lasse euch ganz allein.“

„Jetzt bist du ja da“, sagte Mama entschlossen, ging aus dem Zimmer und kam mit einem Kuchentablett herein, das sie auf den Tisch stellte. „Setz dich endlich, Meike. Lass uns nicht mehr von den alten Geschichten sprechen. Du bist hier, darüber freuen wir uns unsagbar, und das ist das Einzige, was zählt. Und greif zu!“ Mit einer Kopfbewegung wies sie auf den Kuchen. „Du hast bestimmt Hunger nach der langen Fahrt.“

Stumm nahm Meike Platz. Auf dem Sofa lagen immer noch dieselben Kissen wie damals, bestickt mit Blüten in verschiedenen Farben.

Ihre Mutter schenkte ihnen Kaffee ein, setzte sich neben sie und lächelte sie an.

„Ich hab Käsekuchen gebacken, den mochtest du doch immer so gern.“ Erneut wies sie auf den Tisch. „Sahne hab ich auch geschlagen.“

Meike legte ein Stück Kuchen auf ihren Teller und wartete, bis ihre Eltern sich bedient hatten. Sobald sie den vertrauten Geschmack auf der Zunge schmeckte, spürte sie, wie sich ihre Anspannung immer weiter legte.

„Ich hab gedacht, dass ich nichts runterkriege“, gestand Papa. „Diese verdammte Grippe nimmt mir den ganzen Appetit.“ Er lächelte. „Aber jetzt schmeckt es mir plötzlich richtig gut. Ich bin wirklich froh, dass du endlich wieder hier bist.“

Seine Worte taten so gut, dass Meike mit einem Mal nicht mehr verstand, warum sie sich so lange geweigert hatte, herzukommen. Es konnte ihr doch nichts mehr geschehen.

Oder?

„Darüber bin ich auch sehr froh.“ Mama sah Papa streng an. „Davon abgesehen schadet es dir überhaupt nicht, wenn du mal weniger isst.“

Papa sah Meike leidend an. „Da siehst du, wie ich hier leben muss: unter einem strengen Regiment.“

Meike musste lachen, und dieses Lachen trieb die Reste der dunklen Stimmung zurück, die über ihr gelegen hatten.

„Du willst es doch gar nicht anders haben, das kannst du ruhig zugeben“, erwiderte ihre Mutter und lächelte ihren Vater an.

Belustigt hörte Meike zu. Diese kleinen Dispute, wie sie zwischen ihren Eltern gang und gäbe waren, hatte sie wirklich vermisst. Als ihr Vater nun einen raschen Blick mit ihrer Mutter wechselte, erkannte Meike die Liebe, die ihre Eltern füreinander empfanden. Ein Stich wie von einem Dolch durchfuhr sie. Sie selbst würde so eine Liebe wahrscheinlich niemals erleben. Dafür war zu viel zerstört worden.

Papa seufzte. „Ich fürchte, sie könnte recht haben“, sagte er an Meike gewandt mit einem kurzen Blick auf ihre Mutter. „Tolle Haarfarbe übrigens“, lenkte er gleich darauf ab und wies mit der Gabel auf Meikes Kopf. Ein großer Happen Kuchen verschwand in seinem Mund.

„Danke.“ Unwillkürlich griff Meike nach einer Strähne und zwirbelte sie zwischen ihren Fingern.

Damals, nach dem … Vorfall, hatte sie ihr langes blondes Haar abgeschnitten. Die Therapeutin hatte behauptet, dass sie mit ihren Haaren auch ihre Erinnerungen loswerden wollte. Vielmehr war es so gewesen, dass sie sich besudelt gefühlt hatte, schmutzig, so oft sie sich auch wusch. Ihre Haut konnte sie nicht loswerden, ihre Haare schon. Richtig kurz hatte sie es getragen. Doch dann hatte sie es wieder wachsen lassen, jedoch alle paar Monate in einer anderen Farbe gefärbt. Momentan trug sie es kupferrot, und es reichte ihr wieder bis zu den Schultern. Das war okay, denn nichts erinnerte mehr an die Meike, der diese Dinge zugestoßen waren.

Das Gespräch wandte sich Danis bevorstehender Hochzeit zu.

„Wir müssen ihr glatt dankbar dafür sein“, stellte Papa fest. „Wenn sie nicht heiraten würde, wärst du nicht hergekommen, stimmt’s?“

„Doch, ich glaube schon.“

Was Meike nicht sagte, war, dass sie in letzter Zeit immer häufiger darüber nachdachte, wie gut es doch wäre, wieder auf Sylt zu leben, in ihrer Heimat, bei ihrer Familie und ihren Freunden. So schön es in Cuxhaven war, fühlte sie sich dort doch oft einsam. Anfangs hatte sie es genossen und nicht anders gewollt. Mit der Zeit jedoch belastete sie dieser Umstand mehr und mehr.

 

Später half Meike ihrer Mutter, den Tisch abzuräumen, und noch später, das Abendbrot zuzubereiten.

„Ich bin so froh, dass du hier bist“, sagte Mama verträumt, während sie die Butter auf den Tisch stellte. „Es ist nicht einfach ohne dich, weißt du? Papa und ich werden ja auch nicht jünger.“

Das bekannte Gefühl des schlechten Gewissens durchfuhr Meike. Ihre Mutter war fünfundfünfzig, ihr Vater sechs Jahre älter. Das war noch lange nicht alt – und doch ließen sich Risiken, dass etwas geschah, nie ausschließen. Jetzt hatte Papa nur eine Grippe, aber was wäre, wenn einer von beiden wirklich schwer erkrankte oder einen Unfall hatte?

„Ich weiß“, erwiderte Meike leise. Sie ließ ihre Blicke durch den Raum schweifen. Alles wirkte so vertraut, und sie fühlte sich warm und geborgen. War der Gedanke daran, zurückzukehren und wieder hier zu leben, nicht verlockend?

Ihre Mutter war ihrem Blick gefolgt und sah sie jetzt nachdenklich an. Meike ahnte, was sie dachte, erkannte die Hoffnung in ihren Augen.

„Habt ihr denn immer noch so viel Arbeit?“, fragte sie.

Ihre Eltern betrieben eine Pension mit drei Ferienwohnungen und Frühstücksservice. Auch Gäste, die außerhalb wohnten, konnten frühstücken kommen. An den Nachmittagen gab es täglich wechselnden Kuchen, und das Angebot wurde sehr gut angenommen. Alles befand sich hier im Haus. Zwischen Ostern und den ersten Herbststürmen waren sie zumeist voll ausgebucht, und der Frühstücksraum brach aus allen Nähten, wenn Scharen von Radfahrern und Ausflüglern hier, direkt am Strand, eine Pause einlegten. Während dieser Zeit arbeiteten sie beinahe rund um die Uhr, um ihre Gäste zufriedenzustellen, und bis zu ihrem Wegzug hatte auch Meike hier gearbeitet und ihre Zukunft in der Fortführung des elterlichen Betriebs gesehen.

Mama nickte. „Ja, und das ist ja auch gut so. Trotzdem kann ich dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass Papa gerade jetzt, während der Nebensaison, krank geworden ist. Momentan haben wir keine Gäste, und das ist mir auch ganz recht. Gar nicht auszudenken, wenn so etwas während der Hauptsaison geschehen würde. Ich habe keine Ahnung, wie ich dann klarkommen sollte.“

„Habt ihr denn mal darüber nachgedacht, jemanden einzustellen?“, erkundigte sich Meike vorsichtig.

„Natürlich haben wir das. Im Sommer fallen wir oftmals todmüde ins Bett. Aber was soll ich sagen? Bisher haben wir es einfach nicht fertiggebracht, einen Fremden ins Haus zu holen. Es ist so, als würden wir insgeheim immer noch darauf warten, dass du …“ Sie verstummte und arrangierte rasch das Brot im Korb. „Nein“, sagte sie schließlich resolut. „Vergiss, was ich gesagt habe. Wir wollen dich nicht unter Druck setzen. Irgendeine Lösung wird sich schon finden. Bisher haben wir ja immer alles geschafft.“

Plötzlich entstand ein Bild vor Meikes innerem Auge. Ein kleines Mädchen, das draußen im Hof zwischen den Blumen spielte, während die Wäsche auf der Leine in der Sonne trocknete. Ein Mann trat aus dem Haus, hob sie auf seine Schultern und ging mit ihr zum Strand hinunter. Sanft schlugen die Wellen an den Sand, grün schimmernd, während die Sonne auf den kleinen Wogen glitzerte.

Sie spürte, wie sich ein Lächeln auf ihr Gesicht stahl. Ihre Kindheit hier hatte einem Paradies geglichen, und ihre Eltern waren immer für sie da gewesen. War sie es ihnen nicht schuldig, sie nun zu unterstützen? Die Erinnerungen an die schreckliche Sache, die sie von hier vertrieben hatte, durften nicht länger ihr Leben bestimmen. Es hatte hier auf Sylt nicht nur schlimme Stunden gegeben, sondern viel mehr schöne Zeiten. Unendlich viele wunderschöne Erlebnisse. Glichen die nicht die Finsternis aus, die noch in den Ecken ihrer Erinnerung lauern mochte?

„Vielleicht ist der Gedanke daran ja gar nicht mehr so abwegig“, sagte Meike leise.

Der Kopf ihrer Mutter fuhr zu ihr herum, und die aufflackernde Hoffnung in ihren Augen schmerzte und beglückte Meike gleichermaßen.

„Was heißt …? Wie meinst du das?“, fragte sie zögernd.

„Ich hatte lange Zeit zum Nachdenken. Und nun, wo ich wieder hier bin, spüre ich, wie schön es ist und wie gut es tut. Wie ich es vermisst habe. Gib mir noch ein wenig Zeit, ja? Ich bin gerade erst angekommen.“

Ihre Mutter verstand sie auch, ohne dass sie weitersprach. Sie nickte nur, und ihre Augen schimmerten feucht, während sie sie anlächelte.

Meike erwiderte das Lächeln. Der Gedanke an eine mögliche Rückkehr nach Sylt erfüllte sie wesentlich weniger mit Furcht, als sie gedacht hatte. Vielmehr verspürte sie Aufregung, ja, sogar freudige Erwartung. Bei ihrer überstürzten Abreise damals hatte sie so viel zurückgelassen. Das meiste davon war gut.

 

In der Nacht kehrten die Schatten zurück. Meike lag in ihrem ehemaligen Jugendzimmer in ihrem alten Bett. Das Bettzeug duftete nach Weichspüler, und durch das Fenster drang leise das Rauschen der Wellen. Damals, vor all dem, hatte dieser Klang sie immer beruhigt und in den Schlaf begleitet. Das versuchte er auch jetzt, doch sie konnte nicht anders, als sich vorzustellen, was damals geschehen war, bis sie mit wild klopfendem Herzen und aufgerissenen Augen hellwach in der Dunkelheit lag.

Schließlich schob sie die Decke beiseite, stand leise auf und trank einen Schluck Wasser. Wie still es war. Bis auf die Brandung war nichts zu hören. Sie trat ans Fenster und blickte hinaus. Hier gab es keine Straßenlaternen wie in Cuxhaven, die die Nacht erhellten und den Blick auf das Meer verhinderten. Der Dreiviertelmond warf sein Licht auf die schimmernden Wellen, die silbrig glänzten, während sie unentwegt heranwogten. Unzählige Sterne leuchteten zwischen ein paar rasch dahinziehenden Wolken. Alles wirkte so friedlich.

Und doch hatte sie hier auf dieser kleinen Insel fürchterliche Dinge erlebt, die …

Nein. Entschlossen schüttelte sie den Kopf und dachte an die Truhe, in der all das sicher verwahrt war. Die Erinnerungen konnten ihr nichts mehr anhaben. Es war lange her, sehr lange.

Sie legte sich wieder hin und schloss die Augen. Dieses Mal erschienen ihr nur Bilder von silbernen Wellen und glitzernden Sternen. Rasch schlief sie ein.

Kapitel 3

Zwei Jahre und vier Monate zuvor

„Was für eine geniale Party!“

Atemlos gesellte sich Meike zu Dani, die vor dem Tisch stand und sich am Buffet bediente. Sorgfältig wählte sie und legte zwei kleine Frikadellen, zwei Käsespieße, eine Scheibe Baguette mit Lachs und eine mit gekochtem Ei auf ihren Teller.

Glücklich strahlte sie ihre Freundin an. An diesem Abend feierte ihre gemeinsame Freundin Steffi ihren fünfundzwanzigsten Geburtstag in einer Kneipe in Hörnum. Nun hatte sich der Nebenraum, den sie für heute gemietet hatte, in eine Tanzfläche verwandelt, auf der sich rund zwei Dutzend Körper im Takt bewegten. Weitere Gäste saßen auf Stühlen und aßen die Köstlichkeiten vom Buffet oder standen auf der Terrasse vor den Dünen, rauchend und sich unterhaltend. Alle schienen sich wunderbar zu amüsieren, niemand langweilte oder stritt sich.

„Stimmt. So viel Spaß hatte ich schon lange nicht mehr.“

Mit ihrem Teller steuerte Meike einen der Tische an und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Gerade hatte sie mindestens eine Dreiviertelstunde lang ununterbrochen getanzt. Jetzt knurrte ihr der Magen.

Dani folgte ihr, nachdem sie sich ebenfalls ihren Teller gefüllt hatte, und auch Steffi, Antje und Larissa gesellten sich zu ihnen.

„Kai kriegt heute nix mehr zu trinken“, erklärte Steffi und hob ihr Glas mit Aperol Spritz an die Lippen. „Der erzählt einen schmutzigen Witz nach dem anderen.“

„Lass ihm doch seinen Spaß.“ Antje führte eine Gabel mit Nudelsalat zum Mund. „Als Alleinunterhalter hat er Talent.“

Wie auf Kommando erscholl lautes Gelächter von der anderen Seite des Raums zu ihren herüber.

„Das ist ja auch in Ordnung. Aber er lallt schon.“ Steffi verstummte und lauschte, indem sie sich eine Hand hinter das Ohr hielt. „Da, hört ihr das? Er redet ganz schwammig. Das wird morgen noch heiter. Ich kenn ihn ja. Er wird den ganzen Tag nur jammern und leiden, und ich muss ihn bemuttern.“

Meike lachte. „Das kommt mir bekannt vor! Sebastian ist genauso.“ Sie hatte ihn in dem Grüppchen um Kai ausgemacht. Gerade warf er den Kopf in den Nacken und wieherte vor Lachen.

Wie gut er aussah. Sein dunkles Haar fiel ihm in die Stirn, was ihm ein verwegenes Aussehen verlieh. Er trieb viel Sport, was man seinem Körper auch ansah. Über drei Jahre waren sie jetzt schon zusammen, und sie war immer noch so verliebt wie am ersten Tag. Sie beobachtete, wie er erneut einem Witz lauschte. Seine Augen glänzten, und er trank einen Schluck aus seinem Glas. Whisky, wie sie vermutete.

„Männer werden eben nie so richtig erwachsen“, bemerkte Larissa und wandte sich an Meike. „Wie kommst du heute eigentlich nach Hause?“

Sie wandte den Blick von ihrem Freund und hob die Schultern. „Tja, im Grunde wollte Sebastian mich nach Hause fahren. Er hatte versprochen, sich mit dem Trinken heute zurückzuhalten. Hat nicht geklappt, wie man sieht.“

„Du kannst bei mir schlafen“, schlug Dani vor. Sie wohnte nur wenige Straßen weiter.

Meike schüttelte den Kopf. „Ausgerechnet morgen kommen neue Gäste. Ich hab meinen Eltern versprochen, zeitig aufzustehen und ihnen zu helfen.“

„Ach herrje, und das ausgerechnet am Morgen nach einer so tollen Party. Du Ärmste.“

„Das ist schon in Ordnung, ich mach das gern.“ Erneut sah Meike zu Sebastian hinüber. Als würde er es bemerken, erwiderte er ihren Blick und warf ihr eine Kusshand zu. Sie konnte ihm einfach nicht böse sein. Eigentlich müsste sie das, denn dass er sie in seinem Zustand nach Hause brachte, konnte er vergessen. Auf keinen Fall wollte sie verantworten, dass er womöglich in eine Polizeikontrolle geriet und Ärger bekam. „Mein Fahrrad steht ja noch draußen“, erklärte sie. Am Nachmittag war sie mit dem Rad hergekommen, um Steffi beim Schmücken des Raumes zu helfen. Sebastian wollte es mit dem Wagen mitnehmen, wenn er sie nach Hause brachte. Da er so viel getrunken hatte, wurde daraus nun nichts, das konnte sie nicht zulassen.

„Du willst mitten in der Nacht mit dem Fahrrad zurückfahren?“, fragte Dani besorgt. „Es ist stockdunkel draußen. Außerdem ist es stürmisch und richtig fies kalt.“

„Da werde ich wenigstens schnell wieder nüchtern. Wirklich, macht euch keinen Kopf, okay? Es sind ja nur paar Kilometer, das schaffe ich schon.“

„Wollen wir mal kurz rausgucken, was das Wetter macht?“, erkundigte sich Dani und zog besorgt die Stirn kraus. „Wenn es zu schlimm ist, lass ich dich nicht fahren, das sag ich dir gleich.“

„Okay“, gab Meike nach.

Sie verließen den Raum und durchquerten die Kneipe. Selbst zu dieser späten Stunde war sie noch gut besucht. Meike erkannte einige Einheimische, aber es waren auch viele Touristen dabei. Gelächter, laute Musik und angeregte Gespräche füllten den Raum. Im Rücken spürte sie die Blicke einiger Gäste, als sie mit Dani zur Tür ging und sie aufschob.

Tatsächlich war es frisch und windig geworden. Fröstelnd verschränkte sie die Arme vor der Brust.

„Und du bist dir wirklich sicher?“ Dani sah sie zweifelnd an.

„Klar. Immerhin regnet es nicht. Die kurze Strecke ist kein Problem.“

„Puh, also mir wäre das zu kalt. Lass uns schnell wieder reingehen.“

Einige Männer lächelten sie an, als sie erneut die Kneipe durchquerten und den Tresen passierten. Dani warf den Kopf in den Nacken und zwinkerte Meike verschwörerisch zu. Kichernd öffneten sie die Tür zum Partyraum und gingen hinein.

„He, wo warst du denn?“ Sebastian kam auf sie zu, sobald sie die Tür hinter sich schlossen.

„Kurz frische Luft schnappen.“

„Sie will mit dem Fahrrad nach Hause fahren“, erklärte Dani und sah ihn finster an.

Er zuckte zurück. „Wieso das denn? Ich hab dir doch gesagt, dass ich dich bringe.“

„Aber nicht in deinem Zustand.“ Ein wenig ärgerlich wurde Meike nun doch. Sie würde es nicht zugeben, aber die Vorstellung, durch die stockfinstere Kälte zu fahren, behagte ihr überhaupt nicht.

Sebastian hob beide Hände. „Ich hör sofort auf, okay? Ab sofort gibt’s nur noch Cola für den Rest des Abends.“

„Die Einsicht kommt reichlich spät. Nee, echt, es macht mir nichts aus“, log Meike. So war sie schon immer. Lieber nahm sie persönliche Nachteile in Kauf, statt für Dispute zu sorgen. Sie war eben sehr harmoniebedürftig.

„Darüber reden wir noch“, gab Sebastian diplomatisch zurück. „Jetzt komm, wollen wir tanzen?“

Schon war Meike wieder versöhnt. Wenn er sie aus seinen klaren Augen so ansah, konnte sie ihm einfach nicht mehr böse sein. Sie legte ihm die Arme um den Hals und schmiegte sich an ihn, während er sie an sich zog, und sie begannen, sich langsam im Takt der Musik zu bewegen. Ein paar Minuten lang tanzten sie umschlungen und wortlos, und sie genoss seine Nähe und seine Wärme. Er umfasste sie fester und drückte sie an seinen harten Körper, vergrub sein Gesicht in ihrem Haar, und sie spürte wieder, wie viel er ihr bedeutete, wie sehr sie ihn liebte.

Nur am Rande bekam sie mit, dass die Tür geöffnet wurde und einige Männer hereinkamen.

„Geschlossene Gesellschaft“, rief Kai durch den Raum.

„Oh, Entschuldigung“, gab einer der Neuankömmlinge zurück und wollte sich zurückziehen.

„Ach, lass sie doch.“

Über Sebastians Schulter hinweg beobachtete Meike, wie Steffi die Männer hereinwinkte. Sie vermutete, es sollte eine Art Seitenhieb gegen Kai sein, weil er heute dem Alkohol so großzügig zusprach. Tatsächlich verstummte er plötzlich und warf den neuen Gästen misstrauische Blicke zu. Sie standen seitlich an einer Wand, ihre Bierflaschen in Händen, und lächelten in die Runde.

Meike kümmerte sich nicht weiter um die Männer, sondern tanzte lieber mit Sebastian und genoss seine Nähe und seine Hände, die über ihren Rücken strichen.

Mit Tanzen, lockeren Gesprächen und einigen Gläsern Cola verging die Zeit wie im Flug. Außer einem Glas Sekt gleich zu Beginn hatte Meike heute Abend keinen Alkohol getrunken, denn ihr Wecker würde früh klingeln, und vor den neuankommenden Gästen wollte sie einen guten Eindruck machen und ihnen nicht mit verquollenen Augen gegenübertreten. Irgendwann verabschiedeten sich die ersten Freunde und verließen die Party.

„Es wird Zeit, ich muss los“, sagte auch Meike nach einem Blick auf die Uhr. Es war schon nach zwei Uhr, viel Schlaf blieb ihr nicht mehr. Aber das machte ihr nichts aus, dafür war die Party fantastisch gewesen.

„Komm doch lieber mit zu mir“, bot Dani erneut an. „Du kannst auch von mir aus schnell nach Hause fahren.“

„Und erst eine halbe Stunde lang meine Frisur in Ordnung bringen, nachdem ich durch den Wind gefahren bin“, gab Meike zurück und lachte. „Wirklich, es macht mir nichts aus. Im Gegenteil, ich werde die Fahrt durch die frische Luft genießen. Und morgen früh hab ich dann noch Zeit, in Ruhe zu duschen, ehe unsere Gäste eintreffen.“

„Soll ich dich nicht doch eben nach Hause bringen?“ Sebastian sah sie fast beschwörend an. Aber sein Blick flackerte; fast meinte Meike, den Alkohol in seinem Blut kreisen zu sehen.

„Nein, das kann ich nicht verantworten. Du bist betrunken.“

„Um diese Zeit ist keine Polizei mehr unterwegs.“

„Und wenn doch? Wenn du meinetwegen deinen Führerschein verlierst?“

„Das passiert nicht so schnell.“

„Du könntest von der Straße abkommen, die Gewalt über den Wagen verlieren. He, du merkst das wahrscheinlich selbst gar nicht, aber du hast echt eine Menge intus, Sebastian. Und noch einmal: Es stört mich nicht. Ich fahre gern Rad.“

„Ich hab trotzdem kein gutes Gefühl dabei.“ Dani sah sehr besorgt aus. „Darf ich dir wenigstens ein Taxi rufen?“

Meike war gerührt. „Ihr seid echt süß, wisst ihr das? He, es sind nur wenige Kilometer, und ich kenne die Strecke wie meine Westentasche. Ich würde auch mit verbundenen Augen nach Hause finden. Ein Taxi ist viel zu teuer, und bis es hier ist, dauert mir das viel zu lang. Ich bin schon bei schlimmerem Wetter Fahrrad gefahren. Wirklich, ich will jetzt los, es wird höchste Zeit.“

„Okay, wie du meinst.“ Dani umarmte sie fest. „Dann komm gut nach Hause. Melde dich kurz, wenn du angekommen bist, ja?“

„Mach ich.“

Sebastian brachte sie noch vor die Tür und wartete, bis sie ihr Fahrrad aufgeschlossen hatte. Trotz des ungemütlichen Wetters standen immer noch einige Gäste draußen, rauchten und unterhielten sich. Auch ein Restaurant in der Nähe hatte noch geöffnet, und einige Häuser weiter schien eine private Party zu laufen.

„Es tut mir leid“, sagte Sebastian.

„Schon okay. Wie kommst du eigentlich nach Hause?“, erkundigte sich Meike und schloss ihre Jacke.

„Ich werde mich hier etwas hinpacken, sobald alle weg sind. Morgen wird mir wahrscheinlich alles wehtun, aber das geschieht mir recht, nachdem ich zu viel getrunken habe.“ Er sah sehr zerknirscht aus.

Innerlich war sich Meike nicht so sicher, ob es richtig war, was sie vorhatte. Sie fror bereits jetzt in ihrem Rock und der viel zu dünnen Jacke. Andererseits waren es ja wirklich nur wenige Kilometer. Doch der Wind war kalt und drang rasch bis auf ihre Haut. Scheiße! Plötzlich wurde sie sauer auf Sebastian. Warum hatte er sich nicht zurückgehalten, wie er es versprochen hatte?

„Ja, das geschieht dir recht.“ Ärgerlich funkelte sie ihn an. „Ich fahr jetzt los“, sagte sie rasch, ehe sie es sich doch noch anders überlegte.

„Ich liebe dich“, gab er zurück und küsste sie zärtlich.

Meike erwiderte nichts. Strafe musste sein. Sie stieg auf ihr Fahrrad und fuhr los. Für eine Weile meinte sie noch, Sebastians Blicke im Rücken zu spüren. Sie passierte einige Wohnhäuser und ein Lebensmittelgeschäft, dann bog sie von der Nebenstraße auf die Hauptstraße ein, die sie auf schnurgeradem Weg nach Hause führen würde. Wegen der Dunkelheit verzichtete sie auf den Radweg, denn tatsächlich sah sie, sobald sie den Ort verlassen hatte, trotz der Fahrradlampe so wenig, dass sie fürchtete, aufgrund des starken Winds vom Radweg abzukommen, auf dem Grünstreifen ins Schliddern zu geraten und womöglich zu stürzen. Nein, dieses Risiko wollte sie nicht eingehen. Um diese Uhrzeit, mitten in der Nacht, herrschte ohnehin kaum noch Verkehr, und so konnte sie es ausnahmsweise auch einmal wagen, auf der Straße zu fahren.

Schon nach kurzer Zeit bereute sie ihren Starrsinn und wünschte sich, sie hätte Danis Angebot angenommen, bei ihr zu übernachten. Es war so kalt, dass sie bald ihre Hände kaum noch spürte, ihre Ohren beinahe abfroren und sie ihre Beine zwingen musste, in Bewegung zu bleiben. Der kalte Wind zerrte an ihr, drang unter ihren Rock und den Ausschnitt ihrer Jacke. Hoffentlich endete das nicht in einer saftigen Erkältung!

Sie erschrak, als ein unerwarteter Lichtstreifen von hinten ihren Weg erhellte. Kurz tauchte er die Dünen entlang der Straße in ein gespenstisches Licht. Ihr Herz schlug schneller, während sie hoffte, dass der Autofahrer sie in der Dunkelheit gut erkennen würde. Vielleicht hätte sie doch den Radweg nehmen sollen! Der Wagen näherte sich rasch und setzte zum Überholen an; immerhin in einem großen Bogen, er hatte sie also gesehen. Meike hielt den Atem an, während er kurz mit ihr auf einer Höhe war. Wo wollte der eigentlich um diese Zeit noch hin? Hier kam doch fast nichts mehr. Vielleicht ein verliebtes Paar, das sich an den verlassenen Strand ganz im Süden zurückziehen wollte. Schon war er an ihr vorbei, und die Rücklichter verloren sich in der Nacht.

Der Weg erschien ihr endlos. Im matten Licht der Sterne war kaum etwas zu erkennen, und sie sehnte sich nach ihrem warmen Bett. Wann war sie denn endlich da? Nach ihrem Gefühl müsste hier doch jeden Moment die Einfahrt zu ihrer Wohnstraße kommen. Ja, tatsächlich meinte sie, sie bereits erkennen zu können, die Lücke in den Dünen, den dunklen Fleck des Asphalts, der zwischen ihnen hindurchführte und …

Alles ging so schnell, dass sie nicht einmal mehr aufschreien konnte.

Dass sie aus den Augenwinkeln einen Schatten gesehen hatte, der auf sie zusprang, realisierte sie erst, als sie bereits spürte, wie sie vom Fahrrad gerissen wurde. Irgendetwas – jemand? – hatte sich um ihren rechten Unterarm und in ihr Haar gekrallt, und sie wurde so grob zur Seite gerissen, dass ihr linkes Bein gegen den Fahrradrahmen prallte und heftiger Schmerz überall zugleich aufflammte: an ihrem Kopf, ihrem Bein, ihrem Arm. Schon schlug sie auf dem Boden auf, auf dem harten Asphalt, und noch ehe dieser Schmerz zu ihr durchdringen konnte, noch ehe sie ihr eigenes Ächzen hörte, als die Luft aus ihren Lungen gedrückt wurde, wurde es schwarz vor ihren Augen.