Leseprobe Ich sehe, was du tust

Kapitel 1

Hazel Karelius musste nur noch dreißig Mal sterben, um endlich frei zu sein.

Zweiunddreißig Mal, um genau zu sein, dachte sie und schob im Fallen eine Hand an ihre Wange, um nicht mit dem Gesicht auf den staubigen Brettern zu landen.

Die Pause, die auf ihren Tod folgte; die absolute Dunkelheit als Kontrast zu der ausgeklügelten Bühnenbeleuchtung, markierte wie immer die Grenze zwischen Illusion und Realität.

Die Stille war beinahe surreal, aber gleich … gleich würde das Publikum den Zauber durchbrechen. In bester Absicht und mit begeistertem Applaus würde es die Leistung der Schauspieler würdigen, und die mit jeder Menge Leidenschaft und Technik erschaffene Traumwelt arglos einreißen.

Nur für wenige Sekundenbruchteile würde das Publikum noch eine gesichtslose Menge bleiben. Das anonyme Schwarz, dem Hazel sich Abend für Abend offenbarte … dem sie ihre ungefilterte Emotion in den dunklen Rachen schleuderte.

Sie erhob sich im Schutz der lichtlosen Bühne und huschte nach hinten zu den anderen. Nur für einen kurzen Augenblick, das war klar, denn der erste Vorhang gebührte der Hauptdarstellerin. Sie war kaum auf der Hinterbühne angelangt, wo die anderen sich eng aneinanderdrückten, als auf der Hauptbühne alle Lichter angingen und zeitgleich der Applaus aufbrandete.

Hazel zählte innerlich bis zehn und lief dann nach vorne. Sie knickste in einer Mischung aus Schauspieler- und Tänzerinnenverbeugung und war im nächsten Moment schon wieder von der Bühne verschwunden. In genau abgesprochener Reihenfolge taten es ihr nun jene Eltern, Lehrer und Schüler gleich, die knapp zwei Stunden lang versucht hatten, den Tod einer Schülerin entweder zu forcieren oder zu verhindern.

Schließlich fanden sich alle hinter der Bühne zusammen, um einander gleich darauf wieder spielerisch nach vorn zu schieben. Spätestens jetzt, als sie alle aus ihren Rollen fielen, um ein wenig des Applauses für sich selbst in Anspruch zu nehmen, platzte die Seifenblase. Abend für Abend.

In dem demonstrativ fröhlichen Gewusel verspürte Hazel plötzlich einen heftigen Stoß in ihrem Rücken. Die anderen hatten nichts bemerkt, nur eine wusste davon. Das war Hazel spätestens dann klar, als Pia sie im letzten Moment vor dem Fall grob an der Schulter zurückriss.

»Vorsicht, Chrissie«, zischte sie in ihrem Nacken, »tu dir nicht weh!«

Hazel reagierte nicht. Natürlich nicht. Sie hätte das auf die Situation schieben können. Selbstverständlich strahlte sie glücklich ins Publikum, als sie sich mit ihren Schauspielkollegen ein letztes Mal für diesen Abend verbeugte. Alles andere wäre absolut deplatziert gewesen. In Wahrheit aber hätte sie auch hinter der Bühne nicht gewusst, wie sie auf diese offene Gemeinheit der Kollegin reagieren sollte.

Ihr einziger Trost konnte in diesem Moment sein, dass die Antwort auf diese unliebsame Frage schon in wenigen Wochen mehr als obsolet sein würde. Zufrieden stellte sie diese Erkenntnis dennoch nicht.

Sosehr sie eben alle noch ein Team gewesen waren, so schnell zerfiel die Gemeinschaft hinter der Bühne in die bekannten Grüppchen und Einzelgänger. Hazel beeilte sich, durch die verschlungenen Katakomben in die große Gemeinschaftsgarderobe zu kommen.

Wer sehen und vor allem gesehen werden wollte, ging hinter der Bühne seitlich hinaus. Mit Sicherheit war Pia gerade hierhin getanzt. Hazel legte auf den ganzen Rummel keinen Wert. Nachdem der Sturm sie in der Rolle erfasst, herumgewirbelt und an die markierte Stelle gespuckt hatte, war sie nach der Vorstellung vielmehr bemüht, wieder in ihr kontrolliertes Ich zurückzufinden. Bebend vor Emotion und mit noch zitternden Knien, gelang ihr das mal besser, mal schlechter. Heute, nach der müßig überspielten Attacke der Kollegin, waren ihre Gedanken überraschend klar.

Wie immer wählte sie den schmalen Gang von der Hinterbühne, um unbemerkt zur Garderobe zu kommen. Auf dem verwinkelten, von Schattengeistern bevölkerten Weg registrierte sie einmal mehr den besonderen pudrigen Duft, den es nur im Theater gab, und der eine Spur Lampenfieber von Generationen von Schauspielern und ein Konzentrat der jahrzehntealten Geschichten in sich trug und der sie schon früh verzaubert hatte. Seit ihrer Kindheit war die Theaterluft für sie untrennbar mit der Faszination für diese Scheinwelt verbunden, in der Kummer und Glück genau einen Abend lang währten.

Gerade bog sie um die letzte Ecke, als sie, noch auf dem Gang, die schrille Stimme ihrer Kontrahentin hörte.

»Klar, ich war damals ja auch noch blutjung.« Pia lachte kokett. »Gerade mal dreiundzwanzig. Aber es war ein schöner Start für eine junge, unerfahrene Schauspielerin, und immerhin habe ich beim ersten großen Engagement gleich die Hauptrolle bekommen!«

Hazel ahnte, über welche Rolle sie sprach.

»Auch wenn sie, nun ja, nicht gerade die Krone des Anspruchs ist. Zugegeben.«

Natürlich nicht. Hazel hob die Augenbrauen. Zu durchschaubar war der Versuch ihrer Kollegin, die die Hauptrolle zumindest heute nicht mehr bekommen hatte, ihre Leistung kleinzureden. Sicher konnte sie da noch nachlegen. Drei, zwei, … und tatsächlich.

»Unser Regisseur damals hätte die Christiane jedenfalls niemals mit einer über Dreißigjährigen besetzt.«

Jetzt hatte sie es ihr aber gegeben. Hazel unterdrückte den Impuls, die Augen zu verdrehen. Stattdessen betrat sie den Raum vermeintlich unbeeindruckt und steuerte an den anderen vorbei zu ihrem Platz. Von Pias Entourage kam nur ein unbestimmtes Murmeln, womöglich zustimmend, genau konnte Hazel das nicht sagen.

Mittlerweile machte sie der ständige Konkurrenzdruck am Theater nicht mehr traurig, sondern nur noch müde. Sie konnte die zahlreichen Möchtegern-Attacken ihrer überspannten, vermutlich frustrierten Kollegin mittlerweile allerdings gut ausblenden. Dass sie sich im Gegensatz zu ihr auch mit vierunddreißig noch ihre Tänzerinnenfigur und ein mädchenhaftes Äußeres bewahrt hatte, war in ihren Augen kein Makel.

In Hazels erstem Leben, das sie ebenfalls auf die Bühne, wenn auch mit Spitzenschuhen und Tutu, hätte führen sollen, hatte es diese Art von Lästereien nicht gegeben. Wahrscheinlich waren sie alle einfach zu erschöpft gewesen von den vielen Stunden täglichen Trainings. Kein Wunder also, dass sie nicht gelernt hatte, sich gegen solche verbalen und körperlichen Angriffe zur Wehr zu setzen.

Sie spähte verstohlen in Richtung Pia, die inzwischen ein anderes Thema gefunden zu haben schien, mit dem sie ihre kleine Anhängerschar unterhielt. Einerseits froh darüber, dass die Kontrahentin das Interesse an ihr verloren hatte, ärgerte Hazel sich dennoch wieder einmal über ihre fehlende Schlagfertigkeit, und noch mehr darüber, dass sie diese unerfreuliche Episode so sehr beschäftigte.

»Ich habe das gesehen«, erklang plötzlich eine heisere Stimme dicht hinter ihr, als sie sich gerade vor den Spiegel ihrer verschnörkelten Schminkkommode, einem Überbleibsel ausrangierten Bühneninventars, gesetzt hatte. Der warme Atem des Sprechers streifte unangenehm ihren Nacken und ein, zwei verlorene Speicheltröpfchen landeten auf ihrer Haut. Sie erschauderte innerlich, beherrschte sich aber.

»Ach, Elliott, du bist es!«, versuchte sie, Zeit zu gewinnen. Der Kollege sah abseits des schmeichelnden Bühnenlichts ziemlich fertig aus. Aus geröteten Augen starrte er sie empört an, gerade so, als habe sie sich etwas zuschulden kommen lassen. Sie konnte nichts dagegen tun, dass sie sich schlagartig noch ein wenig unwohler in ihrer Haut fühlte. Schlimmer noch, als sich wehrlos mobben zu lassen, war es wohl nur noch, dabei beobachtet zu werden.

»Genau. Aber lenk mal nicht ab.«

»Hm?«

»So langsam überspannt sie den Bogen echt. Das ist nicht cool, wenn du mich fragst.«

»Da sind wir uns einig«, gab Hazel zurück. »Und jetzt? Was soll ich denn deiner Meinung nach gegen ihre ungerichtete Aggression tun?«

»Also ungerichtet sah der Stoß gerade nicht aus.« Elliott starrte finster auf den Boden.

»Ach komm, über so etwas lohnt es sich einfach nicht, nachzudenken. Wer verletzt ist, verletzt andere. Sagt man das nicht so?« Hazel hoffte, dass ihr Kollege sich mit dieser Floskel abspeisen ließ.

»Keine Ahnung.« Elliott war in Gedanken offensichtlich schon wieder ganz woanders. Hazel erschien er mit einem Mal seltsam traurig.

»Aber nett, dass du …«, begann sie, als Elliott sich plötzlich abwandte und in Richtung seines Schränkchens, das in besseren Zeiten ebenfalls auf der Bühne gestanden hatte, verschwand.

Irritiert schloss sie den Mund. Was auch immer das sollte, es hatte jedenfalls nicht dazu beigetragen, dass sie sich besser fühlte. Hazel legte ihre Abschmink-Utensilien bereit und begann energisch damit, sich das siebzehnjährige Schulmädchen aus ihrem Gesicht zu wischen.

Sie hatte sich lange mit der Frage gequält, ob ihre Entscheidung für das Theater ein Fehler gewesen war. Ob ihre russische Mutter, die erfolgreiche Tänzerin, Ballettlehrerin und Choreografin, letzten Endes doch recht behalten hatte und ihr Platz in Wirklichkeit woanders war. Noch heute hatte sie ihre Stimme im Ohr: »Das Ballett wird dich stählen, körperlich wie mental, und dir eine Disziplin antrainieren, die dich durch dein ganzes Leben tragen wird. Nichts wird dich dann noch aus der Bahn werfen können, nichts mehr wird so hart sein, wie das, was du bereits geschafft hast.«

Vielleicht hatte sie recht gehabt. Wirklich mental gestählt zu sein, fühlte sich nämlich ganz bestimmt anders an.

Aber dennoch hatte sie sich damals widersetzt, zum ersten Mal in ihrem Leben. Sie hatte mit sechzehn Jahren ihrer Mutter zu erklären versucht, warum es die Schauspielerei sein musste. Wie es ihr nur auf der Bühne gelang, laut zu sein. Wie unvorstellbar die Freiheit war, die ihr die Rollen verschafften. Dass sie sich zeigen, alle Emotionen ausleben konnte und genau dann das Leben spürte, wie nie zuvor.

Schließlich war ihre strenge, disziplinierte Mutter weich geworden. Vielleicht hatte sie in ihren Augen jenen Funken erkannt, der sie selbst einst zu Höchstleistungen angetrieben hatte. Hazel hatte die Diskussion jedenfalls längst gewonnen, als sie noch zu kämpfen geglaubt hatte. Sie trug die Worte ihrer Mutter bis heute im Herzen: »Es bedeutet dir viel, das habe ich verstanden. Wenn es so ist, musst du es tun. Du weißt, dass ich dich immer unterstützen werde.«

Und jetzt? War sie dabei aufzugeben? Hatte sie verloren? Was würde ihre Mutter sagen, wenn diese sie so sähe? Ein undefinierbares Knäuel aus aufgeschobener Trauer und Scham verstopfte ihre Kehle, und ihre Augen füllten sich zu ihrem Entsetzen mit Tränen.

Schluss jetzt! Sie war keineswegs schwach und würde auch nicht aufgeben. Im Gegenteil, sie hatte eine Lösung gefunden und war dabei, etwas Neues zu wagen. Warum sollte ihre Mutter nicht stolz auf sie sein, und warum, verdammt noch mal, sollte sie das mit ihren vierunddreißig Jahren überhaupt kümmern?

Sie stopfte Wattepads und Feuchttücher in den Kosmetikeimer, fuhr sich flüchtig mit der Bürste durch die Haare und band sie zu einem strammen Pferdeschwanz zusammen. Dabei sah sie sich im Spiegel streng in die Augen und dachte erneut: Schluss jetzt!

Bevor sie ihre Gedanken jedoch auf die nähere Zukunft richten und sich Mut machen konnte, blitzte etwas in ihrem Gesichtsfeld auf, das sie zunächst nicht einordnen konnte. Sie kniff die Augen zusammen und blinzelte die letzten Reste des Make-up-Entferners weg.

Noch ein wenig verschwommen fiel ihr Blick auf die rechte untere Ecke des Spiegels und verharrte dort wie gebannt.

Kapitel 2

Hazel neigte ihren Kopf ein wenig zur Seite. Frontal konnte sie die blutige Nachricht besser erkennen.

Ich komme

hatte jemand in purpurroten Lettern auf den spiegelnden Untergrund geschmiert. Lippenstift, vermutete Hazel, hoffentlich kein Blut. Dass sie tatsächlich die Adressatin dieser Worte sein sollte, konnte sie kaum glauben, auch wenn sie alle feste Plätze in der Künstlergarderobe hatten. Aber das machte doch keinen Sinn.

Hazel hob und drehte ihren Kopf unauffällig und sah in Pias Richtung. Ihre Kollegin war allerdings gerade damit beschäftigt, ihre Bühnenkleidung zusammenzulegen, und wirkte zur Abwechslung einmal ehrlich desinteressiert an ihr und der seltsamen Botschaft. Sie ließ ihren Blick heimlich weiter über ihre Kollegen wandern, aber noch immer stach ihr nichts Auffälliges ins Auge. Kostüme wurden abgelegt, Gesichter von der zähen Theaterschminke befreit. Genau wie sie, wollten die anderen nach der Vorstellung so schnell wie möglich nach Hause. Für ihre merkwürdige Entdeckung schien sich hier jedenfalls niemand zu interessieren.

Hazel beschloss, dem kuriosen Schriftzug keine allzu große Bedeutung beizumessen. Nichtsdestotrotz spürte sie deutlich, wie eine Gänsehaut ihre Arme überzog. Sie konnte das Gefühl, dass jemand sie beobachtete, einfach nicht verdrängen. Sollten die anderen doch denken, was sie wollten, das war ihr egal. Sie stand unvermittelt auf und drehte sich um. Immer noch schien niemand Notiz von ihr zu nehmen. Einer hatte sie jedoch offenbar schon länger ganz genau im Visier. Elliott schaute laut, auf seine ganz eigene Weise, und hielt ihrem Blick unbeeindruckt stand

Die gewohnte Geräuschkulisse aus Gesprächsfetzen, Lachen und zugerufenen Abschiedsfloskeln trat auf einmal in den Hintergrund. Hazel spürte einen unangenehm wattigen Druck auf ihren Ohren. Nur die stumme Verbindung zu Elliott, der wie eine Statue im Türrahmen stand, sirrte wie ein Laserstrahl durch ihren Kopf.

Was er wirklich mitbekommen hatte und ob er ebenso überrascht war wie sie, konnte sie nicht erkennen, doch so oder so verursachte ihr sein ungewohntes Interesse ein ungutes Gefühl im Magen. Er sah ihr jetzt nicht mehr in die Augen, sondern betrachtete ihr Gesicht sekundenlang eindringlich, so als wolle er jede Regung in sich aufsaugen. Sie runzelte die Stirn und überlegte gerade, ob sie zu ihm hinübergehen sollte, als seine Aufmerksamkeit im Bruchteil einer Sekunde erstarb. Er wandte sich ab, ohne sie noch einmal anzusehen, und verließ grußlos den Raum.

Hazel hielt irritiert inne. Sie würde von sich zwar nicht behaupten, dass sie Elliott besonders gut kannte oder gar einschätzen konnte, doch seine emotionalen Ausbrüche waren ihnen allen hier mittlerweile gut vertraut.

»Er hat seine ganz eigene Bühne immer mit dabei«, hatte sie in einer entsprechenden Situation mal aus dem allgemeinen Getuschel der Kollegen herausgehört und das damals als äußerst unhöflich und ungerecht empfunden.

Vielleicht war es gerade ja auch gar nicht um sie gegangen. In seinem Getriebensein kreiste Elliott so sehr um sich selbst, dass andere Menschen für ihn womöglich gar nicht mehr als Staffage waren. Lediglich Kulisse für seinen wechselnden Wahn oder eine Projektionsfläche für einen Spielpartner, und als solche irgendwie schon sinnvoll, darüber hinaus aber kaum einen Gedanken wert.

Was auch immer hinter Elliotts auffälligem Verhalten stecken mochte, sie würde es nicht herausfinden und hatte überdies auch gar keine Zeit zu verlieren. Ein flüchtiger Blick auf die Uhr bestätigte ihr nämlich, dass es bereits nach Mitternacht war, und morgen um zehn Uhr stand bereits die nächste Probe an. Viel wichtiger aber war der Termin, den Hazel für den Nachmittag vereinbart hatte. Vor zwei Wochen war das gewesen und seither hatte ihr Herz beim Gedanken daran immer eine Spur schneller geschlagen. Schließlich hatte sie damals rigoros ausgeschlossen, diesem Menschen noch einmal freiwillig gegenüberzutreten. Aber die Dinge änderten sich, so einfach war das … so beängstigend und so wenig abwendbar.

Sie wandte sich zu ihrem Platz um, sammelte ihre wenigen Habseligkeiten zusammen und schlüpfte in den Mantel. Wenn sie vor dem Schlafen noch ein wenig Zeit darauf verwenden wollte, Mut für morgen zu tanken, musste sie jetzt los. Ein halbherziges »Tschüss, bis morgen« später, fand sie sich allein in dem schummrig beleuchteten Gang vor der Garderobe wieder. Noch heute war es für sie faszinierend, wie sich der Weg nach draußen durch absurde Kurven und Kehren und über mehrere Treppen nach oben, zum Licht, hinschlängelte. Im Halbdunkel passierte Hazel die schalldichten Probenräume, verschlossene und offene Türen und leere Kammern und trat schließlich an Johnnys Pförtnerloge aus dem Gang heraus. Sie warf dem freundlichen Hausinspektor einen schnellen Gruß zu und stand wenig später in der herbstkühlen Nacht.

Während sie auf den Bus wartete, überlegte sie einmal mehr, wie es wohl sein würde, wenn sie in wenigen Wochen das Theater zum letzten Mal auf diesem Weg verließ. In der Gewissheit, dass sie so bald nicht zurückkehren würde und mit der Spielstätte zugleich auch ihren seit Jahren gewohnten Alltag verabschieden würde. Es würde wohl eine Erleichterung sein, ihr aber bestimmt auch schwerfallen.

Es war seltsam, aber sie wusste instinktiv, dass der Bruch so hart sein musste, damit sie es wirklich spürte … damit sie begriff, dass sie entkommen konnte. Warum ihr das so wichtig war, konnte sie gar nicht erklären, aber sie war sich sicher, dass es gerade jetzt wichtiger denn je war, und dass sie dabei keine Kompromisse mehr machen wollte.

Der leere Bus hielt vor ihr und sie stieg vorne ein. Sie zeigte dem Fahrer ihr Ticket und vermied dabei jeden Augenkontakt. Es war ihr unangenehm, der einzige Fahrgast zu dieser Uhrzeit und mit ihrem Ziel zu sein. Die letzte mögliche Haltestelle lag etwa zweihundert Meter von ihrem Haus entfernt und ihr Weg führte zum Großteil durch die westliche Flanke des Stadtwaldes. Sie überlegte kurz, eine Station früher auszusteigen, aber auch dort war die Straße nach Mitternacht wie ausgestorben.

Eine knappe Viertelstunde später stieg sie am Rand des kleinen Waldstücks aus. Dabei überprüfte sie den Weg hinter sich und vor sich unauffällig und achtete darauf, ihre Schritte ruhig und entschlossen zu setzen. Irgendwo hatte sie mal gelesen, dass davon abgeraten wurde, dunkle Wege immer wieder zu der gleichen Zeit zu gehen. Prima Idee. Sie schüttelte den Kopf. Wohl dem, der diese Wahl hatte.

Hazel rechnete unwillkürlich jeden Moment damit, dass eine plumpe Gestalt aus dem Gebüsch springen und sie packen würde, und natürlich lief sie längst viel zu schnell. In weiten Abständen färbten orangestrahlende Laternen den aufsteigenden Bodennebel und tauchten den Weg in ein diesiges Licht. Gerade hell genug, um gesehen zu werden. Allein die Tatsache, dass sie gleich dort vorne am Waldrand wohnte und es eigentlich nur ein relativ kurzes Stück war, das sie zu Fuß zurücklegen musste, hatte sie bisher immer in Sicherheit gewiegt. Ein trügerisches Gefühl, wie ihr heute wieder besonders bewusst wurde, da etwas Entscheidendes anders war.

Denn gleich würde sie ihr leeres, dunkles Haus betreten, in dem niemand auf sie wartete. Bei dem Gedanken daran wurde sie nervös. Villem und sie waren in den letzten Jahren nicht oft voneinander getrennt gewesen, aber jetzt war die zehntägige Geschäftsreise einfach nicht abwendbar gewesen und so hatte sie das Haus in dieser Zeit ganz für sich allein. Sie sollte versuchen, das Ganze positiv zu sehen. Immerhin hatte sie so die Möglichkeit, ungestört über ihre nächsten Schritte nachzudenken und sich ganz auf das Treffen morgen zu konzentrieren.

So in Gedanken versunken, hatte sie kaum bemerkt, dass sie den größten Teil des kleinen Waldstücks schon fast hinter sich gelassen hatte. Weit und breit war niemand zu sehen, trotzdem war Leben um sie herum. Die Geräuschkulisse wurde von den Nachtvögeln in den Bäumen und ihrer durch die Büsche huschenden Beute dominiert. Alles war vollkommen friedlich.

Nun auch in ihr. Sie trat aus den Schatten hinaus auf den asphaltierten Wirtschaftsweg, der direkt zu ihrem Haus führte. Wie es sich gehörte, war nichts als Dunkelheit hinter den Fenstern zu erkennen, als sie mit dem Schlüssel nacheinander die zwei unabhängigen Sicherheitsschlösser der Haustür öffnete. Hazel war bewusst, dass sie im Schein der über den Bewegungsmelder gesteuerten Beleuchtung für jedermann gut sichtbar im Licht stand. Sie wollte gerade unauffällig ins Haus huschen, als sich etwas in ihr Blickfeld drängte. Was war das denn für ein buntes Fähnchen, das da aus ihrem Briefkasten hing? Sie runzelte die Stirn, zog die Zeitung heraus und trat ins Haus.

Sie schaltete die Deckenlampe an und sofort glitt ihr Blick über die Titelstory der reich bebilderten Tageszeitung, die sie gewiss nicht abonniert hatte. Einer der Gründe dafür war unmittelbar ersichtlich. Auf Seite eins des Skandalblattes prangte ein detailliertes Foto einer Leiche. Einem Mordopfer, wie die fett gedruckte Überschrift reißerisch in Großbuchstaben verriet. Der Körper lag ausgestreckt halb über, halb unter einem Berg von blutbesudeltem Kinderspielzeug, Puppen und Plüschtieren. Die Gliedmaßen erschienen seltsam verrenkt, das Gesicht war nur notdürftig verpixelt.

Sie erschauderte. Welchen Erkenntnisgewinn sollte diese Darstellung des Toten bringen? Schlimm genug, dass es kranke Menschen gab, die solche Taten begingen. Daraus aber auch noch Profit zu schlagen, empfand sie als zutiefst unmoralisch. Genau deswegen boykottierte sie diese Art von Schmutzblättchen auch. Außerdem konnte sie auf das Kopfkino sehr gut verzichten.

Mit spitzen Fingern trug sie die Zeitung die wenigen Schritte in die Küche und warf sie mit Nachdruck in den Papiermüll. Erst dann verriegelte sie sorgfältig alle Schlösser und betätigte den Lichtschalter für das hinter der Tür auf der rechten Seite abgehende Treppenhaus. So war die Helligkeit direkt hinter dem frontalen Glaselement der Haustür im Landhausstil deutlich abgeschwächt. Sie wusste, dass sich ihre Silhouette im indirekten Lichtschein nun kaum noch abzeichnete.

Mit wenigen Handgriffen zog sie ihren Mantel aus, hängte ihn in die Garderobe und schlüpfte aus den Straßenschuhen in ihre Hausschuhe. Die Stille im Haus war ungewohnt für sie. Selbst wenn ihr Mann an manchen Tagen bereits im Bett war, wenn sie nach der Vorstellung spät nach Hause kam, war da doch irgendwie Leben im Haus. Sie spürte ihn selbst schon beim Betreten des Hauses. Sein Fehlen heute fühlte sich einfach falsch an.

Als Erstes ging sie an der angelehnten Küchentür vorbei und durch den engen Flur ins Wohnzimmer. Von hier aus hatten sie einen wunderbaren Blick durch zwei große Panoramafenster in den riesigen, blickgeschützten Garten. Die nächsten Häuser standen ein ganzes Stück entfernt. Der Gedanke, dass jemand sie beobachten könnte, war also absolut unsinnig. Dennoch ließ sie die Wohnzimmerlampe zunächst ausgeschaltet und betätigte im Dämmerschein des Treppenhauses die zwei elektrischen Rollläden. Erst als diese vollständig nach unten gefahren waren, entspannte sie sich und schaltete das Licht an.

Auf dem Weg ins Badezimmer versuchte sie, die Spiegelungen auf den gläsernen Bilderrahmen an den Wänden im Flur zu ignorieren. Aber sie war trotzdem nervös. Sie machte sich nur schnell frisch und kehrte dann mit einer Wasserflasche und einem Glas ins Wohnzimmer zurück. Die Digitalanzeige der Mini-Wetterstation auf dem Tisch, für die Villem sich so begeistert hatte, zeigte 01.15 Uhr an. Eigentlich sollte sie jetzt im Bett liegen, aber der Termin am morgigen Tag verschwand einfach nicht aus ihrem Kopf.

Sie war unruhig und ging in Gedanken immer wieder mögliche Versionen des anstehenden Gesprächs durch, denn eines war klar: Sie musste unbedingt vorbereitet sein und durfte keinesfalls in alte Verhaltensmuster fallen, wenn sie ernst genommen werden wollte. Ach ja, entspannt sollte sie bei alldem außerdem auch noch wirken, selbstbewusst und keine Angriffsfläche bieten.

Kapitel 3

Nach der Probe am heutigen Vormittag hatte sie auf der Liste ihrer noch ausstehenden Tode einen weiteren durchstreichen können. Sie war nun bei einunddreißig angelangt.

Jetzt hatte sie für einige Stunden frei, bevor sie am späten Nachmittag pünktlich zwei Stunden vor der Vorstellung wieder am Theater sein musste. Jenny, die Zweitbesetzung in Tod einer Schülerin, hatte sie um die Abendvertretung in dieser Woche gebeten und sie hatte gern eingewilligt. Zum einen mochte sie die junge Kollegin, die sie dem Wesen nach an sie selbst in ihren ersten Jahren am Theater erinnerte, und außerdem wusste sie, wie gewaltig die Umstellung auf das professionelle Schauspielerleben war, in dem sich soziale Kontakte außerhalb der Arbeit in kürzester Zeit auf ein Minimum reduzierten. Vom Privatleben ganz zu schweigen.

Sie unterstützte Jenny daher gern und war überrascht über die fast mütterliche Zuneigung zu der knapp fünfzehn Jahre jüngeren Kollegin. Für ihre nähere berufliche Entwicklung sah sie dies durchaus als positives Zeichen. Damit war sie eigentlich auch schon beim Thema: Dem Besuch bei ihrer alten Schauspiellehrerin, der uralten Orla, wie sie diese heimlich immer genannt hatte. Wohl, um ihr ein wenig von der furchteinflößenden Art zu nehmen. Ein Wunsch, der ebenso verständlich wie vergeblich gewesen war.

Aber das waren alte Geschichten, versuchte sie sich zu beruhigen. Sie stieg aus dem Linienbus, der sie in den wohlhabenderen Stadtteil gebracht hatte, und lief die letzten paar Hundert Meter zu Fuß. Seit ihrem letzten Treffen waren über zehn Jahre vergangen. Eine Zeit, die an ihnen beiden nicht spurlos vorübergegangen sein dürfte. Oder, um es anders zu formulieren: Hazel war froh, dass ihre gestrenge Mentorin noch am Leben und gewillt war, sie zu empfangen.

Und was war mit ihr selbst? Sie war seit vielen Jahren dauerhaft an verschiedenen Theatern engagiert, nicht selten als Hauptrolle. Sie lebte das Leben einer erfolgreichen Schauspielerin. Offenbar trug der Unterricht der alten Orla also Früchte. Womöglich freute sich diese sogar darüber oder war gar stolz auf ihre frühere Schülerin.

An dieser Stelle würde im Film nun kitschige Musik eingespielt werden und die Protagonistin in einen Sonnenuntergang spazieren. Hazel schmunzelte und fühlte, wie die Anspannung, die sie wegen des kurz bevorstehenden Wiedersehens befallen hatte, ein wenig nachließ. Es war vollkommen klar, dass die uralte Orla niemals so reagieren würde, und falls doch, bestünde berechtigter Grund zur Sorge.

»Ich bin dafür da, dich zu bilden und zu stählen«, hatte sie ihr mehr als einmal ungerührt erklärt, wenn sie ihre Schülerin kleingemacht hatte, bis diese ihre Tränen kaum noch zurückhalten konnte. »Jetzt heul nicht. Was, wenn dein Liebster dich verlässt und du zwei Stunden später eine Vorstellung hast? Dann kannst du dich auch nicht so gehenlassen. Haltung, Madame, Haltung!«

Das Schmunzeln war bei dieser Erinnerung schlagartig aus Hazels Gesicht gewichen und sie merkte, wie tief die Verletzungen immer noch saßen, mithilfe derer die Meisterin sie hatte stählen wollen. Warum sie sich dennoch dafür entschieden hatte, den Kontakt mit ihr wieder aufzunehmen, hatte mehrere Gründe.

Bei aller Härte hatten deren Worte Hazel doch in einer Weise erreicht, mit der sie etwas hatte anfangen können. Im Spannungsfeld einer alles andere als gleichberechtigten Beziehung verstanden sie sich durchaus, und am Ende hatte ihr Spiel tatsächlich davon profitiert. Das musste über allem stehen. Außerdem - und die Bedeutung dieses Umstands konnte nicht groß genug geschätzt werden - war Orla eine alte Bekannte ihrer Mutter. Diese hatte ihr damals die exzentrische Lehrerin empfohlen, und es wäre Hazel niemals in den Sinn gekommen, diese Wahl anzuzweifeln. Auf eine nicht wirklich erklärbare Art und Weise fühlte sie sich ihrer Mutter verpflichtet, auch heute noch auf diese Empfehlung zu vertrauen. Schließlich war die Beziehung zwischen Lehrerin und Schülerin in ihrem Geschäft eine absolut persönliche Angelegenheit. Erst recht auf ihrem Leistungsniveau, wie sie vollkommen sachlich und uneitel erkannte. Hier ein Perfect Match zu finden war äußerst schwierig und zeitaufwendig.

Nicht zuletzt reizte es Hazel, zu sehen, wie sie einander nach all der Zeit begegnen würden. Ob es auf annähernd gleicher Augenhöhe geschehen konnte oder ob ihre alten Rollen sich unbeeindruckt von Zeit und Entwicklung automatisch über sie legen würden.

Sie atmete tief durch. Jetzt, in der Übergangsphase zur dunklen Jahreszeit, erschien ihr die Luft immer besonders rein. Das feuchte Laub unter ihren Füßen verlieh der Herbstluft eine ganz eigene, erdige Note. Hazel spürte wieder einmal, wie sehr sie diese Jahreszeit dem Sommer vorzog. Vielleicht konnte die klare Luft sogar etwas gegen ihre heftigen Kopfschmerzen ausrichten. Wieder sog sie diese bewusst ganz tief in ihre Lungen und behielt sie dort einen Moment lang, bevor sie sie geräuschvoll ausstieß, und sich einredete, dass ihre Anspannung schon wieder etwas abgenommen hatte.

Sie kannte den Weg noch von früher und wusste daher, dass es nur noch wenige Schritte waren. Hier wurde die Bebauung langsam spärlicher. Lauter eindrucksvolle Häuser, deren Pforten weit von der Straße entfernt lagen, und die ihren Reichtum beinahe gelangweilt zur Schau trugen.

Ganz anders wohnte die alte Orla. Hazel lief die letzte Kurve entlang, an deren Ende sie einen ersten Blick erhaschen würde. Gleich …

»Da wohnt die Hex’!«, kreischten unvermittelt schrille Kinderstimmen in ihrem Kopf. »Geh nicht dorthin, da wohnt die Hex’!«

Eine Erinnerung an ein lange vergangenes Weihnachtsmärchen, das sie im Kindermusiktheater aufgeführt hatten. Es war zwar schon einige Jahre her, aber die Lieder hatten sich ihr offenbar eingebrannt.

Sie versuchte sich an einem verunglückten Lächeln, als ihr Blick auf die Miniaturvilla fiel, an der sich scheinbar nichts verändert hatte. Dichtes Efeu erstickte die Mauern dunkel und unheilvoll. Das Haus behütet seine Geheimnisse, schoss es Hazel durch den Kopf. Kein Laut würde von hier nach außen dringen, und unliebsame Widersacher würden verschluckt.

So ein Unsinn. Sie rief sich zur Ordnung und straffte die Schultern. Sie nahm die Haltung an, die unzweifelhaft gleich von ihr gefordert werden würde. Aber sie war gewappnet.

Den Eingang des Grundstücks markierte, genau wie damals, ein Rosenspalier, dem sich nach wenigen Schritten ein belaubter Miniatur-Bogengang anschloss. Hazel passierte die Rosen. Jetzt bloß nicht zögern. Die Luft war hier, unter dem Laubdach, sofort deutlich kühler.

Hazels Herz schlug unwillkürlich schneller und die so sorgsam im Zaum gehaltene Aufregung kehrte jäh zurück. Dann, plötzlich, blitzte in ihrem Gesichtsfeld etwas auf. Ihr Blick flog über das grüne Dach – war das ein verlorener Sonnenstrahl oder war es die schlimmere Alternative? Sie konzentrierte sich auf die grelle Form; eine gezackte leuchtende Raute, die jetzt durch ihr Blickfeld wanderte, und schloss die Augen. Wie sie befürchtet hatte, blieb das sich bewegende Bild bestehen.

Die frische Herbstluft hatte also nichts gegen ihre Migräne ausrichten können und die Anspannung hatte ein Übriges dazu getan. Sie fischte blind eine jener starken Tabletten aus ihrer Tasche, die es manchmal schafften, einen schweren Verlauf aufzuhalten. Ohne sie würde sie morgen schlimmstenfalls flachliegen. Akut konnte der kleine runde Segensbringer allerdings nicht viel ausrichten.

Die Aura, eine neurologische Erscheinung, die ihren mitunter tagelangen starken Kopfschmerzen vorausging, kam immer ungelegen. In diesem Moment aber ganz besonders. Wann immer es möglich war, suchte sie in solchen Situationen sofort einen dunklen Raum auf und legte sich mit erhöhtem Oberkörper hin, bis das Ganze vorbei war. Sie wusste, dass diese Auren in den meisten Fällen maximal eine Stunde anhielten, sich in dieser Zeit aber so sehr verstärken konnten, dass ihr gesamtes Gesichtsfeld von einem Flackern überstrahlt wurde.

Der wirklich schlimme Schmerz kam immer erst danach. Hazel versuchte, das für den Moment als Trost zu sehen, und hoffte, dass die optischen Irritationen in der nächsten halben Stunde nicht allzu schlimm werden würden. Länger würde ihr Gespräch heute hoffentlich nicht dauern.

Die Raute hatte sich mittlerweile zu einer noch kleinen Doppelhelix entwickelt und zuckte über das obere rechte Viertel ihres Blickfelds.

Dass ihre Nervosität sich nun auf zwei Schauplätze verteilte, führte nicht zu einer Verbesserung ihres Befindens. Sie beschloss, so gut wie möglich zu ignorieren, was sie nicht ändern konnte und konzentrierte sich stattdessen auf das bevorstehende Treffen.

Dann, als sie noch nicht wirklich darauf gefasst war, stand auf einmal die uralte Orla wenige Schritte vor ihr und starrte sie an. Hazel war einige Sekunden wortlos im Anblick ihrer alten Lehrmeisterin gefangen. Diese war immer noch eine Erscheinung, das konnte man mit Fug und Recht sagen. Selbst hier, fernab der Bühne, im trüben Licht eines Herbstnachmittags und in ungewohnt legerer Freizeitkleidung. Hazel hätte wetten können, dass sie die einstige Ikone der Landesbühne noch nie in profanen Bluejeans gesehen hatte.

Das ungewöhnliche Beinkleid bildete einen schrägen Kontrast zu der Gestaltung ihres Gesichts. Obwohl sichtlich gealtert und von viel mehr Falten als früher durchzogen, war es sorgfältig, wenn auch sehr kräftig, geschminkt. Den Fokus bildeten, wie schon früher, die dramatisch dunkel umrandeten Augen und der großzügig bis zu den Augenbrauen verteilte anthrazitfarbene Lidschatten. Die Vorstellung, wie sich die über Jahrzehnte aufgetragenen Farben peu à peu in die alte, pergamentartige Haut hineingefressen hatten, drängte sich Hazel unweigerlich auf.

»Na also, da bist du ja«, richtete die Meisterin jetzt das Wort an sie, und Hazel fühlte sich sofort wieder wie damals. Der vertraute Klang der Stimme, die der minimale russische Akzent so einzigartig machte, war ein bisschen, wie nach Hause kommen. In ein strenges Zuhause, in dem genau eine das Sagen hatte. So viel zum Thema Augenhöhe.

»Du hast dich kaum verändert«, urteilte Orla jetzt.

»Das Kompliment kann ich nur zurückgeben.« Hazels Stimme klang unerfreulich belegt und zu leise. Das alte leidige Thema. Eines der alten Themen.

»Ist die Frage, ob das ein Kompliment ist.« Ihre alte Lehrmeisterin lachte heiser auf. »Aber vielleicht sollte ich dich erst einmal hineinbitten. Komm mit!«

Sie schob die schön verzierte Tür aus dunklem Holz auf und winkte Hazel zu sich.