Leseprobe Ich bin näher als du denkst

Prolog

So hatte er sich das nicht vorgestellt. Natürlich hatte er daran gedacht, sie zu töten (seitdem sie in sein Leben getreten war, hatte er kaum an etwas anderes gedacht), doch in seiner Vorstellung und seinen dunklen Träumen war alles ganz anders abgelaufen.

Das Messer war dasselbe; das, welches er jetzt in der Hand hielt, mit dem er zustach, Schnitte zog, das er auf sie niedersausen ließ. Das er während seiner langen Proben benutzt hatte, wenn er im Auf-und-Abgehen Pläne schmiedete, Strategien entwickelte und die tödlichen Stöße übte. Damals waren seine Bewegungen behände, war die Klinge hell und flink wie ein Silberfisch gewesen.

Zwangsläufig hatte er auch seine Emotionen eingeübt: wenn er seine Scheinangriffe führte oder einen Satz nach vorn machte, spürte er sie in nuce; wie ein Schauspieler auf dem Weg zum vollen Verständnis seiner Rolle, wenn Herz und Talent noch nicht vollends entfaltet sind.

Während dieser Scheinangriffe hatte er sich immer vollkommen unter Kontrolle. Natürlich war er erregt gewesen, natürlich voller Begierde und in gehobener Stimmung, doch nie hatte er das Gefühl gehabt, der Rolle des Scharfrichters nicht vollkommen gewachsen zu sein.

Aber jetzt war alles schrecklich schiefgelaufen. Plötzlich hatte es ihn überkommen, und zwar keineswegs so, wie er erwartet hatte. Zunächst war die Umgebung anders. Obwohl sein eigenes Zimmer Schauplatz seiner Vorübungen gewesen war, hatte er sich immer vorgestellt, dass der eigentliche Mord an einem anderen, nicht näher bestimmten, möglicherweise leicht ausgefallenen Ort stattfinden würde.

Zudem hatten sich seine Gefühle verändert. Ursprünglich waren wohl Lust, Erregung und Stolz im Spiel gewesen, doch war er nicht auf den überwältigenden Wandel seiner geistigen und körperlichen Empfindungen vorbereitet, der eintrat, nachdem er den ersten Schnitt gemacht hatte. Es war, als wäre tief in seinem Innern ein Licht angegangen, als wäre die Spannung rapide angestiegen. Die so entfesselte Energie war in nichts mit dem vergleichbar, das ihn durch seine Übungen und seine tägliche Routine gebracht hatte. Es war eine schwarze, kochende Flutwelle, die ihn mit sich fortriss, ihn zu immer größerer Raserei trieb, sodass er, als sie sich gelegt und ihn auf dem dunkelroten Bett zurückgelassen hatte, um sich sah und seinen Augen nicht trauen wollte.

Aber vor allem war sie anders. Die Tatsache, dass sie einfach aufgetaucht war. Sich ihm fast angeboten, seine Hand geführt hatte. Und ihr Körper war anders. Er hatte darauf geachtet, dass das Messer immer so scharf geschliffen war wie eine glänzende Rasierklinge, und er hatte sich vorgestellt, dass es in ihren Körper eindringen würde, als wäre er aus Butter. Doch Scheinangriffe und Sprünge durch die Luft waren eine Sache, Fleisch und Blut eine ganz andere. Verschiedenes kam ihm in den Weg: Knorpel und Sehnen und harte weiße Knochen. Er wusste nicht, welcher Stoß sie getötet hatte. Es schienen so viele nötig zu sein.

Regungslos kauerte er über ihrem Körper. Seltsamerweise war es völlig still. Niemand klopfte gegen die Decke, um sich zu beschweren, niemand kam die Treppe herauf, um an der Tür zu rütteln. Zitternd stand er jetzt auf, wusch sich die Hände, stopfte einige Sachen in eine Tasche, zog sich die Jacke an. Mit der wirklichen Welt kehrte allmählich auch das Gefühl für die Richtigkeit seines Tuns zurück. Er hatte nur getan, was zu tun war. Und wenn das Glück auf seiner Seite war, konnte dies nur ein weiteres Zeichen dafür sein, dass er richtig gehandelt hatte. Er ging zur Tür, ohne sich umzuwenden. Das alles lag jetzt hinter ihm. Er öffnete die Tür und trat auf den Flur.

Bis zum nächsten Mal.

1

Er hatte lange gebraucht, bis er die Fotos beisammenhatte. Anfangs war er überhaupt nicht wählerisch gewesen. Jedes einigermaßen bekannte Gesicht war ihm recht. Er hatte selbst solche Leute an die Wand geheftet, die allein dafür berühmt waren, berühmt zu sein: Leute wie Bianca Jagger. Aber schon bald hatte sich dieses Verfahren als äußerst unbefriedigend erwiesen. Zum einen waren sie so schwer zugänglich. Bianca Jagger bekam man nie zu sehen. Sie trat weder im Fernsehen noch im Kino auf. Und niemals im Radio. Gelegentlich gab es Fotos von ihr, die sie in einer bestimmten Bar oder Disco im Kreise gänzlich unbekannter Leute zeigten. Deshalb musste Bianca fort.

Er fand ein gewisses Vergnügen daran, sie von der Wand zu nehmen. Diejenigen, die es nicht ganz geschafft hatten. Gewöhnlich riss er ihre Gesichter ganz langsam in zwei Hälften, manchmal verbrannte er sie in einer Untertasse, wobei er beobachtete, wie der Teil eines Lächelns oder eine Korkenzieherlocke zusammen mit einer glänzenden Pupille erst hellbraun, dann schwarz wurde und in graue Flocken zerfiel.

Manchmal dauerte es einige Zeit, bis die leere Stelle wieder gefüllt war. Er hatte keine Eile. Nach und nach gestaltete er die drei Wände genauso, wie er es sich vorgestellt hatte. Die vierte war bis auf einige Regale, auf denen er eine Sammlung äußerst ungewöhnlicher Bücher untergebracht hatte, von der Tür eingenommen. Auf gewisse Weise war die dem Fenster gegenüberliegende Wand die befriedigendste. Sicherlich die glanzvollste. Ein Odeon der Stars. Auf »Odeon« war er stolz.

Er war in einer amerikanischen Zeitschrift darauf gestoßen, und es schien ihm das treffendste Wort für seine glitzernde Pracht zu sein. Jetzt benutzte er es ständig, ohne sich seiner Herkunft zu erinnern. Unbekannte Wörter übten eine starke Anziehung auf ihn aus, deshalb hatte er immer ein kleines Notizbuch für seine »Aufzeichnungen« bei sich. Viele der Fotos waren signiert, einige sogar mit einer Widmung versehen. »Alles Gute, Burt Reynolds«. »Mit den besten Wünschen, Faye Dunaway«. Und sein Name war erwähnt. Sein wirklicher Name, auf den er getauft war. Als er das letzte Mal jemanden in sein Zimmer ließ, hatte sich die Besucherin das Foto von Robert Redford angeschaut (»Für Fenn – mit den besten Wünschen«) und behauptet, die Unterschrift sei lediglich aufgedruckt. Es hatte keinen Zweck, darüber zu streiten. Er wusste, dass es einem einfühlsamen Menschen wie Robert Redford, der für seine Bemühungen um aussterbende Tierarten bekannt war, nicht im Traum einfallen würde, so unaufrichtig zu sein. Das Mädchen hatte nie erfahren, wieso er es später zum Weinen gebracht hatte.

Die zweite Wand war eindeutig von minderer Qualität. Theater- und Fernsehschauspieler, die meisten von dieser Seite des großen Teiches. Ihre Ausstrahlung musste zwangsläufig schwächer sein. Hollywood war nun einmal einzigartig. Da gab es Ian McKellan, dessen kantiges Gesicht und funkelnde dunkle Augen eine mühsam beherrschte, fiebrige Energie verrieten. Fenn bewunderte solche Menschen: Er konnte ihre Gefühle nachvollziehen. Da gab es Schauspieler aus Die Profis und The Sweeney und Dennis Waterman in Minder. Niemanden aus dem leichteren Genre. Er sah sich nie Komödien an. Hatte er es doch einmal versucht, dann hatte er in einem Zustand höchster Verwirrung das Fernsehen abgeschaltet. Sie schienen immer von Versagern zu handeln. Zwielichtige alte Männer, die sich mühsam durchschlugen, Pläne, die zu nichts führten. Ein junger Amerikaner (Herrgott, wenn er doch die Chancen eines Shelley gehabt hätte) ohne Arbeit. Dumme Frauen, die nicht einmal ein anständiges Essen kochen konnten und sich dann wunderten, wieso sie einsam waren.

Die dritte Wand war den Persönlichkeiten vorbehalten. Mit anderen Worten, Leuten ohne besondere Fähigkeiten oder Talente, die im Gegensatz zu ihm allerdings den Durchbruch geschafft hatten. Leute wie Esther Rantzen und Nicholas Parsons, Terry Wogan und Anna Ford. Genau in der Mitte der Wand war eine leere Stelle, ein Viereck von dreißig Zentimetern Durchmesser.

Einer der Vorteile, die das Leben in London mit sich brachte, war der, dass man die Berühmtheiten leibhaftig zu sehen bekam. Einmal, als er die St. James Street entlanggeschlendert war, hatte er Kenny Everett in einer Drogerie verschwinden sehen. Er war ihm sofort gefolgt, und sie hatten nebeneinander am Tresen gestanden. Als die Verkäuferin auf sie zukam, hatte er, ohne dass sie sich an ihn gewandt hätte, prompt gesagt: »Ich glaube, dieser Gentleman war vor mir dran«, als wisse er um alles in der Welt nicht, wer der Herr neben ihm war. Kenny hatte ihn angesehen, ein bisschen die Stirn gerunzelt, als frage er sich, ob er ihn von irgendwo kannte, und sich dann bedankt. Ein anderes Mal war er bei Harrods zusammen mit Janet Street Porter im Aufzug gewesen.

Mit den Filmstars war das natürlich eine ganz andere Sache. Sie lebten hinter hohen Mauern, die durch Alarmanlagen gesichert waren und an denen uniformierte Männer mit Dobermännern patrouillierten. Sie verbrachten ihre Zeit damit, braun gebrannt ihre Bahnen durch tiefblaues Wasser zu ziehen oder mit einem eisgekühlten Drink und einem Haufen ungelesener Manuskripte neben sich am Swimmingpool zu liegen. Abends kamen sie wie schillernde Paradiesvögel in Gruppen zusammen, tranken Champagner und sahen, wie die Götter in Walhalla durch ihren Ruhm und ihre Schönheit gefangen, durch riesige Panoramafenster auf die Landschaft von Beverly Hills. Und so musste es auch sein. Er konnte es nicht ertragen, wenn in einem seiner Fanzeitschriften ein Artikel darüber erschien, wie gewöhnlich der eine oder der andere Star tatsächlich war. Wenn sie beim Glasieren eines Kuchens oder bei der Gartenarbeit gezeigt wurden. Danach konnte er ihr Bild nicht mehr an der Wand sehen. Nachdem sie sich erniedrigt hatten.

Das leere Quadrat an der dritten Wand war ihm selbst vorbehalten. Das Foto hatte er zwar bereits, aber er wollte es nicht anbringen, nicht einmal zur Probe an die Wand halten, bevor er es geschafft hätte. Das wäre nicht richtig, und zudem war er abergläubisch. Er war sich vollkommen sicher, dass ihm ein Platz am Sternenhimmel gebührte, doch hatte es keinen Zweck, das Schicksal auf die Probe zu stellen. Das Bild war von einem Kerl in der Great Portland Street gemacht worden, der sich auf Bühnenfotos spezialisiert hatte. Er war auf ziemlichen Umwegen an die Adresse gekommen.

Alles hatte damit begonnen, dass er beschloss, ein berühmter Schriftsteller zu werden. Im Radio hatte er gehört, dass viele gefeierte Autoren ihre Notizbücher jederzeit bei sich hätten, und da er bereits dasselbe tat, schien es ihm ein gutes Omen zu sein: eine Art Fingerzeig, für die Zukunft. Doch trotz ernsthafter Prüfung gaben seine Notizen weder den Stoff für einen Roman noch für ein Filmskript her, und allmählich kam er zu dem Schluss, dass die bekannten Schriftsteller ganz anderen Menschen in sehr viel interessanteren Teilen der Welt zugehört und zugeschaut haben mussten.

Auch die Schauspielerei hatte ihn in eine Sackgasse geführt. Er hatte Unterlagen von den verschiedensten Schauspielschulen angefordert, beschlossen, dass lediglich das Central und die Royal Academy of Dramatic Arts die Mühe wert waren, und dann erfahren, dass seine Eltern nicht bereit waren, die Studiengebühren zu bezahlen. Sein Vater hatte seinen Plänen schon immer ablehnend gegenübergestanden, doch seiner Mutter war es gewöhnlich gelungen, den alten Geizkragen herumzukriegen. Diesmal hatten ihre Bemühungen nicht gefruchtet, und am nächsten Tag war er trotz ihres Gejammers und ihrer flehentlichen Bitten von zu Hause weggegangen und nie wieder zurückgekehrt. Wie er erfuhr, vergaben beide Institutionen Stipendien – aber das Problem, ein geeignetes Stück für die Vorsprechprobe und das Geld für einen Lehrer zu finden, der ihn auf die Prüfung vorbereiten könnte, hatte sich als viel zu schwierig erwiesen. Zudem hatte er im Salisbury Square einen Schauspieler namens Brett getroffen, der an der Royal Academy of Dramatic Arts der Beste seines Jahrgangs gewesen war und jetzt bei Selfridges als Weihnachtsmann arbeitete, was er als »künstlerische Ruhepause« bezeichnete. Und fünf Jahre nach seinem Abschluss machte der Kerl noch immer jeden Morgen Sprechübungen und verwandte jeden Pfennig, den er erübrigen konnte, auf Theater- und Tanzkurse. Brett hatte ihm erzählt, dass mehr als die Hälfte seiner Kollegen jeden Tag damit rechnen müssten, arbeitslos zu werden, dass man nur als Mitglied der Schauspielergewerkschaft Arbeit finde und dort aufgenommen zu werden, unglaublich schwer sei. Dann hatte er Fenn vorgeschlagen, sich als Fotomodell zu versuchen, und ihm die Adresse in der Portland Street gegeben.

Anfangs war der Fotograf begeistert gewesen. Er hatte sein Modell sorgfältig vor dem schwarzen Samtvorhang platziert und mit verschiedenen Lampen hantiert, wobei er immer wieder ausrief: »Diese Wangenknochen sind ein wahres Vergnügen, mein Lieber.« Doch je länger die Sitzung dauerte, desto missvergnügter schien er zu werden. Er versuchte, Fenn davon abzubringen, direkt in die Kamera zu sehen, hatte seinen Kopf in diese und jene Richtung gewandt und dabei ständig geredet.

»Wir sind heute so ernst. Was ist denn los? Spielt deine Freundin die ewige Jungfrau? Kann ich mir nicht vorstellen. Wir sind doch göttlich wie Adonis. Vielleicht liegt’s an der Atombombe – ich weiß doch, dass ihr jungen Leute euch deswegen ins Hemd macht … Nein? Dann liegt’s wohl am Wetter. Oder sind wir heute mit links aufgestanden? Wenigstens auf einem dieser Bilder will ich ein Lächeln sehen. Modelagenturen und Theaterleute wollen alle Gesichtsausdrücke sehen, die der Künstler aufbringen kann, und je größer die Verwandlungsfähigkeit, desto wahrscheinlicher ist es, dass du einem von ihnen ins Auge fällst. Bis jetzt bist du ein bisschen langweilig gewesen, wenn du weißt, was ich meine. Ich sag’ all meinen Kunden, dass sie an etwas Schönes denken sollen. Auf das Leuchten in den Augen kommt es an – viel mehr als auf die Beleuchtung, die ich benutze. Denk einfach an jemanden, der dir wirklich etwas bedeutet … Komm schon, dir wird doch irgendjemand einfallen. Was ist mit deiner Familie … Du liebe Zeit, wie sich da der Blick verfinstert – entschuldige meine Worte: Wie steht’s mit Freunden – bist du noch nicht auf die Richtige gestoßen?«

Er hockte sich hinter die Pentax und seufzte. Unempfindlich wie der Hintern eines Straßenarbeiters und doppelt so hartnäckig. Der Junge sagte: »Sie sind mir wärmstens empfohlen worden. Von einem bekannten Schauspieler.«

»Das glaub’ ich dir, mein Lieber«, log der Fotograf. Nachdenklich zog er an seinen Tiroler Hosenträgern. »In meiner Kabine hab’ ich eine Menge bekannter Gesichter abgelichtet. Wir haben noch immer kein Lächeln im Kasten. Komm schon – tu’s mir zuliebe. Hm – jetzt fletschst du die Zähne zu sehr. Wir sind hier noch nicht auf der Vorsprechprobe bei Hammer, weißt du.« Mein Gott, wenn er sich nicht irrte, würden jetzt ein weiteres Stirnrunzeln und ein beleidigter Schmollmund folgen. Nun ja, er hatte sein Bestes getan. Man konnte nicht hervorzaubern, was nicht vorhanden war. Dann sagte er etwas, das er jedes Mal am Ende einer Sitzung anbrachte. Die Idee war ihm vor etlichen Jahren gekommen und schien schon längst keine Offenbarung mehr zu sein, doch er brachte sie trotzdem immer wieder an. »Natürlich sieht das Modell auf den guten, professionellen Fotos immer so aus, als hätte es den Durchbruch schon geschafft.« Er sah auf und unterbrach seinen Redefluss. Der Junge war wie verwandelt. So hätte ein Flüchtling aussehen können, dem gerade das Visum für das gewünschte Land überreicht worden war. Und nur noch zwei Fotos auf dem Film. Er machte sie schnell, mit Leichtigkeit. War es zuvor unmöglich gewesen, etwas Licht und Leben auf das Gesicht des Jungen zu zaubern, schien er sich jetzt nicht mehr beherrschen zu können. Seine Augen glitzerten, als stünden sie voller Tränen, das Blut pulsierte und hinterließ einen warmen roten Fleck auf seinem Gesicht, selbst sein erstaunlich rostbraunes Haar wirkte lebendiger. Es schien einen knisternden Strahlenkranz um seinen Kopf zu bilden. Jegliche Unsicherheit war aus seinem Lächeln verschwunden; ebenso jede Spur von Verletzlichkeit. Lawrence hatte das Lächeln Hunderter hoffnungsvoller junger Männer fotografiert, sie beobachtet, während sie sich über den Probeabzügen den Kopf zermarterten, weil sie wussten, dass das eine, welches im Spotlight erscheinen würde, ihr Leben verändern könnte. Und immer hatte eine Spur von Zerbrechlichkeit um den Mund gelegen, wie großspurig oder hübsch das Gesicht sonst auch sein mochte. Hier war das nicht der Fall. Als Lawrence aufblickte, strahlte ihn der Junge immer noch an. Ihm wurde klar, dass er das Stirnrunzeln vorzog. »Das wär’s«, sagte er.

 

Jetzt kniete Fenn in seinem Zimmer vor einem Stapel von Fotos. Dieser schwule Fotograf hatte versucht, ihn von seiner Entscheidung abzubringen. Von dem Foto, auf dem er direkt in die Kamera sah. Hatte gesagt, es würde ein wenig herausfordernd wirken: Zum Glück konnte Fenn sich vorstellen, was er im Sinn hatte. Solche Versager hatte er längst durchgeschaut. Neidische Kerle, die einen behinderten, wo sie nur konnten. Wie dieser Typ im Salisbury Square. Er musste gewusst haben, dass dieser Lawrence Soundso ein kleiner Scheißer war. Vielleicht arbeiteten sie ja zusammen, und der Schauspieler bekam Prozente. Sei’s drum – nächstes Jahr um diese Zeit wären es Bailey oder Litchfield. Er breitete die Fotos aus. Obwohl er sich einer leichten Enttäuschung nicht erwehren konnte, ermutigte ihn die Vielfalt der Bilder, schien sie ihn in seinen Träumen zu bestätigen. Er nahm sie in die Hand, breitete sie fächerartig aus, schob sie dann wieder zusammen, bog sie leicht zurück und ließ sie wie bei einem Kartenspiel zurückschnellen. Das war schon viel besser. Die schnelle Abfolge der weißen, silbernen und schwarzen Bilder ließ sein Gesicht lebendig wie in einem Film erscheinen. Farbfotos hatte er nicht haben wollen, denn er ahnte, dass sie, so professionell sie auch gemacht sein mochten, immer banal und effekthascherisch wie Urlaubsfotos wirken würden. Und er hatte recht gehabt.

Er hörte Mr. Christoforou – seinen Vermieter und Besitzer des Oasis-Imbisses – von unten rufen: »Post.« Er wartete einen Moment, bevor er die Tür öffnete und nach unten ging. Beim Geruch des abgestandenen Fetts zog sich ihm der Magen zusammen. Auf der vierten Treppenstufe lag ein Brief, dessen rotes BBC-Zeichen in der oberen linken Ecke ihn anzuspringen schien. Das würde wohl die Einladung zu einem Bewerbungsgespräch beim Fernsehen sein.

Er hatte sich die Zeitschrift Contacts gekauft und sofort alle regionalen Anstalten und Privatsender durchgesehen. Er hatte keineswegs die Absicht, aus London fortzugehen oder sich von irgendeinen windigem Unternehmen ausnehmen zu lassen, um bekannt zu werden. Er beschloss, sich einen Tee zu kochen und den Brief nicht zu öffnen, bis er fertig war. Spüle, Kocher und Teekessel befanden sich hinter einer Trennwand in einer Ecke seines Zimmers. Dort hatte er auch ein Schränkchen mit ein wenig Küchengeschirr angebracht. Eine Tasse mit Untertasse, zwei Tumbler, einen Teller, einen Kochtopf, eine Bratpfanne. Er hatte zwei schöne Gläser, denn als er sich selbstständig gemacht hatte, war ihm eingefallen, dass man einem Mädchen ein Glas Wein oder irgendeinen anderen Drink anbieten musste. Teil des Vorspiels, wie seine Bücher es nannten. Aber es hatte nicht ganz geklappt. Entweder konnten sie es kaum abwarten, oder sie waren, egal wie viel man ihnen einflößte, zu nichts anderem in der Lage, als sich zu zieren und Gründe zu finden, wieso sie nicht konnten. »Wobei sich die Frage stellt«, wie er einer von ihnen auf, wie er fand, durchaus vernünftige Weise erwidert hatte, »wieso wir überhaupt hierhergekommen sind.«

Außer der Trennwand standen in seinem Zimmer ein schmales Bett mit einem altmodischen Kopfteil aus Eiche, ein Tisch, ein Holzstuhl, eine Kommode, an der zwei Griffe fehlten, und ein Schwarzweißfernseher. Alles war von peinlichster Sauberkeit. Das Licht kam von einer nackten Birne. Er hatte es mit einem Lampenschirm aus Papier versucht, doch das war nur ein weiterer Staubfänger. Er war mit dem Zimmer nicht unzufrieden. Es war ja nur übergangsweise. Ein Vorzimmer. Nur einen Schritt entfernt von dem Drama, das bald beginnen und seinem Leben einen neuen Sinn verleihen würde. Ähnlich dem Ankleideraum eines Schauspielers, dem Ort, an dem er sich seinen Text ins Gedächtnis ruft, sich schminkt und sein Kostüm anlegt, während er über den Lautsprecher den Fortgang des Stücks verfolgt.

Fenn wartete also und bereitete sich darauf vor, berühmt zu werden. Er wusste, wie wichtig es war. Die Zeitungen waren voll von Berichten über junge Leute – einige sogar jünger als er selbst –, die plötzlich im Rampenlicht standen und unfähig waren, mit dem Reichtum und der Bewunderung umzugehen, die darauf folgten. Berühmte Leute waren einer besonderen Luft ausgesetzt, deren Reinheit einen umwerfen konnte, wenn man nicht daran gewöhnt war. Es war, als stehe man auf einem hohen Gipfel, ohne den Aufstieg gemacht zu haben. Dann fing die Nase an zu bluten, und die Adern schwollen an. Ihm würde das nicht passieren. Er ließ sich nicht leicht beeinflussen. Abneigung oder Zuneigung anderer Menschen ließen ihn gleichermaßen kalt. Auf Angst reagierte er schon anders. In der Schule hatten sich einige Mitschüler vor ihm gefürchtet, und das hatte ihm gefallen. Sobald sie Angst hatten, taten die Leute alles, was man von ihnen verlangte.

Er schüttete das kochende Wasser in seine kleine braune Teekanne, legte den Deckel auf, setzte sich und starrte auf den Brief, wobei er sich fragte, wie viele Menschen ein solches Maß an Selbstkontrolle aufbrachten. Die meisten wären die Treppe hinuntergerannt, hätten den Brief an sich gerissen und ihn aufgemacht. Er hatte sich für keine bestimmte Position beworben, denn er war überzeugt, dass es, sobald er beim Fernsehen arbeitete, nur noch eine Frage der Zeit war, bis man auf ihn aufmerksam würde. Offensichtlich würde er eine Grundausbildung machen müssen; zweifelsohne würde man sich gewisse technische Tricks aneignen müssen, aber letzten Endes kam es doch auf die Persönlichkeit an. Auf Aussehen und Persönlichkeit. Er stellte sich vor, was er bei seinem Bewerbungsgespräch tragen würde. Eine hellbraune, engsitzende Trevirahose. Sein beiges Jackett mit den modischen Aufschlägen aus wunderbar weichem Mohairmaterial. Seine hellbraune, seidenglänzende Krawatte, in deren Schnörkelmuster sich die Farbe des Jacketts fortsetzte, und sein hellbraunes Hemd (Nylon) mit unifarbenen Streifen. (Bei Cecil’s Gee hatte ein Verkäufer ihm gesagt, es gebe nichts Vornehmeres als mehrere Abstufungen ein und derselben Farbe.)

Er schenkte sich Tee ein, gab ein wenig Kondensmilch und einen halben Teelöffel Zucker hinzu und setzte sich mit dem Brief an den Tisch. Er öffnete den Umschlag, schlitzte ihn behutsam mit einem Messer auf. Zunächst zog er sein Foto heraus, dann einen Brief, der nicht sehr lang war. Es war die Rede von Ausbildung und Erfahrung von Hintergrundwissen und akademischen Abschlüssen. Man lehnte sein Ersuchen um ein Bewerbungsgespräch ab. Er runzelte die Stirn und begann von vorn zu lesen, sehr langsam und aufmerksam, als habe er bei der ersten hastigen Durchsicht einen wichtigen Punkt übersehen. Er prüfte Namen und Adresse, denn er hoffte, dass der Brief für eine andere Person bestimmt und ihm aus Versehen zugeschickt worden war. Doch die Adresse stimmte. Und es war sein Foto. Er nahm es in die Hand und fühlte sich, als habe ihm jemand in den Magen getreten. Kalter Schweiß trat ihm aufs Gesicht. Er stieß einen langen, zittrigen Seufzer aus. Er hätte wissen müssen, dass der Laden die falsche Adresse war. Man musste nur die richtigen Leute kennen, dann bekam man alles auf einem silbernen Tablett serviert. Er las den Brief noch einmal. Einen akademischen Abschluss, du liebe Güte. Einen akademischen Abschluss, um vor der Kamera zu sitzen und einen Haufen Scheiße zu erzählen oder die Top Ten vorzustellen. Einen Abschluss in was? Geographie? Englisch? Mathematik? Geschichte? Er ging jedes Fach durch, das er sich nur denken konnte, und bemerkte erstaunt, dass der Brief zu einem Haufen Papierfetzen zusammengeschrumpft war und das Messer in seiner Hand zitterte. Er kehrte die Papierfetzen ordentlich zusammen und ließ sie wie Schneeflocken in einen Plastikeimer unter der Spüle rieseln.

Danach fühlte er sich besser. War in der Lage, die Dinge in einem vernünftigeren Licht zu betrachten. Er erinnerte sich, im Standard gelesen zu haben, dass das Fernsehen Opium fürs Volk sei – da mussten sie ja Tausende von Briefen erhalten. Seiner war in dieser Menge einfach untergegangen. Er war den entscheidenden Leuten einfach nicht unter die Augen gekommen. Wahrscheinlich hatte irgendjemand am Fuße der Rangleiter, der Assistent eines Assistenten, die Antwort verfasst. Jemand, der gerade von der Universität kam, der mit Ach und Krach einen Job beim Fernsehen bekommen hatte und jetzt dafür sorgte, dass kein anderer es schaffte. Wahrscheinlich war er übergewichtig und unattraktiv. Fenn erkannte jetzt, dass es ein Fehler gewesen war, das Foto beizulegen. Er bemerkte, dass er noch immer das Messer in der Hand hielt, und drückte den Verschluss. Die Klinge sprang zurück, und er schob das Messer in seine Tasche. Sein Tee war kalt geworden. Er goss ihn in den Abfluss, spülte die Tasse aus und kehrte zum Tisch zurück, um die nächsten Schritte zu planen.

Es hatte keinen Zweck, an die anderen Anstalten zu schreiben. Die Abteilungsleiter und die Leute an den Schaltstellen der Macht würden seinen Brief ohnehin nicht zu sehen bekommen. Das war ihm jetzt klar. Es würde immer einen Untergebenen geben, der sich ihm in den Weg stellte. Er würde zu anderen Methoden greifen müssen. Aber er würde behutsam vorgehen müssen. Es war wichtig, die Leute nicht zu verstimmen (natürlich nur die, auf die es ankam); auf der anderen Seite musste er zu ausgefallenen Mitteln greifen, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen, wenn das auf dem üblichen Weg nicht möglich war. Nicht zum ersten Mal verfluchte er seine Eltern. Andere Leute, deren Aussehen und Stil nicht im Mindesten an seine Qualitäten heranreichten, waren ganz oben, nur weil sie in die richtige Familie geboren waren. Berühmtheiten waren ein selbstverständlicher Teil ihrer Kindheit, lasen ihnen Gute-Nacht-Geschichten vor, wurden Schwiegereltern und ließen ihre Beziehungen spielen, wenn es so weit war. Und er erkannte niemanden. Doch, dieser Gedanke kam ihm langsam zu Bewusstsein, hatte er es jemals wirklich versucht? Nicht in den richtigen Kreisen aufgewachsen zu sein, hieß noch lange nicht, dass es unmöglich war, sich mit anderen Mitteln Gehör zu verschaffen. Man musste nur clever sein. Psychologisch vorgehen. Berühmte Leute hatten gewisse Bedürfnisse, oder? Sie wollten bewundert werden, wollten hören, dass sie jung waren und von Tausenden geliebt wurden, warum hätten sie sich sonst die Mühe gemacht, berühmt zu werden? Und all das konnte er tun. Zumindest solange es nötig wäre, sich einzuschmeicheln. Hätte er einmal den Fuß im Geschäft, wäre das alles kein Problem mehr.

Er stand auf und ging zu der Wand mit den Persönlichkeiten. Männlich oder weiblich? Auf beide Geschlechter wirkte er attraktiv. Männer hatten ebenso oft wie Mädchen versucht, ihn aufzureißen. Ein älterer Mann wäre vielleicht keine schlechte Wahl, doch dürfte er keinen Sohn haben, was Parkinson von vornherein ausschloss – er hatte drei. Andererseits konnte man beim Fernsehen nicht wissen, welche Leute schwul waren. Im Unterschied zu Malern und Schriftstellern ließen sie sich nichts anmerken. An die wirklichen Spitzenleute würde man wohl schwerlich herankommen; andererseits würden die kleineren Fische nicht nur weniger Einfluss haben, sondern selbst noch auf dem Weg nach oben sein. Es war wichtig, so wichtig, alles richtig zu machen.

Er ging zur anderen Seite des Zimmers. Aus dieser Perspektive schien die Frage der Auswahl überwältigend. Aus der Nähe betrachtet, erinnerte ihn jedes einzelne Viereck an seine eigene Erfolglosigkeit; schien ihn fast dafür tadeln zu wollen. Jetzt schienen sie ineinander zu verschwimmen, schien jedes Gesicht ebenso unwichtig wie das nächste. Er erkannte, dass es ihm unmöglich war, die richtige Wahl zu treffen. Keiner dieser Leute war ihm persönlich bekannt.

Wie sollte er da einen gegen den anderen abwägen können? Ebenso gut könnte er sich mit verbundenen Augen ein Bild herauspicken. Er erinnerte sich, dass seine Mutter allwöchentlich einen Lottoblock spielen durfte, und wie sie ihre Zahlenkombinationen jedes Mal blind mit einer Stricknadel ermittelt hatte. Damals hatte er ihr Verhalten als unsinnig empfunden, doch jetzt erkannte er den Reiz der Sache: den Reiz, sich dem Schicksal auszuliefern. Und warum sollte es ihm nicht freundlich gesinnt sein? War er nicht endlich an der Reihe? Hatte er nicht lange genug gewartet? Und das Schönste daran war, dass er nicht verantwortlich wäre. Was immer auch geschehen mochte, niemand konnte mit dem Finger auf ihn zeigen und fragen: »Warum gerade ich?«

Er zog das Messer aus seiner Tasche und ließ es aufschnappen. Plötzlich schien seine Hand verlängert. Eine zusätzliche, silbern glänzende Klaue war hervorgesprungen, funkelte im Licht. Er liebte das Gefühl des Messers in seiner Hand. Es war so anschmiegsam, immer warm und weich. Er kannte das genaue Gewicht des Messers, hätte es auf dem kleinen Finger balancieren können. Er nahm den Arm zurück, verlagerte das Gewicht auf sein hinteres Bein und verharrte einen Moment in dieser Stellung. Dann schloss er die Augen und warf das Messer.

 

»Sehen wir uns heute die gefrorenen Teddys an? Bei Marks and Spencer’s?«

»Nein. Heute musst du zum Zahnarzt.«

»Dann morgen.«

»Am Samstag. Am Samstag gehen wir zu Marks and Spencer’s.«

Kathy biss sich wütend auf die Unterlippe. Rosa beugte sich über das Durcheinander auf dem Frühstückstisch und berührte ihre Hand. »Bis dahin sind’s nur noch drei Tage, mein Schatz.«

Sie versuchte sich daran zu erinnern, wie lang drei Tage sein konnten, wenn man sieben Jahre alt war.

Kathys Bruder unterbrach für einen Moment sein Frühstück. Bis jetzt hatte er bereits Würstchen, Tomaten, ein Ei, etliche Toasts mit Marmelade, zwei Mandarinen, etwas Müsli und einen halben Liter Orangensaft verschlungen.

»Kann ich etwas Kaffee haben, Mom?«

»Ich wüsste nicht, was dagegen sprechen sollte. Du hast

von allem anderen auf dem Frühstückstisch gekostet.«

Er ging zur Kaffeemaschine. »Willst du noch eine Tasse?« »Gern.«

Vorsichtig füllte er den Kaffee in große italienische Tonbecher. Durch das Kellerfenster fiel kaltes Sonnenlicht auf sein dichtes, blondes Haar. Für seine dreizehn Jahre war er ziemlich groß und dünn, und die Unmengen an Essen, die er verschlang, schienen irgendeinem unersättlichen Gott in seinen Eingeweiden zum Opfer zu fallen: Sie bemerkte die leichte Vertiefung in seinem Nacken, der noch ebenso weich und zart war wie in seiner Babyzeit, und fragte sich, wann sich das ändern würde. Und ob das dann ein Anzeichen dafür wäre; dass er tatsächlich erwachsen war.

»Möchtest du einen Kaffee, Dad?«

Die Times, Leos Schutzschild für den Frühstückstisch, raschelte ein wenig. Er gab einen unverbindlichen Laut zwischen einem Grunzen und einem Murmeln von sich.

»Was glaubst du, was er meint?«

»Ich glaube, er meint …«, und Rosa ahmte den Laut perfekt nach. Sie und Guy prusteten los. Kathy lächelte ein wenig unsicher. Durch Beobachtung der anderen hatte sie gelernt, dass es in Ordnung war, sich über Dad lustig zu machen, aber sie hatte nicht den Mut, es ihnen gleichzutun. Die Times bewegte sich, war bereit zu sprechen. Guy flüsterte: »Ruf das Orakel an.« Rosa schüttelte den Kopf. Beide wandten sich ihrem Kaffee zu.

Leo sagte: »Ich wünschte, du würdest ein Müsli finden, das nicht losspritzt, sobald man Flüssigkeit darübergießt.«

»Wir haben uns überall danach erkundigt!« Pause. Keine Antwort. »Boots and Sainsbury’s. Fine Fare und Teseo’s. Selbst in dem kleinen griechischen Laden auf der –«

»Schon gut, Guy, schon gut. Iss dein Frühstück auf.«

»Ich hab’ schon zu Ende gefrühstückt.«

»Schon? Normalerweise gibst du nicht so schnell auf. Du sitzt erst seit einer halben Stunde am Tisch. Ich hoffe, du bist nicht krank.« Leo senkte die Zeitung, und Rosa fragte sich zum hundertsten Mal, wie ein so freundlicher Mann dermaßen Furcht erregende Gesichtszüge haben konnte. Als sie sich zum ersten Mal begegnet waren, hatte sie an einen bösen Märchengeist denken müssen. Schwarze Brauen, die oberhalb des Nasenrückens fast zusammengewachsen waren, und dunkle, sehr dunkle Augen. Ein schön geformter Mund mit ein wenig herabgezogenen Mundwinkeln, die seinem Gesicht in Ruhepausen einen traurigen, fast säuerlichen Ausdruck verliehen. Doch jetzt lächelte er und wirkte sehr viel jünger als achtunddreißig.

»Mom, muss ich wirklich zum Zahnarzt?«

Guy sagte: »Mervyns Mutter hat ihm zum fünfzehnten Geburtstag ein Gebiss versprochen.«

»Unsinn.« Leo faltete die Zeitung zusammen. »Geh und hol deinen Mantel. Und iss dein Ei auf, Kathy.«

»Kann ich es nicht Madgewick geben?«

»Er wird es nicht fressen, mein Schatz. Du kennst ihn doch. Er hat gestern schon ein Ei gehabt.« Rosa versuchte sich einzureden, dass die Appetitlosigkeit ihrer Jüngsten nur eine Phase war und sie sich nicht von der Tatsache beirren lassen sollte, dass diese Phase bereits seit zwei Jahren andauerte.

»Im Übrigen meint Madgewick, er hätte heute früh auf Huhn Appetit.«

»Stimmt nicht.« Guy war schonungslos offen. »Katzen haben ein äußerst beschränktes Vokabular. Du musst lernen, deine Fantasie zu zügeln.«

»Warum haben Katzen kein falsches Gebiss? Sie putzen sich nie die Zähne. Warum müssen Katzen nicht zum Zahnarzt?« Kathy warf einen wütenden Blick auf Madgewicks Korb, der neben der Anrichte stand. Er öffnete ein Auge und blinzelte sie verschlafen und gleichgültig an.

Guy hatte ihn eher tot als lebendig, mit gebrochenem Bein und Schwanz, in einem erbärmlichen Zustand vor einer Boutique (Madgewick’s Damen- und Herrenmoden) in einer Mülltonne gefunden. Gerettet, gereinigt, gepflegt und unter großen Mühen zusammengeflickt, hatte Madgewick es ihm weniger mit Dankbarkeit als mit einem erstaunlichen Maß an Herablassung und Erhabenheit vergolten. Er hatte einen Schildpattfleck über dem linken Auge, ein weißes Ohr; einen schwarz-weiß gefleckten Körper, rötlich-gelbe Pfoten und einen gestreiften Schwanz. Von Natur dazu geschaffen, den Narren zu spielen, mimte er mit absoluter Überzeugung den König und schien sich nicht daran zu stören, dass man ihm eher mit Respekt und Bewunderung als mit liebevoller Zuneigung begegnet.

Leo erhob sich. »Da du mit Kathy zum Zahnarzt gehst, nehme ich Guy mit.«

»Ach, Liebling, würdest du das tun?« Sie küssten sich flüchtig auf die Wange. Ein Tageskuss, dachte sie und erinnerte sich an die intimen Küsse dieser Nacht. Fünfzehn Jahre kannte sie diese Küsse schon und immer noch verspürte sie Spuren dieser aufwühlenden Erregung, der sie ausgeliefert gewesen war, als sie vor dem Krankenhaus von Middlesex auf ihn gewartet hatte.

Als Medizinalassistent hatte er immer müde ausgesehen. Damals waren sie oft in die nächstgelegene Pizzeria gegangen, hatten sich das billigste Gericht bestellt und den Genuss so lange wie möglich hinausgezögert, ohne das Essen kalt werden zu lassen. Leo hatte häufig unter Stress gestanden und während des Essens über seine Sorgen geredet. Manchmal bedrückte ihn die Haltung seiner Kollegen; obwohl sie in seinem Alter waren, wirkten sie bereits bitter und abgebrüht. Doch meist ging es um einen sterbenden Patienten: »Sie sehen einen an, als könnte man noch irgendetwas für sie tun. Als könnte man ihren Tod verhindern. Die Dinge ungeschehen machen. Als wäre man Gott. In solchen Momenten weiß ich nie, was ich sagen soll.« Da sie ihn liebte, zeigte sie sehr viel Mitgefühl, doch oft fiel es ihr schwer, seinen Worten zu folgen. Sobald sie sein hoffnungslos lichter werdendes Haar betrachtete und beobachtete, wie er mit seinen schlanken, aber kräftigen Fingern gestikulierte und die Gabel umfasste, wurde ihr Verlangen nach seinem Körper so stark, dass ihr kaum noch Energie für etwas anderes blieb. Sechs Wochen lang hatte er auf der Kinderstation mit Patienten gearbeitet, die an einer tödlichen Krankheit litten, und damals hatte sie geglaubt, er würde aufgeben. Von einem Treffen zum nächsten schien er blasser, älter und erschöpfter zu werden. Aber damals hatten sie bereits gewusst, dass sie heiraten und Kinder haben würden, und es war ihr schwergefallen zu verstehen, wieso ihm das keinen Trost bereitete.

Jetzt stand er, nach einem teuren, unaufdringlichen Parfüm riechend, in seinem vornehmen Nadelstreifenanzug vor ihr. Er hatte um die zwanzig Pfund zugenommen, ohne dass es seiner Attraktivität geschadet hätte. Seine Schultern waren etwas breiter, und um die Hüfte war er fülliger geworden, das war alles. Guy kam aus der Diele die Treppe hinunter; er trug einen Anorak und hatte einen Sportbeutel in der Hand. Als Leo nach seiner Aktentasche griff, streckte Rosa impulsiv die Hand aus: »Leo –«

»Hm?« Er war zerstreut, in Gedanken bereits im Krankenhaus, doch er hielt inne und sah sie erwartungsvoll an.

Rosa fühlte sich unsicher. Sie hatten beide wenig Interesse an erinnerungsträchtigen Gesprächen, denn eigentlich waren sie in ihrer gegenwärtigen Situation sehr glücklich. Zudem warteten die Kinder. »Wird es heute spät werden?«

»Ich glaub’ nicht. Ich ruf’ dich an. Komm schon, du Riesenbaby.« Gemeinsam mit Guy ging er die Treppe hinauf. Gewöhnlich traf sich Guy um halb vier mit Kathy an deren Schule, und Rosa holte die beiden dort ab. Sie hörte ihn mit seinem Vater reden.

»Warum haben wir keinen Porsche, Dad?«

»So wie du isst, können wir uns glücklich schätzen, dass wir nicht auf Fahrräder umsteigen müssen.«

»Mervyns Vater hat einen Porsche.«

»Mervyns Vater ist ein Gauner.«

»Ist er nicht – überhaupt nicht! Er ist ein Unternehmer: Dick im Geschäft!«

Als die Haustür ins Schloss fiel, erschienen wieder Rauten farbigen Lichts auf dem Dielenteppich. »Iss deinen Toast auf, Schatz. Ich bin gleich wieder da.« Rosa rannte in das große Wohnzimmer im Erdgeschoss hinauf. Der Citroën stand quer gegenüber auf einem Parkplatz für Anlieger. Sie beobachtete, wie Leo, nachdem er nach rechts und links gesehen hatte, mit dem Arm um die mageren Schultern seines Sohnes die Straße überquerte. Er öffnete die Beifahrertür, und Guy warf erst seinen Turnbeutel, dann sich selbst in das Polster. Leo nahm auf dem Fahrersitz Platz. Keiner von beiden drehte sich um. Warum sollten sie auch? Gewöhnlich stand sie nicht da und winkte; und sie wusste auch nicht, warum sie es heute Morgen tat. Einen Moment lang versuchte sie, den Grund herauszufinden. Wieso sollte sie nach langen Jahren ruhiger Zufriedenheit ihr eigenes Glück plötzlich so eindringlich empfinden? Eigentlich neigte sie nicht zur Selbstbeschau, und ihr mit Arbeit und Familienpflichten ausgefüllter Alltag ließ ihr ohnehin wenig Zeit zum Nachdenken. Vieles nahm sie als Selbstverständlichkeit hin. Leos Beständigkeit, Gesundheit und Wohlergehen ihrer Kinder, ihre eigene Gesundheit und ihr Durchhaltevermögen, die finanzielle Sicherheit. Was würde geschehen, wenn es diese Dinge nicht mehr gäbe? Tagtäglich wurde das Lebensgefüge anderer Menschen auseinandergerissen, warum sollte sie dagegen immun sein? Ihre frühere Zufriedenheit kam ihr jetzt wie dumme Selbstgefälligkeit vor. Sie streckte die Hand aus und berührte das glänzende, weiße Holz des Fensterrahmens.

»Mom?« Sie sah auf die Standuhr. Noch fünfzehn Minuten bis zum Zahnarzttermin. Der Alltag hatte begonnen, nahm dankenswerterweise ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.

»Moooom …?«

»Ich komm’ ja schon, Schatz.« Sie eilte aus dem Zimmer.

 

Fenn ging hinüber zur vierten Wand. Zunächst war er sich nur einer tiefen Enttäuschung bewusst. Das Messer steckte, immer noch vibrierend, zwischen zwei glänzenden Lippen. An der Direktheit des Wurfs war nicht zu zweifeln; da konnte er sich nichts vormachen. Er packte das Messer am Schaft und zog es aus der Wand, dann ging er in die Hocke, bis sein Gesicht auf gleicher Höhe mit dem Foto war.

Sie hatte wunderschöne Augen mit langen, zweifellos falschen Wimpern. Und trotz des feinen Risses, der sich durch ihre Schneidezähne zog, schien sie zu lächeln. Bei ihrem Erfolg und Reichtum war das auch nicht verwunderlich. Seltsam, dass ihm der Rundfunk nicht früher in den Sinn gekommen war, doch jetzt, da die Entscheidung nicht mehr in seinen Händen lag – je länger er darüber nachdachte, desto sinnvoller erschien ihm seine Wahl. Die Enttäuschung ließ allmählich nach, als er über die positiven Aspekte dieser schicksalshaften Änderung seiner Pläne nachdachte. Beim Rundfunk würden sich weniger Leute um die Jobs drängeln, das stand außer Frage, und hätte er sich dort erst einmal etabliert, dürfte es nicht schwerfallen, zum Fernsehen überzuwechseln. Man brauchte nur an Wogan und Jimmy Saville zu denken, um nur zwei Beispiele zu nennen. Er könnte als DJ anfangen – jeder Idiot konnte Platten auflegen und dazu ein paar müde Witze machen – oder Leute interviewen, wozu wahrscheinlich ein wenig Übung nötig wäre, doch der Sender würde ihn sicherlich zu Fortbildungsseminaren schicken.

Er näherte sein Gesicht der hübschen Frau auf dem Foto und lächelte. Er lächelte über den Gegensatz zwischen ihrer Ahnungslosigkeit und seiner Gewissheit. Die Tatsache, dass er im Gegensatz zu ihr um die baldige Änderung in ihrem Leben wusste, genoss er wie einen neuen, erlesenen Geschmack. Er wollte nach draußen laufen, die U-Bahn nehmen und zu ihrem Sender, dem City Radio, fahren. In ihr Büro gehen, dort Platz nehmen und ihr etwas über seine Person erzählen, ihr erklären, wie er dazu gekommen war, gerade sie auszuwählen; aber das würde er natürlich nicht tun. Leute wie sie wollten, dass man sich an die Regeln hielt, selbst wenn viele von ihnen durch ein Hintertürchen an ihren Job gekommen waren. Und was sollten ein paar Tage mehr oder weniger schon ausmachen?

Er nahm ihr Bild von der Wand (jetzt erschien es ihm unangemessen, es unter den anderen Fotos zu belassen) und trug es zum Tisch. Dann verließ er sein Zimmer, um einen Kugelschreiber, elegantes blaues Briefpapier und passende Umschläge zu kaufen. Zwar hatte er zu Hause noch Papier und Stifte, aber die waren jetzt in seinen Augen verdorben, weil er sie dazu benutzt hatte, Briefe zu schreiben, die nicht zu den gewünschten Resultaten geführt hatten.

Er setzte sich an den Tisch, stellte das Foto auf und zog einen seiner neuen Briefbögen hervor. Er entschied sich für eine einfache Anfrage. Über seine Zukunftspläne würden sie bei ihrem ersten Zusammentreffen reden können. Er schrieb seine Adresse mit äußerster Sorgfalt, achtete darauf, dass der Zeilenabstand gleichmäßig war, und setzte das Datum darunter. Plötzlich schien es entscheidend, den ersten Versuch nicht zu vermasseln. Das unberührte Papier fühlte sich frisch und glatt an. Als ihm bewusst wurde, wie verkrampft er den Stift hielt, lockerte er seinen Griff. Mit der anderen Hand nahm er ihr Foto vom Tisch.

Dieser Mund gefiel ihm tatsächlich. Ihre geöffneten Lippen vermittelten einen Eindruck von Schutzlosigkeit. Umso besser. Eine abgebrühte Karrierefrau könnte anfangs Schwierigkeiten bereiten. Er brachte sein Gesicht so nah an das Foto heran, dass die Konturen verschwammen, und ein bekanntes, erregendes Gefühl der Verwirrung ergriff ihn. Es würde ihn nicht wundern, wenn ihre Gefühle bei ihrem ersten Zusammentreffen ähnlich wären. Ja. Er nickte und lachte auf, als sein Blick auf das Bücherregal fiel. Wenn alles so lief, wie er es sich vorstellte, würde er ihr einiges beibringen können. Ihr wirklich die Augen öffnen. Aber er vergeudete seine Zeit. Er nahm den Stift fest in die Hand und begann zu schreiben.

»Liebe Rosa …«

Als Rosa das Büro betrat, schaltete Sonia Marshall das Diktiergerät ab, schwang sich auf ihrem Stuhl herum und legte die Hände ruhig in den Schoß. Sie wusste, wie sehr ihre geschäftige, nervlich angespannte Vorgesetzte es schätzte, wenn an ihrem Arbeitsplatz Ruhe herrschte.

»Guten Morgen, Mrs. Gilmour. Ein schöner Tag heute, nicht wahr?« Rosa hatte es aufgegeben, Sonia davon zu überzeugen, sie beim Vornamen zu nennen. »Dieser Hosenrock ist einfach umwerfend. Er ist doch neu, oder?«

Außer dem Hosenrock trug Rosa eine cremefarbene Seidenbluse, eine hellgraue Kaschmirjacke mit einem zimtfarbenen, geflochtenen Ledergürtel, eine Perlenkette und rötlich braune Stiefel. Ihr langes Haar, das sie nachlässig mit einem elfenbeinfarbenen Kamm auf dem Kopf festgesteckt hatte, begann sich bereits zu lösen.

»Nein. Ich habe ihn letztes Jahr im Winterschlussverkauf bei Harvey Nichols erstanden.« Sie griff nach dem Brieföffner und nahm den Postberg in Angriff, der auf ihrem Schreibtisch lag. Sie hatte Sonia zu überreden versucht, in der Redaktion zu arbeiten, war sich zugleich aber sehr wohl bewusst, dass die anderen Journalisten Sonia dazu ermutigten, in ihrem Raum zu arbeiten. Zurzeit hatten sich die Journalisten durchgesetzt.

»Ich liebe diese Jahreszeit, Sie nicht? Diese Herbsttage haben so etwas Frisches an sich, nicht wahr? Man möchte geradezu in sie hineinbeißen. Morgens springe ich aus dem Bett …«

Morgens, ja? Gütiger Himmel, dachte Rosa, ermahnte sich aber zugleich, nicht gehässig zu werden. Mit dem Brieföffner konnte sie ziemlich viel Lärm machen, wenn sie ihn auf den Schreibtisch sausen ließ. Nach kurzer Zeit bemerkte sie, dass Sonia sich wieder ihrer Maschine zugewandt hatte, ihre hageren, von einem wenig attraktiven Ausschlag verzierten Handgelenke ausstreckte und zu tippen begann. Doch sie hörte nicht auf zu reden. Der Raum war erfüllt von unsäglich kitschigen Phrasen, die nur vom dumpfen Geräusch des Brieföffners unterbrochen wurden. Das alles wäre ja nicht so schlimm, dachte Rosa, wüsste sie nicht, dass ihre Sekretärin sie nicht mochte.

Sonia war zwar ehrgeizig, schwieg sich über ihre Pläne jedoch aus. Ihre jetzige Position erachtete sie lediglich als ein Sprungbrett für ihre Karriere, war jedoch entschlossen, ihre Arbeit gründlich zu machen, solange sie darauf angewiesen war. Scharfsinn und Humor waren ihr gänzlich fremd, sie war nicht sehr intelligent und wäre erstaunt und erschüttert gewesen, hätte sie gewusst, wie durchschaubar ihre Zukunftspläne waren. Rosa, die die bemitleidenswerten Waffen sah, mit denen sich Sonia dafür rüstete, die schwindelnden Höhen der Verwaltungshierarchie zu erklimmen, betrachtete sie mit einer Mischung aus Mitleid und Verärgerung. Die allmorgendliche Verärgerung gewann die Oberhand. Sie unterbrach Sonia mitten in der volltönenden Beschreibung des gestrigen Sonnenuntergangs.

»Bei den meisten dieser Briefe genügt eine Standardantwort, Sonia. Die Kennziffer habe ich jeweils angeheftet. Den Rest erledige ich zu Hause, und am Freitag bringe ich das Band mit.«

»Soll ich die Standardbriefe wie gewöhnlich unterschreiben, Mrs. Gilmour?«

»Ja, das wäre nett.«

Es trat eine unangenehme Pause ein. Briefe waren eine heikle Angelegenheit. Vor einigen Wochen hatte Rosa, der es zur Gewohnheit geworden war, einen ganzen Stapel Briefe auf einmal zu unterschreiben, ohne sie zu lesen, einen Absatz entdeckt, der ihr unbekannt vorgekommen war. Sie hatte den Brief überprüft und sich dann den ganzen Stapel vorgenommen. Fast allen Briefen war eine kurze Notiz, eine Art Moralpredigt, hinzugefügt worden, die die Adressaten darauf aufmerksam machte, dass sie sich ihre Schwierigkeiten möglicherweise selbst zuzuschreiben hätten, sich zusammenreißen und etwas mehr Eigeninitiative beweisen sollten. Wie so viele sentimentale Menschen strömte Sonia vor Freundlichkeit nicht gerade über. Es war zu einer äußerst unangenehmen Auseinandersetzung gekommen: Sonia hatte tränenreich darauf bestanden, dass man sie bei ihrem Bewerbungsgespräch dazu ermutigt hätte, eigenverantwortlich zu arbeiten, und Rosa hatte darauf erwidert, dass sie, so gern sie sich auch Sonias Vorschläge anhörte (das stimmte nicht), erwartete, dass die von ihr diktierten Briefe mit einem gewissen Maß an Korrektheit niedergeschrieben würden.

Sie stopfte etwa neun Briefe in ihre Aktentasche und ließ drei, jeweils mit einer Papierklammer zusammengeheftete Stapel auf ihrem Schreibtisch zurück. Der erste bestand aus Briefen von Leuten, die glaubten, sie verteile Eintrittskarten für eine Karriere beim Rundfunk; der zweite aus ziemlich eindeutigen Verbraucherproblemen, die sie beantwortete, indem sie dem Absender empfahl, sich an die nächste städtische Beratungsstelle oder Konsumentengruppe zu wenden …

»Kurz bevor Sie gekommen sind, hat die London Library angerufen. Das Buch, das Sie bestellt haben, ist jetzt da.«

»Ach, wie schön.« Rosa arbeitete an einer Biografie über den Tenor Michael Kelly und war fast eine Woche aufgehalten worden, weil sie auf The Libertine Librettist von April Fitzlyon warten musste.

»Wie geht’s voran? Mit Ihrem Mr. Kelly?«, gurrte Sonia. Sie gab sich sehr interessiert und klang wie eine besorgte Mutter, die sich über den Kinderwagen beugt. Rosa widerstand der Versuchung, ihr zu antworten: »Unser Kleiner hat schon wieder ein neues Zähnchen, und er hat fast zwei Pfund zugenommen.«

»Ich bin zufrieden. Ähem … warum bleiben Sie nicht und erledigen Ihre Arbeit hier, während ich weg bin? Hier haben Sie viel mehr Ruhe als in der Redaktion. Sie werden wahrscheinlich schneller mit der Arbeit vorankommen.« Duffy und seine Leute würden das zu schätzen wissen. Vielleicht würden sie ihr denselben Gefallen tun, wenn ihr Büro nicht besetzt war, was ziemlich oft vorkam.

»Ach nein – danke. Ich habe gern Leute um mich. Ich versteh’ einfach nicht, wie sich jemand von seinen Mitmenschen zurückziehen kann. Ich meine … Menschen sind doch dazu da, einander zu helfen.«

»Nun, ganz wie Sie wollen.«

Als Rosa das Büro verlassen hatte, ging Sonia zum Fenster hinüber und stellte sich, von außen nicht sichtbar, hinter die Jalousien. Sie beobachtete, wie Rosa den schwarzen Golf zurücksetzte und ein deutlich sichtbares, großes weißes RG zum Vorschein kam. Doch auch jetzt blieb sie stehen. Es war oft vorgekommen, dass Rosa kurz vor dem Ausgangstor seitlich ausscherte, auf die Bremse trat und zum Büro zurückrannte, weil sie etwas vergessen hatte. Sie brauchte wirklich eine persönliche Assistentin. Sonia hatte, allerdings erfolglos, versucht, diese Aufgabe zu übernehmen. Keiner ihrer kleinen Gedächtnisstützen war Beachtung geschenkt worden. War sie Rosa mit Sachen, die diese vergessen hatte, hinterhergelaufen, hatte sie nur verärgerte Reaktionen erhalten. Im Standard hatte sie sogar eine Anzeige für ein persönliches Nummernschild mit den Initialen RG 100 gesehen, dort angerufen, sich nach den Einzelheiten erkundigt und Rosa eine Notiz ins Fach gelegt. Als sie den Zettel gelesen hatte, war Rosa in Gelächter ausgebrochen und hatte gesagt, sie wisse jetzt, an wen sie sich wenden müsse, wenn ihr die Arbeit beim Sender nicht mehr reiche.

Der Golf war verschwunden. Sonia ging zu Rosas Schreibtisch und setzte sich in den Drehstuhl. Sie schlug den Terminkalender auf. Dieses Jahr hatte Rosa den von EMI behalten und die restlichen zwanzig weggeworfen. Zu Weihnachten schickten die meisten Plattenfirmen und einige der Vertragsagenten Werbegeschenke, was Sonia unverständlich war, da Rosa nicht einmal als DJ arbeitete. Bezeichnenderweise fand sie für diese Woche keinen Eintrag. Rosa hatte in ihrer Handtasche einen schäbigen Notizblock, in den sie ihre Termine eintrug, und im Büro flogen immer einige Briefumschläge herum, die über und über mit Bemerkungen bekritzelt waren. Sonia biss sich auf die Lippen und seufzte. Sie hatte getan, was sie konnte. Wer konnte mehr verlangen?

Sie richtete sich auf und griff nach Rosas dickem, nüchternem Füllfederhalter. Sie zog den Stapel mit den Briefen der Stellenjäger und die entsprechenden Antwortformulare zu sich hinüber. Hinter dem »Liebe/r« hatte man einen Platz freigelassen, in den der Name des Bittstellers eingetragen wurde. Einige Unterschriften waren nicht zu entziffern, doch der Absender des ersten Briefes, den sie aufnahm, hatte auf sehr ausgefallene Weise unterschrieben und seinen Namen zusätzlich in Druckschrift daruntergesetzt. Sonia lächelte ein wenig herablassend und begann, das Antwortformular auszufüllen.

 

»Du dummes –!« Zähl bis zehn, dachte Rosa und holte tief Atem. Ein korpulenter Mann war direkt vor ihr auf die Straße getreten und winkte einem Taxi zu ihrer Rechten. Sie hatte sofort gebremst, und er war um ihren Wagen herumgegangen, wobei er mit seiner Aktentasche auf ihre Kühlerhaube geschlagen hatte.

»Die Straße gehört nicht dir allein, weißt du?«

Zähl lieber bis hundert. Schwerfällig ließ er sich ins Taxi fallen. Halt lieber den Mund, sagte sich Rosa, als ihr kindische Phrasen wie »Verdrück dich, Dickerchen« durch den Kopf schossen. Sie rollte ihr Fenster herunter und streckte ihren Kopf hinaus. Alles, was sie sehen konnte, waren zwei kürbisähnliche Rundungen, die von glänzendem blauen Leinenstoff zusammengehalten wurden. Sie begann zu kichern. Die Kürbisse verschwanden aus ihrem Blickfeld und wurden durch ein Gesicht ersetzt, das sie wütend anstarrte, als das Taxi davonfuhr. Rosa legte den ersten Gang ein und folgte ihm. Sie hasste es, im Stadtverkehr zu fahren, war heute aber wegen Kathys Zahnarzttermin dazu gezwungen. Der Besuch in der Bibliothek hatte die Heimreise noch zusätzlich erschwert. Sie fuhr die High Holbourn hinunter, kam dann über die St. Giles High Street zur Tottenham Court Road.

Sie beschloss, durch den Park nach Hause zu fahren. An den Bäumen hingen zwar noch vereinzelt Blätter, doch der Novemberhimmel war kalt und grau. Sie kam an dem metallenen Skelett der Voliere mit ihrem straff gespannten Drahtnetz vorbei und warf einen Blick auf die Giraffen, die hochmütig über die Koppel staksten und sich auf köstliche Weise über die Leute lustig machten, die vor dem Zaun standen. Es war an der Zeit, dass sie und Leo wieder mit den Kindern in den Zoo gingen. Der letzte Zoobesuch lag bereits drei Jahre zurück. Vielleicht würden sie es am Sonntag schaffen.

Die Prince Albert hinunter und über die Primrose Hill. Als sie in ihre Wohngegend kam, entspannte sich Rosa zusehends. Leo und sie hatten schon immer im Norden von London gewohnt. Zu Beginn ihrer Ehe hatten sie im Dachgeschoss eines Mietshauses zwei kleine Zimmer bewohnt. Das Royal Free, das Krankenhaus, in dem Leo arbeitete, lag zehn Minuten Fußweg entfernt. Im Flur war ein Münzfernsprecher angebracht, den sie gemeinsam mit den Mietern der unter ihnen liegenden Wohnung benutzten. Ein oder zwei Möbelstücke waren von ihrer Mutter, den Rest hatten sie in einem Second-Hand-Laden in Gospel Oak erstanden. Leos Eltern, die aus unerfindlichen Gründen gegen die Ehe waren, hatten ihnen einen lächerlich pompösen Besteckkasten von Harrods geschenkt: ein zwölfteiliges Besteck mit einem kunstvollen Muster, das über die Griffe rankte. Sie benutzten es täglich, denn Rosa war es ein Vergnügen, das Besteck neben ihrem angeschlagenen, hässlichen Geschirr liegen zu sehen und es danach in das alte Emaillebecken zu werfen. Meist schrubbte sie es dann mit Vim und einem billigen Topfschwamm ab, aber es blieb unerträglich blank und bewahrte sein respektierliches Aussehen. Sie hatten ein verbeultes Küchenutensil, das einer Paellapfanne mit einem langen Griff ähnlich sah, von Leo jedoch einfach als »der Topf« bezeichnet wurde. In dieser Pfanne schmolzen sie Käse, kochten sie Sprotten, machten sie Pfannkuchen, brieten sie Würstchen und Bohnen an. Für Kartoffelpüree musste sie ebenso herhalten wie für Backobst, und im Sommer hatten sie den grünen Salat darin angemacht. Eines Abends, als Rosa Leo die Teekanne an den Kopf geworfen hatte, hatten sie sogar Tee darin gekocht. Sie fragte sich, wo die Pfanne jetzt wohl sein mochte, und ob ein Liebespaar in einem Second-Hand-Laden darauf gestoßen war und sie mit nach Hause genommen hatte, in ein schäbiges Zimmer mit einem Babyphon gleich neben der Spüle und einem Küchenschrank, dessen eine Schublade ständig klemmte. »Um Himmels willen, Rosa, was ist mit dir los?«, murmelte sie vor sich hin. »Sie muss schon seit Jahren hinüber sein.« Ihr fiel ein, dass Leo immer gesagt hatte: »Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen.«

Sie hatten gegessen, wann immer es gepasst hatte. Zwischen zwei Krankenhausschichten, kurz vor Leos Frühdienst. Sie erinnerte sich, wie sie eines Morgens um Viertel vor drei aufgewacht war und er mit zwei Tellern Currysuppe und einem Stapel Cornedbeefsandwiches neben ihr auf dem Bett gesessen hatte. Ihr gemeinsames Glück war von einer Intensität, wie sie sich gewöhnlich nur angesichts eines bevorstehenden Unglücks einstellt; Streitereien waren selten und von kurzer Dauer, aber sehr geräuschvoll. Hinterher, wenn sie sich geliebt hatten, war ihnen der Anlass des Streits immer unglaublich albern vorgekommen. Manchmal konnte sich Rosa nicht einmal an ihn erinnern. Jetzt kam es nicht mehr zu Auseinandersetzungen. Warum sollte es auch? Sie hatten beide, was sie wollten. Genug Erfolg, um die mageren Zeiten vergessen zu können, doch nicht so viel, dass das Familienleben darunter litt. Genug Geld, um ein angenehmes Leben zu führen, doch nicht so viel, dass Schuldgefühle aufkamen. Und genug Schlaf. Endlich. Sie erinnerte sich, wie sie das Kino in der Nähe ihrer Wohnung in South End Green besucht hatten. Ein seltener Genuss. Es wurde Jules et Jim gezeigt. Um sich herum sah Rosa die Mädchen ihre Köpfe auf zeitgemäße Weise gegen die Schultern ihrer Freunde legen. Im nächsten Augenblick hatte Leos Kopf auf ihrer Schulter gelegen, und kurz darauf war er fest eingeschlafen. Um es ihm so bequem wie möglich zu machen, hatte sie ihm den Mantel um die Schultern gelegt und sich den Film allein angesehen.

Zu der Zeit hatte sie im letzten College-Semester französische Geschichte studiert. Sie hatte mit cum laude bestanden und hätte um nichts in der Welt ihr recht chaotisches Eheleben gegen ein möglicherweise besseres Prädikat eintauschen wollen (wozu sie auch heute noch stand).

Camden Highstreet: fast zu Hause. Gleich nach dem Abschluss hatte sie bei einem Historiker, der in The Albany wohnte, eine Stelle als Forschungsassistentin angenommen, die mit wenig Außendienst verbunden war. Eine ideale Beschäftigung für eine Frau, die zu Hause auf ihr Baby aufpassen musste. Er war von ihrer Arbeit beeindruckt und hatte sie seinem Neffen weiterempfohlen, der an einer Fernsehdokumentation über den Burenkrieg arbeitete und jemanden suchte, der das in den Bibliotheken bereits vorhandene Filmmaterial durchsah: Sie war scharfsinnig, arbeitete schnell und gründlich; er empfahl sie weiter, und die nächsten zwei Jahre vergingen auf angenehme und anregende Weise. Dann hatte Leo seine Ausbildung abgeschlossen und gleichzeitig eine Erbschaft gemacht.

Eine unverheiratete Tante, die in Kent lebte und die er seit, seiner Kindheit nicht mehr gesehen hatte, war gestorben und hatte ihm die Hälfte ihres Vermögens hinterlassen. Die andere Hälfte hatte sie einem Tierheim für Esel vermacht. Das Komische dieser Situation verfehlte weder auf Leo noch auf Rosa ihre Wirkung, und sie verbrachten eine ausgelassene halbe Stunde damit, herauszufinden, für was sie das Geld verwenden würden, wenn das Tierheim ihnen gehörte. Obgleich ungewöhnlich, war ihre Liste umfassend: Sie reichte von Hufeisen (bei schlechtem Wetter Gummistiefel) über wasserfeste Hüte zu Pudding mit Schlagsahne, von künstlichen Gebissen für die älteren Tiere bis zu beruhigender Musik für Esel, die aus kaputten Elternhäusern kamen. Bei Begriffen wie Eselei, Eselsbrücke oder Eselsserenade hatten sie sich vor Lachen kaum halten können, und obwohl er nichts verstand, hatte Guy in seinem Bettchen glücklich vor sich hin gegluckst. Natürlich lachten sie manchmal noch gemeinsam, dachte Rosa ein wenig verteidigend, als sie vor ihrem Haus parkte, doch weniger häufig und bestimmt nicht über solchen Unsinn. Jeder musste irgendwann erwachsen werden.

Sie schloss den Wagen ab, blieb einen Moment auf dem Bürgersteig stehen und sah sich ihre Straße an. Selbst vor zwölf Jahren hatten diese Häuser teuer ausgesehen. Für die Anzahlung hatten sie Leos gesamtes Geld verwandt und dennoch eine beträchtliche Hypothek aufnehmen müssen. Obwohl er als Arzt und sie bei City Radio tätig war, wäre es ihnen heutzutage unmöglich, sich in Gloucester Crescent einzukaufen. Vor einigen Wochen war in ihrer Nachbarschaft ein Haus für hunderttausend Pfund verkauft worden.

Sie ging zu dem griechischen Geschäft an der Ecke und kaufte sich einen Kebab zum Mitnehmen. Es war köstlich mariniertes Lammfleisch, gewürzt mit Oregano, in weiches Pita-Brot eingeschlagen, das mit Zwiebeln, Salat und Tomaten garniert und mit herrlich duftendem grünen Olivenöl besprenkelt war, dessen Geruch an die verbrannte Erde und die erbarmungslose Sonne Griechenlands erinnerte.

Als sie die Haustür aufschloss, spürte sie sogleich, dass sie allein war, und fühlte sich erleichtert. Manchmal machten ihr die Anwesenheit von Mrs. Jollit und deren Alltagsgeschichten über die Leute von Finsbury nichts aus; doch heute war es anders. Sie hatte das Buch, auf das sie so lange gewartet hatte, und wollte anfangen zu arbeiten. Sie ging in die Küche hinunter. Die Überreste der gemeinsamen Frühstücksschlacht der Gilmours waren wie durch ein Wunder verschwunden. Der Boden glänzte und die Küche war aufgeräumt und makellos sauber. Sie nahm ein großes Kelchglas von dem Holzregal neben dem Fenster, holte eine Flasche Perrier aus dem Kühlschrank, schnitt eine Zitrone auf, träufelte etwas von dem Saft über ihren Salat und gab ein Stück zusammen mit einigen Eiswürfeln in ihr Glas. Nachdem sie das Mineralwasser dazu gegeben hatte, riss sie ein Tuch von der Küchenrolle und stellte alles zusammen auf ein Tablett. Sie sah auf die alte Küchenuhr. Noch eine Viertelstunde, dann ging’s an die Arbeit. Genug Zeit, um kurz in den Guardian zu sehen. Sie biss in das saftige Fleisch.

Sie begann die Frauenseite zu lesen und fragte sich nicht zum ersten Mal, warum Polly Toynbee, mit der sie sich über fast alles einig war, sie so irritierte. Vielleicht lag es daran, dass ihre Artikel jeden Humor vermissen ließen, vielleicht musste jemand, der so sehr davon überzeugt war, die richtige Meinung zu vertreten, einfach irritierend wirken. Madgewick sprang schwerfällig auf ihren Schoß, ließ ein zufriedenes Schnurren vernehmen und schnupperte an ihrem Mittagessen.

»Du bist ein Schwein, Madgewick. Und du wirst es nicht mögen – es sind Zwiebeln dran.« Er warf ihr einen überheblichen Blick zu, hörte auf zu schnurren und sprang von ihrem Schoß.

Das Mineralwasser hatte einen frischen, klaren Geschmack. Am Tage nahm sie nur wenig zu sich, und Alkohol rührte sie erst am Abend an. Das lag zum einen daran, dass sie ihr Gewicht unter der kleidersprengenden Grenze von hundertvierzehn Pfund halten wollte, und zum anderen konnte sie besser arbeiten, wenn sie ein leichtes Hungergefühl verspürte: als rege ein körperliches Gefühl der Leichtigkeit und Leere ihr Denken an. Sie beendete ihre Mahlzeit und stand auf, um einen Kaffee zu kochen. Da sie allein war, bereitete sie ihn mit einem Tauchsieder zu; dann öffnete sie ihre große Leinentasche.

Es war eine Art Seesack mit etlichen Innentaschen, Wasser abweisend und geräumig. Sie kramte einige Tonbänder hervor. Wie alle Kollegen mit einer eigenen Sendung wurde Rosa – obwohl ihr Programm fast keine Musik enthielt – von Solomusikern und Gruppen von Demobändern bombardiert. Neunundneunzig Prozent waren unerträglich: völlig unmusikalische Imitationen dessen, was den Durchbruch an die Spitze der Charts geschafft hatte. Das fehlende Prozent schien nie auf ihrem Schreibtisch zu landen. Die Bänder wurden zusammen mit einer kurzen Notiz und einer Liste der bekanntesten Plattenfirmen an die Absender zurückgeschickt. Guy hörte sich alle an.

»Man kann ja nie wissen, Mom. Vielleicht ist ein zweites Spandau Ballet dabei.«

Was Rosa betraf, war ein Spandau Ballet bereits zu viel. Sie drückte den Tauchkolben hinunter und schenkte sich Kaffee ein. Er roch köstlich. Die Oberfläche war von einer leicht öligen Schicht überzogen. Sie fügte ein wenig Kaffeesahne hinzu, nahm das Buch unter den Arm und verließ die Küche.

Als sie die Treppe hinaufging, spürte sie die ersten Anzeichen einer emotionalen Wandlung, die ihre angenehme Wirkung nie verfehlte. Diese Wandlung erreichte ihren Höhepunkt, sobald sie sich in ihrem Arbeitszimmer an ihren Schreibtisch gesetzt hatte. Es begann mit dem allmählichen Abstreifen ihrer öffentlichen Persönlichkeit. Wie eine Schlange bei der Häutung legte sie mit jedem Schritt auf dem dicken Teppich ein Stück von Rosa Gilmour, Rundfunkmoderatorin und Mutter zweier Kinder ab, entledigte sich ihrer Rolle als Kindermädchen, Küchenchef, Chauffeuse und Vorsteherin einer »Bedürfnisanstalt«. Als sie an die glänzende weiße Tür kam, bebte sie vor Erwartung. Sie drückte die Klinke und betrat ihr Arbeitszimmer.

Dieser Raum war allein ihr vorbehalten. Leo kam selten hierher. Die Kinder nie. Am Fenster stand ein riesiger Nussbaumschreibtisch mit acht Schubladen und einer grünen Schreibtischunterlage aus Leder, deren Ränder mit einem griechischen Friesmuster aus Gold verziert waren. Darauf stand eine schimmernde Vase von orientalischer Schlichtheit. Sie war mit getrockneten Judassilberlingen, Buchenzweigen und ein paar zerfledderten Mohnblumen gefüllt. Rosa setzte sich mit dem Rücken zum Fenster und trank einen großen Schluck Kaffee. Bevor sie das Buch aufnahm, zögerte sie einen Augenblick, um den Raum, der wie eine Tarnkappe wirkte und ihr anderes Ich unsichtbar machte, in sich aufzunehmen.

Obwohl sie ihn vor sieben oder acht Jahren mit verschiedenen Möbelstücken eingerichtet hatte, die entweder selbst gekauft oder Erbstücke waren und aus völlig verschiedenen Epochen stammten, machte er einen ruhigen und harmonischen Eindruck. Einige der Stücke (einen viktorianischen Spiegel mit Laubsägearbeiten oder einen silbernen Fotorahmen aus der Zeit Edwards II.) hatte sie in der Einkaufspassage von Camden erstanden, bevor sie wieder modern geworden waren. Hand in Hand war sie mit Leo durch die Geschäfte geschlendert, während Guy, in einem Tragetuch an ihren Körper geschmiegt, seine Zustimmung zu ihren Funden lauthals bekundet hatte. Ihre Mutter hatte ihr einen gemütlichen Sessel und einen großen, schmalen Mahagonischrank geschenkt, in dem sie ihre Bücher aufbewahrte.

Es war ein dunkler Raum – sie hatte ihn schokoladenbraun gestrichen –, der jedoch durch elfenbeinfarbene Fenstersimse und einen Perserteppich aufgehellt wurde, den sie an dem Tag, an dem sie ihren ersten Vertrag beim Rundfunk unterschrieb, bei Liberty’s gekauft hatte. Seine ockergelben und aprikosenfarbenen, seine zitronengelben und beigen Schattierungen wirkten vor dem unbenutzten Kamin wie glühende Asche. In einer Ecke des Zimmers hatte sie unauffällig eine Stereoanlage platziert, deren Lautsprecher an zwei sich gegenüberliegenden Wänden angebracht waren. Als sie die auf dem Flohmarkt von Portobello erstandenen Vorhänge zu Hause voller Begeisterung vorführte, hatte Leo, nachdem er einen Blick auf den dreckverkrusteten Chenillestoff geworfen hatte, gemeint, sie ähnelten einem Haufen Elefantenmist. Doch als sie sie etliche Male sorgfältig gewaschen und gespült hatte, war ein weiches Muster aus zarten rostbraunen, rosaroten und hellgrünen Farbtönen zum Vorschein gekommen. Dann hatte sie das Zehnfache ihres Werts bezahlt, um sie säumen zu lassen.

Sie trank den Kaffee aus und stellte die Tasse neben einem gerahmten Foto ihrer Eltern auf den Tisch. Ihr Vater, den sie nie kennengelernt hatte, wirkte in der Uniform eines Oberleutnants der Luftwaffe stolz und ein wenig unsicher; ihre Mutter sah durch ihren dichten weißen Schleier bewundernd zu ihm auf. Fünf Monate später war sie nach einem Luftangriff über den Niederlanden Witwe geworden.

Rosa legte ihr Buch in die Mitte des Schreibtischs. Es beschrieb das Leben von Lorenzo da Ponte, Mozarts Librettisten und Freund von Michael Kelly. Die Biografie, an der sie gerade arbeitete, war Rosa aus etlichen Gründen wichtig. Sie empfand es als erfrischend, sich in die freie und harmonische Welt der Aufklärung zu versetzen, in die Männer wie Newton, Voltaire und Mozart eine so köstliche Ordnung gebracht hatten; und es befriedigte ihren natürlichen Wissensdurst. Sie spürte hartnäckig den Fakten nach und hatte ein gutes Gespür für Querverbindungen, denn in Briefen und Tagebucheintragungen stieß sie auf Anspielungen, die einem weniger aufmerksamen Leser wahrscheinlich entgangen wären. Es machte ihr Spaß, längst verstorbene Figuren zum Leben zu erwecken, sich ihre Lebensweise, ihre Kleidung und ihre Kunstwerke in Gedanken vorzustellen, bis sie meinte, die Straßen von Wien und London förmlich riechen zu können.

Die Diskrepanz zwischen dem, wie die Menschen sich selbst in den verschiedenen Briefen und Memoiren darstellten, und dem, was ihre Freunde (und Feinde) über sie sagten, stellte sie vor Probleme, die sie voller Begeisterung in Angriff nahm, und da ein großer Teil ihres Materials auf Französisch war, frischte sie zugleich ihre Sprachkenntnisse auf. Die Zeit, die sie auf diese Arbeit verwenden konnte, war begrenzt, doch das erschien ihr nebensächlich. Sie beschäftigte sich mit einer Sache, die ihr ausgesprochen ernst war und die ihr in vielen Jahren des Studiums entwickeltes akademisches Interesse wachhielt. Einige ihrer Freunde in den Medien und in der Werbung erkundigten sich bei jedem Zusammentreffen mit einem teils wehmütigen, teils ablehnenden Gesichtsausdruck nach ihrer Arbeit, den Rosa bald einzuschätzen wusste. Sie redeten von den Romanen, die sie bald schreiben, von den Dramen und Radierungen, mit denen sie beginnen würden, sobald das leer stehende Zimmer aufgeräumt oder das jüngste Kind in der Schule sei. Aber im Laufe der Zeit, während Rosa mit ihrer Arbeit vorankam, sprachen sie immer von ihren Plänen, als seien sie leidtragende Eltern, die es nicht ertragen konnten, an ihre gesunden Nachkommen zu denken.

Sie nahm einen Reisewecker aus der linken oberen Schreibtischschublade, stellte ihn auf Viertel nach drei und legte ihn wieder zurück. Kurz bevor sie sich an die Arbeit machte, dachte sie daran, wie ruhig und harmonisch ihr Leben doch verlief. Sie fühlte sich wie ein Jongleur, der, durch lange Übung geschult, leuchtende Orangen mit großem Geschick zwischen seinen Händen hin- und herwandern ließ. Lagen Michael Kelly und die Arbeit beim Rundfunk in ihrer gewölbten Hand, so entließ sie Leo und die Kinder in die Welt der Arbeit und der Schule, nur um sie zum geeigneten Zeitpunkt mit der anderen wartenden Hand aufzunehmen.

Sie beugte den Kopf über ihr Buch. Tatsächlich, dachte sie, besteht das größte Glück darin, eine Arbeit zu tun, die das vollkommene Vergessen der eigenen Person einschließt. Voller Zufriedenheit legte sie ihren Schreibblock neben das Buch, nahm einen Stift in die Hand und begann zu lesen.

2

»Und wie werden Sie auf dieser einsamen Insel zurechtkommen, Fenn? Sind Sie praktisch veranlagt? Könnten Sie sich eine Schutzhütte bauen?«

Fenn war sich nicht sicher, wie er auf diese Frage antworten sollte. Er konnte sich vorstellen, dass die Leute ihn für einen Trottel halten würden, wenn er zugab, dass er ein guter Heimwerker war. Auf der anderen Seite wollte er nicht den Eindruck erwecken, einer dieser schwächlichen Typen zu sein, die sich in einer Notsituation nicht zu helfen wussten. Schließlich hatten seine Zuschauer jetzt die Möglichkeit, etwas über den wahren Fenn zu erfahren. Der gefeierte Star sollte aus der Reserve gelockt werden. Gewöhnlich entschied er sich dafür zu erwidern: »Nun, Roy – ich würd’s auf jeden Fall versuchen. Für das Ergebnis kann ich allerdings nicht garantieren.« Dem würde er ein Lachen folgen lassen, das den Zuschauern bewies, wie problemlos das Ganze für ihn eigentlich war.

»Und Sie dürfen einen Gegenstand mitnehmen – der allerdings keinen praktischen Wert hat.«

Auch diese Frage hatte ihm zunächst Kopfzerbrechen bereitet. Er schwankte zwischen einer völlig sinnlosen, aber ausgefallenen Sache wie einem Paar Ski und einem Gegenstand, der die Neugierde des Publikums erregen würde. Ihnen einen kleinen Eindruck von seinem Lebensstil vermitteln würde.

»Du bringst mich hier ganz schön in Verlegenheit, Roy. Ich kann mir kaum vorstellen, den Tag ohne meinen seidenen Morgenmantel zu beginnen.« Oder sollte er lieber Kaffee von Fortnum’s nennen? Nein – das ging nicht. Schleichwerbung war bei der BBC verboten. Ein paar Flaschen von meinem besten Rotwein? Ja, das war in Ordnung. Ziemlich brillant sogar. Er hatte sich gegen Champagner entschieden, weil ihm das zu gewöhnlich vorkam.

»Und wie steht’s mit einem Buch? Auf der Insel sind bereits die Bibel und eine Shakespeare-Ausgabe.«

»In dem Fall, Roy, ist ein anderes Buch gar nicht mehr nötig, oder? Er ist ein großartiger Schriftsteller. Manchmal denke ich, dass nichts der Erwähnung wert ist, was Shakespeare nicht schon einmal in irgendeiner Form gesagt hat.« Bei der Bibel musste man vorsichtig sein. Einige seiner Fans würden enttäuscht sein, was immer er auch sagte. »Was die Bibel angeht … sie ist ebenso Teil unseres englischen Erbes wie die Gebäude und Gärten Unserer Majestät. Ich bin mir sicher, dass sie wie alle großen Kunstwerke für jeden von uns etwas anderes bedeutet.«

Mit seiner Antwort auf die Buchfrage war er ausgesprochen zufrieden. Soweit er wusste, war bislang kein anderer auf eine so glänzende Lösung gekommen. Damit würde er seine Originalität beweisen. Natürlich würde Roy ihn drängen, ein weiteres Buch zu nennen, und er hatte bereits beschlossen, das zu wählen, welches jeweils an der Spitze der Bestsellerliste stand. Er war wahrhaftig kein begeisterter Leser und konnte – bei dem Gedanken prustete er los – schwerlich ein Buch aus seiner Spezialsammlung vorschlagen.

Für Musik interessierte er sich ebenfalls nicht. Die eine Hälfte der Titel würde er aus den gegenwärtigen Top Ten beziehen, die andere setzte sich aus dem Klassikervorrat der Bibliothek zusammen. Vor einigen Tagen hatte er sich vier davon notiert, und er hatte vor, seine Liste jeden Monat zu verändern. Er nahm an, dass es bei klassischer Musik ebensolche Trends gab wie bei Popmusik, und wollte auf dem Laufenden sein.

Ständig bereitete er sich auf die verschiedenen Situationen vor, mit denen er konfrontiert sein würde, sobald er berühmt wäre, doch Desert Island Discs war ihm am liebsten. Die Sendung bewies, dass man es wirklich geschafft hatte. Er wurde nicht müde, seine Antworten auf Roys Fragen immer wieder durchzuspielen. Er hatte Eltern, Schule, Freunde erfunden. Da gab es einen Lehrer, der schon früh sein außergewöhnliches Talent erkannt hatte und ihn adoptieren wollte. Dazu eine ganze Menge Freunde, »die alte Gang«, die ihm keineswegs den Erfolg neideten und mit denen er sich gelegentlich zu einem Streifzug durch die Kneipen traf.

Es wurde allmählich Zeit für den Briefträger. Er änderte die Poptitel auf seiner Plattenliste und legte sie in den Aktenordner, der alle Einzelheiten seines neuen Lebens enthielt. Das ist das wahre Leben, dachte er und presste den Ordner fest an seine Brust. Was man sich selbst schafft. Das ist die Wahrheit. Er hatte das eigenartige Gefühl, dass in dem Aktenordner auf undefinierbare Weise sein eigenes Leben aufgehoben war. Es war, als habe er durch die Auflistung von Erfahrungen und die Zusammenstellung von Namen wie ein Alchimist das gewöhnliche Metall, aus dem seine Persönlichkeit geschmiedet war, in pures Gold verwandelt. Er kam sich vor wie eine dieser Figuren in den Zeichentrickfilmen, die zusammenschrumpften und in den Seiten eines Buches verschwanden; als habe er sich, reingewaschen vom Schmutz des Versagens und der Hoffnungslosigkeit, in den Aktenordner verflüchtigt, bis der warme Glanz des Erfolgs ihn zu neuem Leben erwecken würde. Dann würde er sich, angetan mit einem strahlenden Körper, wunderschönen Kleidern und einer engelsgleichen Stimme, erheben und endlich zeigen können, was in ihm steckte.

Er öffnete die Tür. Der Geruch des Bratfetts störte ihn nicht mehr. Er würde nicht mehr lange hier sein. Heute war wieder keine Post gekommen. Vor vier Tagen hatte er ihr geschrieben. Er durfte nicht ungeduldig werden. Eine Frau in ihrer Position wurde bestimmt mit einer Flut von Briefen überschwemmt. Vielleicht war ihre Sekretärin krankgeschrieben, und die Post stapelte sich auf ihrem Schreibtisch. Er wollte nicht unvernünftig sein. Er sah auf den Kalender. Montag, der siebzehnte November. Bis Dienstag würde er ihr Zeit lassen.

An diesem Dienstag hieß das Thema ihrer Sendung »Wohnungssuche«. Rosa war wie immer davon gerührt, wie viele Menschen zu glauben schienen, dass sie Wunder vollbringen und ihnen eine Wohnung (oder ein Krankenbett oder sonstiges) beschaffen könne, wenn die Stadtverwaltung versagt hatte. Die Anrufe waren vorhersehbar. Klagen über jahrelange Wartelisten; über andere, meist weniger verdienstvolle Mitmenschen, die bevorzugt behandelt wurden. Und immer wieder der verständliche Hass auf die Boat People und andere verzweifelte Flüchtlinge. Wie schnell doch das Verständnis für die Außenseiter, dieser angeblich so unumstößliche Bestandteil des britischen Charakters, nachließ, wenn Arbeit und Wohnungen knapp wurden! Rosa fragte sich manchmal, wie lange ihr eigenes Mitgefühl, das niemals ernsthaft auf die Probe gestellt worden war, vorhalten würde, wenn sie weder Arbeit noch ein Dach über dem Kopf hätte.

Die Sendung war fast zu Ende. Der Vogelmann hatte angerufen und hielt gerade eine kleine Moralpredigt: »… sollte ihre Nestgewohnheiten untersuchen. Man sollte große Gebiete als eine Art Menschenschutzgebiete zur Verfügung stellen und den armen Leuten Material an die Hand geben, mit dem sie sich ihre Nester bauen könnten – nur übergangsweise. Wenn dann wieder Wohnungen frei werden, könnte man diese Nester abbauen. Oder sie ausbauen und für arme Familien stehen lassen.«

Rosa hatte nicht gewusst, ob sie lachen oder weinen sollte, als der Vogelmann begann, regelmäßig an ihrer Sendung teilzunehmen. Aber seine unerschütterliche Überzeugung, dass alle gesellschaftlichen Missstände durch Beobachtung und Nachahmung der Vögel gelöst werden könnten, hatte das Interesse ihrer Hörer geweckt, und wenn er sich einmal, was selten vorkam, nicht gemeldet hatte, erhielt Rosa eine Flut von Briefen, in denen man sich nach seinem Wohlbefinden erkundigte. Er war immer höflich, hielt sich ziemlich kurz, und Rosa hatte ihn noch nie wegen unflätiger Bemerkungen unterbrechen müssen.

»Meinen Sie so etwas wie Fertighäuser?«

»Genau! Sie wissen immer, was ich meine, Mrs. Gilmour. Es spricht nichts dagegen, Schlamm zu verwenden. Er ist reichlich vorhanden, und unsere Freunde, die Schwalben, kommen gut damit zurecht.«

»Und wenn es regnen sollte?« Rosa bemühte sich, ernst zu bleiben. Gerade hatte sie Louise entdeckt, die hinter der Scheibe zum Kontrollraum das Zwitschern eines Vogels nachahmte.

»Natürlich muss man ihn mit Stroh mischen.«

»Natürlich. Entschuldigen Sie – daran habe ich nicht gedacht.« Impulsiv fügte sie hinzu: »Sie haben so oft zu der Sendung beigetragen, und wir kennen nicht einmal Ihren Namen.«

Sie wünschte, er würde seinen Namen mit Mr. Schwan oder Mr. Sperling angeben, wusste aber, dass ein solcher Zufall zu schön wäre, um wahr zu sein.

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Mrs. Gilmour, möchte ich meinen Namen nicht nennen. Ich sehe mich nicht in der Lage, auf eine Flut von Briefen zu antworten.«

Sieh mal an, dachte Rosa und machte den Fehler, wieder zum Tonraum zu sehen. Louise stand jetzt mit erhobenen Armen hinter der Scheibe. Sie schlug sie auf und ab, wobei sie mit dem Mund ein lautes Kreischen imitierte.

Der Vogelmann hatte die Flatter gemacht. Eine Frau aus dem sechsundzwanzigsten Bezirk begann über ihre Tochter zu reden, die seit sechs Jahren auf der Warteliste für Sozialwohnungen stand und immer wieder übergangen wurde, »weil sie dieses kleine persönliche Problem hat«. Zusammen mit Tausenden von Radiohörern horchte Rosa gespannt auf, doch der Stundenzeiger der Studiouhr rückte vor und ließ sie für immer über Anna Maries Makel im Dunkeln. Vielleicht war es besser so. Rosa hatte oft den Eindruck, dass »da draußen« ein hochexplosives Gemisch aus Frustration und Verzweiflung vor sich hin brodelte, und war dankbar, in dem abseitigen und schalldichten Senderaum zu sitzen.

Sie verabschiedete sich von ihren Hörern, bedeutete Louise mit einem Zeichen, den Musikabspann und die Ansagerin einzuschalten und verließ das Studio in Richtung Kontrollraum. Die nächste Sendung war schon auf Band. Louise überprüfte die Tonstärke, ließ das Band ablaufen und nahm ihre Kopfhörer ab. Rosa lächelte sie an.

Louise fragte: »Was meinst du, wie er heißt?« Sie kramte in ihrer Tasche und zog einen Marsriegel hervor.

»Keine Ahnung. Eigentlich will ich’s auch nicht wissen. Armer alter Kerl.«

»Vielleicht ist er gar nicht so alt.«

»Oh – da bin ich mir sicher. Wahrscheinlich wohnt er im Osten von London in einer kleinen Sozialwohnung mit Balkon. Bestimmt achtet er auf ein sauberes und gepflegtes Aussehen und wechselt jeden Tag das Hemd.«

»Und in seinem Bad wird immer etwas Wäsche hängen.«

»Bei gutem Wetter wird er sie an einer Wäscheleine auf seinem Balkon trocknen. Vielleicht hält er sich dort sogar in einem Verschlag ein Kaninchen.«

»Aber auf keinen Fall Vögel in einem Käfig.«

Louise hatte selbst etwas Ähnlichkeit mit einem Vogel, dachte Rosa. Ihr kanariengelbes Haar fiel, weich wie das Gefieder eines Jungvogels, auf ihre Schultern, und ihr Körper war zartgliedrig wie der eines Spatzen. Wie immer trug sie eine außergewöhnliche Kombination aus verschiedensten Kleidungsstücken: bunte Stiefel (ein Rautenmuster aus vielfarbigen Wildlederstreifen), zwei Röcke – der eine war aus ockerfarbenem Samt und reichte ihr bis an die Stiefelspitzen, während der andere, übersät mit winzigen Spiegeln und ausgefallener Stickerei, nicht länger war als eine Schürze. Dazu trug sie einen Pullover mit weiten Ärmeln aus spitzenähnlichem Stoff und eine Patchworkweste mit flatternden Bändern. Anmutig biss sie in einen Marsriegel.

»Der wievielte ist das heute?«

»Der fünfte. Nein, ich hab’ gelogen, der sechste.«

»Es ist erst zwölf Uhr.«

»Ich hatte zwei zum Frühstück.«

»Ich hab’ gedacht, du wolltest dich einschränken.«

»Ich hab’ mich eingeschränkt. Gestern hatte ich drei zum Frühstück.«

»Ahhh …«

»Und ich habe entdeckt, dass man eine umwerfende Zuckersoße machen kann, wenn man sie in einem Turmtopf schmilzt.« Bei der Erinnerung leuchteten Louises Augen auf. »Man kann sie über alles gießen. Wie Bratensaft.«

»Wenn du vierzig bist, wirst du das bereuen.«

Das einzige Problem war, dass Louises Haut glänzte wie das Innere einer Muschelschale und sie in der Taille neunzehn Zoll maß. Ein Zoll für jedes Jahr. Warum sollte sie glauben, dass weitere zwanzig Jahre sie in eine mütterliche Matrone verwandeln würden? Rosa dachte daran, wie sie sich mit neunzehn Jahren gefühlt hatte. Man war sich nicht nur sicher, dass man nie im Leben vierzig würde, sondern fühlte sich unsterblich.

»Kommst du zum Mittagessen mit in die Kantine, Rosa?«

»Nein. Ich hab’ noch ein paar Einkäufe zu erledigen. Außerdem vergeht einem der Appetit, wenn man dir beim Mampfen zusieht.«

»Schade … Der arme Duffy.«

Mike Duffield, Nachrichtensprecher und Sportreporter, hatte eine Schwäche für Rosa, von der alle beim Sender wussten. Das hieß, alle außer Rosa, die seine romantischen Sticheleien und feurigen Blicke über den Rand eines Kaffeebechers aus Plastik für einen Scherz hielt. Manchmal hatte sie es satt, manchmal bemerkte sie es kaum, doch sie hatte ihn nie ernst genommen.

»Seine schmachtenden Blicke werden heute wohl unerwidert bleiben müssen. Es scheint ihm nicht viel auszumachen. Apropos, wie steht’s denn um dein Liebesleben?«

»Ach … weißt du. Ein bisschen eintönig …«

Als eintönig konnte man Louises Liebesleben eigentlich nie bezeichnen. Als Rosa sich einmal über die erstaunliche Fluktuation von Louises Liebhabern geäußert hatte, war die Antwort gewesen:

»Na ja, es ist halt wie mit Büchern, oder? Hat man sie einmal gelesen, will man nicht wieder von vorn anfangen. Man sucht sich ein anderes.«

Mit neunzehn war Rosa seit sechs Monaten verheiratet. Sie sah zu, wie Louise mit geschickten und einfühlsamen Fingern das Kontrollpult bediente, und dachte, wie schön es wäre, wenn das Mädchen ein bisschen mehr Ehrgeiz entwickeln würde. Sie hatte eine heitere, offene Persönlichkeit, war intelligent und sprühte vor Energie, begnügte sich aber damit, von einem Tag zum nächsten zu leben, ohne sich Gedanken um ihre Zukunft zu machen. Rosa kam nicht umhin, sie mit Sonia zu vergleichen, die zwar viel Ehrgeiz entwickelte, aber nichts hatte, mit dem sie ihm gerecht werden könnte. Als habe sie ihre Gedanken erraten, meinte Louise:

»Hast du heute schon Rebecca von der Sunbrooke Farm gesehen?«

»Nein. Und ich werde mich schleunigst davonmachen, bevor es dazu kommen kann. Außerdem hat sie genug zu tun.«

»Dann geh lieber nicht in dein Büro. Ich habe gehört, wie Duffy zu ihr sagte, in deinem Zimmer wäre das Arbeiten sehr viel angenehmer als in der Redaktion.«

»Dieser Mistkerl!« Rosa musste lachen. »Dann mach’ ich mich jetzt auf den Weg.«

»Bis bald.«

Louise zog ihren siebten Marsriegel aus der knisternden, braunen Verpackung, als Rosa die filzbeschlagene Tür aufstieß. Gleich um die Ecke stieß sie auf Sonia und machte sich auf einen ihrer zuckersüßen Wortschwälle gefasst, doch Sonia wandte sich ab, als habe sie Rosa nicht gesehen. Sie trug ein Tablett mit einer Kaffeetasse und war ziemlich rot im Gesicht.

 

Der Brief war gekommen. Diesmal war er nicht ruhig geblieben, sondern hätte vor lauter Ungeduld fast den Umschlag zerrissen. Ungläubig starrte er jetzt auf das Stück Papier in seiner Hand und setzte sich auf einen Stuhl. Er konnte es einfach nicht glauben. Sie hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihm persönlich zu antworten. Es war ein vorgedrucktes Formular, in das mit Tinte sein Name eingesetzt war. Sie hoffte, er hätte »Verständnis für eine so unpersönliche Antwort«, doch die »überwältigende Postmenge« mache es ihr leider unmöglich, jeden Brief persönlich zu beantworten, so gern sie es auch wollte.

So gern sie es auch wollte! Was für ein Quatsch! Er umschloss den Brief so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Obwohl sie clever war. Sehr geschickt, wie sie ihn auf die Wichtigkeit ihrer Person hinwies. Wie sie ihm vorzumachen versuchte, dass sie sich vor Fanpost kaum retten könnte und ihr Leben aus lauter wichtigen Dingen bestand. Wirklich verdammt geschickt!

Er ging zu seinem Tisch hinüber und starrte ihr Bild an. Vor Wut und Enttäuschung schossen ihm Tränen in die Augen. Und jetzt konnte er nichts mehr ändern. Die Würfel waren gefallen, wie man so schön sagte. Als das Messer seine linke Hand verlassen hatte, war seine Entscheidungsfreiheit mit ihm gegangen. Er war wie ein Bittsteller, der sich vor das Orakel gekniet und darauf gewartet hatte, dass ihm sein Schicksal kundgetan wurde; dass ihm der Weg gewiesen wurde. Und sie war sein Schicksal.

Er nahm wieder auf dem harten Stuhl Platz. Er zwang sich, ruhiger zu atmen und die Muskeln zu entspannen. Die Finger seiner rechten Hand waren gekrümmt wie die Fänge eines Raubvogels. Einzeln streckte er sie aus. Der Brief fiel zu Boden. Er hob ihn auf und glättete ihn. Und dann fiel ihm etwas auf.

Die Ablehnung hatte ihn so überwältigt, dass er versäumt hatte, den Brief bis zu Ende zu lesen. Als er jetzt den letzten Absatz überflog, bemerkte er, dass der Brief überhaupt nicht von Rosa Gilmour stammte. Zwar kam er aus ihrem Büro, aber unterschrieben hatte ihn jemand anders. Schon wieder das Gleiche. Genau wie bei der BBC. Irgendeine Sekretärin hatte es auf sich genommen, den Brief abzufangen und ihm eine Antwort zu schicken. Rosa hatte ihn nicht einmal zu sehen bekommen. Er war erleichtert. Er sah sich die verkrampfte kleine Unterschrift näher an: »Sonia Marshall«.

Sonia Marshall sollte sich lieber vorsehen. Hätte er sich einmal bei City Radio etabliert, würde sie sich nach einer neuen Stelle umsehen müssen. Er strich das Papier glatt und notierte sich Rosas Anschrift und Büronummer, dann warf er den Brief in seinen grauen Mülleimer. Er zog den Stuhl an den Tisch, holte ein neues Blatt Papier hervor und versuchte sich zu konzentrieren. Wie sollte er weiter vorgehen? Hauptsache war, mit Rosa Kontakt aufzunehmen. Er würde es im Studio versuchen. Sollte er sie dort nicht erreichen, würde er bei ihr zu Hause anrufen. Oder sollte er ihr lieber schreiben? Ja – das war die Lösung. Wenn er ihr nach Hause schrieb, würde sie den Brief auf jeden Fall erhalten. Und in einem Brief konnte er sich präziser ausdrücken. Welchen Eindruck würde es denn machen, wenn das Telefon ständig piepste, weil er mit den Münzen nicht nachkam? Und sie würde ihn vielleicht von vornherein ablehnen, weil er kein privates Telefon hatte. Würde wahrscheinlich denken, er hätte nicht das richtige Format. Er kramte sein Kleingeld hervor. Drei Zehner und ein Fünfziger. Das müsste reichen. Es war ja nur ein Ortsgespräch.

Mit dem Notizblock in der Hand rannte er in die Diele hinunter. Oberhalb des Münzfernsprechers hing eine riesige Werbung für karibische Softdrinks. Eine große schwarze Frau mit einem Turban schwenkte einige Ananas wie Handgranaten gegen einen tiefblauen Ozean. Ihre Zähne waren weiß wie der Sand. Einige waren mit Tinte vollgeschmiert, auf anderen standen Telefonnummern. Der rissige Linoleumfußboden unter dem Telefon starrte vor Dreck. Er legte sein Notizbuch auf den Münzfernsprecher, warf Geld nach und wählte. Tut. »Hier City Radio.«

»Könnte ich bitte Rosa sprechen?«

»Wen bitte?«

»Rosa.« Nachsichtig und leicht amüsiert fügte er hinzu: »Rosa wie in Gilmour.«

»Oh. Ich glaube, Mrs. Gilmour ist nicht im Haus, aber ich werde Sie mit ihrem Büro verbinden.«

Mrs. Gilmour? Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie verheiratet war. Aus irgendeinem Grund missfiel ihm das- Es knackte ein paar Mal in der Leitung.

»Nein. Tut mir leid. Versuchen Sie’s doch am Freitag nach der Sendung. Zu Ende ist sie um …«

»Ich weiß, wann ihre Sendung zu Ende ist. Hören Sie – vielleicht hätte ich es Ihnen schon früher erklären sollen. Ich rufe in einer Privatsache an. Rosa ist eine gute Freundin von mir.«

»Nehmen Sie’s mir nicht übel, aber Sie sind wohl eher derjenige, der nicht verstehen will.« Jetzt war es an der Telefonistin, Nachsicht zu üben. »Mrs. Gilmour ist nicht hier. Ich kann sie auch nicht herzaubern.«

Verdammtes Miststück. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Bei diesen Leuten wusste man nie, wann sie einem Lügen auftischten: Auf der anderen Seite hatte es keinen Zweck, sie zu diesem Zeitpunkt unnötig zu verärgern.

»Nun gut. Okay … ich … hm … werde sie zu Hause anrufen.«

»In Ordnung. Vielen Dank für Ihren Anruf. Auf Wieder-«

»Einen Moment.«

»Ja?«

»Würden Sie mir bitte ihre Nummer geben?«

»Ihre Privatnummer?«

»Genau.«

»Aber … haben Sie die denn nicht, Sir? Ich meine – Sie sind doch mit ihr befreundet.«

Die Kanaille. »Wie ist Ihr Name?« Das hatte gesessen. Eine Pause. Im Hintergrund hörte er ein gedämpftes Flüstern. Es hörte sich an wie ein Schluchzen. Dann sagte irgendjemand etwas, das er nicht verstehen konnte. Es musste jemand bei ihr sein. Er hatte recht. Ein zweites Mädchen kam ans Telefon.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Ich glaube, Ihre Kollegin hat Ihnen die Situation bereits erklärt. Ich hätte gern Mrs. Gilmours Privatnummer.«

»Tut mir leid. Es ist uns nicht gestattet, Privatnummern weiterzugeben.«

»Oh.« Er musste gestehen, dass das ein Rückschlag war. Am besten kam er auf die Idee mit dem Brief zurück. »Und wie steht’s mit ihrer Adresse? Ich will ihr eine kurze Nachricht hinterlassen.«

»Das geht leider auch nicht. Wenn Sie an Rosas Karussell schreiben, wird sie den Brief sicher bekommen.«

»Wissen Sie, ich hab’ mein Adressbuch verlegt. Ich habe Rosa versprochen, dass ich sie heute anrufe. Sie wird sauer sein, wenn ich’s nicht tu.«

»Mrs. Gilmour wird morgen im Studio sein. Wenn Sie mir Ihren Namen und Telefonnummer geben, werde ich sie an Mrs. Gilmour weiterleiten.« Den Teufel Würde sie tun. Seine Nachricht würde da landen, wo sein Brief bereits war: bei irgendeiner blöden Sekretärin. Sie fügte hinzu: »Ich würde meinen Job verlieren, wenn ich Ihnen diese Art von Information geben würde.«

Er dachte schnell nach. »Um ehrlich zu sein, werde ich heute Abend bei ihr zum Abendessen erwartet, und ich schaff’ es zeitlich einfach nicht.« Das war gut. Sehr einfallsreich. Es kam darauf an, blitzschnell zu schalten. Das unterschied den Mann vom Jungen. »Offensichtlich muss ich ihr also absagen.«

»Ich verstehe.« Pause. Damit hatte sie nicht gerechnet. »In dem Fall wird es mir ein Vergnügen sein, sie zu Hause anzurufen und ihr die Nachricht mitzuteilen. Würden Sie mir bitte Ihren Namen nennen?«

Ein Piepsignal kündigte das Ende des Telefonats an. Kurz bevor die Leitung unterbrochen wurde, hörte er die beiden idiotisch kichern. Er war versucht, den Hörer gegen die Wand zu werfen, legte ihn aber sanft, fast zärtlich auf die Gabel zurück. Selbstkontrolle war sein oberstes Gebot. Immerhin konnte er Rosa für das Geschehene nicht verantwortlich machen. Die Tatsache, dass ihm an jeder Ecke Steine in den Weg gelegt wurden, hatte nichts mit ihr zu tun. Und irgendwann, sagte er sich, würden die Mädchen für ihn dasselbe tun. Würden ihn vor begeisterten Fans abschirmen. Und dafür würde er ihnen dankbar sein. Vielleicht würde er sie sogar an den heutigen Vorfall erinnern. Sie würden sich peinlich berührt fühlen, bis sie sahen, dass er lachte.

Aber das brachte ihn auch nicht weiter, dachte er, als er die Treppe hinaufging. Wieder am Tisch, strich er hastig seine Notizen durch: Rosa kontaktieren (Büro/Studio). Rosa kontaktieren (zu Hause). Dann starrte er lange auf seinen Block.

Er schien vor einem unüberwindlichen Hindernis zu stehen. Er hatte sich immer für einen Menschen gehalten, der in schwierigen Situationen am effektivsten war. »Widrigkeiten bringen meine besten Seiten zum Vorschein«, hatte er immer behauptet. Tatsächlich hing über seinem Waschbecken ein Spruch, der es weitaus besser, als er je könnte, auf den Punkt brachte: »Unmögliches erledigen wir sofort. Wunder brauchen etwas länger.«

Er holte den Brief aus dem Mülleimer. Er musste versuchen, ihn mit mehr Abstand zu lesen. Alles persönlich zu nehmen, bereitete ihm nichts als Kopfschmerzen. Vielleicht kam ihm beim Lesen eine Idee. Er strich das Papier glatt. Unter der Unterschrift stand noch etwas. »Persönliche Sekretärin«. Zwischen »Sonia Marshall« und »pp. Rosa Gilmour« hatte sie »Persönliche Sekretärin« geschrieben. Das war eine Verbindung, die es zu verfolgen galt. Hatte man erst mal die Sekretärin, kam man auch an die Chefin heran. Es war ja so einfach. Es wäre ein Kinderspiel. Und ein unterhaltsames dazu. Wieder las er sich die aalglatten Phrasen durch, die sie ihm in ihrer Gleichgültigkeit geschickt hatte. Eigentlich war es zum Totlachen. Ja, er war Sonia Marshall etwas schuldig. Aber sie wäre diejenige, die bezahlen müsste.

Rosa bemerkte sehr wohl, dass Sonia in der einen Ecke des Raumes hockte, als habe sie einen Besen verschluckt. Vom morgendlichen Biss in den knackigen Herbsthimmel konnte heute nicht die Rede sein. Auch die vertraulichen Erkundigungen nach Michael Kelly oder Rosas Privatleben fielen aus. Was blieb, war ein kühles »Guten Morgen, Mrs. Gilmour« zur Begrüßung und dann das anhaltende, unpersönliche Rattern der Schreibmaschine. Das war zwar äußerst ungewöhnlich, kam Rosa aber nicht ungelegen.

Sie war ohnehin zu spät dran, denn heute hatte sie nicht vor Mrs. Jollit und deren so genanntem täglichen Schnelldurchgang flüchten können. Rosa war erst ein- oder zweimal Zeuge dieses Wirbelwinds gewesen und hatte, wie von einer unbekannten Zentrifugalkraft an die Wand gepresst, tatenlos zugesehen, bis sich der Sturm gelegt hatte. Sie hatte an den Walt-Disney-Cartoon »Der Zauberlehrling« denken müssen, in dem sich Besen und Mops wie aus eigener Kraft an die Arbeit machen. Mrs. Jollit schien die verschiedenen Putzgeräte weniger zu benutzen, als sie magisch anzuziehen. Gewöhnlich blies sie ihre von aufgeplatzten Äderchen durchzogenen Wangen auf und stieß zischend den Atem aus, bevor sie sich an die Arbeit begab.

Heute Morgen hatte Mrs. Jollit ein Krebsgeschwür im linken Knie. Als sie vor drei Jahren zu Rosa gekommen war, hatte sie über schreckliche Schmerzen in der Schulter geklagt und behauptet, es sei Krebs. Rosa hatte sofort Mitleid gehabt. Wie viele Frauen neigte sie dazu, bei der geringsten Andeutung über einen Schmerz unbekannter Herkunft oder über unerklärliche Beschwerden das Schlimmste zu befürchten, deshalb hatte sie Mrs. Jollit zu ihrer beider Beruhigung zu ihrem Hausarzt geschickt und die Röntgenkosten übernommen. Die Röntgenaufnahme zeigte eine vollkommen gesunde Schulter. Seitdem hatte Mrs. Jollit Krebsgeschwüre in der Lunge, dem Herzen, den Nieren und der Milz gehabt. An den Nerven, in der Wirbelsäule, in der Leber und in der Gebärmutter. Bislang war der einzige wichtige Körperteil, der sich nicht dem Krebs gebeugt hatte, das Gehirn gewesen, und wie Leo sagte, würde jede Krankheit, die Mrs. Jollits Gehirn ausmachen könne, in die Geschichte der Medizin eingehen. Die unablässige Saga ihres regen Innenlebens wurde nur durch Geschichten über Gavin, ihrem jüngsten Enkel, unterbrochen, auf den die Polizei es aus ihr unverständlichen Gründen irgendwie abgesehen hatte. Ihre angesichts der apokalyptischen Enthüllungen monotone und gleichgültige Stimme folgte Rosa bis zur Tür.

»Heute hab’ ich schon tausend Ängste ausgestanden, das können Sie mir glauben.«

Rosa sah flüchtig die Post durch. Eine halbe Stunde verging. Nur zwei Briefe waren ein wenig komplizierter und erforderten die Durchsicht gewisser Akten und ein Telefongespräch. Sie beschloss, einen Kaffee zu machen. Nachdem sie sich monatelang gewünscht hatte, Sonia würde mit dem Geplapper aufhören, damit sie in Ruhe nachdenken könne, begann das Schweigen des Mädchens sie jetzt seltsamerweise zu irritieren.

»Ich mache einen Kaffee. Möchten Sie auch einen?«

»Nein danke, Mrs. Gilmour.« Ratter, ratter. Kling, kling.

»Ganz wie Sie wünschen.« Rosa holte eine Tasse und eine Tüte Milch. Sie hasste Instantmilch und hatte deshalb einen kleinen Kühlschrank in ihrem Büro stehen. Darin bewahrte sie auch eine Flasche Wein und ein paar Gläser auf. Sie nahm an, dass Sonia sie mit ihrem ablehnenden Verhalten dazu auffordern wollte, Fragen zu stellen und sich zu erkundigen, was los sei. Nun, sie dachte nicht im Schlaf daran, sich provozieren zu lassen. Vielmehr würde sie die Ruhe nutzen, um mit ihrer Arbeit voranzukommen. Lange konnte das Schweigen ohnehin nicht mehr dauern. Als der Kaffee seinen Duft zu entfalten begann, war die Atmosphäre bereits unerträglich.

»Sonia, was ist los mit Ihnen?«

»Was soll mit mir los sein, Mrs. Gilmour?« Ratter, ratter. Kling, kling. Bäng. Sonia bediente den Transporthebel mit solcher Wucht, dass Rosa sich nicht gewundert hätte, wenn der Wagen abgehoben hätte und durch das Fenster geflogen wäre. »Herrgott. Was könnte denn schon mit mir los sein?«

Rosa schenkte sich einen Kaffee ein, nahm den Aktenordner mit den Rentengesetzen zur Hand und begann darin zu blättern. Sie konnte sich nicht konzentrieren, und ihr Blick wanderte wieder zu Sonias Rücken. Die Ablehnung war förmlich spürbar, schien um Sonias Schultern zu liegen wie Ektoplasma um einen Zellkern. Rosa setzte gerade zu einem zweiten Versuch an, als Sonia zu sprechen begann.

»Tut mir leid, dass ich heute nicht in der Redaktion bin, Mrs. Gilmour. Die anderen sind alle im Außendienst, und Mr. Winthrop nutzt den Raum für Bewerbungsgespräche.«

Das war es also. Rosa erinnerte sich, Sonia begegnet zu sein, als sie neulich den Kontrollraum verlassen hatte. Ihr fiel ein, dass Sonia eine Tasse Kaffee auf ihrem Tablett stehen hatte. Sie nahm ihre Pflichten als Sekretärin sehr ernst, war oft zuvorkommender als nötig. Rosa hatte ihr mehr als einmal klarzumachen versucht, dass sie nach ihrer Sendung keinen Kaffee bräuchte. Sie musste vor der Tür zum Studio gestanden haben und losgelaufen sein, sobald sie hörte, dass sich Rosa von ihren Hörern verabschiedete.

Rosa fühlte sich erbärmlich. Ihr schlechtes Gewissen setzte ihr zu. Louise und sie hatten zusammen gelacht, daran erinnerte sie sich genau. Sie hatten darüber gelacht, dass sich die Reporter und Rosa Sonia gegenseitig zuzuschieben versuchten. Voller Mitleid blickte sie auf Sonias magere Schultern. Wie erniedrigend musste es sein, sich als einfache Frau ohne besondere Fähigkeiten gegen die stärkste Konkurrenz behaupten zu wollen und zu glauben, man werde von den anderen Menschen nur akzeptiert, wenn man ständig eine gute Laune an den Tag legte, und sei sie noch so gekünstelt. Und dann zwei Frauen über sich lachen zu hören, die bereits alles erreicht hatten, nach dem man strebte, und es sich leisten konnten, unfreundlich zu sein, ohne den Kürzeren zu ziehen?

Das Schweigen zog sich in die Länge. Rosa fühlte sich von ihren Gedanken in die Enge getrieben. Was konnte sie schon machen? Entschuldigte sie sich, würde sie der verletzten Sonia nur eine Beleidigung mehr zufügen. Ein besonders nettes und zuvorkommendes Verhalten würde (zu Recht) als ein unaufrichtiges Eingeständnis von Schuld aufgefasst werden. Sie konnte nichts daran ändern, dass sie sich mies fühlte. Aber sie fragte sich, ob sie irgendetwas sagen oder tun könnte, das Sonia helfen würde, sich besser zu fühlen. Sie schloss den Aktenordner, legte den Kopf in die Hände und dachte nach.

Es war nicht schwer, sich etwas einfallen zu lassen, mit dem man ihr einen Gefallen tun konnte. Seit Rosa sie kannte, hatte Sonia immer wieder mehr oder weniger direkt auf ihre ungenutzten Talente hingewiesen. Sie sparte nie mit Hinweisen auf das, was sie tun könnte, wenn man sie nur ließe. Die meisten ihrer Vorstellungen gingen weit über ihre Fähigkeiten hinaus, doch bei der Saturday Show war das nicht der Fall. Diese Sendung wurde am ersten und dritten Samstag des Monats ausgestrahlt und bestand im Wesentlichen aus Musik, Interviews und Gesprächen mit einem jungen Studiopublikum. Obwohl sich das Sendepersonal größtenteils aus Technikern und Moderatoren zusammensetzte, wurden zusätzlich immer ein paar Mädchen gebraucht, die die Gäste begrüßten, gute Laune verbreiteten, Kaffee machten und Drinks servierten. Diese Mädchen, die man auch als Studiohäschen bezeichnete, rekrutierten sich aus den Sekretärinnen und Vorzimmerdamen des Senders. Sie erhielten keine Bezahlung, denn man ging davon aus, dass die Möglichkeit, eine Stunde oder länger die gleiche Luft wie ein Popstar einatmen zu dürfen, als Belohnung völlig ausreichte. Die Konkurrenz war groß. Sonia hatte sich verschiedentlich beworben, war aber nie ausgewählt worden. Rosa beschloss, sich an Toby Winthrop zu wenden.

Vor einigen Jahren hatte Tobys Frau Jill nach der Geburt ihres zweiten Kindes plötzlich starke Depressionen bekommen. In diesen sechs Monaten hatte Rosa sehr viel Zeit mit ihr verbracht. Sie waren gute Freundinnen geworden. Toby war ein schroffer, nicht sehr gesprächiger Mann, doch Rosa wusste, wie dankbar er ihr war. Wie die Dinge standen, hatte sie bei ihm etwas gut; jetzt war die Zeit, es einzulösen.

Sie verließ ihr Büro und eilte zur Redaktion. Toby, der zwischen den Vorstellungsgesprächen gerade eine Pause einlegte, stand mitten im Durcheinander der Redaktion zwischen klappernden Fernschreibern, unbenutzten Schreibmaschinen, fleckigen Plastikbechern, überquellenden Aschenbechern und einigen Pflanzen, die in der verrauchten Luft zu ersticken drohten. Sie brachte ihr Anliegen vor.

»Das ist nicht der Moment, mich mit deinen makabren Witzen zu belästigen, Rosa. Ich bin schon den ganzen Morgen mit Schleimscheißern konfrontiert. Das reicht, um einem Mann den Wind aus den Segeln zu nehmen.«

»Bitte, Toby. Ich mein’ es ernst. Warum kann sie nicht mitmachen? Es geht doch nur um die nächsten zwei Sendungen.«

Sie beobachtete Tobys Nase, die Louise einmal, weil sie ständig in Bewegung war, mit einem Wackelpudding mit Himbeergeschmack verglichen hatte. Kaum röter als der Rest seines Gesichts, schien sie dennoch ein Eigenleben zu führen. Erfahrene Mitarbeiter erachteten Tobys Nase als ein Barometer, an dem die Stärke des bevorstehenden Wutanfalls abzulesen war. Der Rest seines Körpers wirkte wie ein durchwühltes, nicht gemachtes Doppelbett.

»Wie würde dir das gefallen, he? Als empfindsamer junger Mann im zartesten Alter biste nach ’ner durchsoffenen Nacht, in der de dich an deiner Gitarre verausgabt hast – von den diversen Mädels ganz zu schweigen –, gerade erst aufgewacht, kannst kaum aus den Augen gucken, und schon biste mit diesem Ausbund an Tugend, mit diesem moralinsauren Kühlschranklächeln konfrontiert. Das zieht dir doch in null Komma nix den Schmelz von den Zähnen.«

Rosa schwieg. Es wäre taktlos, ihn jetzt darauf hinzuweisen, dass er als Sendeleiter Sonias Lächeln und ihren Kalenderweisheiten ausgesprochen selten ausgesetzt war. Seine riesigen, pinkfarbenen Nasenlöcher schlossen sich, und rötliche Haarbüschel kamen zum Vorschein. Tobys Nase wirkte unnachgiebig.

»Das gezierte Lächeln einer albernen Schnepfe.«

Rosa schwieg noch eine Weile und sagte dann ruhig: »Es sind immer mindestens sechs Mädchen da, Toby. Wie in Gottes Namen soll sie da überhaupt auffallen?«

»Sie? Auffallen? Sie wird den Leuten verdammt noch mal ins Auge springen wie ’ne verfluchte Zuckerrübe in ’nem Hochzeitsstrauß.« Doch seine Wut hatte sich gelegt. »Wen haben wir am Samstag auf dem Programm?«

»Dave Winch als Moderator. Ein paar Kids aus der Schauspielschule im Holland Park und das Straßentheater von Brixton. Und Viridiana.«

»Viridiana? Ist das nicht Heavy Metal?«

»Ich glaub’ schon. Du weißt doch, das ist nicht ganz meine Richtung.«

»Mein Sohn steht auf Heavy Metal. Ist sozusagen unerbittlich. Ich sehe nicht ein, wieso die nicht mal zur Abwechslung leiden sollen.«

»Oh, danke, Toby. Das ist sehr nett von dir.«

»Aber sicher bin ich nett, meine Süße, sicher. Nur weiß das keiner zu schätzen.«

 

Es war nicht so einfach, wie er sich das vorgestellt hatte. Fenn saß, tief in seinen Sessel gedrückt, am Ende der zweiten Reihe. Ursprünglich war ihm die Idee, zur Saturday Show zu gehen, einfach genial vorgekommen. Zusammen mit den anderen Zuschauern würde er in das Gebäude gelangen und sich dann, wenn die Menge dem Studio zuströmte, absetzen, um Rosa Gilmours Büro zu finden. Er nahm an, dass an den Bürotüren Namensschilder angebracht wären: Ansonsten müssten kleine dreieckige Plastikschilder auf den Schreibtischen verraten, wer in dem jeweiligen Zimmer arbeitete. Doch alles war gründlich schiefgelaufen.

Zunächst waren zig Leute um die wartende Menge geschlichen und hatten sie argwöhnisch bespitzelt. Bespitzelt war das richtige Wort dafür. Als er schließlich im Gebäude war, hatte er versucht, sich einen Sitzplatz in der Nähe des Ausgangs zu ergattern, war aber gebeten (nun, eher gezwungen) worden, sich weiter vorn hinzusetzen. Als das Publikum Platz genommen hatte, war er aufgestanden und hatte dem Kerl an der Tür gesagt, er müsse zur Toilette. Der hatte ihm den Weg gewiesen, doch als er die Toilette verlassen hatte, war der Kerl immer noch da gewesen, um ihn zum Studio zurückzubegleiten. Widerwillig hatte er Platz genommen, und schon bald hatte ihn unendliche Langeweile überkommen. Schon vor Beginn der Show war ein übergewichtiger Idiot mit einer Dauerwelle und Tonnen von Tönungscreme im Gesicht auf die Bühne gekommen und hatte sich als »Ihr netter Stimmungsmacher von nebenan« vorgestellt. Mit dem Mikro in der Hand war er auf und ab gehüpft, hatte Fragen ins Publikum gestellt und schlechte Witze gerissen. Er war in Schweiß gebadet. Wenn er sich über die Leute lustig machte, lachten sie unterwürfig, um ihm zu beweisen, wie dankbar sie waren, hier sein zu können. Speichellecker, dachte Fenn. Er verzog keine Miene, warf dem Witzbold aber einen verächtlichen Blick zu. Der Mann hielt sich auf Distanz.

Die eigentliche Show war auch nicht viel besser. Kleine Leuchten, die wiederum andere kleine Leuchten vorstellten, schraubten ihre transatlantischen Stimmen in hysterische Höhen, als könnten sie ihre Studiogäste damit in Leute verwandeln, denen zuzuhören sich lohnte.

Die Reaktion der weiblichen Zuschauer auf Viridiana widerte ihn an. Die Mädchen machten sich vor Begeisterung förmlich ins Hemd. Dann fand auf der Bühne eine Konfrontation zwischen einer Theatergruppe aus dem East End und ein paar Kids von einer richtigen Schauspielschule statt, die anfangs viel versprechend wirkte. Das Straßentheater betonte, wie wichtig ihnen die Verbindung von Drama und wirklichem Leben sei, weshalb sie versuchen würden, die Wut und die Angst der Menschen zum Ausdruck zu bringen, und die Schauspielschüler erwiderten darauf, das wahre Theater der Leute sei der Fernseher, und zudem komme kein Schauspieler ohne Übung, Disziplin und Hartnäckigkeit aus. Plötzlich meinte einer von ihnen, jeder Idiot könne sich mit einer Pappnase auf den Marktplatz stellen und die Trommel schlagen, was einen schwarzen Jungen vom Straßentheater wiederum dazu veranlasste, die anderen als einen Haufen Wichser zu bezeichnen. Fenn merkte auf, doch Dave Winch hatte die Wogen innerhalb kürzester Zeit geglättet, sodass die Show ungestört weitergehen konnte.

Fenn war durchaus nicht damit einverstanden, dass Schwarze in Rundfunk oder Fernsehen auftraten, wusste aber, dass sich die Mitarbeiter der Medien unvoreingenommen geben mussten, und hatte sich darauf eingestellt, das mitzumachen. Zumindest solange er keinen von diesen Schwarzen berühren musste. Allein bei dem Gedanken überlief es ihn kalt. Er sah auf seine Uhr. Noch zehn Minuten.

Die aufmüpfigen Schauspieler waren verschwunden, jetzt wurde ein junges Mädchen mit dreifarbigen Zöpfen interviewt. Sie hatte vor kurzem ihre erste Single herausgebracht und war in den Charts bereits auf Platz siebzehn. Sie erklärte, dass sie sich zum Alleinunterhalter ausbilden lassen wolle, Schauspiel- und Tanzstunden nehme und sich in Hatha Yoga unterweisen lasse, um ihre obere Tonlage zu verbessern. Fenns Blicke und Gedanken schweiften von der Bühne ab. Er bemerkte den Kontrollraum. Dort saß ein Mann, der abwechselnd ins Publikum und (vorgeblich) auf eine unsichtbare Schalttafel sah. Ein zweiter, hinter ihm stehender Mann hielt ein Klemmbrett in der Hand. Beide trugen Kopfhörer. Im Hintergrund standen einige Mädchen herum. Er fragte sich, ob seine Karriere dort ihren Anfang nehmen würde. Im Tonraum. Er sah sich bereits am Ende einer Sendung das Band zurückspulen: »Das war’s für heute, Jungs und Mädels – und vielen Dank. Eine großartige Show.«

Um ihn herum begannen die Leute zu reden. Sie standen auf, zogen sich die Mäntel an. Er erhob sich ebenfalls. Einige Zuschauer gingen über die Treppe zum Ausgang, andere wandten sich der Bühne zu. Ein Teil der Chromabsperrung war zur Seite geschoben worden, und die Leute gingen auf den Moderator und seine Studiogäste zu. Der Kontrollraum war jetzt leer, und auf der Bühne tummelten sich Techniker, Musiker, Schauspieler und ein Teil des Publikums.

Fenn gesellte sich zu ihnen. Er wusste nicht genau, warum, doch immerhin gab es ihm die Möglichkeit, sich ein wenig länger in dem Gebäude aufzuhalten. Er beobachtete die Jugendlichen, die sich um die Musikgruppe drängten, und warf ihnen einen verächtlichen Blick zu. Der Leadsänger, Mel Cazalis, dessen tätowierte Brust seine japanische Ledermontur zu sprengen drohte, hatte die Mädchen wie Medaillen um den Hals hängen. Aus seinem üppigen roten Bart drangen hin wieder undeutliche Laute:

»Yeah … ich meine … das ist ja … hervorragend … ganz richtig … absolut.«

Unauffällig näherte sich Fenn der Gruppe. Er spürte, wie Enttäuschung und Ärger langsam nachließen. Er begann sich heimisch zu fühlen. Geborgen. Fast bildete er sich ein, bereits zur Elite, dem kleinen Kreis der Erwählten, zu gehören, den er durch dicht gedrängte Schultern und leuchtende Haarsträhnen erspähen konnte.

Im hinteren Teil des Studios waren – abgetrennt durch ein Seil – einige mit Blumen, Sandwiches und Wein gedeckte Tische aufgebaut. Einige Mädchen spielten nervös mit den Gläsern und rückten immer wieder die Vasen zurecht. Mit ihrem wirr gekämmten Haar, den glänzenden Lippen und den geschminkten Wangenknochen hätten sie aus einem seiner Sexmagazine stammen können. Diesem Eindruck entsprach auch ihr zweideutiges Gebaren: diese Mischung aus aufforderndem und mimosenhaftem Verhalten. Einige trugen hochgeschlossene, von den Oberschenkeln bis zum Hals geknöpfte Kleider, die jedoch wie eine zweite Haut anlagen; andere wiederum hatten so tief ausgeschnittene, weite Kleider an, dass man sich fragen musste, was sie überhaupt bedecken sollten. Alle sahen immer wieder zu Mel Cazalis hinüber. Mit heißen, lüsternen Blicken. Dann sah er ein Mädchen in einem einfachen Kostüm, das abseits stand. Sie wirkte älter als die anderen und gab sich gleichgültig. Er dachte, sie sei wahrscheinlich für die Mädchen verantwortlich.

Woher kamen diese Mädchen? Der Sender würde doch sicher keine Flittchen beschäftigen! Nein, sie sahen zwar erwartungsvoll aus, wirkten aber ganz und gar unprofessionell.

Die Zuschauer wurden aus dem Studio gedrängt. Die Teilnehmer der Show strebten gemeinsam der Abtrennung zu. Sehr schnell tat sich zwischen beiden Gruppen eine Lücke auf. Er blickte zu den Saalordnern hinüber. Sie standen im Mittelgang und hatten ihre Aufmerksamkeit auf die Ausgangstüren gerichtet. Die Zuschauer verließen das Studio, ohne zu murren. Die Gruppe derjenigen, die an der Sendung teilgenommen hatten, war ziemlich groß, und der Studiogast ebenso wie der Moderator waren damit beschäftigt, sich möglichst vorteilhaft darzustellen. Alle redeten, keiner hörte zu. Fenn löste sich allmählich von dem hinausstrebenden Publikum. Er hatte keinen genauen Plan; er wusste nur, dass er jetzt im Gebäude war und es zu verlassen einer Rückkehr zum Ausgangspunkt gleichkam. Er war unter den letzten zehn, die sich durch die Gänge schoben. Er gab vor, etwas fallen zu lassen, bückte sich und murmelte eine Entschuldigung, als sich die letzten Zuschauer an ihm vorbeidrängten; er sah sich kurz um, durchquerte dann den freien Raum zwischen den beiden Gruppen und schloss sich der Gefolgschaft des magischen Kreises an, indem er in deren Beschwörungsformeln einstimmte.

»Das Video war vollkommen daneben.«

»Vollkommen daneben.« Das hörte sich gut an. Am besten wiederholte er alles, was er hörte.

»Natürlich wird es geschnitten werden müssen. Zumindest der Teil mit dem Kindersarg – ich mein’ –, die BBC wird das niemals akzeptieren.«

»Nie im Leben.«

»Ich meine – sie haben ›Serene in Saratoga‹ gerade so durchgehen lassen. Und dann mussten wir die Selbstmordszene kürzen.«

»Stimmt.«

Wein wurde herumgereicht. Fenn nahm sich ein Glas, berührte es aber kaum mit den Lippen. In Ausnahmefällen trank er kleine Mengen, und heute war es besonders wichtig, einen klaren Kopf zu behalten. Er bahnte sich einen Weg zum Büfett, denn die Aufregung hatte ihn hungrig gemacht. Auf den Tellern lagen bunt dekorierte bräunliche Streifen, die mit kleinen Appetithäppchen gefüllt waren. Mit Oliven, Gürkchen, Paprika.

»Hm. Sieht gut aus.« Er bediente sich und lächelte das Mädchen an, das hinter der Theke stand, bereit, ein Glas nachzufüllen, einen Appetithappen anzubieten oder einem Mann zu helfen, sich zu entspannen. Es war eine von der zugeknöpften Sorte. Sie lächelte ziemlich ungewiss zurück. Das ärgerte ihn, denn er wusste, dass sie ihn, nachdem sie ihn taxiert und sich nach seinem Status gefragt hatte, den unteren Rängen zuordnete, ihn vielleicht sogar für einen Mitläufer hielt. Hätte er den Durchbruch erst einmal geschafft, würde er Mädchen wie sie zum Frühstück vernaschen. Und sie wäre als Erste dran. Plötzlich strahlte sie. Der Leadgitarrist näherte sich mit einem leeren Glas in der Hand, von dem Fenn wusste, dass es vor zehn Sekunden noch randvoll gewesen war. Schwarz getuschte Wimpern legten sich wie rußiges Gefieder auf glühende Wangen. Ihre Brüste stemmten sich gegen die Brokatjacke. Wenn Brüste sich nach innen biegen könnten, dachte Fenn, würde sie mit ihnen gewinkt haben. Sie leerte den Inhalt der Flasche in das Glas des Musikers, das aber auch jetzt erst halb voll war. Sie wandte sich um und rief nach hinten: »Sonia? Ist noch etwas von der Miger’s Milk da?«

Das Mädchen im dunklen Kostüm kam auf sie zu. Fenn wandte sich um und tauchte in der Menge unter. Aus der Entfernung sah er sie sich genau an. Er befahl sich, ruhig zu bleiben. Es gab mehr als eine Sonia auf der Welt, und selbst bei City Radio würde mehr als eine Sonia arbeiten. Sie kuschte, daran konnte kein Zweifel bestehen. Aber vielleicht war das nur von Vorteil. Er würde das Ganze vereinfachen. Sie sah aus, als würde sie für jeden Gefallen dankbar sein, und sei er noch so klein. Er ging zu der anderen Gruppe hinüber, wo eine der umhergehenden Kellnerinnen gerade einige Happen herumreichte. Er bediente sich, der Appetithappen schmeckte ein wenig nach Fisch und war so zäh, dass er nachgab, wenn man in ihn hineinbiss.

»Ich bin wie verrückt nach Ihrer neuesten Platte.« Die Kellnerin sah zu Cazalis auf. »Ich hab’ sie schon tausendmal gehört.« Eine Pause, wie sie bedeutungsschwerer nicht sein konnte. »Besonders, kurz bevor ich schlafen gehe.«

»So?« Er legte den Arm um sie und spielte mit ihrer nur leicht bedeckten Brust, die vor den Augen der Gruppe dankbar reagierte. »Bevor ich schlafen gehe …« Er beugte sich über sie. Gefolgt von einer Lachsalve ging Fenn zur nächsten Gruppe. Es war das Gehege der weniger großen Leuchten, und es fiel ihm leichter, die Aufmerksamkeit des Mädchens auf sich zu lenken.

»Was seh’ ich da – das da hinten ist doch Sonia Marshall, oder? Die in dem dunklen Kostüm?«

Das Mädchen folgte seinem Blick. »Stimmt.«

Um vollkommen sicherzugehen, fügte er hinzu: »Rosa Gilmours Sekretärin?«

»Hm.« Sie wandte ihm den Rücken zu und ließ Fenn damit Zeit, diesen glücklichen Zufall zu verdauen. Er bemühte sich, seine Fantasie zu bremsen, die ihm vorzugaukeln versuchte, in diesem äußerst vorteilhaften Zusammentreffen liege bereits die Antwort auf seine Schwierigkeiten. Er musste sehr, sehr vorsichtig sein. Er ging zum Büfett zurück.

»Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn ich diese hier zurückgebe?« Er stellte den Teller mit den zwei Appetithäppchen auf den Tisch. »Ich fürchte, das Essen ist bei diesen Meetings immer das gleiche.« Das war geschickt. Erweckte einen Eindruck von Zugehörigkeit. »Ich bin mir sicher, dass ein einziger Großlieferant die meisten dieser Veranstaltungen beliefert.« Er machte eine Pause, fügte dann, einer plötzlichen Eingebung folgend, hinzu: »Wahrscheinlich Dunlop.«

Sonia blickte ihn an, ohne eine Miene zu verziehen. Seit ihrem Eintreffen vor zwei Stunden hatte sie sich gefragt, wieso sie sich so lange danach gesehnt hatte, an der Saturday Show teilzunehmen. Sie hätte wissen müssen, wie es bei solchen Veranstaltungen zuging. Sie hatte in der Umkleidekabine gesessen und war von den anderen Mädchen kaum beachtet worden, obwohl sie tagtäglich mit ihnen zu tun hatte. Sie trug eine weiße Bluse aus englischer Spitze und ein schwarzes Kostüm, das sie für ausgesprochen elegant hielt.

Das Kostüm hatte sie bei Brown’s ein Vermögen gekostet. Sie gab einen großen Teil ihres Gehalts für Kleidung aus, doch die Wirkung war nie perfekt. Nie sah sie annähernd so gut aus wie Louise, die in der Portobello Road nicht mehr als einen Fünfer ließ und aussah, als habe sie den ganzen Tag bei Yves St. Laurent verbracht. Bei Sonia war das Gegenteil der Fall.

Als sie sich zu den Tischen aufgemacht hatten, war sie sich ihrer Wirkung mit grausamer Klarheit bewusst geworden. Sie wirkte wie das hässliche Entlein in einer Schar von Schwänen. Diese Erkenntnis hatte ihr den letzten Rest an Selbstbewusstsein geraubt, und sie hatte sich vorgenommen, im Hintergrund zu bleiben, bis alles vorbei war und sie sich in die sichere Sphäre ihrer Fantasie zurückziehen konnte. In den Glauben, dass eines Tages die große Verwandlungsszene kommen würde und alles anders wäre. Und jetzt war einer der Gäste auf sie zugekommen, um für heute seine gute Tat zu tun, da er sie in ihrer Einsamkeit bemitleidete. Sein Tonfall war eindeutig herablassend. Und sein gutes Aussehen trug nur zu ihrer Verwirrung bei.

»Ich weiß nicht. Ich bin nicht oft bei solchen ›Meetings‹, wie Sie es bezeichnen. Das Hilfspersonal setzt sich meist aus Schreibkräften zusammen. Diesmal war es nur so, dass eines der Mädchen im letzten Augenblick wegen Krankheit ausgefallen ist und ich mich angeboten habe einzuspringen.«

Natürlich durchschaute er ihre Lüge. Doch er wusste ihre defensive Haltung zu schätzen. Irgendwie musste er sich ihr Vertrauen sichern. Im Moment gehörte er offensichtlich zur anderen Seite. Er beschloss, ein kalkuliertes Risiko zu wagen. Er setzte auf ihr Gefühl von Einsamkeit und Verlassenheit und auf ihre Vorstellung von Anstand.

»Es tut mir schrecklich leid. Ich … ich war ein wenig verwirrt. Mädchen wie die da …«, er wies mit dem Kopf nach hinten, »so bunt aufgemacht und so abweisend. Ich finde sie ziemlich verwirrend. Ich fürchte, ich bin ein Stück zu weit gegangen.« Mit trockenem Mund wandte er sich ab.

»Oh! Bleiben Sie doch.« Dankbar für das Eingeständnis seiner Verletzlichkeit lächelte Sonia ihn an. »Ich bin es, die sich entschuldigen muss. Immerhin bin ich als Hostess hier, und bislang habe ich mich kaum um Sie gekümmert. Ähem … darf ich Ihnen noch einen Appetithappen anbieten?«

Er wandte sich ihr zu. Sie hatte bereits seinen Eröffnungssatz vergessen, was darauf hindeutete, dass sie verwirrt war: ein gutes Zeichen. Das Blatt begann sich zu seinen Gunsten zu wenden.

»Eigentlich nicht.« Er lächelte zurück. »Trotzdem vielen Dank.«

»Ein Glas Wein …« Er hatte sein Glas auf einem anderen Tisch stehen lassen. »Sie scheinen noch keinen zu haben.«

Er zögerte. »Wenn Sie mich so fragen … aber nur ein halbes Glas … Um ehrlich zu sein, ich trinke selten.«

»Ich auch. Ich meine … ich auch nicht.«

Das war weit gefehlt. Daheim, in ihrer kleinen Wohnung, der Notwendigkeit entledigt, immer freundlich tun zu müssen, sinnierte Sonia oft einen ganzen Abend lang – und einmal in der Woche ein ganzes Wochenende – vor sich hin und leerte eine Flasche, bevor sie ins Bett ging. Froh darüber, sich vor der Sendung ein paar Gläser Wein genehmigt zu haben, schenkte sie jedem von ihnen ein halbes Glas ein.

»Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir uns irgendwo hinsetzen würden?«

Sonia sah sich um. Die meisten Stühle waren besetzt, doch die Treppe zum Podium war mit einem dicken Teppich ausgelegt und von Topfpalmen umgeben und ermöglichte deshalb ein ungestörtes Gespräch. »Wie wär’s mit dort drüben?«

»Wunderbar.« Er folgte ihr, und sie setzten sich mit ihren Gläsern auf die Treppe. Sie taxierten einander: Sonia verstohlen, Fenn ruhig und freundlich.

Er fragte sich, wie alt sie wohl sein mochte. Ihr Alter musste sich irgendwo zwischen achtundzwanzig und fünfunddreißig bewegen. Sie hatte dünnes Haar, das sich, obwohl offensichtlich erst vor kurzem sorgfältig gemacht, bereits löste und in Strähnen zerfiel. Auf ihrem Kragen lagen Schuppen. Ihre Augen waren haselnussbraun. Ihr Lippenstift war viel zu hell, und sie hatte den Fehler gemacht, ihre schmalen Lippen weiter zu schminken, ohne sie vorher aufzuhellen, was den Eindruck erweckte, als hätte sie zwei Münder. Sie trug ein schwarzes Kostüm und eine Spitzenbluse, die ihre, soweit er es beurteilen konnte, praktisch nicht existenten Brüste bedeckte.

Sonia war ihrerseits froh, dass sich ihr erster Eindruck von seinem guten Aussehen auf den zweiten Blick nicht ganz bestätigte. Seine eng beieinanderliegenden Augen hatten eine äußerst ungewöhnliche Farbe. Die bernsteinfarbenen Pupillen hatten eine längliche Form. Sie fühlte sich an Ziegenaugen erinnert. Seine Nase zog sich wie das Nasenstück eines römischen Helms in einer geraden Linie von den Augenbrauen zum Mund hinunter. Seine Unterlippe war sehr voll, gab ihm einen mürrischen Ausdruck, und sein Nacken war von Aknenarben übersät. Hals und Hände waren feuerrot, als würde er sie häufig und unnachgiebig schrubben. Seine Fingernägel waren erfreulich sauber, und er strömte einen süßlichen, antiseptischen Geruch aus.

Seine Kleidung war für jemanden, der zur Rockszene gehörte, äußerst ungewöhnlich. Hemd und Krawatte waren farblich aufeinander abgestimmt, er trug eine Trevirahose, und aus seiner Jackentasche ragte ein sorgfältig arrangiertes Taschentuch. Natürlich könnte das der neuste Schrei sein (wie die neuerdings wieder so beliebten Leinentapeten), doch das wagte sie zu bezweifeln. Er strahlte nicht die Selbstsicherheit und erst recht nicht die exzentrische Überheblichkeit aus, die der Avantgarde zu eigen war. Nein. Was die Kleidung betraf, lag er vollkommen daneben.

Sobald er das Studio betreten hatte, war Fenn aufgefallen, dass die meisten Radioleute Jeans oder Cordhosen trugen, die sie mit uni- oder regenbogenfarbenen Pullovern und Lederjacken kombinierten. Als er bemerkte, wie Sonia ihn taxierte, erriet er ihre Schlussfolgerung. Es schmerzte ihn, zugeben zu müssen, wie falsch er mit seiner Kleidung lag, doch er musste sich damit abfinden, um ihren falschen Eindruck so weit wie möglich korrigieren zu können.

»Ich hoffe, Sie denken nicht, dass ich immer so herumlaufe.« Angewidert zeigte er auf seine Trevirahose. Er hätte sie gern so weit wie möglich von sich gewiesen.

»Na ja …« Sonias unansehnliche Haut rötete sich, als ihr bewusst wurde, dass er ihre Gedanken erraten hatte. Dabei überzog sich ihr Gesicht allerdings weniger mit einer leichten Röte als mit ungleichmäßig verteilten roten Flecken. In diesem Zustand der Verwirrung schien ihre Nase noch länger zu werden, als sie ohnehin schon war.

»Ich bin auf einer Vorsprechprobe gewesen. Hab’ diese blöde Rolle gespielt. Wissen Sie … so ’nen miesen kleinen Typen, der immer der Zeit hinterherhinkt.« Das tat weh, aber er musste überzeugend wirken. »Ich hab’ mir gedacht, ich hätte mehr Chancen, wenn ich wirklich so aussehe.«

»Ach … Sie sind Schauspieler? Aber wie kommen Sie dann hierher?«

»Es ist eine Übergangssache …« Fenn sah zum Rest der Gruppe hinüber, der sich, benommen vom Alkohol und dekoriert mit weiblichem Fleisch, auf den Weg zu den Türen machte, die zu den verlassenen Büros führten. Er winkte. Der zweite Gitarrist hob eine Faust in der Größe eines Schinkens und rief ihm etwas Unverständliches zu.

»Kenton ist ein Freund von der Schauspielschule. Er hat mich gebeten, ihnen bei der Öffentlichkeitsarbeit zu helfen.«

Sonia, die nun vollkommen perplex war, befasste sich intensiv mit den Hortensien. Doch das war ein Fehler. Kaum von den großen blauen Blüten verdeckt, hatte Mel Cazalis seine Hand jetzt in den Ausschnitt eines unerhört aufreizenden Mädchens gesteckt. Weit davon entfernt, ihn von sich zu stoßen, grinste sie vor Vergnügen, als habe sie zwischen der Seide und ihrer Haut ein seltenes Insekt gefangen. Als sie bemerkte, dass ihr Begleiter ihrem Blick gefolgt war, wandte sich Sonia hastig ab. Fenn sagte:

»Ich kann das alles nicht ausstehen. Dope, Sex, Alk … sie sind jetzt schon vollkommen ausgebrannt. Was werden sie noch zu bieten haben, wenn ihnen das richtige Mädchen über den Weg läuft?« Er sah sie gequält an. »Tut mir leid. Das klingt wahrscheinlich schrecklich altmodisch.«

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Mir gefällt’s, dass es noch Leute gibt, die so denken.«

»Ich glaube, ich könnte mit einem Mädchen nur ins Bett gehen, wenn ich es absolut ernst meinen würde …« Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie Sonia an ihrem Ärmel zupfte, um den Hautausschlag zu verbergen. »Aber ich rede die ganze Zeit nur von mir. Erzählen Sie mir etwas von sich. Ich weiß nicht einmal Ihren Namen.«

»Sonia. Sonia Marshall. Und da gibt’s nicht viel zu erzählen. Ich bin bloß Sekretärin.« Verdammt! Warum hatte sie das gesagt? Es konnte auf keinen Fall stimmen. Sie war die persönliche Assistentin einer Menge interessanter Leute.

»Ach, kommen Sie schon, Sonia. Man sieht Ihnen doch auf den ersten Blick an, dass Sie mehr als eine Sekretärin sind.«

»Nun ja.« Erfreut, weiter ausholen zu können, fügte sie hinzu: »Tatsächlich arbeite ich bei Rosas Karussell mit. Sammle Hintergrundinformationen. Erledige die Pressearbeit. Beschäftige mich mit den Agenten … Sie wissen schon.«

»Aber ich mag Rosas Karussell. Es ist eine meiner Lieblingssendungen. Sie müssen mir mehr darüber erzählen. Was für ein Mensch ist sie?«

Das kam gar nicht gut an. Er spürte, dass Sonia einen leichten Rückzieher machte. Also konnte sie ihre Chefin nicht besonders gut leiden. Diese Information merkte er sich, um später darauf zurückzukommen. Das könnte sehr nützlich sein.

Sie zuckte mit den Schultern. »Sie ist ganz in Ordnung. Wie viele berühmte Leute. Ziemlich durchschnittlich, wenn man sie kennenlernt.«

»Und wie sind Sie zu Ihrem Job beim Radio gekommen?«

Mehr war tatsächlich nicht nötig: eine beiläufige Frage und ein aufmunterndes Kopfnicken. Die nächsten zwanzig Minuten redete Sonia ununterbrochen. Als sie mit ihren Ausführungen am Ende war, waren fast alle anderen gegangen. Sofort begann sie sich Sorgen zu machen, dass sie zu viel geredet hatte, ihn gelangweilt hatte. Aber er wirkte genauso interessiert wie vorher.

Er meinte: »Ich frage mich …« Dann unterbrach er sich und schaute weg. »Nein … es spielt keine Rolle … Sie werden mich albern finden.«

»Nein. Werd’ ich nicht. Sagen Sie schon ….« Plötzlich fiel ihr ein, dass er sie zum Essen einladen könnte. Der Magen zog sich ihr zusammen. Was sollte sie bloß sagen? Wie sollte sie darauf reagieren? Seine nächsten Worte beruhigten und enttäuschten sie zugleich.

»Ich komme mir wie ein dummer Fan vor … um was ich Sie bitten wollte …« Wieder unterbrach er sich, und es gelang ihm, scheu, erwartungsvoll und aufgeregt zu wirken. Ich hatte gar nicht so Unrecht, dachte er, als ich mich als Schauspieler vorgestellt habe. »Ich würde so gern sehen, wo Sie arbeiten. Wo das Karussell tatsächlich seinen Anfang nimmt.« Mit einem Blick auf ihren Gesichtsausdruck fügte er hinzu: »Ich wusste, Sie würden mich albern finden.«

»Natürlich nicht.« Als sie sich erhob, sah sie sein Gesicht und seine seltsamen Augen aufleuchten. Ihn abzulehnen, wäre ihr vorgekommen, als würde sie einem Kind eine Bitte abschlagen.

Er folgte ihr hinter die Vorhänge auf den Flur. Der Aufzug war klein. Fenn stand dicht neben ihr, und es gelang ihm, wortlos anzudeuten, dass er gern noch dichter gestanden hätte. Als sie den Aufzug verließen, bog sie nach links ab und ging gleich darauf wieder nach links. Leicht zu merken. An der Tür hing kein Namensschild.

Als sie den Raum betraten, war er zutiefst enttäuscht. Was für ein unaufgeräumtes kleines Loch! Er hatte kostbare Teppiche, einen riesigen Schreibtisch und vielleicht noch einen bequemen Sessel erwartet. Stattdessen bestand die Einrichtung aus einem abgeschabten braunen Teppichboden, einem schäbigen grauen Aktenschrank, zwei einfachen Schreibtischen, Stapeln von Nachschlagewerken und einem Pinnbrett mit Urlaubskarten und Notizzetteln. Alles in allem ein ganz gewöhnliches Büro.

An der Wand hing eine riesige Vergrößerung von Rosa (es war allerdings nicht das Foto, das er zu Hause hatte). Sie sah schön aus. Der Wind hatte ihr eine Haarsträhne über den Mund geblasen. Mit einem Mikrofon in der Hand beugte sie sich vor, um mit einem Kind zu reden. Sie lächelte, und das Kind lachte zurück. Irgendjemand hatte auf dem Foto unter ihrem Mund einen gelockten Faschingsbart angebracht.

»Sollten Sie den nicht abnehmen … bevor sie am Montag zur Arbeit kommt?«

»Oh, der hängt schon ewig da. Duffy aus der Redaktion hat ihn drangemacht. Als ich ihn abnehmen wollte, hat sie gemeint, ich sollte ihn hängen lassen. Sie hält es für eine Verschönerung.«

Beide blieben stehen und starrten, durch ihren gemeinsamen, doch unterschiedlich motivierten Groll kurzfristig vereint, das Foto an. Sonia fragte sich, wie eine Frau um ihr Aussehen so unbekümmert sein konnte, dass sie einen schwarzen Bart witzig fand, und Fenn begann zu zweifeln, ob es nicht doch Rosa gewesen war, die Sonia aufgefordert hatte, den Brief an ihn zu schreiben.

»Kümmern Sie sich auch um die Hörerpost?«

»In Gottes Namen, ja. Bei den ausgefallenen Briefen macht sie sich natürlich die Mühe, selbst zu antworten, aber die meisten gibt sie einfach an mich weiter. Dieses ganze Mitgefühl, das in der Sendung vermittelt wird … wenn man hier arbeitet, lernt man, es nicht allzu wörtlich zu nehmen.«

Fenn hatte nichts anderes erwartet. Man müsste schon ein Trottel sein, um diese Versager, Aussteiger und Nichtsnutze ernst zu nehmen. Aber jetzt hatte er gehört, was er wissen wollte. Sonia hatte den Brief auf eigene Faust losgeschickt. Rosa wusste nicht einmal, dass er geschrieben hatte. Beim nächsten Mal würde er sie direkter ansprechen müssen. Wenn Sonia mit dem Ganzen so vertraut war, wie sie andeutete, müsste Rosa in ihrem Adressbuch stehen.

»Jetzt zufrieden?« Mit geneigtem Kopf sah sie ihn schelmisch an.

»Na ja … um ehrlich zu sein, ich find’s ein bisschen enttäuschend. Eigentlich hab’ ich was Vornehmeres erwartet.«

»Bei den Medien ist es wohl immer ein Fehler, hinter die Kulisse zu sehen.« Sonia klang herablassend, denn sie befanden sich auf ihrem Terrain. »Bei Film und Fernsehen ist es genau dasselbe. Die Orte, an denen wirklich gearbeitet wird, sind meist ziemlich erbärmlich.«

»Da haben Sie sicher recht.« Als ihm plötzlich wieder sein angeblicher Beruf einfiel, setzte er hinzu: »Beim Theater ist es genauso. Hinter den Kulissen geht’s ziemlich erbärmlich zu.«

Als sie zur Tür gingen, fasste er sie am Arm. »Sonia – ich weiß, es ist Samstag, und Sie haben sicherlich etwas vor … und ich weiß, es kommt ziemlich kurzfristig, aber …« Den Rest des Satzes stieß er unbeholfen hervor: »Ich frage mich, ob ich Sie zum Abendessen einladen dürfte.«

Sie wandte sich ab. Ihr schnürte sich der Hals zusammen, und sie wurde rot. Sie musste sich beherrschen, nicht zu schnell einzuwilligen. Schließlich wurde man danach beurteilt, wie man sich gab. Sie wollte ihm gegenüber nicht den Eindruck erwecken, als habe sie nichts geplant. Andererseits bestand natürlich die Gefahr, dass er sie nicht noch einmal fragen würde, wenn sie jetzt zögerte, oder, was noch riskanter wäre, dankend ablehnte.

»Na ja …« Sie holte tief Luft, um sich zu beruhigen. »Es ist ein bisschen kompliziert …« Ohne es zu bemerken, hatte sie die Hände zu einer Faust geballt. Fenn beobachtete, wie die Knöchel hervortraten. »Es handelt sich um eine längerfristige Verabredung …«

Fenn wusste, dass sie die imaginäre Verabredung wahrscheinlich absagen würde, wenn er noch ein wenig wartete. Andererseits war ihr das Schweigen offensichtlich unangenehm.

»Könnten Sie nicht absagen? Ihn anrufen? Erfinden Sie doch irgendeine Ausrede.« Er machte einen Schritt auf sie zu. »Bitte.«

»Sie machen’s mir wirklich schwer. Er wird nicht gerade erfreut sein, aber …« Sie breitete die Arme aus, um anzudeuten, dass er sie überredet hatte. »… einverstanden.«

»Großartig! Schreiben Sie mir Ihre Adresse auf. Ich werde Sie gegen halb acht abholen.«

Aber nicht in diesem Aufzug, dachte er, als er eine halbe Stunde später ein Herrenbekleidungsgeschäft in der Nähe des Piccadilly Circus betrat. Der Trick mit der Vorsprechprobe hatte einmal gewirkt, aber das war noch lange kein Grund, heute Abend in derselben Kleidung bei ihr aufzukreuzen. Aufgekratzt lief er durch die hohen Räume aus Chrom und Glas.

Er entschied sich für eine enggeschnittene, dunkelbeige Cordhose, einen weichen, kamelhaarfarbenen Pullover mit einem runden Ausschnitt und einem Firmenzeichen von Pringles und für einen modischen Blouson aus Antilopenleder. Den Verkäufer in der Herrenabteilung bat er, die Jacke und die Hose mit ins Untergeschoss nehmen zu dürfen, um sich einen passenden Pullover auszusuchen, und der Dame in der Strickabteilung erklärte er, er werde den Pullover mit nach oben nehmen, um zu prüfen, ob er farblich zu der Jacke passe. Beide stimmten mit einem zuvorkommenden Lächeln zu.

Er ging in eine Ankleidekabine, trennte mit einem Messer die Sicherungsplaketten ab und zog die neuen Kleidungsstücke an. Sie saßen perfekt. Sie ließen ihn größer erscheinen. Selbst seine Haut schien eine andere Tönung anzunehmen, wirkte weicher, fast ein wenig gebräunt. Er steckte Geld, Messer und Schlüssel in die Tasche seiner neuen Hose und schlug den Vorhang zurück.

Samstag war ein guter Einkaufstag. In den Geschäften waren viele Leute unterwegs. Er schob den Vorhang weiter auseinander. Er konnte nur einen Verkäufer sehen, und der versuchte gerade, zwei Kunden gleichzeitig zu bedienen. Fenn holte tief Atem und trat aus der Kabine. Er ging quer durch den Geschäftsraum. Neben der Treppe hing ein Spiegel. Falls ihn irgendjemand beobachtet hätte, könnte er so tun, als habe er sich nach einem Spiegel umgesehen, in dem er sich bewundern konnte. Als er beim Spiegel angelangt war, hielt unmittelbar daneben ein Lift. Die Türen öffneten sich. Zusammen mit einigen anderen Kunden schlich er sich hinein, und zwei Minuten später fand er sich auf der Straße wieder.

Es war ein großartiges Gefühl. Obwohl er leicht schwitzte (er spürte, wie die Schweißperlen auf seiner Oberlippe abzukühlen begannen), fühlte er sich wie im siebten Himmel. Und er trug sehr elegante Kleidungsstücke im Wert von – er kramte die Preisschilder aus seiner Tasche – dreihundertsechsundneunzig Pfund.

Er war von seinem neuen Aussehen so hingerissen, dass er sich kaum davon abhalten konnte, einem Taxi zu winken. Bei diesem Tempo würde sein Stempelgeld nicht lange vorhalten. Bei dem Gedanken, jetzt in die heruntergekommene und schäbige Gegend zurückzukehren, in der er wohnte, empfand er nichts als Abscheu; die Zeit bis zu seiner Verabredung mit Sonia wollte er sich anders vertreiben. Er verlangsamte seinen Gang. Er stand vor der Royal Academy. Ein Aufenthalt dort wäre warm und kostenlos, aber langweilig. Und auf der gegenüberliegenden Seite? Die Uhr von Fortnum’s schlug zwei, und die berühmten Figuren zockelten vor und zurück. Er überquerte die Straße. Ein Aufenthalt bei Fortnum’s wäre warm und kostenlos und alles andere als langweilig. Er betrat das Gebäude.

Als er über die weichen Teppiche ging, atmete er tief und genüsslich den reichen, ambrosischen Duft ein. Im Erdgeschoss war es ein Gemisch aus reifen Früchten und Kaffee, aus Schokolade und Gewürzen und honigsüßen Leckereien, und über alldem lag ein unbestimmbarer Geruch, ein Destillat aus allem, was exklusiv, außergewöhnlich und teuer war. Der Geruch des Geldes.

Hinter der Tür stand gleich zu seiner Rechten ein großer Obstkorb. Scheinbar achtlos waren die Früchte darin arrangiert. Pfirsiche mit schimmernder, flaumiger Haut, vollkommen geformte Nektarinen. Sie lagen auf frischen Farnen und Gräsern. Daneben stand ein Korb mit Walderdbeeren von der Größe eines Daumennagels. Er fragte sich, woher diese Köstlichkeiten im November wohl kommen mochten.

Er ging zur Weinabteilung hinüber. Dort waren Schreibtische und vornehme Stühle bereitgestellt; ein übergewichtiger Mann in einem Nadelstreifenanzug besprach seine Weinliste mit einem jungen Mann, der sich in tadelloser und höflicher Manier mit ihm beschäftigte – obwohl er in der dicken Zigarrenwolke seines Kunden fast ersticken musste.

Fenn schlenderte an kunstvoll aufgebauten Gläsern mit eingemachtem Ingwer und Honig entlang, die mit einem chinesischen Muster aus Drachen und Blumen bemalt waren. Er passierte die Lebensmittelabteilung, glasierte Pasteten in jeder erdenklichen Form (aus einigen staken kleine Füßchen hervor) und die Charcuterie. Tee und Kaffee waren in graubraune Büchsen gefüllt, die aussahen, als wären sie hier, seitdem das Geschäft eröffnet worden war. Obwohl es geschäftig zuging, herrschte keine Eile. Ein Mann in einem Cutaway fragte Fenn, ob er ihm behilflich sein könne, und nachdem seine Anfrage ablehnend beschieden worden war, zog er sich mit einer Geste des Willkommens zurück, als wolle er Fenn bedeuten, dass er sich bei Fortnum’s wie zu Hause fühlen solle und der Gast sei, den sie schon lange erwartet hätten.

Fenn ging einige Stufen hinauf und fand sich in einer Patisserie wieder. Reihen von federleichtem Gebäck wurden dargeboten; Zuckerwatte, Karamell und frische Sahne. Eine Frau in einem hellen Nerzmantel wies mit dem Finger auf verschiedene Auslagen, und die Verkäuferin hantierte so geschickt mit ihrer silbernen Gebäckzange, dass die Dekoration weder zerstört noch aus der Form gebracht wurde. Sie legte das Gebäck so ehrfurchtsvoll in eine Kuchenschachtel, als handele es sich um die Kronjuwelen. Der Mops der Frau, dessen gestreifte Fettwülste aus dem Halsband hervorquollen, schob seine ledrige Unterlippe vor und knurrte Fenn an.

Er begab sich in den zweiten Stock. Hier roch es anders. Offenkundig weiblich, fast wollüstig. Make-up, Kleider, Accessoires. Reine Seide und echte Spitze; Alligatorhandtaschen und französisches Parfüm. Er berührte ein Nachthemd und ein Negligé, glitzernde Wasserfälle aus reiner, weißer Seide. Er stellte sich die Frau vor, die diese Nachtgewänder tragen würde: eine schlanke Frau mit hohen, kleinen Brüsten und einer Haut, die immer leicht golden schimmerte. Sie hätte langes, gewelltes Haar, das, kunstvoll getönt und mit Strähnchen versehen, über ihre samtigen, jugendlichen Schultern fallen würde. Er ging hinüber zur Parfümabteilung.

Hinterher, als er darüber nachdachte, konnte er kaum fassen, was er getan hatte. Auf jeden Fall hatte er es in dem Moment nicht vorgehabt. Hinter der Theke stand eine Verkäuferin, die sich mit großer Ernsthaftigkeit über eine ältere Dame gebeugt hatte und abwechselnd an deren sommersprossigen Handgelenken roch. Fenns Hand schloss sich über einem zellophanverpackten Kästchen, er sah sich um, ließ die Hand sinken und ging weiter …

Diesmal hatte er keine Angst. Er wusste, dass ihm nichts passieren konnte. Er fühlte sich so sicher, dass er nicht einmal versuchte, diesen Stock zu verlassen, sondern sich mit dem Kästchen in der Tasche langsam auf den Weg zum Erdgeschoss machte. Hinter ihm waren das Klappern von Besteck und lautes Stimmengewirr zu hören. Er wandte sich um und ging auf den Eingang der Kaufhausbar zu. Die Tische waren besetzt, aber an der Bar waren noch ein oder zwei Plätze frei.

Plötzlich überkam ihn der unwiderstehliche Drang, dort zu sitzen, berechtigterweise zu der Menge zu gehören, die bei Fortnum’s einkaufte oder sich dort die Zeit vertrieb. Er hatte vier Pfund und etwas Kleingeld, und das musste bis Dienstag reichen. Es war verrückt, auch nur einen Teil davon für etwas so Banales wie einen Kaffee auszugeben. Er bahnte sich einen Weg durch den dicht gedrängten Raum, wich den Päckchen und Taschen aus, die neben den Tischen der Wohlhabenden lagen, bis er einen der Barhocker erreicht hatte. Er war schockiert, als er in den Spiegel sah. In seiner neuen Kleidung fühlte er sich bereits so wohl, dass er sich ihrer nicht mehr bewusst war.

Das Mädchen hinter der Theke, das einen Wuschelkopf hatte und eine Nelke im Knopfloch ihres Overalls trug, lächelte ihn an.

»Ich hätte gern die Speisekarte.« Plötzlich kam er sich albern vor. Da sie kaum Menüs führten, war es dumm gewesen, sie nach einer Speisekarte zu fragen. Vielleicht hätte er eher um die Getränkekarte bitten sollen.

Aber sie lächelte ihn wieder an und sagte: »Aber sicher, mein Herr.« Dann reichte sie ihm eine große Karte.

Er schlug sie nicht sofort auf, sondern beobachtete im Spiegel das Restaurantpublikum. Es schienen schrecklich viele Kinder da zu sein, die sich mit Genuss über den Kuchen und das Eis hermachten. Einige trugen Schuluniformen, andere Jeans und Sweatshirts in leuchtenden Farben. Ein Kind hatte eine Baseballkappe und einen Fingerhandschuh bei sich, ein anderes trug ein Mickey-Maus-T-Shirt und eine große behaarte Horrorhand aus gummiähnlichem Material, von deren Fingernägeln Blut tropfte. Unter den Erwachsenen befanden sich Japaner, Araber und ein lautstarker Amerikaner undefinierbaren Geschlechts, der eine karierte Melone trug.

»Haben Sie bereits gewählt?«

»Tut mir leid … nein …« Er überflog die Speisekarte. Er beschloss, keinesfalls etwas so Gewöhnliches wie einen Kaffee zu bestellen, so köstlich er hier auch zubereitet sein mochte. Er hatte die Auswahl zwischen allen möglichen Eis- und Gebäcksorten und getoasteten Sandwiches. Er war ziemlich verwirrt, beschloss aber, seine Ratlosigkeit zu kaschieren.

»Ich hätte gern … eine Granita.«

»Al caffé?«

»Ja. Ja, gern.«

Er fühlte sich versucht, den Preis nachzusehen, entschied sich aber dagegen. Wie hieß es doch so schön? Fragt man nach dem Preis, kann man es sich eigentlich nicht leisten. Mit einer hastigen Handbewegung schlug er die Karte zu und reichte sie der Bedienung. Kurz darauf stellte sie ein hohes Glas mit braunschwarzen Kristallen vor ihn, auf denen ein Klecks Sahne schwamm. Daneben lagen ein langer Silberlöffel, eine Serviette und die Rechnung. Letztere ließ er unbesehen in seine Tasche gleiten.

Er senkte den Löffel in die Sahne und spürte, wie sich die Kristalle am Rand des Glases rieben. Dann zog er den halb mit Granita, halb mit Sahne gefüllten Löffel heraus. Einen Moment lang sah er sich das Gebilde an – die Sahne hatte bereits die Farbe des Eises angenommen und war jetzt kaffeebraun –, dann schob er es in den Mund.

Nie zuvor hatte er etwas gekostet, das dieser Granita auch nur im Entferntesten gleichkam. Sie schmeckte bitter und süß zugleich, und der Genuss wurde durch den Duft der frisch gerösteten Kaffeebohnen noch gesteigert. Die Sahne hatte einen leichten Vanillegeschmack, der das Kaffeearoma der Granita betonte. In seiner warmen Mundhöhle blieben die verschiedenen Zutaten nur einen Moment getrennt, dann verschmolzen sie zu einer köstlichen Mischung, die sich ebenso schnell auflöste, wie sie entstanden war. Er nahm einen zweiten Löffel. Dann noch einen. Jetzt war noch eine kleine hellbraune Pfütze am Boden des Glases übrig, an die er nicht herangekommen wäre, ohne das Glas zu kippen, wozu er sich niemals herablassen würde. Er legte den Löffel neben das Glas.

Überwältigt von den Essgeräuschen und dem Stimmengewirr, hatte er jegliches Gefühl für seine eigene Aufgeschlossenheit verloren. Er fühlte sich wohl und behaglich. Dann erinnerte er sich plötzlich und aus unerfindlichen Gründen an den Kleiderstapel, den er im Ankleideraum zurückgelassen hatte. Irritiert versuchte er, das Bild aus seinem Kopf zu vertreiben. Es gehörte nicht in diese vollkommene Gegenwart. Aber es ließ sich nicht verdrängen. Es nagte an ihm wie die ersten Geräusche des Tages am Ohr des Schläfers, und allmählich ließ das wohlige Zugehörigkeitsgefühl nach. Ihm wurde kalt, und er zog die Rechnung aus seiner Jackentasche.

Großer Gott! Er legte etwas Kleingeld in die Untertasse, bezahlte an der vergitterten Kasse und ging hinaus auf die Jermyn Street, die in strömendem Regen lag. Er sah auf das Wechselgeld in seiner Hand. Irgendwie musste er nach Chalk Farm kommen, Sonia zum Abendessen ausführen und nach Kings Cross zurückkehren. Und das alles mit weniger als zwei Pfund.

3

»Wie das hier riecht! Einfach großartig!«

Das Wetter war trostlos. Ein bleierner Novemberhimmel; schwarze, entlaubte Platanen. In Rosas Büro lag allerdings ein frühlingshafter Duft. Ein warmer, grüner, frischer Geruch, der an aufgehende Blumen und blühende Pflanzen erinnerte.

»Oh …«, sagte Sonia wie beiläufig, obwohl sie vor Freude errötete. »Mögen Sie es?«

»Es ist göttlich. Wie heißt es denn?«

Sonia legte ihre Stirn in Falten, als müsse sie jeden Morgen zwischen fünfzig verschiedenen Parfüms wählen.

»Hmm …«, sie drehte ihr Handgelenk um und schnupperte an der schuppigen Haut. »Joy … glaub’ ich …«

»Joy! Mein Gott. Wie machen Sie das bloß? Ich glaube, wir müssten eine zweite Hypothek aufnehmen, bevor ich mir Joy leisten könnte.«

Sonia sah Rosa kalt und abweisend an. Die Bemerkung über die Redaktion hatte sie noch nicht verwunden, und Rosa sollte sich ja nicht einbilden, sie durch einschmeichelnde Bemerkungen ungeschehen machen zu können.

»Du meine Güte, Mrs. Gilmour, Sie glauben doch wohl nicht, dass ich mir meine Parfüms selbst kaufe?« Das entsprach tatsächlich der Wahrheit. Nachdem sie Miete und Fahrgeld bezahlt, sich Kleider und ein oder zwei Flaschen Wein gekauft hatte, blieb für solche Extras nicht viel übrig. »Mein Freund hat es mir geschenkt. Am Samstagabend, um genau zu sein.« Sie kramte in ihrer Tasche. »Möchten Sie es vielleicht probieren?«

Wie beiläufig reichte sie das Fläschchen hinüber. Rosas Gesicht! Dieser Anblick allein war den Tropfen Parfüm schon wert. Rosa nahm das Fläschchen zögernd entgegen.

»War es ein Geburtstagsgeschenk?«

»Oh, nein. Es lag kein besonderer Anlass vor. Er hat’s mir einfach so geschenkt.« Ihr Tonfall suggerierte eine endlose Reihe von kostbaren Geschenken. Affen, Elfenbein und Pfauen. Edelsteinbesetzte Kleider und Sandelholz. Seidenstrümpfe von Cathy.

Rosa entstöpselte das Fläschchen. »Meinen Sie es ernst?« »Bedienen Sie sich nur.« Sonia begann zu tippen.

Rosa tröpfelte ein wenig Parfüm auf ihr Handgelenk und verschloss das Fläschchen wieder. Sie rieb ihre Handgelenke aneinander und stellte den kleinen Flacon auf Sonias Schreibtisch zurück.

»Das ist sehr nett von Ihnen. Er muss wirklich wohlhabend sein.«

»Wer?«

»Ihr Freund natürlich.«

»Das glaub’ ich nicht. Er wohnt über einem Schnellimbiss in Islington. Warum – ist es so teuer?«

»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Eine Flasche wie diese hier muss ihn ein paar hundert gekostet haben.«

Sonia hörte auf zu tippen. Sie schluckte und sah Rosa an. »Pfund?« Sie krächzte nur noch.

»Wussten Sie das denn nicht?«

Sonia, die jetzt blass geworden war, schüttelte den Kopf. Kein Wunder, dass Fenn nicht in der Lage gewesen war, sie zum Abendessen auszuführen.

Er war fast eine halbe Stunde zu spät gekommen. Zu dem Zeitpunkt war sie bereits seit einer Stunde fertig gewesen, nachdem sie alles, was sie in ihrem Kleiderschrank hatte, mindestens zweimal anprobiert hatte. Sie hatte gebadet, sich das Haar hochgesteckt, es gelöst, wieder hochgesteckt und sich die Fingernägel lackiert. Dann hatte sie aus Angst, dass er früher kommen könnte, ihre Seidenstrümpfe angezogen, bevor der Nagellack trocken war, mit dem Ergebnis, dass sie ihn entfernen und von neuem auftragen musste. Gegen halb neun war sie zu der Überzeugung gekommen, dass er die Verabredung nicht einhalten würde, hatte eine Flasche Wein geöffnet und bereits den besten Teil des zweiten großen Glases geleert, als es an der Haustür klingelte.

Sie erkannte ihn kaum wieder. Sie war überzeugt, sich sein Bild bei ihrem Abschied fest eingeprägt zu haben, doch jetzt stand ein vollkommen anderer Mann vor ihr. Er wirkte größer, sah besser aus und trug wunderschöne Sachen.

Nachdem er sie einen Moment angelächelt hatte, fragte er: »Wollen Sie mich nicht hereinbitten?«

»Oh, aber sicher.« Bemüht, ein, wie sie wusste, erleichtertes Grinsen zurückzuhalten, öffnete sie die Tür, und Fenn trat ein. »Ich hole nur rasch meinen Mantel.«

»Sonia – warten Sie einen Moment.« Auf halbem Weg zum Badezimmer hielt er sie zurück. »Hören Sie – es tut mir schrecklich leid, aber –«

»Sie können nicht bleiben.« Sie wandte sich ab, bevor er ihren Gesichtsausdruck sehen konnte. Diesen Ausdruck, der zu sagen schien: »Ich hätte es wissen sollen.«

»Dummerchen.« Er ging auf sie zu. »Natürlich kann ich bleiben. Es ist nur so, dass … oh, bevor ich es vergesse.« Er gab ihr eine kleine, in Zellophanpapier eingeschlagene Flasche. »Eine kleine Aufmerksamkeit.«

»Fenn!« Ihre Hände zitterten, als sie das Papier entfernte. »Wie liebenswürdig.« Sie führte das Fläschchen hinter ihr Ohrläppchen. Ein kleines Rinnsal lief in ihren Ausschnitt. Gelassen nahm sie es mit dem kleinen Finger auf und versuchte dann, das Parfüm hinter sein Ohr zu tupfen, doch er trat schnell zur Seite. »Das riecht einfach fantastisch. Du bist so gut zu mir.« Sie klang, als hätten sie bereits eine jahrelange Beziehung hinter sich. »Nun sag schon – was ist es, das dir so leid tut?«

»Nachdem wir uns getrennt hatten, bin ich rasch zu Fortnum’s gegangen, um eine Kleinigkeit zu essen und dir etwas Nettes zu kaufen. Ich hab’ das gesamte Bargeld ausgegeben, das ich bei mir hatte. Und natürlich sind die Banken geschlossen, und ich hab’ meinen Euroscheck überzogen und … alles in allem, ich kann dich nicht zum Essen ausführen.«

»Das ist alles? Du großer Gott – ich hab’ noch Geld.«

»Ach nein – das wäre mir peinlich. Lass uns nicht ins Restaurant gehen. Was würden die Leute von mir denken?«

Diese Einstellung gefiel ihr. Es bewies, dass er empfindsam war. Doch seit diesen schrecklichen Appetithappen hatte sie nichts mehr gegessen, und jetzt, da die Angst verflogen war, fühlte sie sich wie ausgehungert.

»Ich verstehe.« Sie ergriff seine Hand. »Wir können ja hier essen. In der Nähe sind ein paar Restaurants mit Außer-Haus-Verkauf. Und ein Falafel-Restaurant.«

»Aber nur, wenn du mich alles zurückzahlen lässt.«

Jetzt war es an ihr zu sagen: »Dummerchen.« Sie zog einen Mantel mit Schottenmuster an, holte eine Einkaufstasche und kramte Portemonnaie und Schlüssel aus ihrer Handtasche.

»Hey …« Er winkte sie zu sich heran und küsste sie leicht auf den Mund. »Bleib nicht zu lange.«

Sonia fühlte sich wie im Traum und berührte gelegentlich sanft ihre Lippen, als sie sich in die Reihe der Wartenden stellte. Beladen mit Artischockenpaste, Bifteki, Pita-Brot, Salat, Oliven, einer großen Flasche Frascati und Lokum, das mit Puderzucker bestäubt war und nach Rosen roch, kam sie nach Hause zurück.

Sie nahmen vor dem gasgespeisten Kamin Platz, er auf dem Sofa, sie zu seinen Füßen, und fütterten sich gegenseitig mit Oliven und Lokumstückchen. Die Fleischbällchen waren heiß und stark gewürzt, und das Brot dippten sie in die Artischockenpaste und das Olivenöl. Fenn trank nur wenig Wein, Sonia eine ganze Menge.

Das musste der Grund dafür gewesen sein, dachte sie im Nachhinein, dass sie ihm solche Freiheiten gewährt hatte, und das an ihrem ersten gemeinsamen Abend. Bei dem Gedanken an die Form, die diese Freiheiten angenommen hatten, überlief Sonia ein Prickeln. Man musste ihm allerdings zugestehen, dass er es nicht so weit hatte kommen lassen wollen. Er war schrecklich besorgt gewesen und hatte sie geknickt gefragt, was sie jetzt von ihm denken musste. Nach ihrem Dafürhalten war es bei einer solchen Angelegenheit ohnehin Sache der Frau, die Bremse anzuziehen, und wenn sie nicht so viel getrunken hätte, wäre sie dazu durchaus in der Lage gewesen.

Er war nicht so lange geblieben, wie sie gehofft hatte (sie hatte sich schon darauf gefreut, ihm von ihrer unglücklichen Kindheit erzählen zu können), war wahrscheinlich aus reiner Verlegenheit so früh gegangen. Aber sie würde ihn bald wiedersehen. Das hatte er ihr versprochen.

Sie merkte, dass Rosa sie erwartungsvoll ansah. »Wie bitte?«

»Ich habe Sie gefragt, was er beruflich macht.«

»Er ist Schauspieler. Ich meine – eigentlich. Im Moment hat er kein Engagement und macht für eine Rockgruppe die Öffentlichkeitsarbeit.«

»Na ja.« Rosa stand auf und begann, Briefe und Aktenordner in ihre geräumige Tasche zu stecken. »An Ihrer Stelle würde ich mich weiterhin an ihn halten. Wenn er Joy wirklich so großzügig verschenkt, haben Sie einen guten Fang gemacht.«

Das hätte ich mir nie träumen lassen, dachte sie, als sie in der U-Bahn nach Hause fuhr. Wie eigenartig, dass Sonia ihn nicht früher erwähnt hatte. Rosa hielt sie durchaus nicht für einen Menschen, der einen gut aussehenden jungen Mann im Hintergrund verschweigen würde. Es war schon ernüchternd, wie sehr man sich täuschen konnte. Offensichtlich hatte er einen guten Einfluss auf Sonia. Heute Morgen war nicht eine Spur von dem üblichen süßlichen Vogelgezwitscher zu hören gewesen. Und zweifellos begann das Eis zwischen ihnen zu schmelzen. Sie hatte vergessen, Sonia danach zu fragen, ob ihr die Saturday Show gefallen hatte. Sie war froh, dass Toby sie akzeptiert hatte. Und sie hatte sich geschworen, über Sonia in Zukunft nichts Unfreundliches mehr zu sagen. Rosa spürte, wie sich die letzten Überreste ihres Schuldgefühls in Luft auflösten.

In Camden Town wagte sie sich in den eisigen, peitschenden Wind hinaus und wich den nassen Kohlblättern, den von zerbrochenen Kisten stammenden Holzstückchen und den verfaulten Früchten ans, die sich auf der Inverness Street auf dem Bürgersteig angesammelt hatten. Mit einem verfrorenen Gesicht, das sich wie ein Eisblock anfühlte, betrat sie schließlich die Diele ihres Hauses. Sogleich spürte sie die Wärme. Sie ging über den dicken Teppich. Die Standuhr ließ aus dem Esszimmer ein gleichmäßiges Ticken vernehmen. Heute waren Diele und Treppe das Objekt von Mrs. Jollits Schnelldurchgang gewesen. Der weiße Lack glänzte, und es roch leicht nach Pinienholz. Rosa streifte ihren Mantel ab und ging in die Küche hinunter, um sich einen Kaffee zu machen. Es war angenehm, wieder zu Hause zu sein.

 

Fenn hatte beschlossen, Mr. Christoforou, seinen Vermieter, zu fragen, ob er dessen privates Telefon benutzen könne, um Rosa anzurufen. Er hatte sich bereits im Studio erkundigt und erfahren, dass sie sich vor einer Stunde auf den Heimweg gemacht hatte. An ihre Nummer zu kommen war einfacher gewesen, als er erwartet hatte. Fast einfacher, als an Sonia heranzukommen, und das sollte etwas heißen. Als sie hinausgegangen war, um das Essen zu besorgen, hatte sie zwar ihr Portemonnaie und ihre Schlüssel mitgenommen, doch die Handtasche hatte sie zurückgelassen. Darin hatte er ihr Adressbuch gefunden. Auf die Rückseite war ein Snoopy gedruckt, was angesichts ihres Alters ohnehin schon erbärmlich genug war, doch als er das Buch aufschlug … Aufgelistet waren die Adresse eines Ehepaars, von dem er annahm, dass es ihre Eltern waren, die Nummer der Zugauskunft von Euston (das Paar lebte in den Midlands), eine nahe gelegene chemische Reinigung, eine in Tulse Hill wohnende Frau, das National Theatre, ein Supermarkt und die Anschrift von Rosa. Das karge Gerüst eines einsamen Lebens. Er schrieb sich Rosas Namen und Adresse ab und steckte das Buch in die Tasche zurück.

Er hätte sich davonmachen können, bevor sie zurückkam, aber da war ja noch sein Plan. Sonias Brief hatte er weiß Gott nicht vergessen, auch wenn er ihn sofort vernichtet hatte. Er würde sehr zuvorkommend sein, den Liebhaber spielen, herausholen, was er konnte, und dann, wenn sie wirklich in ihn verliebt war (was, nach Samstagabend zu urteilen, nicht mehr lange dauern konnte), würde er sie fallen lassen wie eine heiße Kartoffel. Der Gedanke daran, wie er vorgehen und wie sie reagieren würde, ließ sein Herz aufgehen wie beim Anblick eines kleinen Goldklumpens. Wenn er jetzt morgens erwachte, überkam ihn zunächst ein wohliges Gefühl, über das er lächeln musste, sobald er den Grund identifiziert hatte.

In den letzten Wochen hatte er unterdessen abwechslungsreich gegessen – soll’s nächstes Mal chinesisch oder indisch sein – und rücksichtslos Liebe machen können. Wie er vermutet hatte, war sie fast vollkommen unerfahren. Er erinnerte sich lebhaft an den Ausdruck des Erstaunens in ihrem Gesicht und an das runde O ihres Munds, als er das erste Mal in sie eingedrungen war. Und so viel Entgegenkommen! Mit Sonia könnte er sein gesamtes Bücherregal durchgehen, und sie hätte immer noch nicht genug. Allerdings beunruhigte ihn der Gedanke, dass er ihr fast verraten hatte, wo er wohnte. Es war nicht seine Art, unvorsichtig zu sein, aber in dem Moment war er abgelenkt gewesen (er hatte mit seiner Zunge nach dem Puderzucker geschleckt, der ihr in den Ausschnitt gefallen war). Natürlich hatte er ihr nicht seine ganze Adresse verraten, und zudem glaubte er nicht, dass sie wirklich zugehört hatte. Sie hatte ihn einfach dämlich und abgöttisch angelächelt. Dennoch war es ihm eine Warnung, sich zu konzentrieren.

Bevor er sein Zimmer verließ, ging er zum Tisch, um sich Rosas Foto anzusehen. Zärtlich legte er seine Fingerspitzen zwischen ihren glänzenden Lippen an die Stelle, an der das Messer einen Riss hinterlassen hatte. Wie verletzlich sie wirkte. Er liebte solche Frauen; sie waren schön und erfolgreich, hatten sich aber weder in skrupellose Karrierefrauen verwandelt noch von der Wirklichkeit abgewandt. Er wusste, dass sie miteinander auskommen und Freunde werden würden. Er sah auf die Uhr. Jetzt müsste sie zu Hause angekommen sein. Er rannte in die Diele, nahm Mr. Christoforou zuliebe den Hörer von der Gabel, stieß verzweifelte Laute aus und ging in den Laden.

»Das Telefon ist kaputt, Mr. Christoforou. Ich muss ein ziemlich wichtiges Gespräch führen. Könnte ich Ihr Telefon benutzen? Ich lege das Geld auf den Tisch.«

»Aber sicher.« Es war ja nicht so, als wäre es dem Jungen zur Gewohnheit geworden. Er hatte zuvor noch nie darum gebeten. »Haben Sie’s gemeldet?«

»Ja. Ich hab’ den Stördienst angerufen.«

Fenn hasste Mr. Christoforous Wohnzimmer und betrat es nur in Ausnahmefällen. Man fühlte sich, als wäre man in einer buntbemalten, stickigen Kiste eingeschlossen. Die Wände waren mit primitiven Gemälden und Christusbildern in den verschiedensten Stadien der Kreuzigung überhäuft. Die Christoforous waren griechisch-orthodox. Auf den buntgemusterten und schichtweise ausgelegten Teppichen lagen obendrein noch Brücken und Läufer; silbern ziselierte Weihrauchschwenker hingen, zu Lampenschirmen umfunktioniert, von der Decke. Bücher gab es keine. Ein riesiger Fernsehapparat beherrschte den Raum, der ohnehin schon zum Bersten mit Brokatmöbeln und Nippes vollgestopft war. Das Telefon stand auf einer Cocktailbar aus Chrom und Gold, gleich neben einem glänzenden kleinen Zug, dessen offene Waggons mit Erdnüssen, Oliven, After Eights und sonstigen Knuspereien gefüllt waren. Fenn schloss die Tür.

 

Rosa war mit ihrer Arbeit an dem Punkt angelangt, an dem Michael Kelly in London einen Weinladen eröffnen wollte.

Sein Freund, Richard Brinsley Sheridan, hatte vorgeschlagen, seinem Namenszug auf dem Schaufenster die Bezeichnung »Weinkomponist und Musikimporteur« folgen zu lassen. Das gefiel Rosa. Sie dachte, dass der Tenor ein sehr angenehmer Zeitgenosse gewesen sein musste, wenn man einen Menschen tatsächlich nach der Zahl und den Eigenschaften seiner Freunde beurteilen konnte. Je mehr sie mit ihrer Arbeit vorankam, desto leichter fiel es ihr, sich in seine Epoche zu versetzen.

Ein guter Biograf musste die Vorstellungskraft eines Romanciers und die Disziplin eines Historikers haben, und Rosa war sich ständig der Notwendigkeit bewusst, einen Balanceakt zwischen beiden zu vollführen. Ließe sie ihrer Fantasie freien Lauf, würde sie nicht ernst genommen werden; wäre ihr Sprache zu trocken, würde kein Mensch ihr Buch lesen wollen.

Die schnatternde Menschenmenge, der Pfeifenrauch, der Geruch nach frischem Gebäck und heißer Schokolade und das Rascheln der Zeitungen, mit anderen Worten, die ganze Szene war ihr so gegenwärtig, dass ihr das Klingeln des Telefons erst nach einigen Sekunden bewusst wurde. Zunächst ignorierte sie es und versuchte, sich weiter auf die Kaffeehausszene zu konzentrieren, denn sie hoffte, dass der Lärm des zwanzigsten Jahrhunderts sie nicht mehr lange belästigen würde. Aber es hörte nicht auf zu klingeln. Ihr Anrufer ließ auch dann noch nicht locker, wenn die meisten Leute schon längst aufgegeben haben würden. Und dann – oh, mein Gott! – es musste die Schule sein …

Der nächste Apparat stand im Wohnzimmer. Sie rannte die Treppe hinunter und flog förmlich ans Telefon.

»… Hallo …«

»Rosa?«

»Ja … ich bin am Apparat … Worum geht’s? Was ist passiert?«

»Rosa. Wir kennen uns zwar noch nicht, aber vor einigen Wochen habe ich Ihnen geschrieben.« Erleichtert ließ sie sich in den Sessel fallen. Es war nicht die Schule. Die Stimme fuhr ruhig fort. Sie versuchte sich zu konzentrieren. Der Ärger über die Unterbrechung war verflogen. Jetzt war sie nur noch erleichtert. Den Kindern war nichts passiert.

»… und als ich die Unterschrift gesehen habe, ist mir natürlich aufgefallen, dass sie nicht von Ihnen stammte.« Ein kurzes Lachen. »Da hab’ ich mir gedacht, ein persönlicher Anruf wäre angebrachter. Von Mann zu Mann. Oder eher«, die Stimme nahm einen leicht verschlagenen Tonfall an, »von Mann zu Frau.«

»Es tut mir schrecklich leid. Was wollen Sie von mir?«

»Haben Sie denn nicht zugehört?«

»Ich habe gearbeitet, als das Telefon klingelte. Es dauert immer eine gewisse Zeit, bis ich mich gesammelt habe.« Rosa fühlte sich jetzt frischer. Sie hatte sich an den Gedanken gewöhnt, dass ihre Kinder in Sicherheit waren. Sie wusste, dass in den nächsten Minuten wieder der Ärger die Oberhand gewinnen würde. Der Mann begann von vorn. Nach kurzer Zeit unterbrach sie ihn.

»Ich kann Ihnen versichern, dass alles, was aus meinem Büro kommt, von mir stammt, selbst wenn meine Sekretärin unterschrieben hat.«

»Beantwortet sie denn nicht Ihre Post?«

»Ganz bestimmt nicht.«

Er schwieg einen Moment und sagte dann: »Das ändert die Sache erheblich. Das lässt alles in einem anderen Licht erscheinen.«

Rosa blickte auf ihre Uhr. Noch eine halbe Stunde, bevor sie fortmusste. Jetzt hatte es ohnehin keinen Zweck mehr, wieder an die Arbeit zu gehen. Sie würde mindestens zehn Minuten brauchen, um sich wieder in die Szene einzuarbeiten.

»Wenn Sie tatsächlich bei City Radio arbeiten wollen, würde ich an Ihrer Stelle einen Brief …«

»Ich habe bereits einen Brief geschrieben.«

»– an Toby Winthrop schicken. Er ist der Sendeleiter und kann Ihnen eher weiterhelfen als ich.«

»Das geht nicht, Rosa. Dazu ist es jetzt zu spät. Das Los ist auf Sie gefallen. Es gibt keine Möglichkeit, zurückzugehen und von vorn anzufangen. Sie sind diejenige, die mir behilflich sein wird. Wann kann ich bei Ihnen vorbeikommen?«

Gütiger Himmel. Rosa versuchte, Geduld zu bewahren. Der arme Kerl schien nicht ganz beisammen zu sein.

»Hören Sie, es tut mir wirklich leid, aber ich kann tatsächlich nichts für Sie tun. Ich bin nur eine Rundfunkangestellte. Ich habe beim Sender keinerlei Einfluss. Ich habe keine Entscheidungsgewalt. Weder darüber, ob jemand angestellt, noch ob er gefeuert wird. Ich mache nur zweimal wöchentlich meine Sendung.«

»Tun Sie nicht so, Rosa. Ich bin nicht einer Ihrer üblichen Hörer. Eines Tages werde ich dort sein, wo Sie bereits sind. Und wie die Dinge stehen, liegt dieser Tag in nicht allzu weiter Ferne, das kann ich Ihnen flüstern. Verschonen Sie mich bitte mit diesem Unsinn über Ihr Moderatorendasein. Ich bin au fait mit der Medienszene. Ich weiß, was da gespielt wird.« Als sie schwieg, fuhr er fort: »Wie wär’s, wenn ich am Freitag nach der Sendung zu Ihnen ins Studio käme? Wir könnten uns einen kleinen Aperitif genehmigen.«

»Es hat keinen Zweck, diese Unterhaltung fortzusetzen … Ich habe Ihnen geholfen, soweit es in meinen Kräften steht. Wollen Sie mich jetzt bitte entschuldigen?«

Rosa legte auf. Erst als sie eine halbe Stunde später mit dem Auto vor der Schule stand, begann sie sich zu fragen, wie um alles in der Welt der Mann an ihre Telefonnummer gekommen war.

Fenn wusste nicht mehr, wie er es geschafft hatte, den Hörer auf die Gabel zu legen, sich bei Mr. Christoforou zu bedanken und in sein Zimmer zurückzukehren. Seine Knie, sein ganzer Körper zitterten. Er bewegte sich wie ein alter Mann. Er schäumte vor Wut. Es war, als würde er von einem Hurricane erfasst und unerbittlich durch die Luft gewirbelt. Er konnte sich nicht dagegen wehren. Im Vergleich hierzu glich seine frühere Verärgerung über Sonia einem zahmen Tier.

In der Mitte des Raums sank er auf die Knie und wartete, bis sich der Aufruhr gelegt hatte. Es konnte keine Rede davon sein, die verschiedenen Emotionen zu entwirren oder sich über seine Gefühle klar zu werden. Sobald er die Augen schloss, sah er sich von einer roten Flutwelle bedroht, die bereit war, auf ihn niederzustürzen und ihn zu zermalmen. Ihm war übel. Die Zeit schien stillzustehen. Sein Hirn war allein von Emotionen beherrscht. Er war nicht in der Lage, vernünftig zu denken.

Als sich der Sturm endlich gelegt hatte, an ihm vorbeigezogen war, setzte er sich auf – und war erstaunt, dass er nicht erschöpft und zerschlagen war, sondern sich konzentriert und kalt und stark wie eine Klinge fühlte, die gerade in der Esse geschmiedet worden war.

Unten im Wohnzimmer hatte er, kurz bevor der Sturm ausgebrochen war, einen Augenblick wirklicher Harmonie zwischen Rosa und sich selbst erlebt. Ein wahres Zusammentreffen von Gefühlen. Er wusste, dass Rosa es ähnlich empfunden hatte; das hatte er genau gespürt. Sie hatte es vorgezogen, diesen Augenblick zu vergessen. Sie hatte ihn zurückgewiesen, und jetzt war alles zu spät. Das hatte sie sich selbst zuzuschreiben. Es würde ihr nichts nützen, in Zukunft auf diesen Moment zurückzukommen. Ihn anzuflehen: »Bitte, Fenn – erinnerst du dich nicht daran, wie es war, als wir zum ersten Mal miteinander geredet haben … Gib mir noch eine Chance … bitte …«

Als er sich von den Knien erhob, fühlte er sich wie ein junger Krieger, der kurz vor einem Feldzug vom Priester den Segen erhalten hatte. Er glühte vor Begeisterung für die Sache der Gerechtigkeit, fühlte sich zugleich aber demütig. Er stand unter dem Schutz der göttlichen Allmacht. Sein Leben, sein Geist entwirrten sich auf wundersame Weise. Er ging zum Tisch hinüber und nahm vorsichtig, fast zärtlich, Rosas Bild in die Hand. Er war sowohl sexuell als auch emotional erregt, hatte aber alles unter Kontrolle. Tief in seinem Innern lag ein Zentrum bar jeglichen menschlichen Gefühls, das seine Handlungen dirigierte. Dieser Autorität übergab er sich ohne Zögern, fast mit Erleichterung. Jetzt war er frei von Verantwortung. Was sein sollte, würde sein.

Er legte das Foto auf den Tisch, befestigte es an allen vier Ecken mit Reißzwecken, zog sein Messer hervor und machte den ersten Schnitt. Einen schwungvollen Schnitt, mit dem er ihr ohne Zögern und im vollen Bewusstsein seiner Stärke durch die Kehle fuhr.

 

»Immer sagst du, du hättest keine Zeit.«

»Weil ich nie Zeit habe.«

»Du bist genauso gebaut wie wir anderen auch, Rosa. Manchmal muss man auftanken, sonst kommen die Räder zum Stillstand.«

Duffy hockte auf dem Rand von Rosas Schreibtisch und schwang in einer Hand den Brieföffner. Sie leerte die Umschläge und sortierte die Briefe in verschiedene Stapel.

»Wenn ich jetzt mit dir in die Kantine gehe, werden wir erst zu Mittag essen, dann einen Nachtisch zu uns nehmen, dann einen Tee trinken, uns dann ein bisschen unterhalten und dann ist es drei Uhr. Wenn ich mir zu Hause etwas zurechtmache, habe ich um diese Zeit bereits anderthalb Stunden gearbeitet.«

»Dieser verflixte Michael Kelly. Er weiß nicht zu schätzen, wie viel Zeit und Liebe du auf ihn verwendest. Er ist seit Jahren tot. Wohingegen jetzt an deiner Seite das Herz eines lebendigen Menschen pulsiert, ein reifer Mann, der vor Bewunderung für dich entbrannt ist, voller Bedürfnisse und Sehnsüchte steckt und sich nichts sehnlicher wünscht, als dir sein Herz zu Füßen zu legen.«

»Das hört sich ziemlich verwirrt an.«

Lächelnd sah sie Duffy an. Sie konnte nicht einschätzen, wie ernst seine Beteuerungen gemeint waren, wusste aber, dass es in jeder Hinsicht ein Fehler wäre, ihn ernst zu nehmen. Alles wäre wesentlich einfacher, wenn sie ihn tatsächlich nicht leiden könnte. Er hatte einen trockenen Humor, den sie als erfrischend empfand, und war eigentlich sehr freundlich. Wäre ihre Liebe zu Leo nicht, würde sie ihn wahrscheinlich sehr anziehend finden; was auf andere Frauen aus dem Studio unbestritten zutraf. Er hatte honiggelbes Haar, das sich an den Schläfen lichtete und in einem seltsamen Kontrast zu seiner Haut stand, die durch die vielen Außenaufnahmen eine gleichmäßige, karamellfarbene Tönung angenommen hatte. Seine hellblauen Augen waren erstaunlich klar, wenn man bedachte, welche Unmengen von Irish Whisky er bei eben diesen Außenaufnahmen als so genannte Anwärmer in sich hineinkippte. Er hatte einen leichten irischen Akzent, der dankenswerterweise nicht zu dem typischen manierierten Journalistenslang verkommen war. Über sein Privatleben wusste sie wenig – Louise meinte, er habe eine Frau –, und ihr lag nichts daran, das zu ändern. Sie führte ihr eigenes glückliches und gut organisiertes Leben, das genau ihren Vorstellungen entsprach, und war darum bemüht, es nicht zu zerstören.

»Wie ich gehört habe«, flüsterte Duffy ihr verführerisch ins Ohr, »gibt es Sandwiches mit Lachsfrikadellen.«

»Sandwiches mit was?« Rosa wandte gereizt den Kopf ab. Duffy zog sich sofort zurück.

»Mit gebackenen Bohnen natürlich. Mit was sonst?« Er machte eine Pause. »Du kommst nicht mit, oder, Rosa?«

»Nein.« Sie war beim letzten Brief angelangt. Ein merkwürdig quadratischer Umschlag. Das Papier raschelte, als sie ihn öffnete. Darin lag eine steife, elfenbeinfarbene Karte. Auf der Vorderseite waren die Worte »In Memoriam« eingraviert, und die Kanten waren schwarz umrandet.

»Duffy –«

»Hm?« Duffy, der bereits an der Tür stand, wandte sich um. »Hast du deine Meinung geändert?« Er lächelte.

»Sieh dir das an.« Rosa hielt ihm die Karte entgegen, und er kam zurück und nahm sie an sich.

»Eine Urlaubskarte? Wenigstens ist das mal etwas anderes als diese strahlenden jungen Damen und die kleinen Männer mit den geknoteten Taschentüchern auf dem Kopf. Wer hat sie dir geschickt?«

»Ich hab’ keine Ahnung!«

»Steht nichts dabei? Das Wetter ist hier, ich wünschte, du wärst wunderbar?« Er drehte die Karte um. »Oh.«

»Was ist denn das?« Er reichte ihr die Karte zurück. Auf der anderen Seite stand: »Erwartungsvoll, Dein F.«

»Ist einer deiner Bekannten vor kurzem gestorben, Rosa?«

»Wie bitte? … Nicht dass ich wüsste … Was für eine merkwürdige Idee.«

»Na ja, wenn du eine schwarze Krawatte borgen willst, brauchst du mich nur zu fragen.«

»Aber es ist keine Todesanzeige. Es ist eine von diesen Karten, die man an den Kranz steckt. Und was meint er mit ›erwartungsvoll‹? Das klingt fast, als wäre die Person noch nicht gestorben.«

»Ich würd’ mich nicht unnötig aufregen. Es kann doch keiner von deinen Bekannten sein, oder? Sonst hätte sich, wer immer diese Karte auch geschickt haben mag, schon vorher bei dir gemeldet. Auf dem üblichen Weg.«

»Wahrscheinlich hast du recht.«

»Irgendein Idiot, der sich einen Spaß erlauben will.« Als Rosa weiter mit gerunzelter Stirn auf die Karte sah, streckte er die Hand aus, griff nach der Karte und zerriss sie. Die beiden Hälften ließ er in den Papierkorb fallen. »Siehst du, da gehört sie hin.«

Rosa warf den Umschlag ebenfalls weg, drehte ihre Hände um und betrachtete ihre Fingerspitzen. Sie prickelten, als habe sie gerade etwas Warmes, Vibrierendes berührt. »Prickeln im Finger. …« Wie ging der Spruch weiter?

»Ich werd’ nicht zum Mittagessen bleiben, Duffy, aber einen Kaffee könnte ich jetzt vertragen.« Sie kam sich kindisch vor, doch sie wollte die Heimfahrt und das Alleinsein so lange hinauszögern, bis das unangenehme Gefühl vergangen war, das die Karte hervorgerufen hatte.

»Fantastisch.« Er legte einen Arm um ihre Hüfte und hob sie förmlich aus ihrem Stuhl. »Hol deine Tasche und komm.«

Duffys gute Laune, sein offensichtliches Vergnügen an ihrem Beisammensein und seine Alltäglichkeit würden, so dachte sie sich, auch das letzte bisschen Unruhe vertreiben, und tatsächlich bestätigte sich diese Vermutung, bis sie einige Stunden später ihr Arbeitszimmer betrat und sich an den Schreibtisch setzte, um zu arbeiten.

Sie saß schon eine Weile da, doch die Welt von Michael Kelly, in die sie sich gewöhnlich nach einem kurzen Anspannen ihrer Vorstellungskraft hineinversetzen konnte, schien sich ihr heute zu entziehen und substanzlos geworden zu sein. Nachdem sie ein wenig gelesen hatte, schob sie das Buch beiseite. Die Atmosphäre ihres Arbeitszimmers wirkte heute eher bedrückend als beruhigend. Nichts als Düsterkeit. Dunkle Wände, schwere Möbel, und der bleierne Himmel vor dem Fenster verstärkte diesen Eindruck noch. Selbst ihr geliebter Teppich schien seine Leuchtkraft verloren zu haben. Sie machte das Licht an.

Sie musste dieses Zimmer verändern, Sie würde nicht mehr ruhig in ihm arbeiten können, bevor sie das tat. Unmittelbar nachdem Rosa diese Entscheidung gefällt hatte, fühlte sie sich besser. Natürlich wollte sie vieles behalten. Die meisten ihrer Möbelstücke; den Teppich. Aber sie wollte die Wände hell streichen, frühlingshafte Vorhänge (vielleicht irgendetwas mit Mohnblumen) anbringen und neue Drucke oder sogar Poster aufhängen. Morgen würde sie gleich zur Air France gehen. Vielleicht bekam sie da ein Poster von der Provence. Vor ihrem inneren Auge sah sie verbrannte Erde und geschwungene Ziegeldächer; weiße Möwen und Olivenbäume gegen einen strahlend blauen Himmel. Sie begann sich wohler zu fühlen. Danach könnte sie zur Designer’s Guild oder zu Harvey Nichol’s gehen, um Stoffe auszusuchen.

Sie begann, die Kupferstiche abzunehmen, Zunächst würde sie sie im Abstellraum unterbringen. Sie stapelte sie auf ihrem Schreibtisch und kramte gerade in einer der Schubladen nach einer Schnur, als ihr der Satz einfiel, nach dem sie vorher vergeblich gesucht hatte.

»Prickeln im Finger …«, sie hielt inne, und laut wieder-holte sie den zweiten Teil des Sprichworts: »… verheißt Gutes dir nimmer.«

 

»Kann der Vogelmann fliegen?«

»Natürlich nicht, du dumme Kuh.« Rosa fragte sich, ob sich Guy seinen Mitschülern gegenüber ebenso herablassend verhielt, und hoffte, dass ihm jemand den Kopf zurechtrücken würde, wenn das der Fall wäre. »Menschen können nicht fliegen.«

»Warum heißt er dann Vogelmann?«, beharrte Kathy.

Guy brauchte für seinen herablassenden, ältlichen Seufzer so lange, dass Rosa ihm zuvorkommen konnte. »Weil er ein leidenschaftliches Interesse an Vögeln und ihren Gewohnheiten hat. Und daran, sie mit Menschen zu vergleichen.«

Kathy erwiderte: »Man kann Menschen nicht mit Vögeln vergleichen. Sie sind vollkommen unterschiedlich.«

»Oh, da wär’ ich mir nicht so sicher.« Guy hatte beschlossen, seinen Seufzer zu Gunsten des unmittelbaren Genusses abzukürzen, den eine schlagfertige Antwort ihm einbrachte. »Beide haben zwei Beine, und einige Menschen, die nicht mal ’ne Million Meilen entfernt von hier leben, haben vogelähnliche Gehirne.«

»Wart nur, bis ich erst zwölf bin. Dann wirst du nicht mehr so mit mir reden.«

»Schlecht geschaltet, Spatzenhirn. Wenn du zwölf bist, werde ich siebzehn sein.«

»Du lügst! Du lügst! Oder, Mom?«

Guy lachte. Leo raschelte mit seiner Zeitung. Tränenüberströmt wandte Kathy sich an ihre Mutter. Rosa nahm ihre Hand.

»Er hat recht, mein Liebling, aber es wird anders sein, als du dir vorstellst. Du wirst dann so erwachsen sein, dass du ganz anders mit ihm umgehen kannst. Es wird dir nichts ausmachen. Ehrlich.«

»Versprichst du mir das?«

»Ich versprech’s dir.«

»Neulich hat Guy gesagt, er wird zwölf bleiben, bis ich ihn eingeholt habe.«

»Das war nicht besonders nett von ihm.« Sie sah zu ihrem Sohn hinüber. »Du bist alt genug, um es besser zu wissen.«

»Frech und dumm.« Kathy wischte sich die Tränen vom Gesicht und strahlte alle an.

»Ich hab’ nicht den ganzen Tag Zeit, mir das Gewäsch von dummen Weibern anzuhören.« Guy schob seinen Stuhl zurück. »Kann ich Madgewick den Rest von meinem Hühnchen geben?«

Rosa sagte: »Es sind nur noch Knochen übrig, und du weißt, dass er die nicht anrührt.«

»Sie werden ihm im Hals stecken bleiben, und er wird sterben. Daddy – Guy versucht gerade, Madgewick umzubringen.«

»Holt eure Sachen, Kinder.« Leo faltete seine Zeitung zusammen und lächelte Rosa an. »Guten Morgen, mein Schatz.«

»Guten Morgen, Leo.«

Vor einer halben Stunde waren sie sich kurz mit verschlafenen Gesichtern im Badezimmer begegnet, doch jetzt, nach einigen Tassen starken kolumbianischen Kaffees und ein paar Leitartikeln fühlten sie sich frisch und bereit, den Alltag anzugehen. Leo kam auf das Gespräch der vergangenen Nacht zurück.

»Bist du dir sicher, dass du in diesem Haus das Unterste zuoberst kehren und es mit Leitern, Farbeimern, Tapeten und Männern in weißen Overalls vollstellen willst, die uns den letzten Tropfen Alkohol wegtrinken werden? Ich dachte, das hätten wir hinter uns.«

»Sei nicht albern, Leo. Es geht nur um mein Arbeitszimmer.«

»Aber dein Arbeitszimmer ist wunderschön. Es hat dir immer gefallen.«

»Na ja, jetzt gefällt’s mir eben nicht mehr. Es wirkt so bedrückend.«

Tatsächlich war es ihr weniger schlimm vorgekommen, als sie heute Morgen auf einen Sprung hineingeschaut hatte, um ihre Tasche zu holen, aber es widerstrebte ihr, sich von der sprühenden Verwandlungsszene zu lösen, die am Vortag ihren Stimmungswechsel herbeigeführt hatte, obwohl sie das Gefühl der Angst, das ihre schlechte Laune ausgelöst hatte, nur noch schlecht nachempfinden konnte.

»Es kann nicht schaden, sich ein paar Musterstoffe und Tapetenbücher zu besorgen. Wer weiß, ob ich etwas damit anfangen kann?«

»Hoffentlich nicht.« Leo mochte es, wenn alles seinen geregelten Lauf nahm. »Eigentlich passt es nicht zu dir, launisch zu sein, Rosa.«

Rosa schwieg. In ein paar Minuten würden sie sich trennen, um zur Arbeit zu gehen, und es hatte keinen Zweck, jetzt einen Streit vom Zaun zu brechen, aber dennoch … »launisch« … Das Wort charakterisierte die Art von Frauen, die sie am wenigsten mochte: Sie gurrten oder schmollten, verlangten kleine Überraschungen und Aufmerksamkeiten. Es waren Frauen, die glaubten, ein Tag auf der Sonnenbank oder beim Friseur sei ein sinnvoller Tag gewesen.

Leo zog seinen dicken Mantel an und setzte seine echte russische Pelzkappe auf. Als er letztes Jahr in Moskau auf einem Ärztekongress gewesen war, hatte er Rosa einen sibirischen Wolfspelz und den Kindern Fellmützen mitgebracht. Seine Kappe war aus schwarzem Persianer, und als Rosa einen kurzen Blick auf sein Profil warf, das scharf und bedrohlich wie das eines Habichts war, machte ihr Herz einen Sprung.

Die Kinder waren eingemummelt wie Eskimos. Leo öffnete die Haustür, trat mit ihnen in den peitschenden Hagelsturm hinaus, dann waren sie verschwunden. Rosa fütterte Madgewick, ohne daran zu denken, dass sie das bereits beim Zubereiten des Frühstückstees getan hatte. Er erinnerte sie nicht daran, sondern stopfte das Futter mit einem einnehmenden Blick über den Rand des Fressnapfes in sich hinein.

Sie überprüfte den Inhalt ihrer Tasche und schenkte sich eine weitere Tasse Kaffee ein. Heute hieß das Thema ihrer Sendung »Kommunikation«. In einigen Tagen würde Rosas Karussell bereits zwei Jahre alt sein. Früher hatte sie sich wahrhaftig nicht vorstellen können, mit dreiunddreißig Jahren beim Rundfunk zu arbeiten. Eines Tages war sie gebeten worden, Hintergrundmaterial für eine einstündige Abendsendung über die großen Londoner Streiks des neunzehnten Jahrhunderts zusammenzustellen. Sie hatte mehrere Arbeitstreffen mit dem Moderator und Toby Winthrop gehabt, der ihren Arbeitsstil und die Art bewunderte, auf die sie ihr Material präsentierte. Sie hatte eine angenehme Stimme und einen freundlichen, doch nicht überheblichen Umgangston, deshalb hatte er sie gebeten, nach der Sendung an einem Hörergespräch teilzunehmen. Sie war so überzeugend gewesen, dass man ihr einen Halbjahresvertrag angeboten hatte, der jetzt bereits zum dritten Mal erneuert worden war.

Rosa konnte ein gewisses Maß an Eitelkeit nicht abstreiten und war deshalb erfreut und aufgeregt auf den Vorschlag eingegangen, eine eigene Sendung zu moderieren. Zudem hatte sie tatsächlich den Wunsch gehabt, Menschen zu helfen. Doch die ständig wiederkehrenden Themen vieler Anrufer und ihre Unfähigkeit, einmal gemachte Kontakte weiterzuverfolgen (sie wusste nicht, ob sie seit Beginn der Sendung einem einzigen Menschen tatsächlich geholfen hatte), hatten sie allmählich an der Berechtigung ihrer Arbeit zweifeln lassen. Zudem war ihr durchaus bewusst, dass sich in viele ihrer Antworten eine gewisse Unverbindlichkeit – fast Zungenfertigkeit – eingeschlichen hatte und dies kein gutes Zeichen war, so sehr sie sich auch bemühte, es auszumerzen. Falls Toby ihr im nächsten Monat eine Vertragsverlängerung vorschlagen sollte, und das war sehr wahrscheinlich, war sie fast entschlossen, das Angebot abzulehnen. Sie würde ihre Arbeit über Michael Kelly zum Abschluss bringen und sich dann Gedanken über ihr weiteres Berufsleben machen. Sie sah auf die Uhr und stand hastig auf. Gleich kommt Mrs. Jollit mit dem Leiden des Monats zur Tür herein.

»Es würd’ mir sofort besser gehen, wenn ich Doktor Gilmour um Rat fragen könnte, meine Liebe«, hatte sie zu Rosa gesagt. »Geben Sie’s doch an ihn weiter. Ich fürchte, es ist Rückenmarkskrebs.«

Aber Leo hatte nur abgewunken: »Sag ihr, sie soll darauf achten, dass es ihr nicht in den Kopf steigt.« Er hatte gelacht.

Rosa hatte in sein Lachen eingestimmt, sich dann aber geschämt. »Und wenn es wirklich etwas Ernstes ist?«

»Unsinn. Ihr armer Arzt muss das reinste Nervenbündel sein. Sie wird uns alle überleben.«

In ihrem Büro hatte Rosa, auf wundersame Weise von Sonia befreit, eine halbe Stunde Zeit, sich auf den möglichen Verlauf ihrer Sendung vorzubereiten. Sie notierte sich einige Stichwörter. »Die Rolle der Medien für die Kommunikation. Hat größeres und leichter zugängliches Kommunikationsnetz der Medien weniger Kontakt zwischen Einzelpersonen zur Folge? Warum fällt die Kommunikation in der Gruppe leichter als ein Gespräch unter vier Augen? Oder mit einem Fremden?« Vielleicht wäre es möglich, auf die Themen aktueller Filme und Theaterstücke Bezug zu nehmen … Sie schrieb: »Mangel an K.« Fragezeichen. Sie überflog ihre Notizen noch einmal und ging dann ins Studio. Die Sendung bot keine Überraschungen. Der Vogelmann meldete sich acht Minuten vor Ende der Sendung zu Wort.

»Unsere hoffnungslose Unfähigkeit, uns miteinander zu verständigen, Mrs. Gilmour, liegt an unserer mangelnden Aufrichtigkeit. Wir haben zu viele Möglichkeiten, unsere wahren Gefühle zu verbergen, auch wenn wir vorgeblich das Gespräch mit dem anderen suchen. Wir müssen lernen, unsere Methoden zu verfeinern, uns der scheinbar belanglosen Missverständnisse zu entledigen, bis wir eine Umgangsform gefunden haben, die so klar und unmissverständlich ist wie die der Vögel.«

»Meinen Sie ihren Gesang?«

»Ihre Füße! Ihre Füße!«

»Wie bitte?«

»Wissen Sie, die Fußspuren der Vögel sind wie Hieroglyphen. Natürlich ist uns der Zugang zu diesem Geheimnis verwehrt. Wenn einer von uns beiden einen Vogel herumhüpfen sieht, was denken wir dann, was sie da tun?«

»Sie hüpfen herum?«

»Genau. Aber für einen anderen Vogel bedeutet es etwas völlig anderes.«

Ich glaube nicht, dass ich das noch lange ertragen kann, dachte Rosa und sah erleichtert, dass der Zeiger der Studiouhr auf fünf vor zwölf vorrückte. Sie wechselte einen Blick mit Louise, die ihre peruanischen Wollsocken ausgezogen hatte, sie sich über die Hände stülpte und damit über dem Kopf einen wilden Ohrentanz veranstaltete. Irgendwie gelang es Rosa, sich das Lachen nicht anmerken zu lassen.

»Aber die Menschen benutzen ebenfalls Signale. Ihre Körpersprache.«

»Menschen sind hinterhältig und betrügerisch, Mrs. Gilmour. Ihre Körpersprache, wie Sie so grob sagen, benutzen sie nicht nur, um ihre wahren Gefühle darzustellen, sondern auch, um die anderen Menschen zu täuschen.«

»Lesen alle Vögel gegenseitig ihre Signale?«

Eine lange Denkpause. Dann sagte er betrübt, als habe diese Entdeckung ihn einen Teil seines Lebens gekostet: »Ich fürchte, nein. Wissen Sie, das ist auch nicht nötig. Aber es ist eine schöne Vorstellung, nicht wahr? Nein. Ein Vogel kann nur die Fußspuren seiner eigenen Artgenossen lesen. Jedes weitere Wissen wäre überflüssig, und wie wir wissen, verabscheut unser Schöpfer jegliche Verschwendung.«

Das ist Meinungssache, dachte Rosa, als die Kontrolllampe aufleuchtete. Sie betätigte den Schalter.

Louise meinte: »Noch einen Anruf.«

»Die Sendung ist gleich zu Ende.«

»Er sagt, er wolle sich kurz halten.«

»Das wird er wohl müssen. In Ordnung – stell das Gespräch durch.«

Rosa bedankte sich beim Vogelmann und blendete ihn aus. Sie nahm den letzten Anrufer auf ihre Leitung. Eine sanfte, höfliche Stimme. Fast zu höflich. Farblos, aber voll scheuer Beharrlichkeit. So viele Hörer hatten eine ähnliche Stimme. Die Tatsache, dass sie nichts Originelles oder nur wenig Interessantes zu sagen hatten, hielt sie allerdings nicht davon ab, sich in die Sendung einzuschalten. Sie belästigten die Telefonmädchen so lange mit Anrufen, bis diese sie durchstellten, boten ihre Feld-Wald-und-Wiesen-Vorurteile und fadenscheinigen Clichés dann mit einer Überzeugungskraft dar, die Rosa die ersten Male als rührend empfunden hatte.

»Die Leitung ist jetzt frei.«

»Es geht … um einen Todesfall.«

Rosa gelang es gerade noch, ein gereiztes »Tsk« zurückzuhalten. Erst vor einigen Wochen hatte sie eine Sendung über Trauerfälle gemacht; wieso hatte er da nicht anrufen können? Sein Satz rief eine Pawlow’sche Reaktion hervor: Informationen über verschiedene Hilfsorganisationen schicken, vielleicht die Samariter vorschlagen, die üblichen Fragen stellen. Entsetzt wurde sie sich plötzlich ihrer Kategorisierungen bewusst. Wo war ihr Mitleid geblieben?

»Das tut mir leid. Jemand, der Ihnen nahegestanden hat?« »Nein. Nichts Persönliches.«

Eine merkwürdige Stimme. Nicht natürlich. Die Worte waren ein wenig zu vorsichtig gesetzt, und sie hörte einen Londoner Akzent heraus, von dem sie vermutete, dass er gewöhnlich sehr viel stärker war. Eine künstliche Stimme also, aber sie würde nie erfahren, ob er sie nur für den Anruf angenommen hatte oder ob sie ihm zur zweiten Natur geworden war. Zudem kam sie ihr bekannt vor.

»Ich verstehe nicht ganz. Geht es um einen Zeitungsartikel, der Sie erschüttert hat? Um einen Mordbericht? Um einen Vorfall in Nordirland?«

»Oh, ich bin ganz und gar nicht erschüttert.« Jetzt konnte sie das Lachen hören, das hinter seinen Worten lag, hervorzubrechen und sie zu zerstören drohte.

Sie fragte schroff: »Warum rufen Sie dann überhaupt hier an?«

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Duffy, der im Kontrollraum wartete, sich neben Louise stellte. Sie spürte, dass beide sie ansahen.

»Ich hab’ mir nur gedacht … da der Tod noch nicht eingetreten ist … sollte ich es jemandem erzählen.«

Rosa seufzte. Das war bestimmt nicht ihr bester Tag. Sie hatte kaum ihr zweites Frühstück verdaut und schon etliche unsinnige Anrufe erhalten.

»Wollen Sie damit sagen, dass Sie eine Art Hellseher sind?« »Hab’ ich das etwa gesagt?«

»Bis jetzt haben Sie so gut wie nichts gesagt.« Rosa wusste, wie gereizt sie klang. Ja – offensichtlich hatte sie es satt. Wenn sie so schnell die Geduld verlor, wurde es Zeit, vom Karussell abzuspringen. »Und jetzt bleiben Ihnen weniger als fünfzig Sekunden, um loszuwerden, was Ihnen auf dem Herzen liegt.«

»Sehen Sie, ich muss jemanden umbringen. Das ist alles, was ich Sie wissen lassen wollte.«

Rosa setzte sich auf. Ihre Ungeduld war verflogen. »Wie bitte?«

Louise hatte sich erhoben und stand vorgebeugt mit den Händen auf der Kontrolltafel. Duffy, der direkt hinter ihr stand, rührte sich nicht, hatte seinen Blick aber mit der Aufmerksamkeit eines Apportierhundes auf Rosa gerichtet. Ein Gefühl von angespannter Aufmerksamkeit schien die drei zusammenzuschweißen. Rosa bedeutete Louise wortlos, ihn am Apparat zu halten.

»… da Sie davon betroffen sind …«

Louise unterbrach die Studioleitung und zeigte Rosa mit dem Daumen an, dass sie ihn noch am Apparat hatte. Der große Zeiger sprang auf zwölf Uhr, und Rosa begann, sich von ihren Hörern zu verabschieden, wusste aber, dass sie Unsinn redete. Mit dem Nachrichtentext in der Hand verließ Duffy den Kontrollraum.

»… das war’s für heute von Rosas Karussell … bis Freitag … falls ich dann noch lebe … Tschüs, sagt Ihre …«

Louise ließ den Musikabspann laufen. Rosa nahm ihre Kopfhörer ab und gab sie an Duffy weiter, der sich jetzt in ihren Sessel gleiten ließ und fragte: »Was wirst du jetzt tun?«

»Ich weiß es nicht.«

Was sollte sie tun? Ohne Eile ging sie auf den Kontrollraum zu. Die Aufregung ließ schnell nach. Sie war allein durch die Erstmaligkeit des Vorfalls hervorgerufen worden, wie sie jetzt erkannte. Das Team, das in der Telefonzentrale die Anrufe entgegennahm, hatte bislang die Verrückten und die komischen Käuze herausgefiltert, und sie (mit Ausnahme des Vogelmanns) nicht in die Studioleitung gelassen.

Louise hielt ihr den Hörer entgegen, wobei sie sich bedeutsam an die Stirn tippte. Rosa zögerte. Ihre Abneigung gegen die Fortsetzung des Gesprächs war rein instinktiv. Sie lag in dem natürlichen menschlichen Impuls begründet, sich von jeglicher Deformation abzuwenden, war dem Wunsch verpflichtet, Gedanken- und Verhaltensmuster, die sich auf so vollkommen unverständliche Weise von den eigenen unterschieden, nicht anzuerkennen. Aus Vernunftgründen würde sie das Gespräch doch fortsetzen. In den letzten zwei Jahren war sie gut dafür bezahlt worden, sich als eine aufmerksame Gesprächspartnerin mit einem offenen Ohr für die Sorgen ihre Mitmenschen zu präsentieren. Und diese Grundvoraussetzung hatte sie nie in Frage gestellt. Trotz der unvermeidlichen Unannehmlichkeiten mit einigen ihrer Hörer hatte sie nie das Gefühl gehabt, das Geld zu Unrecht angenommen zu haben.

Aber war sie je darum gebeten worden, irgendwelche Verpflichtungen einzugehen? Es lag in ihren Händen, wie lang die Anrufe waren, denn sobald sie genug hatte, blendete sie die Leute aus. Konnte man das als einfühlsam bezeichnen? Jetzt bot sich die Gelegenheit, einem anderen Menschen tatsächlich zu helfen. Statt einfach die vorgedruckten Antwortbriefe auf die Post zu bringen oder weiterführende Adressen zu nennen, könnte sie ihm eine Weile zuhören und versuchen, ihn zu verstehen.

Doch ihre instinktive Abneigung ließ sich nicht unterdrücken. Als sie den Hörer entgegennahm, zitterte sie am ganzen Körper, überkam sie ein ungutes Gefühl.

»Hallo? Sind Sie noch am Apparat?«

»Oh, ja.« Seine Stimme war wie Samt. Als fließe durch die Leitung Öl in ihr Ohr. Sie wusste, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Indem sie das Gespräch mit ihm fortsetzte, ihn ernst nahm, regte sie ihn zu weiteren Fantasien an. Wäre es ein obszöner Anruf gewesen, hätte sie nicht mit ihm gesprochen. Und was konnte obszöner sein als der Gedanke, einem anderen Menschen absichtlich das Leben nehmen zu wollen?

»Ich würde Ihnen gern behilflich sein … wenn ich das überhaupt kann.«

»Oh, das können Sie.«

Er lachte. Es war ein schreckliches Lachen. Unschuldig und fröhlich wie das eines Kindes. Louise, die sie beobachtet hatte, stand auf und deutete an, ihr den Hörer aus der Hand zu nehmen, doch Rosa winkte ab. Sie spürte, wie sich hinter ihr die Tür öffnete und Duffy in den Raum trat. Sie sagte:

»Und wie? Würde es Ihnen helfen, ein bisschen darüber zu reden?«

»Ich wüsste nicht, warum wir uns nicht ein bisschen unterhalten sollten. Fürs Erste.«

Rosa schnürte sich die Kehle zusammen. »Was meinen Sie damit … fürs Erste?«

Duffy sprang vor und nahm ihr den Hörer aus der Hand, bevor sie ihn abhalten konnte. »Hören Sie. Es gibt Spezialisten, die Leuten wie Ihnen weiterhelfen können. Geben Sie uns Ihren Namen und Ihre Adresse, und wir werden Sie an jemanden weiterleiten.« Alle hörten das Klicken, als die Leitung unterbrochen wurde. »Vielen Dank für Ihren Anruf.«

»Das hättest du nicht tun sollen, Duffy.«

»Sieh dich doch an. Weiß wie die Wand. Ich kann nicht einfach dastehen und zusehen, wie du dir diesen ganzen Unsinn anhörst.«

»Vielleicht hätte ich ihm helfen können.«

»Unsinn – er ist ein Spinner. Wenn er tatsächlich Hilfe wollte, würde er zu einem Arzt gehen. Sich nicht hier melden, um dich zu quälen. Wie zum Teufel ist er überhaupt durchgekommen?«

Louise erwiderte: »Er ist sehr geschickt vorgegangen. Dem Mädchen, das die Anrufe entgegennimmt, hat er erzählt, er würde eine Encounter-Gruppe leiten, die sich auf wortlose Kommunikation spezialisiert hätte. Kurz vor Ende der Sendung hat sie vollkommen aufgelöst bei mir angerufen. Sie hat Angst, ihren Job zu verlieren.«

»Ich werd’ zu ihr gehen und mit ihr reden. Es wird schon alles in Ordnung kommen.« Rosa klang zuversichtlicher, als sie sich fühlte.

»Ich wette, Toby meint nicht, dass alles in Ordnung ist.«

»Um Himmels willen, Louise. Das ist das erste Mal, dass so ein Anruf durchgestellt worden ist. Für menschliches Versagen muss doch selbst Toby Verständnis haben.«

»Bevor du Fiona erzählst, dass sie sich um ihren Job nicht zu sorgen braucht, würde ich an deiner Stelle erst mit ihm reden.«

Duffy nahm Rosa am Arm. »Ich hab’ das Gefühl, ihr macht euch Sorgen über nichts und wieder nichts. Aber lass uns sehen, wie die Sache steht.«

Sobald sie auf den Flur kamen, war klar, dass die Neuigkeit bereits die Runde gemacht hatte. Alle Mitarbeiter, denen sie begegneten, sahen Rosa neugierig an; einige Sekretärinnen, die vor dem Aufzug standen, unterbrachen ihr Gespräch, sobald sie sie sahen. Einer der Reporter steckte gleich neben Toby den Kopf aus der Tür, hielt sich die Hand an die Kehle, verdrehte die Augen und gurgelte: »Ich will jemanden umbringen, Schätzchen …«

»Du machst dich, Colin«, kommentierte Duffy, als sie die Tür passierten. »Für einen Moment hast du richtig menschlich ausgesehen.«

Rosa lächelte Duffy an – oder versuchte es zumindest. Sie klopften an Tobys Tür.

»Herein.«

Noch bevor sie im Zimmer stand, war Toby aus seinem Stuhl aufgesprungen und kam auf sie zugerannt. Er strahlte.

»Meine Liebe – da bist du ja endlich. Mach’s dir bequem. Wie ich sehe, hast du einen aus deiner Gefolgschaft mitgebracht. Mach dich davon, Duffield.«

Duffy nahm Platz. Toby führte Rosa zu seinem großen Ledersofa. »Komm und mach’s dir auf meiner Besuchercouch bequem. Möchtest du einen Drink?«

Rosa war verwirrt und misstrauisch. »Wieso?«

»In Ordnung.« Toby sprach über die Schulter, ohne Duffy anzusehen. »Mach dich ein bisschen nützlich. Im Kühlschrank sind ein paar Gläser. Mach den Sancerre auf. Zwei große, bitte.« Als Duffy den Wein entkorkte, fuhr er fort: »Hör zu, Süße. Ich glaub’, wir sind hier einer großen Sache auf der Spur. Die Zentrale kann sich vor makabren Anrufen kaum retten. Hast du nach der Sendung mit dem Kerl geredet?«

»… Ja …«

»Was hat er sonst noch gesagt?«

»Er hat nur wiederholt, was er in der Sendung bereits gesagt hat.« Rosa brachte es nicht über sich, seine Worte wiederzugeben. »Dann hat er gesagt, ich könnte ihm helfen.«

»Großartig! Genau das wollte ich hören.« Duffy reichte Rosa ein Glas. »Wirst du mit ihm Kontakt halten?«

»Ich weiß nicht. Duffy hat mir den Hörer aus der Hand genommen, und er hat sofort aufgelegt.«

»Du blöder Hund. Was musst du dich auch immer einmischen?« Toby wandte sich mit hochrotem Kopf der Getränkebar zu. »Hey! Was zum Teufel hast du da zu suchen?«

»Ich trink’ meinen Wein.« Duffy senkte sein Glas und sah ihn enerviert an.

»Die beiden Gläser waren für Rossi und mich bestimmt!« Rosa hasste es, wenn er sie Rossi nannte. Gewöhnlich folgten darauf nichts als Unannehmlichkeiten.

»Jetzt pack dich aber.«

Duffy schenkte ein drittes Glas ein. »Warum diese schrecklich gute Laune, Toby? Warum diese scheußliche Grimasse, die für ein Grinsen herhalten muss?«

»Nimm dir nicht zu viel raus, Duffield. Sportreporter gibt’s wie Sand am Meer, hörst du, Karrieresüchtige Sportlehrer … Unkultivierte Stammtischstrategen mit dem Verstand eines Kängurus.«

Neben seiner Arbeit beim Rundfunk schrieb Duffy für eine anspruchsvolle Sonntagszeitung, und er hatte Chancen, zum Sportreporter des Jahres gewählt zu werden. Beide wussten, dass ihm sein Arbeitsplatz sicher war. Jetzt zog er den zweiten Stuhl zu sich heran und stellte die Flasche auf den Schreibtisch. Toby ignorierte ihn.

»Verstehst du denn nicht, meine Liebe, wie solch ein Vorfall die Einschaltquoten in die Höhe treibt?«

Duffy gab ein angeekeltes Grunzen von sich. Rosa sah Toby erst verwirrt, dann ungläubig an.

»Aber, Toby, wenn ich dich richtig verstanden habe, kannst du nicht meinen, was du da sagst.«

»Wieso kann er das nicht?«

»Blas dich nicht so auf und tu, als wüsstest du von nichts. Dies ist ein knallhartes Wettbewerbsgeschäft, und es hat keinen Zweck, das abzustreiten. Wir stehen in Konkurrenz zu Radio London und Capital, von der guten alten BBC ganz zu schweigen; tu nicht so altjüngferlich und zeig’s ihm.«

»’ne alte Jungfer würde kaum –«

Toby ging über Duffys Zwischenbemerkung hinweg.

»Aus dieser Sache können wir wirklich etwas machen, Rossi. Okay – wenn’s hart auf hart kommt, wird dieser Kerl wahrscheinlich gar nicht in der Lage sein, jemanden umzubringen.« Toby klang wirklich betrübt, fast bekümmert. »Aber wenn wir ihn dazu bringen, dich wieder anzurufen, können wir daraus wirklich was machen. Ich hab’ mich schon mit der Presseabteilung in Verbindung gesetzt.«

»Großartig. Wenn’s an der Zeit ist, können wir ihn ja bitten, ins Studio zu kommen. Vielleicht erklärt er sich ja bereit, sein Opfer zu erwürgen, während die Sendung läuft.«

»Wenn du schon darauf bestehst, dich hier ungebeten festzusetzen, Duffy, dann versuch wenigstens, ein paar praktische Vorschläge zu machen.«

»Oh – ich hab’ nicht gemeint, dass wir ihn sein Werk vollenden lassen sollten. Nur ein oder zwei Gurgellaute, dann stürmen die Keystone-Cops das Studio und halten ihn zurück. Auf dem Bildschirm würde das natürlich noch besser wirken.«

Toby, der dreinblickte wie ein Engel, dessen Geduldsgrenze überschritten ist, wandte sich wieder an Rosa: »Ich hab’s nicht selbst gehört, Rossi … wie immer Arbeit bis zum Geht-nicht-Mehr –« Er strich sich mit der Hand über die Stirn. Duffy grinste hämisch. »Aber meine Sekretärin hatte die Lautsprecheranlage an und hat gemeint, es hätte sich ziemlich … na ja … persönlich angehört. Was hat er eigentlich genau gesagt?«

»Dass er jemanden umbringen müsste und mich das wissen lassen wollte.«

»Ich frag’ mich, wieso er gerade auf dich gekommen ist.«

»Er ist ein Fall für den Psychiater«, meinte Duffy. »Er ist nur durch Zufall auf sie gekommen.«

»Er hat gesagt, ich wäre persönlich davon betroffen.«

»Er versucht, dir Angst einzujagen, Rosa. Dieser verdammte Wichser!«

»Moment mal … wenn überhaupt jemand, dann entscheide ich, wer sich hier einen abwichst.« Toby, der spürte, dass seine Autorität zu schwinden begann, sah beiden abwechselnd fest in die Augen. »Was hat er hinterher gesagt? Bevor dieser vorwitzige Clown hier ihn abgewimmelt hat?«

»Ich hab’ ihn gefragt, ob es helfen würde, wenn er ein bisschen darüber redet –«

»Gut! Braves Mädchen!«

»– und da hat er gemeint, es würde ihm nichts ausmachen, sich fürs Erste ein bisschen mit mir zu unterhalten.«

»Fürs Erste? Das klingt viel versprechend.«

Duffy stand abrupt auf, zögerte einen Moment, schenkte dann Wein nach. »Du bringst mich zum Kotzen.«

»Also hängt alles davon ab, dass er weitermacht. Und ich bin mir sicher, dass er nicht aufgibt. Vor allem, wenn die Presseabteilung aktiv geworden ist. Diese Idioten lieben es, sich wichtig zu machen und im Mittelpunkt zu stehen. Du wirst schon sehen, er wird sich nicht aufhalten lassen.«

Rosa fuhr zusammen. Dann fiel ihr etwas ein. »Ich frage mich, ob die Karte etwas damit zu tun hat, die ich neulich bekommen habe.«

»Was? Welche Karte?«

Rosa beschrieb die Beerdigungskarte und die Nachricht, die darauf gestanden hatte. Toby reagierte sofort. »Da haben wir’s. Mein Gott, der Mann ist ein Künstler. Geh und hol sie her, Rosa – ich will sie mir ansehen.«

»Na ja … Ähem …«

Duffy sagte: »Ich hab’ sie zerrissen.«

»Du hast was? Jetzt reicht’s aber.« Toby stand auf, ging schwerfällig zum Fenster und zeigte verletzt, aber bebend vor Wut auf seinen leeren Stuhl. »Vielleicht möchtest du ja dort Platz nehmen und den Laden schmeißen.«

»Das sollte tatsächlich jemand tun.« Duffy ging zu Rosa hinüber. »Komm, Rosetta.« Er nahm sie am Arm.

»Ich bin noch nicht ganz fertig.«

»Was gibt’s jetzt denn noch zu besprechen? Bis er sich wieder meldet, können wir ohnehin nichts unternehmen. Und es hat keinen Zweck, das Ganze endlos durchzukauen. Siehst du denn nicht, wie sehr du sie aufregst?«

»Leute mit einem empfindlichen Gemüt sollten lieber nicht Reporter werden.« Dann, als er Duffys veränderten Gesichtsausdruck sah, lenkte er ein: »Okay. Okay. Lass es gut sein.«

Duffy sah über die Schulter zurück, als sie das Büro verließen. Toby, der wieder hinter dem Schreibtisch Platz genommen hatte, sah aus wie ein unbekannter, wenig erfolgreicher Schauspieler, dem soeben die Hauptrolle in einem Spielberg-Film angeboten wurde. Er würde nicht so schnell lockerlassen. Duffy wiederum hoffte, dass der Mann nicht wieder anrufen würde.

 

»Mom?«

»Hm?«

»Wenn du Guy oder mich weggeben müsstest, für wen würdest du dich dann entscheiden?«

Rosa wünschte sich, dass Leo sich etwas mehr oder überhaupt am morgendlichen Ritual beteiligen würde. Sie musste sich ohnehin schon darum kümmern, dass das Frühstück zubereitet und serviert würde, die Kinder die richtigen Schulbücher mitnahmen und ihre Kleidung einigermaßen in Ordnung war, und jetzt sollte sie zusätzlich noch unsinnige Fragen beantworten. An diesem Morgen war irgendetwas anders als sonst. Obwohl alles so normal zu sein schien. Die Kinder konnten sich nicht entscheiden, ob sie kichern oder quengeln sollten. Die Times war aufgeschlagen und kam somit ihrer üblichen Abschirmungsfunktion nach. Das Durcheinander auf dem Tisch unterschied sich nicht von anderen Tagen. Madgewick räkelte sich majestätisch in seinem Körbchen neben der Anrichte. Man kam sogar in den Genuss einer blassen Novembersonne, die dem Geschirr auf der Anrichte einen kühlen Glanz verlieh. Aber all dies hatte nicht die übliche Wirkung auf Rosa. Statt ihr, wie üblich, als Sprungbrett für ihren Tag zu dienen, begannen Leos Gleichgültigkeit und das Gezänke der Kinder sie zu reizen.

»Wie kommst du darauf?«

Kathy erwiderte: »Wir alle fragen unsere Eltern danach. Ich hätte dich schon gestern fragen sollen, aber ich hab’s vergessen.«

»Ich würde mich nicht entscheiden können. Ich hab’ euch beide gleich gern.«

»Das sagen alle Eltern. Außer Francescas.«

»Und was haben ihre Eltern gesagt?«

»Sie haben gesagt, sie würden sich für Francesca entscheiden, denn sie hätten sie viel lieber als ihren großen Bruder oder das neue Baby oder alle anderen Kinder auf der Welt.«

Rosa lächelte. »Haben sie das wirklich gesagt?«

»Aber keiner hat ihr geglaubt. Sie erzählt immer solche Lügen.« Kathy sah Guy herausfordernd an, doch der füllte auf dem Cornflakespaket einen Bestellschein aus und hörte nicht zu. Rosa fragte sich, welche Werbesendung demnächst im Briefkasten sein und auf dem Berg landen würde, den die vier Wände seines Zimmers gerade noch fassen konnten. Zum ersten Mal fühlte sie sich nicht veranlasst nachzufragen.

»Vergiss nicht, einen Apfel mitzunehmen.«

Die Kinder rutschten von ihren Stühlen. Der von Kathy schabte über die gelbbraunen Fliesen. Die Times wurde auf halbmast, dann zögernd auf Tischhöhe gesenkt. Leo nahm die Zeitung nie mit zur Arbeit. Während des Tages hatte er keine Zeit zum Lesen, und Rosa hatte den Verdacht, dass er oft ohne Mittagessen bis zum Abend durcharbeitete. Wenn er dann nach Hause kam, war er zu müde, um etwas anderes zu tun, als sich zu entspannen, zu essen und sich auf halbherzige Weise mit den Kindern zu unterhalten. Sie verhielt sich also ziemlich selbstsüchtig, wenn sie ihm die relativ ruhige Zeitungslektüre am Frühstückstisch missgönnte. Aber sie wollte, dass er spürte, wie anders dieser Morgen war. Er sollte wissen, dass nicht alles in Ordnung war.

Jetzt beugte er sich über sie und küsste sie zwischen Augenbrauen und Ohr. »Fährst du heute zum Sender? Oder ist Michael Kelly an der Reihe?«

»Ich bitte dich, Leo.« Rosas Karussell lief jetzt bereits seit zwei Jahren, und er hatte immer noch keine Ahnung, wie ihre Woche eingeteilt war. »Mittwochs bin ich nie beim Sender.«

»Schon gut. Tut mir leid.« Er hockte sich, sodass ihre Gesichter auf gleicher Höhe waren. »Was ist los mit dir?«

Offensichtlich hatte er ihre Unterhaltung von gestern Abend vollkommen vergessen. Sie hatte gewartet, bis die Kinder im Bett waren und den Anruf erst erwähnt, als er auf der Couch schon fast eingeschlafen war. Den ganzen Abend hatte sie daran gedacht, und das schien ihre Angst so gesteigert zu haben, dass sie völlig angespannt war, als sie das Thema aufbrachte. Leos Antwort hatte sie schockiert, obwohl ihr gesunder Menschenverstand ihr sagte, dass sie hätte beruhigt sein sollen. Er hatte fast beiläufig reagiert.

»Du hättest halt nicht berühmt werden sollen, Liebling.« Ein kurzer, zärtlicher Kuss. »Mach dir keine Sorgen. Wahrscheinlich meldet er sich jeden Tag bei einer anderen Berühmtheit. Weißt du – montags ist halt Gilmour dran.«

»Es war nicht am Montag!«

Leo schwang die Füße vom Sessel, stand auf und zog sie an sich. Er strich ihr Haar zurück und fuhr mit dem Finger die angespannten Falten auf ihrer Stirn und ihren Schläfen nach. »Du bist vollkommen aufgelöst. Ich mach’ dir einen Drink. Vorm Schlafengehen sollte man nicht weinen.«

Sie hatten aneinandergeschmiegt in ihrem großen, weichen Bett gesessen, Kakao getrunken, sich dann langsam und zärtlich geliebt, und die Welt hatte sich verflüchtigt, wie es in Leos Armen immer geschah. Danach war sie in einen traumlosen, zufriedenen Schlaf gesunken, nur um mitten in der Nacht aufzuwachen und auszurufen: »Leo, wir sind in Sicherheit, oder? Was immer auch geschieht, wir sind in Sicherheit?«

Er hatte nicht die Augen geöffnet, sondern seinen Arm um ihre Schultern geschlungen, und den Rest der Nacht hatte sie mit dem Kopf auf seiner Brust, unangenehm träumend, vor sich hin gedöst.

Jetzt erwiderte sie in Antwort auf seine Frage: »Nichts, Liebling. Ich bin nur ein bisschen müde.«

Als er zusammen mit den Kindern, die die Treppe hinuntergepoltert kamen, das Haus verlassen hatte, nahm Rosa den Kaffee mit in ihr Arbeitszimmer. Sie wollte sich dort in Sicherheit bringen, bevor Mrs. Jollit eintraf. Zwischen ihnen galt es als abgemacht, dass sie dann arbeitete und nicht gestört werden wollte. Sie setzte sich an den Schreibtisch und sah ihre Notizen vom Vortag durch. Sie hatte bereits drei Seiten gelesen, als ihr auffiel, dass sie nichts davon behalten hatte. Deshalb schob sie die Arbeit beiseite.

Im ganzen Raum verteilt stapelten sich auf verschiedenen Stühlen Textilmuster, Farbtabellen, Tapeten- und Teppichbücher. Sie ging zum nächstgelegenen Stapel und sah sich die Vorhangskollektion von Warner an. Eigentlich hatte sie das nicht vorgehabt. Sie wollte schreiben; sich in die vernünftige, aufgeklärte Welt des achtzehnten Jahrhunderts hineinversetzen, doch sie konnte sich nicht konzentrieren. Die disziplinierte Energie, auf die sie sich sonst so mühelos und unhinterfragt verließ, wollte sich heute nicht einstellen.

Sie stand am Fenster und blätterte durch die Baumwoll- und Chintzmuster. Sie hielt sie gegen das Licht, um zu sehen, wie die Farben bei Tageslicht wirkten. Am besten gefiel ihr ein Stoff mit großen Blumentupfern. Kräftige, leuchtende und aggressive Farben. Sie hatte genug von den zarten Farben und den kleinen, süßen Müsterchen. Sie nahm ein paar Farbproben in die Hand. Das zarte, hochglänzende Mimosengelb gefiel ihr besonders gut. Sie wollte einen Sofabezug aus einfarbigem Segeltuch und Massen von Kissen in leuchtenden Farben. Mit bestickten Hüllen oder Gobelinbezügen, oder sollte sie sich für diese hübschen Applikationen aus wattierten Satinwolken und kleinen, lustigen Schäfchen entscheiden? Ja. »Raff dich auf, Gilmour«, sagte sie sich und begann nach dem Bandmaß zu suchen.

Unten hörte sie das Schlagen der Haustür. Mrs. Jollit. Rosa stand auf einem Stuhl, um den Faltenwurf des Vorhangs auszumessen. Auf einem Stück Papier notierte sie sich die Maße. Aus der Küche drangen klappernde Geräusche, ein Knall und dann eine schrille Sopranstimme, die der Welt verkündete, dass die Sängerin es auf ihre Weise machte.

Rosa wandte sich wieder den Wandfarben zu. Weiß würde zu kalt wirken, andererseits müsste die Farbe wegen der gelblackierten Tür, der Holzarbeiten und des Vorhangs, den sie ausgewählt hatte, ziemlich dezent sein. Grautöne kamen aus demselben Grund nicht in Frage. Vielleicht ein helles Braun … oder Eierschale. Ocker wäre zu dunkel, blassgelb zu gewöhnlich, und die Wandflächen waren ein wenig zu groß, als dass Beige gewirkt hätte. Schließlich entschied sie sich für Eierschale mit einem Stich Gelb. Ihre bedrückte Stimmung ließ fast unmerklich nach. Jetzt zum Teppich.

Das Dunkelbraun des jetzigen Teppichbodens war viel zu bedrückend. Zunächst hatte sie Grün ins Auge gefasst, entschied dann aber, dass es zusammen mit den Blumen und den Wänden den Eindruck erwecken könnte, als arbeite man in einem öffentlichen Park. Es gab da ein helles Schokoladenbraun mit cremefarbenen Tupfen. Aus einem tweedähnlichen Material. Sie kniete sich und maß den Boden aus. Obwohl sie alles bestellen müsste, und es zweifellos Wochen dauern würde, bis das Material einträfe, hatte sie zumindest einen Anfang gemacht.

Die Vorhänge hätte sie telefonisch bestellen können, doch sie beschloss, zur Designer’s Guild zu fahren und gleichzeitig die Muster zurückzugeben. Auf dem Rückweg könnte sie dann Farbe kaufen. In ihrem großen Adressbuch müsste die Telefonnummer eines freischaffenden Designers und dessen Tochter stehen, die im vergangenen Sommer das Obergeschoss des Nachbarhauses perfekt gestrichen hatten. Wahrscheinlich waren sie für die nächsten Monate bereits ausgebucht, aber es war einen Versuch wert.

Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, holte das Buch aus der Schublade, schlug es bei M, dann bei D auf und suchte schließlich unter F – freischaffend – nach. Sie hatte kein Glück. Wahrscheinlich hatte sie ihn dummerweise unter seinem Namen eingetragen, den sie natürlich prompt vergessen hatte. Sie seufzte. Es war ein dickes Buch, in dem sie jede Adresse und Telefonnummer verzeichnet hatte, die ihr je von Nutzen sein könnte. Freunde (diese Eintragungen gingen Jahre zurück), Verwandtschaft, Geschäftsadressen. Sie fing auf der ersten Seite an und war gerade bis Arundell (Fran) gekommen, als das Telefon klingelte. Mist. Nun kam sie Mrs. Jollit nicht mehr aus dem Weg. Sie lief nach unten.

»Hallo, Rosa.« Sie schwieg, konnte nicht antworten. »Es war gestern nicht besonders nett von dir, das Gespräch zu unterbrechen.«

»Das stimmt nicht – das war nicht ich.«

Es freute sie, dass ihre Stimme so ruhig klang. Nichts darin ließ auf den Aufruhr schließen, der in ihrem Magen herrschte. Oder darauf, als wie viel bedrohlicher sie es empfand, mit ihm zu reden, wenn sie allein war.

Was hatte sie gestern beschlossen? Dass sie versuchen würde, ihm zu helfen? War das nicht ihre Aufgabe? Aber was konnte sie schon tun? Psychisch gestörte Menschen brauchten professionelle Hilfe. Und Duffy hatte gemeint, dieser Mann hätte zum Arzt gehen müssen, wenn ihm tatsächlich an Hilfe gelegen wäre. Aber vielleicht hatte sein Arzt ja kein Verständnis für seine Probleme, und es fiel ihm leichter, mit einer Fremden darüber zu reden. Währenddessen hatte der Wortschwall am anderen Ende der Leitung nicht aufgehört. Sie konnte nicht einmal die einzelnen Silben unterscheiden.

Der weiße Hörer drohte ihr aus der Hand zu rutschen. Gelegentlich drang eine Phrase durch den Nebel an ihr Ohr: »Dienst an der Menschheit … eine absolute Null … Dinge in Ordnung bringen …«

Und dann das erste Anzeichen dafür, dass wieder Leben in sie kam: ein Prickeln in den Fingerspitzen. Sie knallte den Hörer auf die Gabel und ging in ihr Arbeitszimmer zurück, ohne auf den Ruf aus dem Erdgeschoss zu achten, der wohl so viel wie »Guten Morgen« heißen sollte.

Sie ging im Zimmer umher und griff hastig nach den Textilmustern und ihrer Handtasche. Sie musste an die frische Luft. Musste in Geschäfte gehen, mit ruhigen, vernünftigen Menschen ruhig über vernünftige Dinge reden. Wie viele Orangen machen ein Pfund, und ist das englische Lammfleisch schon ausverkauft? Guy brauchte unbedingt ein Paar graue Socken. Beim Griechen müsste es eigentlich frischen Koriander geben. Dann, auf ihrem Weg durch die Diele, hielt sie inne.

Er hatte sie zu Hause angerufen. Aber sie stand nicht im Telefonbuch. Wie leicht konnte man eine solche Nummer in Erfahrung bringen? Sie wusste, dass es Journalisten gelegentlich gelang, aber es war ihr nie in den Sinn gekommen, sie zu fragen, wie sie vorgegangen waren. Sie ging ins Wohnzimmer und nahm den Hörer von der Gabel, dies jedoch mit solchem Widerwillen, als wäre er noch immer in der Leitung und wartete auf ihre Stimme. Dann dachte sie, wie anfällig sie doch war. Sie hatte Angst, ihr eigenes Telefon zu benutzen. Sie wählte die Nummer der Auskunft, gab ihren Namen und ihre Adresse an und fragte nach der Telefonnummer. Nach einem kurzen Zögern sagte das Mädchen: »Tut mir leid, aber diese Nummer darf ich Ihnen nicht geben.«

»Aber es ist wirklich dringend.«

»Ich fürchte, wir können Ihnen da nicht weiterhelfen.«

»Ich muss einfach mit Mrs. Gilmour sprechen. Es ist ungeheuer wichtig. Absolut unerlässlich.«

»Wir dürfen diese Nummer unter keinen Umständen herausgeben. Es tut mir leid.«

»Nicht einmal an die Polizei?«

»Sind Sie von der Polizei?«

Rosa zögerte: »… Ja …«

»Wenn Sie mir Namen und Adresse geben, wird mein Vorgesetzter Sie zurückrufen.«

Rosa legte auf. Es war also nicht ganz so einfach. Sie fragte sich, ob der Mann ein Angestellter des Fernsprechamts sein könnte. Dieser Gedanke beruhigte sie ein wenig. Wenn sie ihn bei seinem nächsten Anruf dazu bringen könnte, seinen Namen zu nennen, würde man ihn auf jeden Fall ausfindig machen können.

Aber gleich darauf schoss ihr ein anderer Gedanke durch den Kopf. Wenn er ihre Telefonnummer wusste, kannte er sicherlich auch ihre Anschrift. Mit einem Frösteln wurde ihr bewusst, wie viel gefährlicher dieses Wissen war. Sie durchquerte den Raum und sah aus dem Fenster, trat aber hinter die Vorhänge, als sie merkte, wie exponiert sie dastand.

Doch es schien niemand auf der Straße zu sein. Langsam näherte sie sich wieder der Scheibe. Da war das übliche Gedränge der Wagen, die Stoßstange an Stoßstange geparkt waren, darunter ihr eigener Golf, der direkt unter dem Fenster stand. Die Bäume, deren volles Blätterdach vor einigen Monaten noch ein Gefühl der Geborgenheit vermittelt hatten, schienen sich jetzt mit ihren kahlen, windgepeitschten Ästen in den Himmel zu krallen. Sie sah, wie Jonathan Miller, ein großer, hagerer Mann, eingehüllt in Mantel und Schal aus seinem Haus trat. Als Nächstes kam ein Mann vorbei, der einen städtischen Müllkarren hinter sich herzog. Sie hatte fast erwartet, dass er hochblicken würde, und meinte, eine erste Hürde genommen zu haben, als er weiterging, im Rinnstein nach Abfall stocherte und um die Ecke verschwand.

Wieder klingelte das Telefon. Zwischen dem ersten Schellen und dem Augenblick, in dem sie eine halbe Minute später den Hörer abnahm, ging in Rosa eine Veränderung vor. Sie wurde wütend. Sie entwickelte einen Hass gegen diesen Unbekannten, der das ruhige Gleichmaß ihres Lebens zerstörte; der jedes konzentrierte Arbeiten unmöglich machte, und ihr, wie es schien, selbst das Vergnügen an ihrer Familie nahm. Sie ließ ihm nicht die Möglichkeit, auch nur ein Wort zu sagen.

»Hören Sie. Wenn Sie noch mal hier anrufen, benachrichtige ich die Polizei. Sie gehören in eine psychiatrische Klinik. Ich habe keine Lust, mir Ihre krankhaften Fantasien anzuhören, und es interessiert mich nicht, was in Ihrem kaputten Hirn abläuft. Leute wie Sie sollten eingesperrt werden. Lassen Sie mich in Ruhe, haben Sie verstanden? Lassen Sie mich in Ruhe.«

»… Rosa?«

»Oh, mein Gott.« Zitternd ließ sie sich in den Sessel fallen. Ihr Ärger war verflogen. »Duffy.«

»Was zum Teufel ist mit dir los?«

»Er hat wieder angerufen. Hier.«

»Wann?«

»Erst vor ein paar Minuten.«

»Was hat er gesagt?«

»Ich weiß es nicht.«

»Was soll das heißen, du weißt es nicht?«

»Ich glaube, ich hab’ einfach abgeschaltet. Nur ein paar merkwürdige Phrasen … die hab’ ich mitbekommen …«

Es trat eine Pause ein, dann sagte Duffy: »Was hast du jetzt vor?«

»… hm …, ich wollte mich in der Sloane Street nach einem

Vorhang umsehen.«

»Ich wollte gerade zur Kasse gehen, um meine Spesen abzurechnen. Ich kann mir nichts Besseres vorstellen, als sie

dafür zu verwenden, dich zum Essen auszuführen.«

Als sie wie gewöhnlich Einwände zu erheben begann, sagte

Duffy: »Ich bitte dich nicht darum, Liebling, sondern es ist

beschlossene Sache. Kennst du den Gay Hussar?«

»Ja.«

»Sei kurz vor eins da.«

»Hör zu, Duffy –«

»Es hat keinen Zweck, mit mir zu streiten.«

»Ich wollte gar nicht mit dir streiten. Ich wollte mich nur

bei dir bedanken.«

»Und du tust gut daran. Bis dann. Oh, noch etwas, Rosa –«

»Ja?«

»Geh vorher noch zum Fernmeldeamt. Lass deine Nummer ändern.«

Das letzte Mal musste sie vor zehn Jahren im Gay Hussar gewesen sein, doch es schien sich nichts verändert zu haben. Duffy war bereits da, als sie eintraf. Sie nahm auf einem der gepolsterten Stühle Platz, blieb einen Moment mit geschlossenen Augen sitzen und lauschte auf das Klappern des Geschirrs, auf das Gewirr der Stimmen im Hintergrund und auf den Regen, der gegen die Scheiben klatschte. Duffy schwieg, bis sie die Augen öffnete, und dafür war sie ihm dankbar.

»Hallo.« Er schenkte ihr ein Glas Maygar ein. Er hatte eine goldgelbe, fast grünliche Farbe. Die mit dem kalten Wein gefüllten Gläser beschlugen sofort. »Ich habe Kirschsuppe bestellt.«

»Servieren sie immer noch Kirschsuppe?«

»Spezialität des Hauses.«

Das Restaurant machte einen gemütlichen, fast heimeligen Eindruck. Die Vorhänge schlossen das graue Herbstlicht aus, und etliche Kellner waren damit beschäftigt, dampfende Schüsseln auf schneeweiße Tischdecken zu stellen. Das Licht war gedämpft. Rosa sog genüsslich den Duft ihres Weins ein. Der erste Gang wurde serviert. Zunächst war sie ein wenig verwundert, dass Duffy an einem solchen Tag eine kalte Suppe bestellt hatte, doch die Kombination aus Kirschen und saurer Sahne schmeckte köstlich, und der leicht herbe Geschmack wurde durch den blumigen, honigähnlichen Wein abgemildert.

Duffy schien sich wohl zu fühlen. Sie war so daran gewöhnt, ihn in sportlicher Kleidung oder in Cordhose und Pullover zu sehen, dass ihr der dreiteilige Anzug mit den schmalen, grauen Nadelstreifen wie eine Art Offenbarung vorkam. Sein Hemd war aus weichem Baumwollmaterial und ebenfalls in einem blassen Ton gehalten. Sie konnte nicht entscheiden, ob es weiß oder grau war, und fragte ihn danach.

»Der Verkäufer bei Turnbull & Asser meinte, es wäre blau. Halt’s also, wie du willst, mein Schatz.« Ein Lächeln überzog sein Gesicht, dessen hagere, gebräunte Wangenknochen durch das gedämpfte Licht weicher wurden.

Rosa lächelte zurück. »Ich hasse Nylonhemden, du auch?«

»Mein Gott, ja. Sie scheinen zu Netzunterhemden, Krawatten und Taschentüchern zu passen.«

»Und zu Männern, die zu Sandalen Socken tragen.« Doch hätte sie sich vorher jemals überlegt, welche Hemden Duffy trug, wäre sie davon ausgegangen, dass sie aus Nylon waren. Für einen alleinstehenden Mann waren sie praktisch, man brauchte sie nur mit der Hand durchzuwaschen und im Badezimmer zum Trocknen aufzuhängen. Vielleicht wohnte er nicht allein. Vielleicht gab es ein oder sogar mehr als ein Paar Hände, das nur allzu bereitwillig seine Turnbull & Asser-Hemden wusch und bügelte. Ihr wurde bewusst, dass sie für ihn kein Mitleid mehr empfand. Ein gefährliches Zeichen.

»Ich nehme Gulasch. Und du?«

»Ein Omelette, bitte. Während des Tages esse ich nie sehr viel. Wir essen … na ja, später.« Plötzlich wurde sie schüchtern, als habe sie einen Fauxpas begangen, indem sie ihr Familienleben in die Unterhaltung einbezogen hatte.

Aber Duffy fragte nur: »Welches Omelette?«

»Ein Eieromelette.« Sie lachten beide herzlicher, als der schwache Witz verdient hatte.

Das Omelette, das dann serviert wurde, war üppig, locker und mit Mohn bestreut. Dazu aß sie einen Salat. Duffys Gulasch roch nach Paprika und zartem Fleisch und wurde mit Reis und Okra serviert. In freundlichem Einvernehmen begannen sie zu essen.

Nicht nur Duffys Kleidung war anders als sonst. Im Studio hatte sie immer das Gefühl gehabt, dass er sich in Pose warf. Den rauen, aber herzlichen Sportreporter spielte, der auf Rosa Gilmour ein Auge geworfen hatte. Es war ihr vorgekommen, als seien seine Annäherungsversuche und Einladungen zum Mittagessen lediglich ein Teil dieses Spiels gewesen. Jetzt hatte er diese Rolle abgelegt, und obgleich sie das grundsätzlich als angenehm empfand, war sie verwirrt. Sie stellte fest, dass sie begierig war, ihm Fragen zu stellen. Seinen Hintergrund auszuleuchten, von dem sie so wenig wusste, und herauszufinden, auf welchem Wege er zu City Radio gekommen war. Und wie seine Zukunftspläne aussahen.

Sie versuchte sich sein Zuhause vorzustellen. Wahrscheinlich lebte er in einer Appartementwohnung. Sie fragte sich, welche Bücher und Gemälde er wohl hatte – wenn überhaupt. Dann fiel ihr auf, wie herablassend dieser Zusatz war. Warum sollte ein Sportreporter keine Gemälde besitzen? Duffy war ein ausgezeichneter Journalist. Wahrscheinlich hatte er eine Bibliothek, die die ihre in den Schatten stellte. Vielleicht würde er sie nach dem Mittagessen bitten, mit in seine Wohnung zu kommen. Natürlich würde sie ablehnen. Sie hoffte, er würde ihr kein solches Angebot machen. Es war so angenehm, in ihm einen Freund und Verbündeten zu haben. Mit allem anderen wollte sie einfach nichts zu tun haben.

»Keine Angst.«

»Wie bitte?« Sie wurde rot.

»Du weißt, was ich meine.«

»Nein, wirklich nicht.«

»Komm schon, Liebling. Ich kann dich lesen wie ein offenes Buch. Schau her –« Er hob seine Hände auf Schulterhöhe und wandte ihr die Innenflächen zu. »Ich habe nichts zu verbergen.«

Sie lächelte. »Tut mir leid.«

»Ich liebe dein Lächeln, Rosetta. Ich kann’s nicht ertragen, wenn du mich mit diesem eiskalten Blick ansiehst.« Er unterbrach sich. »Haha.«

»Das tut weh.«

Er wechselte schnell und geschickt das Thema: »Du fragst dich sicher, wieso ich angerufen habe. Ich wollte mir von dir ein Band für meinen Kassettenrecorder stibitzen. Morgen früh bin ich mit dem Ü-Wagen auf der Oxford Street.«

»Gern. Solange du es zurückstellst.«

Duffy spielte die empörte Unschuld. »Ich hab’ sie bislang immer zurückgestellt.«

»Duffy – du stellst sie nie zurück. Um welches Thema geht es denn?«

»Ladendiebstahl. Ich frag’ die Leute, ob sie jemals in Versuchung gekommen sind. Ob es sie ärgert, dass sie mehr bezahlen müssen, um die Verluste auszugleichen. Das Übliche. Du solltest es mal versuchen.«

»Keine Angst. Ich versteck’ mich lieber im Studio. Will mit der verrückten Menge da draußen nichts zu tun haben.«

Das war das Stichwort. Der perfekte Anlass, sich über den eigentlichen Grund ihres Zusammentreffens zu unterhalten. Rosa hätte ihn über ihre interessanten Überlegungen zu Duffys Persönlichkeit für einen Moment vergessen.

Er fragte: »Hast du deine Nummer ändern lassen?«

»Es ist in Bearbeitung. Bis dahin blockieren sie die Leitung. Es dürfte nicht mehr als ein oder zwei Tage dauern.«

»Großartig. Er wird sich nicht mehr während der Sendung melden – so viel ist sicher. Natürlich könnte er’s wieder auf dem Postweg versuchen. Wir hätten den Umschlag von dieser grässlichen Karte behalten sollen. Dann würdest du seine Handschrift wiedererkennen und könntest die nächsten Briefe unbesehen in den Papierkorb werfen.«

»Aber wenn er jetzt an meine Privatnummer gekommen ist, wird er die neue wahrscheinlich auch herausfinden können.«

»Daran habe ich auch schon gedacht. Wer hat eigentlich deine Privatnummer?«

»Oh – ein paar gute Freunde. Die jeweilige Schule der Kinder, das St.-Thomas-Krankenhaus, Leos Eltern, meine Mutter. Das Studio, Sonia –«

»Ich will dich ja nicht entmutigen, aber das sind ziemlich viele Leute.«

»Aber die kommen ohnehin nicht in Frage. Könntest du dir vorstellen, dass meine Mutter, die Gilmours oder selbst das Krankenhaus unsere Nummer an einen Fremden weitergeben?«

Vielleicht ist es gar kein Unbekannter, dachte Duffy, würde das aber um nichts in der Welt laut sagen wollen. »Bist du dir sicher, dass du dich an nichts von dem erinnern kannst, was er gesagt hat? Ich weiß, dass du nicht gern darüber redest, aber vielleicht fällt dir etwas ein, was uns weiterhelfen könnte.«

Sie wollte tatsächlich nicht darüber reden. Innerhalb von Sekunden kam es ihr vor, als würde sich das anzügliche Wispern durch das Restaurant schlängeln, die weißen Tischdecken beschmutzen und sich in das Lächeln der hinausgehenden Gäste schleichen.

»Er hat irgendetwas über den Mord an einem Landstreicher gesagt. Und dass viele Leute um ihn trauern würden.«

»Bist du dir sicher? Ich meine, das klingt nicht gerade stimmig.«

»Nein, ich bin mir nicht sicher!« Ihre Stimme wurde schrill und laut, klang verzweifelt. Die Leute am Nebentisch unterbrachen ihr Gespräch und starrten sie an. »Ich hab’ versucht, nicht hinzuhören, ihm nicht meine ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken.«

»Ganz ruhig, Liebling.« Er streckte ihr seine Hand entgegen, und ohne nachzudenken, hielt Rosa sie fest.

»Ich habe Angst, Duffy.«

Er versuchte nicht, sie mit den banalen Sätzen zu beruhigen, die sie hören wollte: »Mach dir keine Sorgen« oder »Wahrscheinlich ist er vollkommen harmlos« oder »Es wird schon alles in Ordnung kommen. Ich pass’ auf dich auf.« Er bedeckte einfach mit seiner freien Hand ihre ineinander verschränkten Hände.

»Ich weiß nicht, warum du dich so um mich kümmerst.« Sie wies auf den Tisch, meinte aber viel mehr als nur das Essen. Sie spürte einen Druck auf ihrer Hand, der so leicht war, dass sie sich hinterher fragte, ob sie sich ihn nur eingebildet hatte.

Dann sagte er: »Das weißt du genau, Rosa.«

Als sie sich gegen einen Kaffee entschieden hatte, winkte er dem Kellner, um zu bezahlen.

Als sie vor die Tür traten, schwand innerhalb von Sekunden das Gefühl der Geborgenheit und der Sicherheit. Der beißende Wind nahm ihnen den Atem. Als sie lächeln wollte, schienen ihre Mundwinkel eingefroren zu sein. Selbst ihre Augen schmerzten. Sie trug ihren Mantel und eine dazu passende Mütze.

Duffy barg sein Gesicht im Pelzkragen neben ihrem Ohr. Ihr Herz machte einen Sprung, als sie ihn näher kommen sah und sein Gesicht unscharf wurde. Er schrie gegen den Wind an. »Du siehst aus wie die Schneekönigin.«

»Wie wer?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich wink’ dir ein Taxi.« Mit erhobenem Arm trat er auf die Straße.

Als sie sich ins Taxi setzte, fragte sie ihn: »Kommst du nicht mit? Ich kann dich irgendwo rauslassen.« Sie wollte sich nicht von ihm trennen und erkannte entsetzt, dass ihre Angst vorm Alleinsein nicht der einzige Grund dafür war.

Im Restaurant hatte sie sich wohl, fast sicher gefühlt, im stürmischen Wetter neben ihm schon weniger sicher; jetzt, als das Taxi davonfuhr, fühlte sie sich nicht nur unsicher, sondern auf merkwürdige Weise verlassen. Er hatte nicht versucht, sie zum Abschied zu küssen, hatte ihr nicht einmal einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange gegeben. Als sie durch die Heckscheibe zurückblickte, sah sie ihn durch den strömenden Regen davongehen.