Leseprobe Hollywood Kisses

1

„New York!“, soll der namhafte US-Filmproduzent Trevor Darnell die Metropole an der Ostküste der Vereinigten Staaten vorgeschlagen haben. Daraufhin habe ihm der bekannte deutsche Schriftsteller Frederik Hörner in aller Gelassenheit widersprochen:

„Nein, keinesfalls New York. Berlin.“

„Und LA? Wie wäre es mit LA?“

„LA passt überhaupt nicht. Es würde schon mit dem Klima nicht hinhauen.“

„Dann eben Paris. Die Stadt ist wundervoll im Winter“, versuchte Darnell es wohl erneut.

„Auch Paris eignet sich nicht. Ich bestehe auf Berlin.“

„Könnten wir uns denn wirklich nicht auf einen anderen Ort einigen?“, soll Darnell gesagt haben – jetzt zunehmend verärgert, aber immerhin noch bereit, einen Kompromiss vorzuschlagen. Er traf bei Hörner jedoch nicht auf Bereitschaft einzulenken.

„Es gibt genau eine Stadt, die infrage kommt: Berlin“, beharrte Hörner.

„Wie denken Sie über London?“

„Mit Sicherheit eine tolle Stadt, aber sie steht nicht zur Debatte. Sie dürften mittlerweile wissen, dass ich in Bezug auf den Drehort nicht mit mir reden lasse.“

„Vergessen Sie doch für einen Augenblick Berlin. New York zum Beispiel ist wie gemacht für Ihre Geschichte. Oder London …“

Für Hörner soll es keine Alternative zur Stadt an der Spree gegeben haben. Er hatte wohl genug gehört. Eloquent habe er sich zu Wort gemeldet. „Hören Sie, ich habe gutdotierte Angebote von etlichen namhaften Produzenten …“

Eine vielsagende Pause sei entstanden, wie man sich bei uns erzählte. Erst dann soll sich Darnell kleinlaut Hörners Sturheit gebeugt haben. „Okay. Sie kriegen Ihr Berlin.“

„Und die Studioaufnahmen drehen wir in Babelsberg“, bestimmte Hörner zusätzlich.

„Okay. Babelsberg.“

 

Es war zwar nicht offiziell, wer das Gerücht über den Wortlaut des Telefonats zwischen Darnell und Hörner in die Welt gesetzt hatte, jedoch ein offenes Geheimnis, dass es aus bestens unterrichteten Quellen herrührte. Als es die Runde machte und bald jeder über die neue große Produktion bei uns im Filmstudio im Bilde war, begann das große Rätselraten. Nicht darüber, wer der Urheber war, nein, dafür war die redselige Chefsekretärin Christel Wagg jedem zu gut bekannt, sondern ob es sich, wie jeder vermutete, um die Verfilmung von Hörners Liebesroman Zwischen den Jahren handelte. Das Buch war von Kritikern hochgelobt worden und hielt sich seit gut einem Jahr ganz oben auf den Bestsellerlisten. Jeder von uns gierte insgeheim danach, an so einer Produktion mitzuwirken.

So weit die Vorgeschichte, die allein schon bemerkenswert war. In helle Aufregung versetzte uns aber dann die Tatsache, dass die weibliche Hauptrolle mit Estelle Warren besetzt wurde. Estelle Warren! Alle Welt kannte das neue deutsche Wunderkind, den Shootingstar in Hollywood. Die junge Frau mit dem dunkelblonden Lockenkopf, die nicht nur in Übersee von Presse, Kritikern und Fans gleichermaßen geliebt wurde. Zu meiner Schande muss ich allerdings gestehen, zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung gehabt zu haben, wie sie aussah, geschweige denn, was sie schon gedreht hatte. Ich schaute mir nämlich diese Promisendungen im Fernsehen nie an und wenn ich mal bei der Zeitungslektüre über ihren Namen gestolpert war, habe ich mir nichts weiter dabei gedacht. Es war einfach nur einer unter Dutzenden von Filmsternen und -sternchen, die anfangs hochgejubelt und dann schnell wieder fallengelassen wurden.

„Mein Gott“, hörte ich meine beste Freundin und Kollegin Lotta in Bezug auf diese fundamentale Wissenslücke sagen, „wer dich nicht kennt, kommt niemals darauf, dass du im Filmgeschäft bist.“

Die größte Gabe, die Gott Lotta mitgegeben hatte, war, mich Ewigkeiten mit allem zu necken, was ich nicht wusste oder konnte. Je länger ich darüber sinniere, desto mehr konnte ich mich in pathologische Perfektionisten hineinversetzen. Sie alle mussten Kollegen oder Kumpel wie Lotta haben.

Aber egal, Hörners preisgekröntes Werk Zwischen den Jahren sollte, wie sich bald herausstellte, nach den jüngsten Blockbustern wie Inglourious Basterds, Cloud Atlas, The Book Thief oder Monuments Men tatsächlich bei uns im ältesten Großatelier-Filmstudio der Welt in Szene gesetzt werden. Apropos „in Szene“ — schon kam auch ich ins Spiel.

Ich heiße Finn Berger, zählte zu dieser Zeit vierunddreißig Lenze und war seit fünf Jahren Szenenbildassistent in Babelsberg. Und ich kann nur sagen, der Rummel um unsere Projekte war noch nie so groß gewesen, wie bei diesem. Während die Boulevardzeitungen der Republik sich in ihrer Euphorie gegenseitig überschlugen und eine Sensationsmeldung über Estelle Warren nach der anderen lancierten, startete das Team des Filmstudios in den Vorlauf für den Film. In gerade einmal vier Monaten sollte alles bereit sein.

Das bedeutete für das Team des Art Departments, das Herz der Filmwelt Babelsberg, perfekte Vorarbeit für Stab und Cast zu leisten. Bei uns bündelte sich Kreativität und handwerkliches Knowhow für den Bau von Dekorationen, Außen- und Innenkulissen. Hier wurden Visionen Wirklichkeit und seit rund einhundert Jahren Kino- und Fernsehwelten erschaffen, um die Träume unserer Zuschauer wahr werden zu lassen.

Neben Lotta, die als Kostümbildner-Assistentin tätig war und sich übrigens nicht nur wegen Estelle Warren regelmäßig über mich lustig machte, waren im Team unter anderem der glatzköpfige Requisiteur Mark, die Grafikerin, Illustratorin und technische Zeichnerin Ellen, mehrere Set Dresser und Set Decorater, einige Locationscouts, wie der ungesund gebräunte Alex, und etliche Männer für die Baubühnen am Set.

Lotta war meine Lebensversicherung. Was ich vergaß, forderte sie nicht nur ein, sie hielt es mir auch bei jeder Gelegenheit aufs Neue vor. Außerdem hatte sie ein Talent dafür, ständig den falschen Ton zu treffen und damit keine Peinlichkeit auszulassen. Seit rund vier Jahren hielt sie mir mit ihrer nicht immer liebenswürdigen Art den Rücken frei und je länger wir miteinander arbeiteten, desto dankbarer war ich, dass ich sie hatte. So oft sie mir auch Kontra gab, wenn ich sie brauchte, war sie da. Sie stammte wie ich aus Bayern, wir hatten uns schon während des Studiums kennengelernt. Sie hatte einen Pflanzentick, wusste alles über Düfte und Wirkung verschiedenster Arten. In meinem Büro wucherte ihre Pfefferminze; Lotta schenkte mir nach jedem abgeschlossenen Projekt eine neue Pflanze. Sie behauptete, es sei wissenschaftlich erwiesen, dass Pfefferminzduft hilft, sich Dinge länger merken zu können. Vielleicht glaubte Lotta ja, meinem Gedächtnis so auf die Sprünge helfen zu müssen. Bei ihr herrschte jedes Jahr im Februar während der Berlinale der Ausnahmezustand. Kein Star, der sich in den Clubs, Restaurants, Hotels und auf dem roten Teppich einfand, war vor ihrer Spiegelreflexkamera sicher. Ihr Traum war, mit dem Verkauf eines Skandalschnappschusses an die Regenbogenpresse finanziell ausgesorgt zu haben.

Mark seinerseits war über sehr viele Umwege nach Babelsberg gekommen. Er hatte bereits in LA und Indien gearbeitet, doch erst hier bei uns fühlte er sich wirklich wertgeschätzt. Das erzählte er beinahe jedes Mal, wenn wir uns sahen, und fiel mir in die Arme. Die Blicke, die er mir dann zuwarf, bereiteten mir manchmal Sorge. Sein einziges Hobby war das Sammeln von Quittungen, so wie andere Menschen Fotos in Alben klebten. Er hatte bestimmt zwanzig Ordner voll davon. Von der Restaurantrechnung über den Einkaufsbon aus dem Supermarkt bis hin zum Beleg für die Nutzung der Toilette am Autobahnrastplatz heftete er ab, was er in die Hände bekam.

Ellen wiederum war ein kreatives Allroundtalent. Man musste ihr nur fünf grobe Begriffe nennen und sie skizzierte genau das, was einem gerade an Geistesblitzen den Verstand erhellte. Mit Ende fünfzig stellte sie mit ihrem Elan so manchen unter uns lockerleicht in den Schatten; sie war überall beliebt, wahnsinnig intelligent und geradezu universell belesen. Dennoch hatte sie ein großes Problem: Alex.

Ja, unser Scout Alex. Er war Ellens Mann, auch wenn man ihn unter gewissen Gesichtspunkten für ihren Großvater halten konnte, schließlich hatte er mit Mitte vierzig bereits Falten wie ein Achtzigjähriger. Seine Freizeitpassion war es, seine ledrige Haut in der Sonne zu baden. An seinen Händen fanden sich Stellen, die genauso aussahen wie bei anderen Leuten Hühneraugen an Füßen. Seine Anstellung hatte er einzig und allein Ellen zu verdanken, denn er war ein Taugenichts. Zum Glück kam der Boss auf die Idee, ihn als Locationscout einzuteilen, so bekamen wir ihn eigentlich nie zu Gesicht.

Alle Kollegen waren jedenfalls aus dem Häuschen, weil sich Estelle Warren in Babelsberg die Ehre geben würde. Für mich hingegen stand, da es sehr bald kein anderes Gesprächsthema mehr gab, eines fest: Ich würde mich so lange nicht von der Hysterie um diese Schauspielerin anstecken lassen, bis sie das erste Mal am Set aufkreuzte. So lange wollte ich nichts mehr vom neuen Star am Filmhimmel hören. So umwerfend sie auch aussehen, so talentiert sie auch sein mochte, meine ganze Konzentration galt meinem Job. Doch meine lieben Freunde Lotta, Mark und Ellen sollten diesen Vorsatz schon bald gnadenlos kippen.

2

Weit über hundert Beats pro Minute trommelten sich, je höher der Lift stieg, in meinen Gehörgang. Der Bass soll unverwechselbar sein, erzählte man sich; die House Sessions waren in vollem Gange. Ich betrachtete Lotta, die wie in Trance mit dem Kopf nickte und die verbleibenden Sekunden zählte, bis der Fahrstuhl sein Ziel erreicht haben würde.

„Acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins.“

Dem Filmstudio war es gelungen, eines der begehrtesten Projekte unserer Zeit zu ergattern, das musste gefeiert werden. Da Lotta und Mark auf House standen, fiel unsere Wahl für die geeignete Location an diesem Samstagabend auf einen der angesagtesten Clubs der Stadt unweit der Neuen Nationalgalerie.

Im achten Stockwerk, nach vierzig Sekunden Fahrt im Lift, die dem Club an der Potsdamer Straße den Namen gaben, kam Lotta wieder zu sich. Sie grinste mich an, schnappte sich meine Hand und zerrte mich zur Hauptbar des 40 Seconds; Mark und Ellen folgten.

„Berlin hat bei fast dreieinhalb Millionen Einwohnern einen Frauenüberschuss von gut einhunderttausend, wir suchen dir heute eine. Ist doch kein Zustand, dass du schon so lange allein bist“, schrie sie mir unterwegs ins Ohr.

Kaum hatten wir Platz genommen, fragte schon einer der Barkeeper, was wir trinken wollten. Lotta schien den Mann zu kennen, sie küssten sich zur Begrüßung auf die Wangen.

„Ich hab noch eine Menge Vanillepflanzen von dir zu Hause stehen, Lotta. Holst du sie mal bei mir ab?“, rief der Barmann.

„Woher kennt ihr euch?“, wollte ich voller Neugier wissen.

„Eine lange Geschichte“, erwiderte sie ebenso knapp wie mysteriös.

„Eine der üblichen langen Geschichten, die mit Gardenienduft anfangen und mit Vanille aufhören?“, hakte ich nach, woraufhin sie mich angrinste.

Sie bestellte sich einen Zombie, ihr üblicher Einstiegscocktail. Ich entschied mich für einen Fourth Of July, Mark und Ellens Bestellung entging mir, während ich durch die Fenster den Nachthimmel über dem Osten Berlins erkundete.

Als ich mich dann meinem Cocktail widmen wollte, entdeckte ich Lottas leeres Glas. „Bist du zurzeit eigentlich auch solo?“, fragte ich sie, wohl wissend, dass sie in Zeiten der Beziehungslosigkeit beim Ausgehen gerne zu viel trank. Mark und Ellen zogen sich auf zwei soeben freigewordene Loungesessel zurück.

„Warum? Wie kommst du darauf?“

„Ich will nur sichergehen, dass mir nicht jemand Schläge androht, wenn ich dich gleich zum Tanzen auffordere.“

„Hier an der Bar?“, fragte sie verwundert. „Lass uns auf eine der Dachterrassen gehen.“ Sie verdrehte die Augen. „Du spielst auf Manu an, den Kickboxer, nicht wahr? Der Kerl hatte sich wirklich nicht im Griff.“

Ich schlürfte meinen Cocktail, dann winkten wir Mark und Ellen zu und schlängelten uns am Partyvolk vorbei zur nach Westen ausgerichteten Dachterrasse. Da die Schiebetüren zur Lounge geöffnet waren, kam uns ein angenehmer Luftzug entgegen, während mir Lottas Ex-Freund nicht aus dem Sinn gehen wollte. Der Kerl hob immer mit finsterem Blick seine geballte Faust, wenn man ihr zu nahe kam.

Der Sound schallte in die hochsommerliche Nacht hinaus, der Takt entlockte Lotta erste Zuckungen von Armen und Beinen. Ich versuchte, nicht allzu sehr aus der Rolle zu fallen, und machte mit. In der Bewegung erblickte ich nach und nach die Gedächtniskirche sowie die Siegessäule, die auf den am Himmel stehenden Halbmond zu weisen schienen, den Tiergarten und den neuen Hauptbahnhof.

Eine ganze Weile später, mir stand bereits der Schweiß auf der Stirn, wurde ein langsamer Track aufgelegt. Lotta und ich sahen uns unschlüssig an. Solange, bis uns nahezu gleichzeitig der Satz „Beste Freunde – Schmusen geht da gar nicht!“, entfuhr. Gleich darauf mussten wir lachen. Uns war unsere Freundschaft viel zu wertvoll, als dass wir das Wagnis eines Verhältnisses eingehen wollten. Seit der ersten Begegnung verstanden wir uns auf einer platonischen Ebene so gut, dass alles, was darüber hinausging, sich nicht richtig anfühlte.

Auf einmal deutete Lottas Zeigefinger in Richtung der Lounge, aus der zwei kurvige, top gestylte Frauen, gehüllt in knappe Designerklamotten, auf die Terrasse traten.

„Die Schwarzhaarige ist Nele Kolokowski und die Blonde Maja Savic, die Berliner Promiluder schlechthin“, klärte mich Lotta auf. „Die versuchen ihr Glück bei jedem, der im Rampenlicht steht oder bei dem sie ein prall gefülltes Konto vermuten.“

Ich folgte Lottas Finger und sah die beiden auf uns zu flanieren. Dabei schwangen sie ihre Hüften auf ihren High Heels wie auf dem Laufsteg, um ja jeden männlichen Blick auf sich zu ziehen. Kurz vor uns blieben sie stehen, tuschelten geschäftig und machten den Eindruck, sich über etwas uneins zu sein. Man konnte den Wortlaut ihres Streits bis zu uns hören.

„Ich hab ihn zuerst gesehen“, keifte die Blonde.

„Nein, ich!“

„Du lügst!“

„Nein, du lügst!“

Lotta lachte auf. „Wetten, dass sie dich für diesen britischen Schauspieler halten? Die streiten jetzt bestimmt darüber, wer dich zuerst ansprechen darf.“

„Quatsch.“

„Ach komm schon, dass passiert dir doch öfters. Du musst damit leben, ein Doppelgänger zu sein.“

Noch ehe wir das ausdiskutiert hatten, spürte ich auch schon eine eisig kalte Hand auf meiner Schulter, die zum Hals wanderte und meinen Nacken kraulte. Ich schreckte zusammen, die unerwartete Berührung erinnerte mich schlagartig an Lottas Ex Manu.

„Hi, Ewan“, schrillte es an meinem Ohr.

Ich drehte mich der Stimme zu, die sogleich in gebrochenem Englisch weitersprach, und versuchte durch ein Schulterzucken, die Hand am Nacken abzuschütteln. „I am Nele. Would you like to dance with me? Or anything else?“

Ich schaute auf zwei in grellem Pink angemalte Lippen, die sich zu einem schiefen und verruchten Grinsen verzogen. Dann funkelte mich ein Nasenpiercing an, darüber fokussierten mich grüne Katzenaugen mit überlangen falschen Wimpern. Mit einem Kopfschwingen schleuderte mir eine schwarze Lockenmähne entgegen und streifte meinem Kopf.

„Don’t be so shy.“

„Das ist Finn. Finn Berger. Er ist Deutscher. Und kein Schauspieler, Liebchen.“ Damit ergriff Lotta das Wort und wischte Nele Kolokowskis Hand aus meinem Nacken.

Wieder steckten Nele und Maja die Köpfe zusammen. „Und du arbeitest wirklich nicht beim Film?“ Nele musste sich vergewissern, ob sie nicht doch irgendeinen Promi am Haken hatte.

Lotta sah mich an und wir formten gleichzeitig lautlos das Wort „Mist“. Lotta kannte mich nur zu gut. Mein oft verhängnisvoller Hang zur Aufrichtigkeit war kein Geheimnis für sie. Der Gedanke an das Krasseste, was ich mir einst in Sachen Lüge geleistet habe, drängte sich jetzt auf und versetzte mich in mein zwölftes Lebensjahr zurück. Ein Polizist hatte mich mit meinem Fahrrad auf dem Gehsteig angehalten und gefragt, ob ich denn auch wüsste, dass Kinder nur bis zehn Jahren auf dem Fußweg fahren dürften. Auf mein Nicken hin wollte er mein Alter wissen und ich schwindelte ihn an, ich wäre erst zehn. Die nächsten Wochen schob ich mein Rad auf dem Schulweg aus lauter Angst, die Flunkerei könnte auffliegen, erst dann traute ich mich auf die Fahrbahn. Den Polizisten traf ich später einige Male wieder, er lächelte mir dabei immer zu, während ich stets rot anlief. Schlimmes ahnend und um mir zu ersparen, was leider unvermeidlich war, schüttelte Lotta hektisch den Kopf. Denn im Gegensatz zu damals bahnte sich in mir die Wahrheit ihren Weg. Auch auf die Gefahr hin, dass sich Nele Kolokowski an mich kletten könnte.

„Doch“, sagte ich. „Ich bin Szenenbildassistent im Filmstudio Babelsberg.“

Anerkennend nickten Maja Savic und Nele sich zu und warfen ihre Haare fast synchron über ihre Schultern nach hinten. Neles Interesse war jetzt nachhaltig geweckt.

Lotta versuchte, zu retten, was noch zu retten war. „Ja, und er verdient wirklich sehr schlecht. Er ist ja nur Szenenbildassistent, versteht ihr? Ehrlich, sein Gehalt ist mickrig. Sogar noch mickriger als meines.“

Erstaunt über ihre Übertreibungen sah ich Lotta an, die mir nun mitleidig zulächelte. Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich ab sofort keine ruhige Minute mehr vor Nele Kolokowski haben würde.

Mark und Ellen tauchten jetzt auf der Dachterrasse auf. Fieberhaft winkte Lotta sie herbei, während Nele und Maja sich schon links und rechts an mich schmiegten und mir abwechselnd durch die Haare strichen. Bei uns angelangt sah ich, dass Mark fragend zu Lotta sah. Die fuchtelte mit der Hand unter dem Kinn herum, als würde sie eine Messerattacke auf ihre Kehle nachstellen.

Mark und Ellen wussten die Geste prompt zu deuten. „Hey, hast du sie auch gesehen?“, rief Ellen übertrieben laut.

„Wen denn?“, schrie Mark zurück.

Nele und Maja spitzten sofort die Ohren.

„Brad Pitt, Jude Law und Orlando Bloom! Die sind eben an mir vorbeistolziert.“

„Echt wahr, wo sind sie jetzt?“, wollte Mark gut mitspielend von Ellen wissen.

„Wenn du dich beeilst, erwischst du sie vielleicht noch. Ich glaube, die waren unterwegs zum Lift.“

„Brad, Jude und Orlando?“, vergewisserten sich Nele und Maja, stießen schrille Quietschtöne aus und spurteten los. Man sah sie nur noch von hinten in der Lounge verschwinden. Nele hob den Arm und winkte kurz. „Ciao, ciao, Finn Berger.“

Lotta und ich tauschten erleichterte Blicke, ehe wir uns den Schweiß von der Stirn wischten.

„Mark, Ellen, woher kennt ihr die beiden?“, interessierte mich brennend.

Ellen lachte auf. „Nele und Maja sind stadtbekannt. Sie grinsen in schöner Regelmäßigkeit im Arm von irgendwelchen Promis in die Kameras der Paparazzi und sind Stammgäste in den Klatschspalten der Illustrierten, die du ja nie liest. Aber egal, die sind wir los.“

„Sei froh, dass dieser Kelch noch gerade so an dir vorübergegangen ist, Finn“, orakelte Mark.

Es sollte jedoch anders kommen. Ellens und Marks schnelle Auffassungsgabe sollte nur temporär Wirkung zeigen. Lotta jedenfalls hatte an diesem Abend recht behalten, ich war tatsächlich auf zwei der 1,75 Millionen Angehörigen des weiblichen Geschlechts innerhalb der Stadtgrenzen getroffen. Doch weder die eine noch die andere war für mich die Richtige, für meinen Geschmack sogar eher das Gegenteil. Wie sehr wir Nele Kolokowskis Anhänglichkeit unterschätzten, war keinem von uns klar.

3

Am darauffolgenden Montag, dem 13. August, sollte gegen neun Uhr die erste konzeptionelle Besprechung auf der Grundlage des Romans von Hörner stattfinden. Mark, Lotta, Ellen und ich hatten uns frühmorgens am Eingang zum Filmstudio verabredet. Wie üblich war ich zuerst vor Ort. Als Ellen kam, schweifte mein Blick noch über das riesige Areal mit seinen sechzehn Studios, und seinen großzügigen Freiflächen, die für Außendrehs und Kulissen genutzt wurden. Sie hatte gleich etwas Neues zu berichten. Wie man sich mittlerweile denken konnte, drehte es sich dabei um die Hauptdarstellerin unseres Prestigeprojekts.

„Wusstest du, dass Estelle Warren mit T.J. von den JLetters zusammen ist? Der Kerl schleppt echt eine nach der anderen ab.“

Ich verdrehte die Augen. Schon wieder einer dieser Namen. Ich war geneigt, zu glauben, dass die anderen das mit Absicht machten. Schließlich hätten wir uns auch über unsere Pflichtlektüre anlässlich dieses Termins unterhalten können – Hörners Roman. Oder darüber, dass der Schriftsteller es sich nicht nehmen ließ, auch das Drehbuch selbst zu verfassen. Und erst recht über das Engagement des britischen Regisseurs Ernest Shaw für Zwischen den Jahren. Der gute Mann war bei den letzten Preisverleihungen immerhin für den Oscar vorgeschlagen. Aber nein, Estelle Warren und der neueste Mann an ihrer Seite waren wichtiger. Trotzdem wollte ich meinem Frust nicht nachgeben und Ellen anpflaumen, weswegen ich eine Nuance von Interesse vorgaukelte. „Ach ja? T.J. also. Hab ich mir fast gedacht.“

Ellens Augen wurden bei meiner Bemerkung deutlich größer. „Sag bloß, du hast schon von ihm gehört?“

Sie registrierte meine Unkenntnis diesen ominösen T.J. betreffend sofort, erkannte ich. Das Misstrauen in ihrer Stimme ließ nicht den geringsten Zweifel daran.

„Zugegeben … nein“, bekannte ich.

„Und JLetters? Sagt dir das was?“, bohrte sie unverdrossen weiter.

Ich schüttelte den Kopf, während in mir so etwas wie ein Schamgefühl aufkam. In Bezug auf Teile des Showbiz klaffte in meinem Gehirn ein großes Schwarzes Loch. „Wer oder was ist das denn?“

Ellen grinste breit. Jeder wusste schließlich, weswegen Lotta mich regelmäßig aufzog. „Kein Wunder, dass du die nicht kennst. Das ist in den USA zurzeit die Boygroup schlechthin.“ Plötzlich kicherte sie. „Und die heißen tatsächlich JLetters, echt lustig, nicht wahr?“

Mark traf ein. „Habt ihr’s schon gehört? Die Warren geht mit A.J. von JLetters! Das ist doch der, der reihenweise Frauenherzen bricht.“

Verwundert schaute ich zu Ellen und bemerkte erst gar nicht, dass Lotta sich näherte. „T.J. oder A.J.? Wer denn nun?“, wollte ich wissen. Ellen zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung.“

„Weder noch“, klärte uns Lotta auf und zupfte an ihrer weißen Tunikabluse herum. „Der Typ heißt C.J. – C.J. Falcone.“

„Bist du dir sicher?“, fragte Mark, der auffällig unauffällig auf den Druck auf der Tunika schielte.

„Gefällt dir, was du siehst?“, fragte Lotta. „Ist alles echt.“

„Was? Ach so, du denkst, ich schau auf deine Oberweite?“

Ein Schmunzeln zierte Lottas Gesicht. „Bei dir natürlich nicht, Mark. Sorry, war nur so ein Spruch.“ Sie streichelte ihm über den Rücken. „Also, was wolltest du?“

Mark sah sie erst böse, dann amüsiert an. „Ich wollte wissen, ob das chinesische Schriftzeichen sind.“

Lotta schaute an sich herunter. „Ja, sie bedeuten so viel wie Blume der Weisheit, Blume der Erinnerung und Blume der Güte. Cool, oder?“

Alle nickten, ihr Pflanzenspleen war nichts Neues.

„Wie überraschend. Hattest du nicht gestern noch eine Bluse an, auf der in Mandarin Blume der Erleuchtung, Blume des Wandels und Blume der Unendlichkeit gedruckt war?“

Mark und Ellen lachten los. „Herrlich, wenn die beiden sich so kabbeln“, kicherte Ellen.

„Ja ja, Finn. Immerhin hatte ich die Erleuchtung, meine Kleidung heute zu wandeln und mir etwas Neues aus meinem unendlichen Kleiderschrank zu holen. – So, wie es meine Bluse nahegelegt hat. – Deine dunkelgraue Weste über dem hellblauen Hemd kommt mir nämlich sehr bekannt vor. Hattest du sie nicht schon am Samstag im Club an?“, frotzelte Lotta und ich legte meinen Arm um sie, bevor ich weitersprach.

„Mal sehen, welche Schriftzeichen du morgen aus dem Hut zauberst.“

„Aber jetzt zurück zu C.J. Falcone. Ich habe den Kerl gegoogelt“, sagte Lotta und beendete unsere Sticheleien. „Er hat drei Grammys im Schrank stehen und schreibt die Songs seiner Boygroup meist selbst.“ Sie kratzte sich an der Stirn. „Die haben aber zum Beispiel auch Billy Joels Vienna gecovert, nur sie haben ihren Hit mit dem Namen seines Geburtsortes betitelt: Siena, die Stadt in der Toskana. Wahnsinnig kreativ, nicht?“ Wir nickten uns vergnügt zu. „Er schauspielert übrigens auch. Hat wohl schon in einigen Hollywoodproduktionen mitgemacht.“

Mir wurden diese ganzen Namenskürzel inzwischen zu viel. Hatten die alle so seltsame Rufnamen, dass sie sich und ihre Identität auf einzelne Buchstaben zurücksetzen?

„C.J., T.J.! Die Namen sind ja ebenfalls sehr originell“, meinte ich und merkte nicht, dass ich mal wieder auf der Leitung stand.

Entrüstet blickte Lotta mich an und baute sich mit ihren knapp eins sechzig vor mir auf, sodass sie mir von ihren Öko-Sandalen bis zur Stirn gerade so bis zum Kinn reichte. Die anderen krümmten sich vor Lachen.

„Mensch, Finn, deswegen nennen sie sich JLetters, du verstehen?“, raunzte sie.

Noch ehe ich reagieren konnte, passierte uns im Schneckentempo eine schwarze Stretchlimousine. Je näher sie kam, desto mehr stampfte uns der dröhnende Bass eines Songs entgegen. Alle außer mir, drehten sich dem Fahrzeug zu. Neugierde, wer darin sitzen mochte, war uns nicht fremd. Auch steter Kontakt mit Hollywoodgrößen machte uns nicht immun gegen das Interesse an neuen Gesichtern.

Als auch ich den Blicken der anderen drei folgte, waren die Motorhaube und der vordere Teil des Fahrzeugs mit geschlossenen, getönten Fensterscheiben schon an uns vorbei. Im Fond war die Scheibe etwa zur Hälfte geöffnet, Michael Minds House-Remake von Blinded by the Light krachte so laut nach draußen, dass man fast glaubte, der Boden unter unseren Füßen würde vibrieren.

Die noch tief stehende Morgensonne spiegelte sich auf dem Dach der Limousine und blendete mich, trotzdem nahm ich im Halbdunkel des Innenraums gerade so noch etwas wahr, das mein Leben komplett auf den Kopf stellen sollte: das zweifellos wunderschönste, süßeste und unwiderstehlichste Lächeln überhaupt. Es strahlte uns einfach so mutig wie anmutig, voller umwerfender Natürlichkeit und Herzlichkeit von der Rückbank entgegen. Nur wenige Augenblicke genügten und es nahm mich völlig für sich ein. So viel unbekümmerte Leichtigkeit gepaart mit unvergleichlicher Eleganz war darin zu erkennen, sodass es das Lächeln der hübschesten Hollywoodschauspielerinnen genauso in den Schatten stellte, wie das der apartesten Topmodels. Für mich gab es von diesem Moment an nichts Liebreizenderes, nichts Ästhetischeres mehr auf der Welt. Mein Verstand kanalisierte sich einzig darauf, seine Schönheit angemessen zu erfassen, nichtig war alles andere um mich herum. Die Gedanken an die Arbeit oder das Gespräch eben waren nebensächlich, von Belang war nur noch meine Faszination für dieses Lächeln. Sein Zauber verschlug mir die Sprache, auch noch, nachdem die Limousine längst verschwunden war und Ellen sowie Mark sich zur Besprechung getrollt hatten. Nur Lotta machte wieder kehrt und kam zu mir zurück.

„Kommst du, Finn?“ Ihre Stimme drang wie meilenweit entfernt an mein Ohr.

„Ja, gleich.“

Verwundert über mein Verhalten stupste sie mich an. „Du denkst doch nicht etwa an Nele Kolokowski?“

„Ja, gleich“, wiederholte ich gedankenverloren.

„Ich meine, sie sieht schon ganz gut aus. Zumindest, wenn man sich die ganze Schminke wegdenkt.“

„Hmm.“

„Und du willst tatsächlich mit ihr zehn Kinder zeugen, die alle genau solche Zicken werden wie Nele?“

„Hmm. Was?“

Sie grinste. „Ich habe mich schon gefragt, wann du aufwachst. Spät geworden gestern?“

„Hmm.“

Amüsiert ließ sie mich endlich allein.

Ich blieb noch einige Minuten am Torbogen und gestand mir dann ein, dass ich mich, unbemerkt von allen, Hals über Kopf verliebt hatte – in das tollste Lächeln überhaupt.