Leseprobe Dunkle Prophezeiung

Prolog

Gábor

Juli

Im Heerlager herumzusitzen, Waffen zu polieren, ab und zu ein paar Truppenübungen durchzuführen und ansonsten auf den Abend zu warten, weil Luzifer mich nicht als Späher nach draußen ließ, war gelinde gesagt ätzend. Auf die Art hatte ich noch mehr Zeit, Joelle zu vermissen und darüber nachzudenken, einfach alles hinzuschmeißen. Ich konnte nicht sagen, ob es ein Trost für mich war, hier bald rauszukommen um im Diesseits auf meinen Bruder aufzupassen und ihn bei seiner ominösen Aufgabe zu unterstützen. Auf beides hatte er keine Lust, das hatte er mir bereits überdeutlich klargemacht. Aber das ignorierte ich genauso wie Vater.

Die Dämmerung brach herein, doch ich würde erst später am Abend zu Lilith gehen. Ich wartete auf Grigori, der Luzifer Bericht erstatten und mich danach besuchen würde. Grigoris Job war weit spannender als meiner. Da er ein Hellseher war, wusste ich nie, welche meiner Geheimnisse er kannte, ohne mir davon zu erzählen. Von den anderen tausend Geheimnissen, fremden und eigenen, fing ich gar nicht erst an. Trotzdem mochte ich ihn. Wir konkurrierten nicht, Grigori hatte seine eigene hohe Stellung in Luzifers Reihen. In der Vergangenheit hatte er sich stets als loyal erwiesen. Ich hoffte, dass sich das in diesen Zeiten nicht änderte.

Mit ein paar Gargoyles saß ich am Lagerfeuer und stocherte versonnen mit einem Stock in der Glut herum, bis mich einer meiner Soldaten ansprach: „Mein Herr Gábor, wir hörten, Ihr würdet uns bald verlassen. Kehrt Ihr wieder oder wird jemand anders uns anführen?“

Ich ließ meinen Blick einen Moment auf seinem wolfsähnlichen Gesicht ruhen. Mit den Eselsohren und den Ziegenhörnern sah er aus wie ein Tier, das jemand aus lauter übrig gebliebenen Teilen zusammengebastelt hatte. „Ihr werdet Barbatos oder Danel unterstellt, das habe ich bereits mit Luzifer abgesprochen. Grigori wird auch die meiste Zeit im Diesseits sein, weshalb seine Männer ebenfalls zu einem neuen Heeresverband zusammengefasst werden. Für euch ändert sich nicht viel.“

Er nickte, die anderen drei brummten beifällig. Ich bedauerte es in diesem Moment tatsächlich, trotz des eintönigen Tagesablaufs, der Hölle den Rücken zu kehren. Unter meinen Soldaten fühlte ich mich akzeptiert. Der erdige Geruch des nächtlichen Waldes vermischte sich mit dem des Holzfeuers. Die Gargoyles rochen so ähnlich, zusätzlich nach Hund, Raubkatze oder Bär, die meisten auch noch nach Stein. Auch wenn sie aussahen wie Tiere, sie sprachen und dachten eher wie Menschen. Jeder, der sie gering achtete, war auch bei mir unten durch.

Ein anderer sagte: „Wir schlagen viele Schlachten, doch es gibt keine Entscheidung. Wann wird der Krieg vorbei sein, Herr? Wann werden wir wieder den Palast bewachen und unsere Felder bestellen?“„Das kann ich euch nicht sagen. Vielleicht dauert es nicht mehr lange. Es wäre doch schön, wenn Azazel und die anderen einfach aufgeben würden.“ Doch daran glaubte niemand hier. Alle schüttelten die Köpfe, mich eingeschlossen.

Grigori kam auf leisen Sohlen heran und setzte sich neben mich auf den Baumstamm. Auf Russisch begrüßte er die Soldaten, mir klopfte er auf die Schulter.

„Alles klar, Mann?“, fragte ich. Er nickte und breitete die weißen Flügel aus, als würde er sich strecken.

„Und bei dir? Langsam die Schnauze voll von der Warterei?“

„Ziemlich. Ich muss bald zu Milán. Im Herbst wird seine neue Aufgabe beginnen, richtig?“

„Richtig. Behalte ihn im Auge und pass auch auf deine missratene Verwandtschaft auf. Sie wollen das, was ihr bis vor Kurzem hattet.“

Ich nickte, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob wir über dasselbe sprachen. So war es viel zu oft mit Grigori: Er redete selten Klartext; nicht wenn es Zuhörer gab oder er sich erst vergewissern musste, dass sein Gegenüber die Klappe hielt.

„Steht deine Prophezeiung noch?“

„Welche? Manchmal verliere ich den Überblick.“

„Du weißt ganz genau, welche ich meine.“

Seine Miene verschloss sich ein Stück, wie jedes Mal, wenn ich ihn danach fragte. Schön waren die Bilder, die er sah, auf keinen Fall.

Aber ich war zu neugierig, um ihn vom Haken zu lassen, und bohrte nach: „Und? Hat sich etwas verändert? Bleibt es bei deinen blumigen Worten?“

„Wenn die Grenzen zwischen den Welten verschwimmen und die Nacht am schwärzesten ist, werdet ihr wieder zusammenfinden.“

„Erzähl mir mehr davon.“

Er presste die Lippen zusammen und starrte ins Feuer. Funken stoben auf, als einer der Soldaten ein neues Holzscheit in die Glut legte. Das feuchte Holz knackte und qualmte.

„In dieser Nacht gibt es so viel Tod. Diese Nacht wird für viele schwarz werden, aber für dich wird sie am schwärzesten sein. Es wird dir danach nicht leichtfallen, das Licht wieder zu finden. Niemand verliert in dieser Nacht so viel wie du. Du bekommst Joelle zurück. Das muss dir genügen.“

Ein eisiger Schauder lief mir den Rücken hinab. Vielleicht war es ein Segen, nicht zu wissen, was die Zukunft brachte. Dennoch wusste ich schon genug, um mich davon kirre machen zu lassen. Irgendwann würde ich alles wissen. Selbst wenn es mich fertigmachte.

„Ich habe dich nicht das letzte Mal gefragt.“

„Das befürchte ich auch“, entgegnete Grigori. „Lass es lieber sein. Einer von uns könnte doch unbelastet bleiben.“

„Unwissend zu sein ist nicht gleichbedeutend mit unbelastet.“

„Sollte es aber.“

Die Gargoyles verfolgten interessiert unseren Wortwechsel.

„Was habt ihr auf eurem letzten Erkundungsflug beobachtet?“, fragte Grigori sie. Schon kapiert. Unser Gespräch war hiermit beendet.

Vorerst.

1

Joelle

Juli

Gelangweilt stützte ich das Kinn in meine Hand und sah aus dem Fenster. Unser Physiksaal lag unter dem Dach, sodass man eine tolle Aussicht auf das Häusermeer des Quartier Latin hatte, wenn man wie ich nicht aufpasste. Draußen schien die Sonne, was mir nicht nur den letzten Rest Motivation raubte, sondern mich auch wie jeden Sommer innerlich fluchen ließ, weil ich heute früh lange Hosen angezogen hatte, in denen ich jetzt schwitzte. Kurz vor dem Mittagessen glich der Physikraum bereits mehr einer Sauna.

Monsieur Loup machte allen Ernstes Unterricht. Kaum einer arbeitete mit. Die meisten stierten vor sich hin, fächelten sich mit ihren Heften Luft zu oder tranken einen Schluck Wasser nach dem anderen. Einzig Grigori, der sich einen Platz in der letzten Reihe ausgesucht hatte, um niemandem die Sicht zu versperren, Eloise und Luc beschäftigten sich begeistert mit den Besonderheiten des Ottomotors. Grigori immer noch radebrechend auf Französisch und mit viel Übersetzungshilfe von Luc. Tristan, selbst bei hochsommerlichen Temperaturen elegant wie der jugendliche Alain Delon, schrieb neben mir Briefchen mit seiner Freundin Anaїs. Als ob sie sich nicht ständig sehen würden.

Als mein Blick auf Louis fiel, musste ich grinsen. Er saß direkt hinter mir neben Luc. Louis fuhr sich durch die kurzen hellbraunen Haare. Sie waren etwas länger geworden und fielen ihm lässig in die Stirn, wo sie einen hübschen Kontrast zu seinen blaugrauen Augen bildeten. Diese Augen verdrehte er jetzt grinsend und formte mit dem Mund das Wort „Streber“. Luc kannte ich nicht anders. Dass Grigori zumindest in Physik und Mathe mindestens genauso strebsam war, amüsierte mich immer noch. Luc schaute ich bewusst nicht an. Seit wir uns geküsst hatten, herrschte eine seltsame Spannung zwischen uns. Meist blendete ich sie aus, aber gerade spürte ich sie überdeutlich. Wie ein Summen in meinen Knochen. Ich musste an etwas anderes denken.

Das Training am Nachmittag würden wir uns schenken. Nur die Nachwuchsjäger waren verpflichtet, daran teilzunehmen. Für Luc, Tristan und mich galt das nicht mehr. Wir mussten nur noch zwei Einheiten pro Woche absolvieren statt sechs. Grigori, unser russischer Bär mit den eisblauen Augen, trainierte die jüngeren Halbdämonen, nach den Ferien würde Madame Corbeau diese Gruppe übernehmen und mein Blutsbruder wieder zu unserer Trainingsgruppe wechseln, um Monsieur Renard aka Käpt’n Schnauzbart zu unterstützen. Darauf freuten sich beide sicher schon besonders.

Wie immer, wenn mein Gehirn nichts zu tun hatte, wanderten meine Gedanken zu Gábor. Ich wünschte, ich könnte das unterbinden, aber trotz des kaum nachlassenden Trennungsschmerzes dachte ich einfach zu gerne an ihn. Er fehlte mir. Nur in meinen Gedanken konnte ich ihm nahe sein. Nicht einmal telefonieren oder texten konnten wir, solange er in der Hölle war.

Bald, vertröstete ich mich, bald sehe ich ihn wieder. Dann dürfen wir zusammen sein. Auch ohne dass wir auf die Erfüllung von Grigoris seltsamem Orakelspruch warten müssen. Ich habe schon eine schwarze Nacht erlebt, in der die Grenzen zwischen den Welten verschwommen sind. Jenseits und Hölle haben sich bereits im Diesseits versammelt, in der Nacht, in der mein Vater starb

Selbst in Gedanken brachte ich es kaum fertig, die Wahrheit zu formulieren: dass ich meinen Vater buchstäblich mit meinen eigenen Händen getötet hatte. Es hatte keinen anderen Weg gegeben, meine Haut und die meiner Freunde zu retten. Dennoch belastete mich sein gewaltsamer Tod weit mehr als der der Männer, die versucht hatten, Anouk, Marinette und Anaїs in die Hölle zu verschleppen. Blutsbande hatten zumindest unter Dämonen einfach einen einzigartigen Stellenwert. Es spielte keine Rolle, was für ein Verhältnis Samael und ich gehabt hatten, ob wir uns geliebt hatten. Es zählte nur, dass Samael mich gezeugt und sich dadurch mit mir verbunden hatte. Das durchschnittene Band schmerzte auf eine Weise, die ich nicht in Worte fassen konnte.

Das Läuten unterbrach meinen inneren Monolog.

Im Speisesaal trafen wir auf Milán, der einen ähnlich frischen Eindruck machte wie ich. Er lächelte, als er meine Gedanken auffing. Mit meinem schweren Essenstablett ließ ich mich zwischen ihn und Grigori auf einen Stuhl fallen und erwiderte das Lächeln.

Ein Nickerchen in Physik gemacht?, wollte Milán stumm wissen. Ich schüttelte den Kopf und pikte meine Gabel in die Nudeln mit mediterraner Gemüsesoße.

Marinette hat gepennt. Hast du was damit zu tun?

Ein Grinsen umspielte seine Lippen. „Ausnahmsweise mal nicht“, entgegnete er laut. Ich enthielt mich eines Kommentars und aß weiter.

 

Den Nachmittag verbrachte ich mit den letzten Hausaufgaben des Jahres und einem Mittagsschlaf, aus dem Grigori mich unsanft weckte, als er in Tristans und mein Zimmer platzte. Vermutlich hatte er vorher angeklopft, Grigori war im Gegensatz zu meinem Mitbewohner ziemlich höflich. Meistens jedenfalls.

„Joelle, komm mit!“, forderte er mich auf.

„Hallo erstmal“, sagte ich gähnend.

„Ja, ja, hallo. Steh auf! Tamiel wartet auf dem Dach auf uns. Dringende Botschaft von Luzifer.“

Die Erwähnung des obersten Höllenfürsten klärte meinen Verstand. Mit einem Satz war ich aus dem Bett und schlüpfte in meine enge Jägerhose. Auch dafür war es eigentlich zu warm, aber ich wollte mich vor der abendlichen Streife nicht erneut umziehen müssen. Statt einem Kampfkittel würde ich nachher ein Langarmshirt anziehen. Nach Einbruch der Dunkelheit brauchten wir auch die Waffen nicht mehr zu verstecken.

Grigori trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Er trug ein schwarzes Muskelshirt und eine knielange Sporthose, weil er gerade aus der Turnhalle kam. Er war mittlerweile mein Blutsbruder und noch immer heimlicher Schwarm vieler Mitschülerinnen. Der Russe maß ziemlich genau zwei Meter und war am besten mit dem Begriff „Kleiderschrank“ zu umschreiben. Allein seine Statur flößte anderen Respekt ein.

Meine Gedanken waren nicht abgeschirmt, da konnte ich sie auch aussprechen: „Es ist ein Phänomen, dass die Mädchen keine Angst vor dir haben, du riesiger Bär.“

„Eifersüchtig?“, fragte er lachend.

„Nein! Ganz sicher nicht. Das weißt du doch. Aber irgendwann kommt eine, die dich an die Leine legt. Warte nur ab!“

„Schön, dass du daran glaubst.“ Abrupt drehte er sich um und stapfte zur Tür hinaus. Mist.

„Tut mir leid, Grigori. Aber ich glaube wirklich daran.“

Er lächelte schief, sagte aber nichts mehr. Schweigend stiegen wir zum Dach hinauf. Neben dem Schornstein standen Tamiel, Luc und Tristan.

„Nara, Sonne“, begrüßte der Dämon mich freundlich. „Schön wie das letzte Mal, als wir uns trafen.“

Ich lachte. Tamiel machte mir immer Komplimente, die ich nicht wirklich ernstnahm. Ich mochte ihn sehr, er war zu einem väterlichen Freund geworden. Daher ließ ich mich auch von ihm in die Arme schließen. Die Temperaturen hier oben waren trotz des Schattens, den der Schornstein spendete, nicht gerade angenehm. Der Bitumen unter meinen Turnschuhen fühlte sich weich an und ich hoffte, dass mir die Sohlen nicht wegschmolzen.

Tamiel blickte amüsiert in unsere verschwitzten roten Gesichter. Ihm merkte man die Hitze kaum an. Allerdings trug er seine langen dunkelbraunen Haare wieder in diesem Manbun, der an den meisten anderen Typen dämlich aussehen würde. Zusätzlich fächelte der Engel sich selbst und uns mit seinen mindestens vier Meter hohen schwarzgefiederten Flügeln Luft zu. Das war nett von ihm. Und glücklicherweise von unten oder den Nachbarhäusern aus nicht zu sehen. Unsere eigenen Flügel erreichten normalerweise zwischen zweieinhalb und drei Metern Spannweite, je nach Körpergröße. Grigoris waren natürlich größer als meine. Ihr Aussehen erbten wir von unseren Vätern, den gefallenen Engeln. Daher besaß Grigori die weiß gefiederten Engelsflügel seines Vaters Barbatos, des ersten Himmelsjägers, ich die am häufigsten vorkommenden Fledermausflügel meines Vaters Samael.

„Luzifer schickt mich zu euch, jedoch nicht offiziell; deshalb dieser unwürdige Treffpunkt. Wieder einmal. Sollte diese Hitzewelle anhalten, werden wir uns nächstens in den Katakomben verabreden. Nun denn, ihr als Luzifers Quasi-Verbündete werdet aufgefordert, euch in aller Form dem Herrn der Hölle anzuschließen. Das gilt besonders für dich, Nara, wenn du deine Truppen zurückhaben möchtest.“

„Und das konntest du uns nicht in der Öffentlichkeit sagen? Luzifer ist doch der wichtigste Partner der Ghost Hunter Association. Warum diese Heimlichkeit?“, fragte Tristan mit gerunzelter Stirn. Ihm liefen die Schweißtropfen an den Wangen herunter.

Statt Tamiel antwortete Grigori auf diesen Einwand. Sein Französisch besserte sich, aber er sprach sicherheitshalber Deutsch. „Luzifer hat in diesem Gebäude nur noch wenige, die ihm die Treue halten. Mit Madame d’Hibous Aufstieg hat er etliche Jäger an sie verloren. Bis auf Herrn Farkas, seinen Schwager Tibór, Gábor, mir und einigen anderen, die im Augenblick neutral bleiben wollen, sieht es schlecht aus für den Teufel. Azazel führt im Moment die Bewegung gegen Luzifer in der Hölle an. Er hat bereits viele hohe Dämonen um sich geschart. Der Aufstand wurde niedergeschlagen, aber er ist nicht beendet.“

Ich schürzte die Lippen. „Luzifer braucht also Verbündete. Ich werde darüber nachdenken. Aber was hat die GHA davon, dass sie es sich mit Luzifer verscherzt? Bietet Azazel ein besseres Bündnis an?“

„Madame d’Hibou wird weiter gegen Luzifer arbeiten; wenn sie gemeinsame Sache mit Samael gemacht hat, tut sie das bestimmt auch mit Azazel“, meinte Luc.

„Es ist nicht allein Azazel“, erwiderte Tamiel. „Da sind noch Batarel, Akibeel und weitere Dämonen, die Luzifer stürzen wollen. Samael war für sie nur Mittel zum Zweck. Sie machen weiter. Luzifer weiß das und will seinerseits eine schlagkräftige Armee aufstellen. Er fragt euch, bevor die GHA alle Geisterjäger verpflichtet, ihre Seite zu wählen, die höchstwahrscheinlich nicht Luzifers sein wird. Die Schüler haben keine Wahl, nur ihr habt eine. Weil ihr Halbdämonen seid und fertig ausgebildete Jäger.“

„Ich wähle nicht“, ließ sich Grigori vernehmen. „Meine Seite ist immer deine Seite, nana.“

Tamiel klopfte ihm liebevoll auf die Schulter. Auf Russisch sagte er: „Gott in seiner unermesslichen Güte hat mir einen treuen Sohn geschenkt. Nicht immer ist Blut dicker als Wasser. Ich danke dir, Mischka.“

Grigori nickte. Es hätte mich sehr gewundert, hätte er sich gegen seinen Ziehvater gestellt. Doch Tamiel schien ihm die Wahl gelassen zu haben.

„Ihr müsst nicht auch Luzifers Seite wählen, nur weil wir Blutsgeschwister sind. Wir haben weiterhin einen Nichtangriffspakt. Keiner hat etwas von mir zu befürchten. Umgekehrt hoffentlich auch nicht.“ Bei seinen letzten Worten sah er mich bedeutsam an.

„Welche Wahl habe ich, Grigori?“, sagte ich mit mehr Schärfe, als beabsichtigt. „Du bist mein Blutsbruder und ich darf dich nicht töten. Gábor ist Luzifers Erster Offizier und auch ihn würde ich niemals töten. Meine größere Sorge ist, dass Madame d’Hibou mich rausschmeißen wird, wenn sie erfährt, wem meine Treue gilt.“ Mit Schaudern dachte ich an Azazel, der mich als seine persönliche Gebärmaschine halten wollte. Als ob ich mich ihm freiwillig anschließen würde!

„Was ist mit euch?“, fragte ich Tristan und Luc. Letzterer schwieg, seit ich das Dach betreten hatte. In seinem Gehirn arbeitete es. Denkfalten standen auf seiner Stirn.

Tristan redete zuerst. „Welche Konsequenzen hat es für uns, wenn wir uns offiziell dem inoffiziellen neuen Staatsfeind anschließen?“

Luc nickte.

„Ihr könntet euer Wohnrecht im Internat verlieren, aber ich nehme an, dass ihr spätestens nach den Prüfungen im nächsten Frühjahr fortgehen würdet. Ihr könntet gefangengenommen und schlimmstenfalls aus der Gemeinschaft der Geisterjäger ausgestoßen werden. In der Hölle hättet ihr nach wie vor einen Platz; vorausgesetzt, Luzifer bleibt an der Macht“, erläuterte Tamiel, ohne etwas schönzureden.

Grigori setzte eine angestrengte Miene auf. „Du musst ihnen alle Konsequenzen nennen, Dämon!“ Nach der familiären Atmosphäre zwischen den beiden Männern wirkte Grigoris Wortwahl übermäßig hart.

„Na schön, Junge. Wenn das Recht ausreichend gebeugt wird, und das kann schon bald der Fall sein, könntet ihr auch wegen Hochverrats gehängt werden. So, jetzt ist es raus. Ich wollte euch Albträume ersparen.“

Tristan zuckte zusammen. „Hochverrat? Können wir nicht irgendwie undercover bleiben? Du weißt schon, offiziell GHA-Linie, inoffiziell unterstützen wir den Teufel.“

„Sind deine Gedanken und Gefühle sicher vor Madame d’Hibou?“, erkundigte sich Luc ungläubig.

„Warum nicht? Ich bin mittlerweile sehr gut im Abschirmen.“

„Steht Luzifer wirklich so unter Druck oder ist das eine List?“, wollte Luc von Tamiel wissen. Typisch Luc. Immer misstrauisch.

„Noch läuft alles im Geheimen ab. Doch es spricht vieles dafür, dass die GHA bald gänzlich in den Händen derjenigen sein wird, die gegen Luzifer arbeiten. Hier geht es um mehr als nur einen Machtwechsel in der Hölle.“

Grigori nickte. „Azazel und seine Mitstreiter glauben genauso wie Luzifer selbst, dass die uralte Prophezeiung um den Weltenwächter kurz vor ihrer Erfüllung steht. Tritt er oder sie erst auf den Plan, wird sich alles verändern. Machtgefüge werden neu geformt, die Dimensionen verändern sich. Manche legen die Prophezeiung so aus, dass der Weltenwächter der Bote der herannahenden Apokalypse ist, die die Welten neu ordnet und das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse wiederherstellt. Aber das ist nur eine Lesart.“

„Ist der Weltenwächter gut oder böse?“, fragte ich. Davon hatte ich ja noch nie gehört.

„Das weiß niemand. Es heißt, er hat Zugang zu allen Sphären, ich würde ihn am ehesten für unparteiisch halten. Existiert er tatsächlich, wäre er in großer Gefahr. Die einen wollen ihn eliminieren, die anderen auf ihre Seite ziehen. Bevor ihr nachfragt, ich kenne die Prophezeiung nicht. Ich kann nicht richtig sehen, wenn ich versuche, etwas über den Weltenwächter herauszufinden. Luzifer kennt sie und das muss uns im Moment genügen.“

„Das hört sich alles sehr vage an“, meinte Luc.

Da konnte ich ihm nur zustimmen. Langsam wurde es unerträglich heiß auf dem Dach. Außerdem gab es bald Abendessen. Ich wollte das Ganze etwas beschleunigen.

„Ich bin für Tristans Vorschlag. Wir schließen uns nur inoffziell Luzifer an, solange es zu gefährlich ist, das offen zuzugeben. Wenn es keine hölleninterne Angelegenheit ist, müssen sich die Jäger positionieren. Sie haben alle einen Eid geschworen, die Menschen und ihre Welt zu beschützen. Einwände?“

Kopfschütteln von Luc, Grigori und Tristan.

„Ich danke euch“, sagte Tamiel. „Ihr braucht zunächst nichts weiter zu tun, als hier die Stellung zu halten und ein Auge auf Madame d’Hibou zu haben. Ich kümmere mich um Azazel und sein Gefolge. Grigori wird unser Mittelsmann sein, da er sowohl hier als auch zu Luzifers Palast Zutritt hat. Ich wusste, dass ich auf euch zählen kann. Bis bald!“

Er flog nicht davon, sondern löste sich in Luft auf. Eine Fähigkeit der Dämonen, auf die ich schon immer neidisch gewesen war. Halbdämonen konnten viel, aber das beliebige Verschwinden und Auftauchen blieb den Engeln vorbehalten.

Gemächlich gingen wir zur Treppe. Wir berieten uns, ob wir Milán und Louis einweihen sollten oder nicht. Ich war dafür, zumindest vor Milán nichts zu verheimlichen, da indirekt auch sein Bruder betroffen war. Das meiste fand er ohnehin heraus. Louis war ein guter Freund, aber er war kein Teil unserer neuen, tiefergehenden Bande. Wir wollten ihm vorerst nichts sagen.

Ich freute mich so sehr auf die Sommerferien. In der Mongolei bekam ich den nötigen Abstand von alldem hier. Ich war mehr als urlaubsreif. Eine Sache hatte ich jedoch noch zu erledigen. An der Tür zum Speisesaal ließ ich Tristan und Luc den Vortritt. Grigori hielt ich am Arm zurück.

2

„Grigori? Hast du noch kurz Zeit?“

„Ich weiß, was du mich fragen willst. Und glaub mir, ich versuche schon die ganze Zeit, etwas zu sehen. Aber meine Gabe ist kein Zukunftsfernsehen. Ich sehe nur Bruchstücke, einzelne Situationen, bekomme winzige Gewissheiten. Was willst du von mir hören, Joelle?“ Seine sanfte Stimme milderte die Eindringlichkeit seiner Worte kaum.

„Ich wollte dich nicht als Orakel benutzen. In der Hölle, da hat Lilith Kinder gesehen, die vielleicht niemals geboren werden. Meine Kinder, Grigori!“

„Das war, bevor Samael dich verwundet hat. Ich sehe jetzt keine Kinder in deiner Zukunft. Das kann aber alles oder nichts bedeuten. Warum gehst du nicht zum Arzt?“

Er nickte, ehe ich meine Antwort ausgesprochen hatte. Weil du fürchtest, die Wahrheit nicht ertragen zu können, dachte Grigori. Dann nahm er mich in den Arm. Ich lehnte mich an ihn und kämpfte mit den Tränen. Leute gingen an uns vorbei zum Speisesaal hinein oder heraus, doch ich nahm sie kaum wahr. Ich musste das abklären, ein für alle Mal. Ich hätte nie gedacht, dass mich der Gedanke, kinderlos zu bleiben, derart mitnahm. Doch er beschäftigte mich genauso sehr wie die Erinnerung an meinen Vater. Ich konnte nicht lernen damit klarzukommen, wenn ich mich weiter an die winzige Hoffnung klammerte, eines Tages mit Gábor eine Familie zu gründen.

Wie so oft antwortete Grigori auf meine Gedanken. „Willst du alleine gehen oder soll ich dich begleiten?“

Mein treuer Grigori.

„Nächste Woche hast du ja frei. Aber nur, wenn du willst.“

Er streichelte meinen Rücken. „Sonst hätte ich nicht gefragt. Gehen wir essen?“

Ich nickte an seiner Brust. Nur ungern verließ ich seine tröstliche Nähe, aber ich war kein kleines Mädchen mehr.

 

Heute begrüßte ich die abendliche Patrouille. Sie lenkte mich ab. Tristan, Marinette, Louis und ich beendeten eine ungewöhnlich starke Poltergeistaktivität auf dem Friedhof Père Lachaise, wo ein paar englische Touristen den Schreck ihres Lebens bekamen und nur dank uns nicht mehr.

Die Geister mit ihren verzerrten Fratzen umzingelten die jungen Menschen, die sich nach Einbruch der Dunkelheit auf den Friedhof gewagt hatten. Sehen konnten sie die Wesen nicht, aber sie spürten ihre Kälte, ihre böse Gegenwart und ganz sicher die Steine und Erdbrocken, die die Geister auf die schreienden und davonrennenden Leute warfen.

„Tris! Bring die Menschen hier fort! Wir übernehmen die Geister!“, kommandierte ich.

Tristan erschreckte eine Frau im Kapuzenpullover zu Tode, als er ohne Sturmhaube hinter einem Mausoleum hervortrat und höflich „Guten Abend“ sagte.

Ich hätte über ihren spitzen Schrei gelacht, wenn die Poltergeister nicht Louis, Marinette und mich als neue Ziele auserkoren hätten. Marinette sprang quietschend hinter Louis, als ein Erdbrocken angeflogen kam und an Louis’ Brust zerstieb. O Mann. Ich bohrte einem Poltergeist das Weltenschwert in den Bauch, Louis köpfte den nächsten. Die restlichen Geister verschwanden, als sie sahen, dass es ihnen an den Kragen ging.

„Es war nur ein bisschen Erde, Marinette“, sagte Louis lachend.

„Ich hatte keine Angst vor der Erde, sondern vor den vielen Geistern.“ Missmutig und beschämt stapfte sie in Richtung Ausgang. Aus Marinette würde nie eine gute Geisterjägerin werden. Sie war einfach nicht dafür geschaffen und musste nur die Ghost Hunter Academy besuchen, weil sie eine Halbdämonin war. Heute Abend tat sie mir besonders leid.

Als wir auf dem Rückweg an der Sorbonne die Gruppe um Luc und Milán trafen, berichteten auch sie von vielen Poltergeistern und sogar einem Schwarm Turpern, die einen Taxifahrer befallen hatten. Turper waren gestaltlose Geistwesen, materialisierte negative Gefühle, die von Menschen Besitz ergriffen und sie Amok laufen oder sich selbst töten ließen. Zum Glück waren die Jäger hinzugekommen, ehe der Mann in sein Taxi steigen und womöglich noch andere Menschen hatte gefährden können. Pflichtbewusst meldeten wir Madame d’Hibou und Monsieur Loup, die für den Außendienst zuständig waren, alle Vorkommnisse. Luc, Grigori und ich waren die letzten Gruppensprecher, die in das Büro kamen, um uns zurückzumelden.

„Ihr meint also, es wären heute Nacht ungewöhnlich viele Jenseitige in der Stadt unterwegs? Da seid ihr euch ganz sicher?“, hakte Loup noch einmal nach. Sein akkurat nach hinten gegeltes halblanges Haar saß auch nach Mitternacht noch perfekt. Früher hatte ich nichts mit dem streng wirkenden Mann zu tun gehabt, aber auch jetzt fand ich ihn nicht sympathischer. Es war unübersehbar, dass er dem ehemaligen Hausdrachen aus der Hand fraß. Und uns nicht für voll nahm.

„Sie können uns glauben oder selber rausgehen und es überprüfen. Père Lachaise ist allerdings fürs Erste gesäubert, unser Viertel ebenso. Da werden Sie nichts finden“, entgegnete Luc mit einer Prise Bockigkeit, die ich gar nicht von ihm kannte. Andererseits wusste ich, dass er kaum etwas mehr hasste, als wenn man ihn als Lügner hinstellte.

„Oh, das werden wir überprüfen. Ein paar von der Nachtschicht sollten eure Beobachtungen morgen früh bestätigen. Wir dulden keine Lügen, nur um sich zu profilieren.“

Grigori mit seiner Gabe der Voraussicht legte mir die Hand auf die Schulter, bevor ich den Mund aufmachte, um Monsieur Loup zu sagen, was ich von seinem Auftritt hielt. Wenn sich hier jemand profilierte, dann er. Luc stand schweigend hinter mir. Ich spürte seinen Ärger hochkochen, doch er blieb äußerlich ruhig.

Madame d’Hibous Miene wirkte oft undurchdringlich, aber jetzt zeigte sie immerhin ein feines Lächeln. „Lass die Kinder, Loup. Sie sind sehr gewissenhaft.“

Ihr wiederum glaubte ich aus Prinzip kein Wort. Und dazu ihre herablassende Art, wie sie uns als „Kinder“ bezeichnete. Wir waren in allen vier Welten volljährig!

Grigori erwiderte auf Deutsch: „Glauben Sie, dass wieder ein Vertreter der Hölle dahintersteckt? Schließlich hatten wir mit Samael ähnlichen Ärger.“

„Aber Samael ist tot“, widersprach sie. „Wenn noch jemand das Diesseits mit Geisterhorden terrorisiert, dann sollten wir dem auf den Grund gehen. Natürlich nur gesetzt den Fall, ihr habt nicht überreagiert.“

Ich bewunderte Grigoris Selbstbeherrschung. Er presste nur die Kiefer zusammen, um sich selbst im Zaum zu halten. Allein schon diese halbgare Unterhaltung machte deutlich, dass Madame d’Hibou nicht offen mit uns umging, ob wir nun richtige Geisterjäger waren oder nicht.

„So oder so werden wir unsere Bündnisse neu überdenken müssen. Stellt euch schon mal darauf ein.“ Sie sah uns an, als ahnte sie etwas von dem heimlichen Treffen auf dem Dach und mehr noch von dem Versprechen, das wir Tamiel gegeben hatten. Doch mein Schild war hartnäckig. Vermutlich war es die Entdeckung meiner Todeshände und mein gewachsenes Selbstbewusstsein, aber abgesehen von Milán, Gábor und meinen Blutsgeschwistern konnte seit Kurzem niemand mehr in meinem Kopf herumschnüffeln. Ich spürte an einem leichten Schläfenpochen, dass die frühere Hausmutter versuchte, in meine Gedanken einzudringen. Nach wenigen Sekunden gab sie auf, lächelte uns an und schickte uns hinaus.

„Scheiße“, flüsterte Luc, als wir weit weg waren und unseren Korridor betraten. „Entweder weiß sie was oder sie hat vor, den Vertrag mit Luzifer aufzulösen.“

„Natürlich hat sie das vor“, pflichtete Grigori ihm ebenso leise bei. „Wenn ich nur etwas sehen könnte!“

„Du siehst nicht ihre Zukunft?“, fragte ich.

„Ich hatte dir doch gesagt, dass es nicht immer und bei jedem klappt. Ich muss das weitergeben. Gute Nacht.“ Damit hastete er den Weg zurück, den wir gekommen waren.

Auf einmal breitete sich eine unbehagliche Stille zwischen Luc und mir aus. Luc fuhr sich nervös durch die Haare und fixierte mit den Augen den schwarz gerahmten Druck eines Kandinsky-Gemäldes hinter mir an der Wand. Ich konnte nicht entscheiden, ob ich das plötzliche Kribbeln in meinem Bauch angenehm fand oder nicht. Wir hätten uns nicht küssen dürfen.

„Irgendwann wäre es doch sowieso passiert“, sagte Luc auf meine Gedanken hin. „Ich habe versucht, deinen Rat zu befolgen. Clara und ich waren vorgestern zusammen in einem Café. Es war auch total nett, aber als sie mich geküsst hat, war es nur seltsam. Sie ist nicht diejenige, die ich will.“

„Aber warum?“ Warum, zur Hölle? Beinahe vergaß ich, zu flüstern. Ich wollte niemanden wecken.

„Weil ich dich will und nicht sie. Ich bin nicht so ein Arsch, der ihr Hoffnungen macht, sie flachlegt und dann doch zu einer anderen geht. Keine Ahnung, was Grigori für ein Geheimnis hat, dass er noch nicht den Hass der Mädchen auf sich gezogen hat. Ich meine, er macht es nicht so auffällig, dass die GHA-Oberen ihn rauswerfen, aber wir wissen, dass er nur selten die Nacht allein in seinem eigenen Bett verbringt.“

Ich lächelte halb. Wenn Luc unsicher war, fing er an zu reden und hörte nicht mehr auf, wenn man ihn nicht unterbrach. Seit wir vollwertige Geisterjäger waren, galt das Annäherungsverbot zwischen Schülern nicht mehr für uns. Allerdings achteten unsere Lehrerinnen und Lehrer kaum noch auf seine Einhaltung. Anscheinend verfolgte die GHA einen anderen Kurs mit uns. Natürlich ohne uns darüber in Kenntnis zu setzen. Doch Grigori war als Hausvater noch einmal in einer anderen Position. Er musste aufpassen, wie viel er sich herausnahm, bevor Madame d’Hibou endgültig der Kragen platzte. Leiden konnte sie ihn immer noch nicht. Müßig, das zu erwähnen.

„Willst du es wirklich nicht mit Clara versuchen?“ Ich merkte selbst, wie bescheuert das klang. Mir ging es doch genauso wie ihm. Er lächelte schief.

Was passiert hier gerade?

Luc ließ mir keine Zeit, mich zu fangen. Er trat den letzten Schritt auf mich zu, legte die Arme um meinen Rücken und zog mich an sich. Ohne nachzudenken, erwiderte ich seine Umarmung. Luc war vertraut. Aber wir mussten beide realistisch bleiben.

„Gábor besitzt deine Seele“, raunte Luc an meinem Ohr. Das Vibrieren seiner tiefen Stimme jagte mir einen Schauer den Rücken hinunter. „Aber er besitzt nicht dein ganzes Herz.“

„Er besitzt den größten Teil davon. Du besitzt auch einen Teil.“

Ich hörte das Lächeln in seiner Stimme.

„Den ich mir mit Tris, Grigori, Milán, deiner Familie und deinem Pferd teilen darf.“

Wider Willen lächelte ich auch. „Vergiss nicht Tamiel. Und meinen Vater.“ Mein Lächeln erstarb. Selbst mein Vater besaß einen Teil meines Herzens. Meinen dunkelsten Teil. Luc hielt mich fester.

„Ich will keinen von ihnen vertreiben. Das würde ich auch gar nicht schaffen.“

„Dein Teil ist größer, als du weißt. Größer als ich weiß.“ Angestrengt schloss ich die Augen. Ich musste aufhören, mir selbst etwas vorzumachen. Es war schon lange klar, dass Luc der Einzige war, den ich abgesehen von Gábor als Partner in Betracht zog.

„Und auch deshalb wird das nichts mit Clara und mir. Solange du nicht endgültig vom Markt bist, wird da etwas zwischen uns sein.“ Er hatte ja recht.

„Du warst schon immer klüger als ich. Aber du kannst nicht ewig auf mich warten.“

„Tu ich doch gar nicht. Ich vergnüge mich genug. Aber ich habe keine Beziehung.“

„Reicht es dir zu wissen, dass du derjenige wärst, wenn Gábor nicht zurückkommt? Kannst du damit leben, die zweite Wahl zu sein?“

Er streichelte meine Wange. „So würde ich es nicht sehen, Joelle. Du liebst ihn auf eine besondere Weise. Und da kommt eben keiner ran. Es bedeutet nicht, dass du jemand anderen weniger lieben könntest. Nur anders.“

Dass ich mit Luc auf dem besten Wege dahin war, überforderte mich gerade. Auf einmal fühlte es sich komisch an, bei ihm zu stehen. Ich küsste ihn auf die Wange, entwand mich seinem Griff und lief nach einem Abstecher zum Waschraum zu Miláns und Grigoris Zimmer. In meinem Inneren herrschte ein ziemliches Durcheinander, das ich wegschieben konnte, wenn Milán mir mit seinen klugen Analysen etwas Durchblick verschaffte.

Wie so oft war er noch wach. Er lag auf seinem Bett und las in einem Roman, den ich nicht kannte.

„Hey“, begrüßte ich ihn.

„Joelle! Ich hab gar nicht mehr mit dir gerechnet. Wart ihr so lange auf Streife?“ Er legte sein Buch auf das Bord über dem Bett. Seufzend plumpste ich rückwärts neben Milán und zog mit den Füßen die Schuhe aus. „Wir mussten noch Meldung machen. Und dann habe ich mit Luc geredet.“

„Hat er dir seine Liebe gestanden?“ Er grinste leicht.

„Haha. Das hat er doch längst. Irgendwie. Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.“

„Wenn du ihn auch magst, dann fang was mit ihm an.“ Milán war ein Teufel. Manchmal erweckte er den Eindruck, dass er kein Gewissen besaß.

„Und was ist mit deinem Bruder?“, fragte ich vorwurfsvoll.

„Hat er dich nicht verlassen, damit du ein paar Erfahrungen machst?“

„Ich brauche nicht noch mehr Erfahrungen. Wir haben uns vor allem getrennt, weil ich für dich da sein soll und Gábor in der Hölle festsitzt. Weniger, damit ich mir einen neuen Freund suche. Egal, ich hab keine Lust, mir jetzt darüber den Kopf zu zerbrechen. War Grigori schon da?“

„Nein. Aber ich schätze mal, dass er auch nicht so bald hier aufschlägt.“

„Macht er Kerben in seinen Bettpfosten?“ Ich verzog das Gesicht. Das war gemein.

Milán grinste. „So denkst du von ihm? Du weißt schon, dass er gerade mal vier Mädchen hatte. Er verbringt fast jede Nacht bei Anouk. Sie will aber nicht, dass jemand davon erfährt, deshalb nickt er lieber irgendwelche Gerüchte ab, als seine kleine Freundin zu verraten.“

Erstaunt schaute ich in Miláns blaugrüne Augen. „Was tut er bei Anouk? Läuft etwa was zwischen den beiden?“

„Wir hören gleich auf zu reden, du bist nicht mehr zurechnungsfähig“, stellte Milán fest. „Anouk leidet unter Albträumen seit der Sache in der Banlieue. Wenn Grigori bei ihr ist, schläft sie besser.“ Beschämt sah ich an die Decke. Das hörte sich viel glaubwürdiger an als die Version, in der Grigori jede Nacht mit einem anderen Mädchen schlief. Oder eine körperliche Beziehung mit einer knapp Fünfzehnjährigen hatte. Es tat mir leid, dass Anouk dieses Erlebnis verständlicherweise nicht vergessen konnte. Ich war froh, dass Grigori sich um sie kümmerte. Die Möglichkeit, traumatische Erlebnisse aufzuarbeiten, gab es für Geisterjäger nicht. Wir hatten stets zu funktionieren. Eine Schwäche zuzugeben, konnte unter Umständen tödlich sein, zumindest schadete es der Karriere.

Milán lag richtig: Ich war heute Abend zu müde und wirklich nicht mehr zurechnungsfähig.

„Willst du einfach schlafen, Joelle?“

Ich nickte. Dann richtete ich mich auf, um Milán zu umarmen, ehe ich in mein eigenes Zimmer ging.

Ruhe fand ich dennoch keine. In meinen wirren Träumen kämpfte Gábor erst mit Luc, dann mit Milán. Irgendwann wachte ich auf, als die Zimmertür aufging. Grigori trug nur ein T-Shirt und Boxershorts. Er trat zu mir, kniete sich vor das Bett und strich mir über die Haare. Er wirkte bekümmert. Vorsichtig schälte ich mich aus der warmen Decke, ergriff Grigoris Hand und führte ihn zu Tristans verwaistem Bett hinüber. Als er darin lag, setzte ich mich zu ihm an die Bettkante. Er legte den Kopf auf meinen Oberschenkel und ließ seine Gedanken fließen. Ich hörte seine Selbstvorwürfe, weil er Anouk nicht davor bewahrt hatte, auf solch abscheuliche Weise angegriffen zu werden und weil sie jetzt unter Albträumen litt, er grämte sich wegen Milán, sogar meinetwegen. Seine Aufgaben bei der GHA und in der Hölle wurden ihm gerade zur Last. Manchmal wurde auch dem starken Grigori alles zu viel. Bei Tag würde es anders sein, aber bis dahin durfte er bei mir Nähe suchen und seine Schwäche zeigen. Es tat gut, ab und an etwas zurückgeben zu können. Mir wurden die Lider schwer, während ich Grigoris ruhiger werdenden Atemzügen lauschte. Als er schlief, legte ich mich in mein eigenes Bett und schloss selbst noch einmal die Augen.

 

Beim Frühstück merkte uns niemand an, dass wir im Dunkel der Nacht nicht hatten allein sein wollen. Heute fiel für alle das Training aus, sogar der Unterricht, denn wir unternahmen den jährlichen Großausflug des gesamten Internats, Menschen und Halbdämonen, in den Schlosspark von Versailles. Ich liebte den Park, hätte aber auch nichts dagegen gehabt, ausnahmsweise woanders hinzufahren. Der sonnige Morgen war noch angenehm, die Gluthitze würde aber nicht lange auf sich warten lassen. Im Pulk von knapp sechzig Schülerinnen und Schülern und sechs Lehrkräften, darunter auch Monsieur Renard, schlecht gelaunt wie immer, marschierten wir zum Bahnhof. Die Fahrt in dem nicht klimatisierten Waggon (Halbdämonen streng getrennt von den menschlichen Nachwuchsjägern), war kurzweilig. Während Schnauzbart griesgrämig aus dem Fenster sah und Madame Corbeau genauso ignorierte wie die lärmende Schülerschar, saßen Milán, Tristan, Grigori, Luc, Louis, Anaїs und ich zusammengequetscht und gestapelt auf zwei Viererplätzen, unterhielten uns und versuchten uns zu benehmen, wie normale Schüler es auf einem Schulausflug taten. Ich spürte, dass jeder heute einmal seine persönlichen Sorgen und Probleme im Hauptquartier zurücklassen wollte. Ich saß neben Milán und blickte hinaus auf die vorbeiziehenden Häuser und Straßen. Heute würde ich nichts tun, als durch den Schlosspark zu spazieren, auf dem Grand Canal zu rudern und irgendwo unter Bäumen zu picknicken. Doch irgendwie bezweifelte ich auf einmal, dass ich einen netten, ruhigen Tag haben würde, denn Grigori suchte meinen Blick.

Seine Gedanken verstärkten die seltsame Ahnung: Hast du deine Waffen mitgenommen?