Leseprobe Verborgenes Erbe

Prolog

Gábor

Vor anderthalb Jahren

„Joelle! Verdammt, jetzt bleib doch mal stehen!“

Ich lief einem Mädchen hinterher. Gábor Farkas lief einem Mädchen hinterher. Und das nicht erst seit vorgestern. Es war peinlich, aber nicht zu ändern. Joelle Nara Aynurin machte aus mir den größten Trottel, den die vier Welten je gesehen hatten.

Vor ziemlich genau zehn Monaten hatte sie mir endlich zum ersten Mal länger als eine Sekunde in die Augen gesehen. Kurz darauf hatte sie angefangen, mich zu grüßen und in vollständigen Sätzen mit mir zu sprechen. Von da an war es leichter geworden.

Einige Zeit hatte ich mir vorgemacht, sie würde dasselbe für mich empfinden wie ich für sie, dass wir ein Paar werden würden. Doch jede ihrer Handlungen, jede ihrer Aussagen war mit einem großen „Aber“ versehen und ließ mich ständig zweifeln. Kameradschaft ja, aber Freundschaft nein. Dann Freundschaft ja, aber Liebe nein. Und schließlich Sex ja, aber Beziehung nein. Von dem Zeitpunkt, als ich sie soweit hatte, mich als ihren festen Freund zu betrachten, bis zu ihrem denkbar größten Zugeständnis an mich, hatte nichts auf diese Katastrophe hingedeutet.

Seit einer Woche zerbrach ich mir den Kopf darüber, was zum Teufel ich falsch gemacht hatte.

Joelle redete nicht mehr mit mir. Nach der verdammt noch mal wundervollsten Nacht meines Lebens war sie einfach abgehauen. Es fühlte sich beschissen an, von ihr ignoriert zu werden. Jedes Mal, wenn sie mir über den Weg lief, nur um sofort Reißaus zu nehmen, quetschte eine krallenbewehrte Hand mein Herz zusammen. So weit war es schon. Ich dachte in beknackten Metaphern.

Aber jetzt hatte ich sie. Sie stand vor ihrer Zimmertür und konnte nicht flüchten, weil ich die Klinke festhielt. Ich kam mir erbärmlicher vor denn je.

„Warum gehst du mir aus dem Weg?“, fragte ich so ruhig wie möglich. Die schwarzen Mandelaugen hatten einen harten Glanz, der süße Mund bildete eine schmale Linie. Die Arme hatte sie vor dem anbetungswürdigen Busen verschränkt. Ihre Haltung strahlte Unbeugsamkeit aus. Doch hinter ihrer aufgesetzten Stärke und Sturheit verbarg sich eine tiefsitzende Angst, an die ich nicht rühren durfte. Eine falsche Bewegung, ein falsches Wort und sie würde ausrasten. Wüsste ich das nicht, ich hätte sie für ihr zickiges Verhalten längst in den Wind geschossen. Sie funkelte mich an, so sehr hasste sie es, dass ich sie erwischt hatte.

Ich seufzte. „Du willst das also durchziehen. Okay. Dann gehe ich mal davon aus, dass ich dir mit irgendwas zu nahegetreten bin.“ Verdammt, das war schwerer als gedacht. Ich schluckte trocken. Sie schwieg, löste aber die Arme, um mit ihrem Armband zu spielen. Ich wollte ihre Hände nehmen, sie an mich ziehen und so tun, als ob alles in Ordnung wäre.

Tatsache aber war, dass wir eine Rolle rückwärts gemacht hatten und ich womöglich wieder von vorne anfangen musste.

Meine Stimme klang schon nicht mehr so fest, wie ich es mir wünschte.

„Was hab ich getan, dass du mir nicht mehr vertraust?“

Sie schüttelte leicht den Kopf. Ich vertraue dir, hörte ich ihre Stimme in meinem Kopf. Ich vertraue nur mir selbst nicht. Bitte lass mich in Ruhe.

Das war so absolut nicht das, was ich hören wollte.

„Denkst du allen Ernstes, dass ich dich nur flachlegen wollte?“

Schweigen. Nicht mal eine Geste. Ich atmete tief durch. Schön. Dann eben auf die gemeine Tour. „Aber wenn ich es mir recht überlege, sieht es eigentlich eher danach aus, als würdest du mich abservieren. Jetzt, wo du mit mir im Bett warst.“

Ich konnte kaum weiter von der Wahrheit entfernt sein, aber dieses Schweigen machte mich wahnsinnig. Sie auf die Palme zu bringen, war manchmal der einzige Weg, etwas aus ihr herauszubekommen.

Und da traf es mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ich hätte ihr nie sagen dürfen, dass ich in sie verliebt war. Dass mir ausgerechnet bei ihr so ein beschissener Fehler unterlaufen musste! Ich war so ein Idiot!

Ihr Blick wurde offener. „Es tut mir leid. Ich kann das einfach nicht. Ich dachte, so wäre es am leichtesten für dich.“ Sie sprach so leise, dass ich mich anstrengen musste, alles mitzukriegen.

„Wenn ich denke, dass du mich hasst?“ Ich schüttelte aufgebracht den Kopf.

„Du solltest dir keine Hoffnungen machen.“

Oh, Scheiße. Ihre Unterlippe bebte. Sie biss darauf, was mich augenblicklich in den Moment zurückversetzte, als alles den Bach runtergegangen war.

„Mir tut’s leid, Joelle. Ich hab’s verbockt.“

Da legte sie die Hand auf meine. „Hast du nicht.“

Na wenigstens etwas. In meinem Magen befanden sich auf einmal zwei Säcke Zement. Auf keinen Fall würde ich auch nur eine Träne vor ihr vergießen.

Ich hatte mich schon genug erniedrigt.

Sie ließ es zu, dass ich die Hand an ihre Schläfe legte. Zum ersten Mal tat es weh, sie zu berühren.

Ich räusperte mich. „Wenn wir eine Beziehung führen würden, hätte ich mich jetzt sowieso von dir getrennt. Vater hat mich in die Hölle beordert. Die Abschlussprüfungen sind vorbei, es gibt also keinen Grund, noch länger zu warten. Heute Abend bin ich weg. Du hättest dir nicht so viel Mühe geben müssen, mich loszuwerden.“ Der letzte Satz war fies, aber sie sollte ruhig merken, wie sehr sie mir zusetzte.

Der Kloß in meinem Hals verhärtete sich, als ich sah, dass sie genauso wie ich mit den Tränen kämpfte. Ich spürte, dass sie in Wirklichkeit nicht wollte, dass ich ging. Und das musste mir genügen. So schwer es auch war.

„Mach‘s gut, Joelle.“ Dann küsste ich sie auf die Wange und ging hastig davon, bevor sie merkte, dass ich vollkommen die Fassung verlor.

Den ganzen Weg durch das ausgestorbene Treppenhaus liefen mir die Tränen über die Wangen.

1

Joelle

Gegenwart

Deus aleis non ludit. Gott würfelt nicht. Dieser rätselhafte Satz stand über der Tür der Sporthalle. Wenn das stimmte, dann gab es keine Entschuldigung, warum ER direkt darunter aufgetaucht war. Natürlich nicht Gott, sondern mein … Ich wusste nicht einmal, als was ich ihn bezeichnen sollte.

Da stand er, lässig eine Hand in der Hosentasche und rief alles in mir wach, was ich nur selten an die Oberfläche kommen ließ. Weil es wehtat.

Aber es war zwecklos, die hereinbrechenden Erinnerungen auszublenden. Sein Körper über meinem, der Geschmack seiner Haut unter meinen Lippen, das unbeschreibliche Gefühl, von ihm gehalten zu werden. Mein lusterfülltes Keuchen hallte mir in den Ohren, als Wärme in meine untere Körperhälfte schoss. Ich zuckte zusammen und ließ mein Schwert fallen. Trotzdem sah ich immer noch an meinem Trainingspartner vorbei in Richtung Tür.

„Verdammt, Jo, pass auf!“, ermahnte Tristan mich auf Französisch. „Hier bin ich!“

Blinzelnd richtete ich den Blick auf ihn. Er hüpfte vor mir auf und ab, sodass sein eng sitzendes Achselshirt etwas hochrutschte und sein Sixpack hervorblitzen ließ. Nicht dass Tristans Muskeln mich beeindrucken würden, es gab niemanden hier, der nicht total durchtrainiert war. Selbst ich war nach jahrelangem Sport- und Kampftraining ein gutes Stück entfernt von der zarten Prinzessin, die meine geringe Körpergröße jedem auf den ersten Blick suggerierte. Meine Gedanken strudelten unkontrolliert in meinem Kopf. Ich konnte mich jetzt nicht auf meinen Zimmergenossen konzentrieren. Das sah er genauso, denn er stellte das alberne Hüpfen ein und grinste mich wissend an.

„Er ist schon heute Morgen angekommen, aber du warst nicht mehr im Speisesaal. Hat gleich nach dir gefragt.“ Er wackelte mit den Augenbrauen. Idiot.

„Ja, danke, Tris“, fauchte ich. „Falls du dich erinnerst, hab ich mich damals nicht unsterblich in ihn verliebt, was eine gute Entscheidung war, weil er einfach abgehauen ist, nachdem er bekommen hatte, was er wollte.“

Das entsprach nicht der Wahrheit, denn ich hatte ihn mehr oder weniger ignoriert, bis er überraschend fortgemusst hatte. Nicht das beste Ende unserer Liaison, aber ein Ende. Um meinen Mund legte sich ein bitterer Zug, den ich hektisch weglächelte. Ich verstand nicht, warum es mich so aufwühlte, ihn zu sehen, wir hatten einvernehmlich beschlossen, wegen der Entfernung keine Beziehung anzufangen. Was nichts daran änderte, dass ich sehr oft an ihn dachte und mich selbst für meine Gefühlsduseleien verfluchte. Er hatte nur nach mir gefragt, weil er vielleicht daran interessiert war, unser Arrangement für den Zeitraum seines Aufenthalts im Hauptquartier wieder aufleben zu lassen. Und bestimmt nicht mehr. Er brauchte nicht zu wissen, dass ich die Erinnerungen an ihn, die Gefühle für ihn an meinem Körper wie an meiner Seele trug wie ein unsichtbares Brandmal.

Gábor war der Kerl, den ich niemals vergessen konnte, weil wir durch reine Unachtsamkeit unsere Seelen miteinander verbunden hatten. Erst wenn einer von uns beiden starb, würde sich dieses unsichtbare Band lösen. Gábor würde für mich immer der Typ im Hinterkopf bleiben. Manchmal war es beschissen, ein Halbdämon zu sein.

In diesem Augenblick fand er mich. Quer durch den Raum fixierten mich seine dunklen Augen, fast schwarz wie meine eigenen, während sein Mund sich zu diesem unverschämt heißen Lächeln verzog. War das etwa ein Ziehen in meinem Bauch? Dieser …! Aber ich brachte es auch nicht über mich, ihn zu ignorieren. Wenn ich ehrlich zu mir war, wollte ich ihn unbedingt sehen. Hoffentlich hatte er diesmal ein Einzelzimmer. Bei diesem Gedanken lief ich rot an. Bevor ich reagieren konnte, hatte er sich bereits wieder abgewandt. Tristan lachte jetzt richtig. „Na, Jo, tanzen die Hormone Tango? Wie gut, dass du nichts an mir findest, ich hätte kaum eine Nacht Ruhe vor dir.“

„Du bist ein Depp, Tris! Und ich mag dich zu gern, um mit dir in die Kiste zu steigen.“ Da lächelte er mich an, bevor er mir versöhnlich auf die Schulter klopfte.

„Ich weiß. Anaїs Dauphin weiß es aber nicht, was meine Chancen bei ihr garantiert erhöht. Du weißt schon, sie kann sich nicht sicher sein, ob du nicht doch eine Konkurrentin bist. Die Neue da hinten mit den schönen … blonden Haaren.“

Ich grinste trotz meiner Aufregung. „Viel Glück. Bitte häng ein Schild an unsere Zimmertür, wenn sie da ist.“

Tristan, der alte Charmeur, würde höchstwahrscheinlich nicht lange brauchen, um die neue Schülerin von den Vorzügen des Internatslebens im Allgemeinen und sich selbst im Besonderen zu überzeugen.

„Soll ich zu ihm gehen?“ Ich strich mir die verschwitzten Haarsträhnen zurück, die sich aus meinem Pferdeschwanz gelöst hatten. Vielleicht sollte ich mich aber auch so schnell wie möglich in die Umkleide flüchten und ausgiebig duschen, bevor ich ihm gegenübertrat. Schließlich hatten wir uns ewig nicht mehr getroffen, da konnte ich es mir eigentlich nicht leisten, mein Aussehen zu vernachlässigen. Sogar wenn ich ihn eigentlich abserviert hatte. Eigentlich.

„So nervös! Hör auf, die Hände zu kneten, das machen nur alte Weiber und Priester.“ Tristan lachte leise. Seine rötlichen, kurzen Haare waren ebenso schweißgetränkt wie meine. Seit zwei Stunden kämpften wir beinahe pausenlos gegeneinander in der riesigen Sporthalle der Ghost Hunter Association in Paris. Wir lebten hier im Internat, Tristan und ich seit gut acht Jahren. Wie alle hier bereiteten wir uns darauf vor, Geisterjäger zu werden und die Welt der Menschen vor den bösen Kräften des Jenseits und der Hölle zu schützen, was auch Dämonen einschloss.

Seufzend bückte ich mich, um mein Kurzschwert aufzuheben. Um uns herum gingen die Übungsduelle weiter, Schwerterklirren und gelegentliches Rufen erfüllte den hohen Raum. Unsere Trainer Albert Renard, ein untersetzter Mann mit einem gewaltigen Schnauzer im Gesicht, und Georgette Corbeau, eine hochgewachsene Frau undefinierbaren Alters, wie immer mit strengem Dutt, standen vor der Doppeltür zur Halle. Sie waren ins Gespräch mit dem Neuankömmling vertieft und bemerkten nicht, dass Tristan und ich eine unerlaubte Pause einlegten. Ich schaute auf die Uhr an der Wand über dem Geräteraum.

„Gleich Zeit fürs Mittagessen, ich geb mir jetzt nicht die Blöße und renne gleich zu ihm. Soweit kommt’s noch! Los, Aufstellung!“

Wir machten weiter. Leider war es um meine Konzentration immer noch schlecht bestellt und ich verdankte es allein Tristans Güte, dass ich mir lediglich zwei Schnitte am linken Oberarm einfing und nicht mehr. Mit Holzschwertern kämpften nämlich nur die Jüngeren. Körperschutz gab es auch keinen, damit wir uns richtig verteidigten. Wozu ich heute leider nicht im Stande war. Dauernd ließ ich meine Deckung fallen und lieferte meinem Kumpel eine gute Vorlage nach der anderen. Kopfschüttelnd sprang er irgendwann hinter mich und setzte mir sein Schwert an die Kehle.

„Wenn du gegen jemand anderen kämpfen würdest, lägst du schon auf der Krankenstation. Du gehst jetzt duschen. Ich sage Käpt’n Schnauzbart, dass du dich verletzt hast. Ist ja nicht ganz gelogen.“

„Danke. Tut mir leid, ich war mit den Gedanken woanders.“ Zum Beispiel bei der Frage, was ich zum Mittagessen anziehen sollte und was zum Teufel ich mit IHM reden sollte, wenn wir uns gegenüberstanden.

„Schon gut. Ich hab sowieso noch was vor.“ Er schaute zu der neuen Blondine hinüber, die mit der kleinen Anouk Dupont, unserer rothaarigen Streberin, üben musste.

„Was quatscht er denn so ewig mit Renard?“

„Wärst du mal länger beim Frühstück geblieben, dann müsstest du mich jetzt nicht ausfragen“, zog Tristan mich auf.

„Hast du nun eine Ahnung, warum er wieder hier ist, oder nicht?“, entgegnete ich ungeduldig.

„Es geht sicher um den Trainingsplan seines Bruders.“

Ich machte große Augen. „Was? Sein Bruder kommt auch wieder her? Welcher von beiden? Und warum nur einer?“

Tristans Grinsen erstarb. „Das solltest du ihn lieber selbst fragen. Und jetzt ab mit dir, Madame Corbeau holt schon ihre Trillerpfeife raus.“

Ich joggte davon in Richtung Dusche und war noch vor den Ersten wieder draußen.

 

In meinem und Tristans Zimmer angekommen warf ich das nasse Badelaken nachlässig über einen Stuhl und zog das T-Shirt aus, das ich beim Frühstück mit einem dicken Klecks Erdbeermarmelade verziert hatte. Ich entschied mich nach einigem Hin und Her für ein hellgrünes Langarmshirt, das meine frischen Wunden verdeckte.

Ich öffnete mein Sprossenfenster weit, um einen Moment die warme Mailuft hereinzulassen und die Sonne auf mein ohnehin schon erhitztes Gesicht scheinen zu lassen. Nach dem Training brauchte ich immer eine ganze Weile, bis ich abkühlte. Heute war das schwerer als sonst. Kribbelig stopfte ich die Sportsachen und mein schmutziges T-Shirt in den übervollen Wäschesack, kämmte mir vor dem Wandspiegel neben der Tür meine fast schwarzen Haare, bis sie mir schon etwas trockener über den Rücken hingen und sich vorne leicht lockten. Prüfend glitt mein Blick zu meinem Dekolleté. Der Ausschnitt des Shirts war womöglich etwas zu gewagt. Ich wollte vermeiden, dass alle dachten, ich hätte es nötig. Das hatte ich nämlich nicht. Männliche Aufmerksamkeit war etwas, das mir überreich geschenkt wurde, ob ich es beabsichtigte oder nicht. Damit befand ich mich allerdings in bester Gesellschaft. Halbdämoninnen wie ich waren im Hauptquartier der Ghost Hunter Association vielleicht normal, für den Rest der Welt galt das nicht. Keiner hier sah gewöhnlich aus, unsere menschlichen Trainer verblassten neben uns. Von Monsieur Renards Schnauzer abgesehen, der fiel überall auf. Wenn wir uns in die Öffentlichkeit wagten, stachen wir aus der Menge heraus, so gut wir uns auch tarnten. Menschen konnten uns nicht links liegen lassen, wenn wir nicht gerade mit anderen Welten in Berührung kamen, denn dann wurden wir für die meisten automatisch unsichtbar. Denn die Geister schirmten uns ab, indem sie für menschliche Augen sämtliches Licht in ihrer Umgebung einsaugten. Schlenderten Tristan, Luc und ich aber gemütlich durch den Park, folgten uns die Blicke, teils bewundernd, teils ängstlich. Normale Menschen mieden uns trotz aller Attraktivität, sie spürten das Dämonenblut in uns, die Fremdheit, das Böse der Hölle. Sie wussten ja nicht, dass wir sie vor genau diesem Übel bewahrten. Jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, an dem wir uns für die Hölle oder das Diesseits entscheiden mussten. Was ich aus ganz persönlichen Gründen so lange wie möglich hinauszögern würde.

Die strengen Regeln der Vereinigung der Geisterjäger erlaubten aber ohnehin keine engen Kontakte zu Normalsterblichen. Uns Halbdämonen, die wertvollsten und besten Kämpfer, die sie zu besitzen glaubte, bewachte sie mit Argusaugen. Wir alle stammten von gefallenen Engeln ab; von jenen sagenumwobenen Wesen, die einst an der Schöpfung mitgewirkt und sich auf der Erde mit Menschenfrauen eingelassen hatten und mit ihnen nach wie vor Kinder zeugten. In den apokryphen Schriften der Bibel nannte man sie auch „Die Zweihundert“, doch es gab noch mehr von ihnen. Letztendlich war es nicht allein die Existenz der Nephilim, die Gott erzürnte, sondern weit mehr die von Luzifer angeführte Rebellion gegen ihn. Dafür verloren die Engel das Paradies, durften sich aber durch Gottes Gnade die Dimension der Hölle als eigenes Reich erschaffen, das durch Portale mit dem Diesseits, der Welt der Menschen, und mit dem Jenseits, der Welt der Geister, in Verbindung stand.

Meine Mutter hatte mir einmal erklärt, dass die Existenz der Hölle notwendig war, um ein stabiles Gleichgewicht zwischen den universellen Kräften Gut und Böse zu gewährleisten. Fehlte das Böse, für das die Hölle stand, geriet die Ordnung des Universums aus den Fugen, was zur Vernichtung aller Welten führen würde. Vielleicht war das richtig, aber deshalb wollte ich trotzdem nicht zur Hölle gehören. Auch das war eines der unüberbrückbaren Hindernisse zwischen meinem Exfreund und mir. Er gehörte längst zur Hölle. Besser, er wäre dort geblieben.

Ich schüttelte den Kopf, um die ungeordneten Gedanken zu vertreiben. Sie waren nicht mehr als eine Verzögerungstaktik.

Wie um mir selbst Mut zu machen, jetzt aus meiner Tür herauszugehen, lächelte ich mein Spiegelbild an. Mit fahrigen Bewegungen strich ich mir die Haare zurück. Meine Finger zitterten vor Aufregung. Als wollte ich mich hypnotisieren, betrachtete ich mich selbst.

Für die hiesigen Verhältnisse hatte ich eine normale Figur, durchtrainiert, aber nicht unweiblich. Meine schmal geschnittene Bluejeans war marmeladenfrei und saß perfekt.

Mein Busen neigte leider zuweilen dazu, die Grenzen der gängigen Oberteile für meine Körpergröße und -fülle zu missachten, weshalb ich zumindest obenherum weitere Kleidung bevorzugte und lieber in Schlabbershirts herumlief, als jedem meinen Ausschnitt zu präsentieren. Interessanterweise hielt selbst das einige Mitschüler nicht davon ab, mir Avancen zu machen, sofern ich es zuließ. Mein dämonischer Vater hatte mir die Gabe der Verführung vererbt. Ich kannte niemanden, bei dem diese Gabe schlechter aufgehoben war, als mich. Wenn ich es darauf anlegte, verfehlte sie bei keinem ihre Wirkung. Außer bei Tristan, und das, aber natürlich nicht nur das, machte ihn zu einem meiner besten Freunde.

Ein anderer Freund wartete hoffentlich auf mich im Speisesaal. Auch wenn Freund nicht die richtige Bezeichnung war. Nicht mehr. Vielleicht war sie es nie gewesen. Verflossener allerdings ebenso wenig. Nennen wir ihn den Typen, der mir die Unschuld geraubt und sich wie ein Gehirnparasit in meinem Kopf festgesetzt hat, seit ich ihm vor über einem Jahr zuletzt begegnet bin.

Ich atmete tief durch. Es war nicht mehr als Schwärmerei. Und Sex. Nichts, was diese Nervosität rechtfertigt. Du kannst das. Es ist nur Gábor. Doch mein Herz trommelte mir auf einmal gegen die Rippen.

Ich betastete die mongolische Münze an meinem Lederarmband, um mich wieder zu erden. Die vertrauten Umrisse zu spüren, daran zu denken, wie meine Mutter sie mir kurz vor ihrem Tod geschenkt hatte, lenkte mich einigermaßen ab.

Ich ermahnte mich innerlich: Los jetzt! Raus aus diesem

Zimmer!

Doch meine Gedanken rasten geradezu in Richtung Vergangenheit. Zu sehr war das vorhin in der Sporthalle ein Déjà-vu gewesen.

2

Vor zwei Jahren

„Was geht da drin in Schnauzbarts Büro ab?“, erkundigte sich Tristan und stützte sich neben mir verbotenerweise auf dem Griff des Langschwerts ab, mit dem wir uns bis eben duelliert hatten, sodass sich seine Spitze in den glänzenden Holzboden der Sporthalle bohrte.

Ein Glück, dass unser Trainer gerade damit beschäftigt war, Gábor Farkas gut sichtbar durch die Glasscheibe in seinem Trainerkabuff zur Sau zu machen. Immerhin laut genug, dass wir alle unsere Trainingskämpfe beendeten und das Wortgefecht zwischen den beinahe gleich großen Männern beobachteten. Leider hatte Renard die Tür geschlossen, weshalb wir nur raten konnten, um was es ging. Ausnahmslos jeder aus unserer sechsköpfigen Trainingsgruppe hatte den Blick zum Trainerbüro gewandt. Madame Corbeau war mit einer anderen Gruppe Halbdämonen in der zweiten Halle und würde uns sicher nicht zur Ordnung rufen.

Ohne uns von der Stelle zu rühren, verfolgten wir interessiert, wie zwei Krankenpfleger und eine Ärztin von oben die Halle betraten und grußlos zur anderen hinübereilten. Wenige Minuten später wurde Georges auf einer Trage abtransportiert, blutend und voller Blutergüsse.

Gerade bekam ich eine Ahnung, warum Renards Schnurrbart erzitterte und er wild gestikulierend auf den armen Gábor einredete. Luc erschien an meiner freien Seite.

„Wenn er Georges so zugerichtet hat, fliegt er beim nächsten Vergehen raus. Schnauzbart sieht aus, als würde er Farkas selber gern eine zimmern.“ Er gluckste. Als ich zu ihm hinübersah, lachten auch seine dunkelblauen Augen.

„Vielleicht ist ja genau das seine Absicht. Manche kriegen schon nach zwei Tagen hier drin die Krise“, merkte ich an und zuckte die Achseln. Oder Gábor hatte gleich klargestellt, dass man sich mit ihm besser nicht anlegte. Ich machte es ja nicht anders. Nachdenklich beobachtete ich den Neuen. Mir gefielen seine wilden Locken. Noch mehr aber der unbeugsame Gesichtsausdruck, den ich von mir selbst viel zu gut kannte.

Ich fragte mich, ob Gábor auch jemand war, der sich dahinter versteckte. Nicht dass ich das jemals herausfinden wollte. Mehr von dem Getratsche meiner Mitschüler im Unterricht und in den Pausen hatte ich mitgekriegt, dass wir einen neuen Halbdämon in unseren Reihen hatten. Ein paar Mal hatte ich ihn auch auf dem Flur gesehen.

Gábor war angeblich für sein letztes Schuljahr aus Deutschland nach Paris gekommen, weil sein Vater die Schnauze voll davon hatte, wie Gábor sich zuhause benahm. Die wahrscheinlich erfundenen Gründe wiederum reichten von schlimmen Prügeleien (was die Sache mit Georges leider untermauerte), über Befehlsverweigerung, familieninterne Streitigkeiten und Schule schwänzen bis zu Mord. Als ob. Gábor war volljährig; also wäre er nicht ins Internat gekommen, sondern nach einer Gerichtsverhandlung in den Knast, der sich ein paar Stockwerke unter uns befand. Wahrscheinlich hätte man ihn sogar hingerichtet. Die Todesstrafe war vielleicht in der Welt der Menschen größtenteils abgeschafft, jedenfalls in Europa, bei der GHA galt sie nach wie vor. Doch all das erklärte ich den anderen nicht. Erstens war es nicht meine Aufgabe und zweitens kam Gábor gut alleine zurecht. Was auch immer er damit bezweckte, Georges im Training zu vertrimmen und unsere Trainer damit auf die Palme zu bringen, es ging mich nichts an. Ich beteiligte mich überhaupt nicht an solchen Unterhaltungen und hatte immer wieder nur die Augen verdreht, wenn Marinette, unsere zarte brünette Schönheit, oder Clara nach meiner Meinung gefragt hatten. An Gerüchten war in der Regel nichts dran.

Georges war ein Idiot mit einem losen Mundwerk, das sicher mit schuld war an der Tracht Prügel; aber Gábor, der älteste Sohn des Ratsmitglieds Béla Farkas, sah selbst auf die Entfernung so zornig und verstockt aus, dass mir Schnauzbart ein wenig leidtat. Zumindest bis zu dem Augenblick, als er die Tür aufstieß und seinem Schüler mit einem knappen Nicken befahl, mitzukommen. Gegen meinen Willen folgte ich Gábors sparsamen und eleganten Bewegungen, bis er plötzlich mit dem Trainer vor mir stand.

Erschrocken fuhr ich zurück und legte den Kopf leicht in den Nacken, um zu den beiden Männern aufschauen zu können. Renard hatte immer noch nicht kapiert, dass ich es hasste, wenn man mir beinahe auf die Füße trat und keinen Abstand hielt. Ich brauchte davon mehr als andere.

Gábor sah prüfend auf mich herunter und verengte für den Bruchteil einer Sekunde die dunkelbraunen Augen, ehe er mich anlächelte. Statt sein freundliches Lächeln zu erwidern, wich ich noch weiter zurück und versuchte, ruhig zu bleiben. Die Schmetterlinge in meinem Bauch waren garantiert nicht von der verliebten Sorte.

„Du wirst die restliche Trainingszeit mit ihr kämpfen“, befahl Renard und zeigte unhöflich auf mich. Normalweise hätte ich ihm mit einem passenden Kommentar wie „sie trainiert aber schon mit Tristan Guépard“ oder „drüben ist sicher noch jemand frei“ geantwortet, doch meine Kehle war ausgetrocknet. Mit einem lauten Scheppern fiel mein Schwert zu Boden, als ich hektisch nach der mongolischen Münze an meinem Armband griff. Verdammt! Schnauzbart sollte endlich diesen lächelnden, wirklich hübschen, aber leider auch ziemlich bedrohlichen Typen von mir entfernen. Gut, Gábors Mundwinkel sanken nach meiner bescheuerten Reaktion von selbst. Ich traute mich nicht, mein Schwert aufzuheben, weil mich nun mit einem Zittern die irrationale Angst überkam, der Fremde würde meine Schwäche ausnutzen und mich angreifen, wenn ich ihn nicht die ganze Zeit über im Auge behielt.

Gábors abschätziger Blick machte mich noch nervöser. Mein schlingernder Magen ließ mich trocken schlucken und kaum hörbar angestrengt atmen.

Da Renard solches Benehmen von mir gewohnt war, ging er gar nicht darauf ein.

„Kann ich nicht jemanden in meiner Größe bekommen, Monsieur?“, fragte Gábor in nicht ganz astreinem Französisch. Er hatte einen winzigen Akzent, eine etwas andere Sprachmelodie und ein leicht rollendes R. Vermutlich sprach er wie sein Vater lieber Ungarisch als Französisch. Kurz fing ich mich wieder.

Ich wusste nicht, ob ich beleidigt oder erleichtert sein sollte, bis ich Renards finsteren Blick unter buschigen Augenbrauen bemerkte.

„Treib es nicht zu weit, Farkas! Noch so ein Ding und du kannst zurück nach Deutschland oder gleich zu den Zigeunern nach Ungarn, wo du hingehörst.“

Gábor setzte bereits zu einer wütenden Erwiderung an, doch Schnauzbart drehte ihm desinteressiert den Rücken zu und ich rang mich dazu durch, Gábor fest auf den Fuß zu treten und den Kopf zu schütteln.

„Autsch! Zigeuner! Mit wem ist er denn verwandt? Mit einem Walross?“

Da ließ ich meine Münze los und grinste. Das Zittern war verschwunden.

Gábor fuhr fort: „Das wollte ich ihm nicht nachrufen. Ich wollte sagen, es heißt nicht Zigeuner, sondern Sinti und Roma und mit ihnen bin ich nicht verwandt. Auch wenn meine Familie aus Ungarn stammt.“

Mein Grinsen wich einem vorsichtigen Lächeln. Ich rechnete es ihm hoch an, dass er nicht näher auf mich zukam. Überhaupt fand ich ihn ohne den Trainer, der ihn offensichtlich genauso wütend machte wie Gábor ihn, nicht mehr ganz so gruselig. Trotzdem zuckte ich zurück, als Gábor sich bückte, um mein Schwert aufzuheben. Mein Blick huschte zu Tristan und Luc, die aufmerksam zuschauten. Die Gewissheit, dass sie dazwischen gehen würden, wenn der Neue mir zu nahe trat, beruhigte mich. Ich atmete tief durch und fing mir ein Stirnrunzeln von meinem Gegenüber ein. Aber er sagte nichts. Er reichte mir das Schwert.

„Hier. Joelle, richtig?“

Ich nickte.

„Für den Fall, dass Renard meine sämtlichen Namen nicht laut genug gebrüllt hat, ich heiße Gábor.“

Ich lächelte halb. Er war nett. Im Stillen wiederholte ich die Namen, die Schnauzbart rezitiert hatte, als wären sie die einzige Beschwörungsformel, mit welcher der renitente Schüler in den Griff zu kriegen war.

Gábor Mátyás Farkas.

„Wollen wir anfangen?“

Ich nickte wieder. Eine Antwort hätte ich immer noch nicht herausgebracht. Gábor störte sich anscheinend nicht daran und ging in Aufstellung.

Schwertkampf war gut. Etwas, das ich beherrschte und bei dem ich nicht unnötig reden musste.

Gábor war ein sehr guter Kämpfer. Ich erkannte sofort, dass er jahrelange Übung besaß.

Nach kurzem Herantasten ging es richtig los. Das beidhändig geführte Langschwert stellte für mich mit meiner geringen Körpergröße eine Herausforderung dar, doch Gábors Vorteil war klein. Ich machte seine Größe und Stärke durch Schnelligkeit und Beweglichkeit wett und landete ebenso viele Treffer wie er. Dennoch spürte ich, dass ich weit härter zuschlug als er. Ich war mir nicht sicher, was ich davon halten sollte. Einerseits war es nett von ihm, mich nicht ebenfalls in den Krankensaal zu schicken, andererseits hatte ich das nicht nötig und ärgerte mich über den Chauvinismus meines unfreiwilligen Trainingspartners. Anscheinend merkte er mir meinen Verdruss an, denn seine Schläge wurden härter. Gut so.

Meine Angst war immer fort, solange ich kämpfte. Ich wollte nicht aufhören, denn wenn ich mein Schwert sinken ließ, verwandelte ich mich wieder in das verschüchterte kleine Mädchen, das kaum mit fremden Männern sprechen konnte und ihnen aus dem Weg ging. Außerdem liebte ich den Flow, in den ich bei einem langen Training immer kam. Alle Gedanken kamen zum Erliegen und fokussierten sich nur noch auf die Regungen meines Gegners, seine Aktionen und Reaktionen.

Schweiß rann mir aus jeder Pore, mein Tanktop klebte an meinem Oberkörper. Meine Muskeln brannten und mein Gesicht musste vor Anstrengung hochrot sein. Es war auf eine Art befriedigend, dass es Gábor ähnlich gehen musste. Seine olivfarbene Haut mit den dunklen Sommersprossen war gerötet, die Locken in seiner Stirn waren nass. Doch sein konzentriertes Gesicht hatte alle Härte verloren. Er genoss das hier. So wie ich.

Renards Pfiff kam zu früh.

„Danke“, sagte Gábor. Seine tiefe Stimme hatte etwas Samtiges, das die Mädels um die blonde Elfe Clara sicher ganz wuschig machte, mir aber sämtliche Haare zu Berge stehen ließ. Er klang zu männlich, zu dämonisch. Und das brachte mich dazu wegzulaufen. Noch während ich zu Tristan rannte, kroch die Scham in mir herauf. Ich konnte vielleicht gut mit dem Schwert umgehen oder mit meinen Fäusten, aber bei allem anderen versagte ich.

Tristan hielt mich am Arm fest und warf einen Blick über seine Schulter. Ich widerstand dem Drang, es ihm gleichzutun.

„Er guckt dir hinterher“, meinte mein Mitbewohner grinsend.

„Gefällt er dir?“, fragte ich, um nicht auf seine Bemerkung eingehen zu müssen. Gábors Blicke schienen sich nämlich in meinen Rücken zu brennen, wo sich die Flügel freudig ringelten. Ganz toll. Meine vernachlässigte Libido brauchte mir gar nicht so zu kommen.

Tristan legte einen Arm meine Taille. „Natürlich. Hübsches Gesicht mit Kanten an den richtigen Stellen und ein Körper zum Niederknien. Nur mit seinen Haaren könnte er mal was machen.“

„Nichts wie hin, Tris! Er ist sicher dankbar für deine Stylingtipps“, witzelte ich, lehnte aber den Kopf kurz an Tristans Oberarm. Neben Luc Fennec, der eigentlich Lucien hieß, war er das einzige männliche Wesen, dem ich es gestattete, mir so auf die Pelle zu rücken. Ob es daran lag, dass er zwar Frauen datete, aber ebenso eine Vorliebe für Männer hatte, konnte ich nicht sagen.

Ich zog mich in Rekordzeit um. Dem Neuen wollte ich heute nicht mehr begegnen. Morgen war sicher schon etwas Gras über meine peinliche Flucht gewachsen.