Leseprobe Gestohlenes Kind

1985

Die Männer holten Jakob am dritten Tag. Er hatte ihre Stimmen hinter der Tür gehört, gedämpftes Flüstern, das sich immer weiter steigerte, bis sie seinen Namen schrien.

»Mama?« Er kroch die letzten Meter zu ihr über den scherbenbedeckten Boden. Kaltes Glas brannte auf seinen Handinnenflächen. Schnitt durch seine Jeans in die Knie, aber er spürte den Schmerz kaum. Der Gestank nach Blut und Erbrochenem wurde intensiver. Säuerlich und gleichzeitig so beißend süß, dass es ihm den Magen umdrehte. Ihre blonden Haare lagen wie ein Heiligenschein um ihr Gesicht gebreitet. Mit halb geöffnetem Mund starrte sie an die Zimmerdecke, die Augen vollkommen ausdruckslos, als sei sie bloß eine leere Hülle. Ein Speichelfaden rann ihre linke Gesichtshälfte hinab und hinterließ einen feuchten Fleck auf dem vergilbten Teppich. Er berührte sie vorsichtig an der Schulter, so als könne sie unter dem Druck seiner Finger jederzeit zu Staub zerfallen.

»Sie sind wieder da«, flüsterte er. Vor lauter Angst glaubte Jakob, jeden Moment den Verstand zu verlieren.

»Mach die verdammte Tür auf! Wir wissen, dass du dadrin bist!«, brüllten sie, während der Türrahmen unter ihren Schlägen vibrierte. Der erste Riss zeichnete sich als Schatten auf der Maserung des Holzes ab.

»Sie werden uns holen, Mama, du musst aufwachen!«

Ein Tritt, und die Tür würde nachgeben, als sei sie bloß eine Attrappe aus Karton. Ihr Gesicht blieb ausdruckslos. Starr und bleich und tot wie eine Wachspuppe.

 

Zu seinem Geburtstag hatte Jakob sich gewünscht, einmal ins Museum zu gehen, nur einmal, obwohl seine Mama immer schimpfte, dass sie die Preise extra so teuer machten, damit nur die piekfeinen Leute hereinkamen. Alle aus seiner Klasse waren da gewesen: Sie redeten pausenlos darüber, wie sie sich gegruselt hatten und wie lebensecht die Wachsfiguren aussahen. Beinahe so, als würden sie jeden Augenblick die Hände nach den Besuchern ausstrecken. Es war zwar verboten, aber einige seiner Klassenkameraden hatten die Puppen trotzdem angefasst. Bill hatte die Brüste von einer berührt. Sie waren ganz weich und warm und so groß wie zwei Wassermelonen im Hochsommer (so erzählte er zumindest jedem, der danach fragte, und auch allen anderen, ob sie es nun hören wollten oder nicht).

Jakob wusste aus den Erzählungen der anderen, dass Muhammad Ali gleich vorn stand, die Rechte angriffslustig erhoben, bereit, jederzeit einen Treffer zu landen, wenn man nur kurz nicht aufpasste. Wer weiß, vielleicht konnte er seine Mutter sogar überreden, ein Foto von ihnen zu machen, er und der Champ, die Knie leicht angewinkelt und die Fäuste kampfeslustig erhoben. Dann musste er unbedingt zu der Frau mit den Wassermelonenbrüsten, auch wenn er sich ganz bestimmt nicht trauen würde, sie anzufassen. Oder vielleicht doch? Bei dem Gedanken war Jakob ganz heiß und schwindelig geworden.

Am Morgen seines zehnten Geburtstages war er um Punkt sieben Uhr aus dem Bett gesprungen und hatte seinen besten Pullover angezogen (den Pullover, den er auch immer für die dämlichen Schulfotos anziehen musste, obwohl seine Mutter sowieso niemals Abzüge kaufte). Dann hatte er den bereits gepackten Rucksack aufgesetzt und gewartet. Er hatte gewartet, während die Sonne höher und höher stieg, und er hatte gewartet, während sein Magen anfing, sich vor Hunger zu verkrampfen, weil er viel zu aufgeregt war, um etwas zu essen. Irgendwann hielt er es einfach nicht mehr aus: Er hatte an der Schlafzimmertür seiner Mutter geklopft, obwohl sie das gar nicht leiden konnte.

Drinnen blieb es still. Jakob lauschte und hörte die Toilettenspülung der alten Hexe von oben wie einen Wasserfall rauschen. Türen wurden geknallt. Irgendjemand im Haus hatte seinen Fernseher in voller Lautstärke aufgedreht. Langsam drückte er die Klinke hinunter und stieß die Tür ein Stück weit auf. Der Raum war dunkel. Durch den schmalen Spalt fiel ein Lichtstrahl, in dem Staubkörner wie Schneegestöber tanzten. Jakob hatte die rechte Hand in die Dunkelheit gestreckt. Einen kurzen, schrecklichen Augenblick stellte er sich vor, etwas würde ihn jeden Moment in das Zimmer ziehen. Lange Finger mit dicken, gelben Nägeln, die sich in seinen Arm bohrten, daran zerrten und zogen. Er nahm all seinen Mut zusammen und tastete die Wand ab. Strich behutsam über die raue Tapete, jederzeit bereit, seine Hand blitzschnell zurückzuziehen, sollte dort irgendetwas Behaartes oder Glitschiges oder sonst etwas Ekliges sein, was dort nicht hingehörte. Und dann ertastete er den Lichtschalter. Mit einem Klacken flackerte das Licht auf. Es war so grell, dass er die Augen einen Moment lang schließen musste. Keine Monster, die hier auf ihn gelauert hatten.

Das Bett war leer. Nur die Decke lag als Knäuel am Fußende der Matratze, wie eine faule, schneeweiße Katze. Blusen und Kleider auf dem Boden verteilt. Vor dem Spiegel eine Reihe duftender Flakons, bunte Tuben und Pinsel mit glitzrigen Puderresten. Jakob war zurück in sein Zimmer gegangen, hatte den Rucksack von den Schultern genommen und seinen besten Pullover wieder ausgezogen.

Seine Mutter war erst nach Hause gekommen, als es bereits wieder dunkel wurde. Die Reste des Puders als glänzende Schatten unter ihren Augen. In der Hand hielt sie ein Trinkpäckchen Eistee, das vermutlich nach Zucker, aber kaum nach sonnengereiften Pfirsichen schmecken würde, wie es die Verpackung anpries. Sie gab ihm einen feuchten Kuss auf die Stirn, drückte ihm das Päckchen in die Hand und legte sich schlafen.

Jakob hatte nie wieder nach dem Museum gefragt. Einige Wochen später hatte Bill Fotos von der Wassermelonenfrau in die Schule mitgebracht. Plötzlich war Jakob eigentlich ganz froh, nicht selbst da gewesen zu sein. Die Wachspuppe sah überhaupt nicht aus wie ein Mensch. Sie wirkte bleich und kalt, irgendwie unheimlich. Wie ein Ding, das verzweifelt versuchte, ein Mensch zu sein. Genauso wie seine Mutter jetzt.

»Mama?« Zaghaft strich Jakob über ihr Wachspuppengesicht.

 

Der nächste Schlag ließ den gesamten Türrahmen erzittern.

»Mach auf, du Ratte, wir wissen, dass ihr dadrin seid!«

Eine Fliege landete auf ihrem linken Auge. Das Insekt streckte den behaarten Rüssel hervor und tastete das Weiß ihres Augapfels ab, so als suchte es bereits einen Platz, um seine Eier abzulegen. Eier, die sich zu Larven entwickeln würden, die sich an totem Fleisch satt fraßen, bis daraus wieder Fliegen schlüpften und der Kreislauf von Neuem begann.

Wie in Zeitlupe schloss sich ihr Augenlid und verscheuchte die Fliege wieder. Noch nicht. Noch schlug ihr Herz. Träge und unregelmäßig, aber es schlug. Das andere Auge starrte weiter in Richtung der Decke. Jakob begann stumm zu weinen und grub die Fingernägel jetzt so fest in ihre Haut, dass eine Reihe roter Halbmonde darauf zurückblieb. Der Türrahmen splitterte. Ein Geräusch, als brächen menschliche Knochen entzwei.

»Egal, was passiert … Ich werde zurückkommen. Ich lasse dich nicht allein.«

Er wollte heldenhaft klingen, furchtlos, wie Superman im Fernsehen, der jeden Tag Menschen rettete, aber seine Stimme war so dünn und zittrig, dass seine Worte irgendwo zwischen seinem Mund und ihrem Ohr verloren gingen.

Sie reagierte nicht, als ihre geisterhaften Silhouetten im Türrahmen erschienen. Dieses Mal waren sie zu zweit. Die Scherben knackten wie morsche Zweige unter ihren Stiefeln. Der Hagere war der Anführer. Alles an ihm war zu groß geraten, der rechteckige Schädel, die schiefe Nase in seinem Gesicht, die breiten, wulstigen Hände. Er hieß Hagen, das wusste Jakob, weil er schon oft hier gewesen war. Er war der Mann, der das Geld eintrieb, auch wenn es kein Geld gab. Der Mann, den niemand freiwillig zu sich nach Hause ließ, weil Hagen erst wieder ging, wenn er sich geholt hatte, was er wollte. Mit knapp zwei Metern musste er sich unter dem Türrahmen herunterbeugen. Der kleine Dicke folgte ihm wie ein Hund, das breite, fettglänzende Gesicht ähnelte sogar einer Bulldogge.

»Ist sie tot?« Hagen war mitten im Raum stehen geblieben und starrte mit einer Mischung aus Faszination und Ekel auf den seltsam verdrehten, schmutzigen Körper.

Jakob schwieg.

»Bist du taub oder was?!«

Wie auf ein stummes Kommando durchquerte der kleine Dicke den Raum und gab Jakobs Mutter einen Tritt gegen die Rippen. Jakob hatte geglaubt, keinen Funken Energie mehr in sich zu tragen, aber das Adrenalin strömte für einen Moment wie ein Aufputschmittel durch seine Adern. Er sprang auf und holte zum Schlag aus, bereit, die Fäuste in die Fettmassen zu rammen, wieder und wieder, bis das Fett unter seinen Knöcheln vibrierte und seine Hände taub wurden. Da warf sich der Dicke auf ihn. Der wuchtige Körper drückte ihn zu Boden und presste ihm die Luft aus den Lungenflügeln. Jakobs Muskeln erschlafften, als er merkte, dass der Kampf aussichtlos war. Plötzlich wurde er müde. Furchtbar müde.

»Verdammte Scheiße, der hat sich in die Hose gemacht!« Der Dicke begann zu würgen und richtete sich ein wenig auf, um ihn wieder atmen zu lassen. Jakob schnappte nach Luft, konnte sich aber weiterhin keinen Zentimeter bewegen. Seine kräftigen Hände drückten ihn unerbittlich zu Boden.

»Was machen wir mit der Alten und dem Hosenscheißer?«

Hagen kniete sich auf den schmutzigen Teppich und beugte sich nach vorn, bis sein spitzes Gesicht nur noch Millimeter von ihrem Mund entfernt war. Dann wartete er auf den nächsten, rasselnden Atemzug.

»Die macht nicht mehr lange. Bring sie weg, ich will keine Polizei im Haus«, sagte er.

»Weg? Wohin?«

»Überleg dir was, Idiot. Leg sie irgendwo am Straßenrand ab, wo sie so schnell keiner findet. Dann erledigt sich das von selbst.«

»Und das Kind?«, fragte er.

»Mach dir darum keine Sorgen.« Hagen griff nach Jakobs Kinn und drehte dessen Kopf im gedämpften Licht hin und her. »Ich kenne jemanden, der einen guten Preis für ihn zahlen wird.« Und dann lächelte er und entblößte eine Reihe gelber Zähne, die aussahen, als könne er damit ein Stück Fleisch zerreißen.

JETZT. 23 Jahre danach.

Der Bus kam ausnahmsweise pünktlich. Kreischende Bremsen auf nass gefrorenem Asphalt. Die Reifen rutschten die letzten Zentimeter über die spiegelglatte Straße, ehe sie direkt vor Niklas zum Stehen kamen. Seine Hände zitterten, als er in seiner Jackentasche nach dem Ticket suchte. Ein ungeduldiger Rentner drängte Niklas mit seinem Regenschirm weiter nach vorn. Die Spitze bohrte sich wie eine Nadel in seine Hacken. An jedem anderen Tag hätte er sich deswegen noch mehr Zeit gelassen. Nicht heute. Im Businneren schlug ihm trotz der Novemberkälte die schwüle, verbrauchte Luft eines langen Tages entgegen. Die Leute drängten sich dicht an dicht, während sie versuchten, sich gegenseitig zu ignorieren. Niklas stand jetzt so nah vor der Busfahrerin, dass er den süßlichen, blassrosa Kaugummi riechen konnte, auf dem ihre kaffeebefleckten Zähne unermüdlich mahlten. Er zwang sich, die Mundwinkel nach oben zu ziehen, und hoffte, dass die Grimasse auf seinem Gesicht aussah wie ein Lächeln.

»Wo soll’s hingehen?«

In seinem Kopf herrschte gähnende Leere. Dabei war er die Anweisungen etliche Male durchgegangen. Wieder und wieder hatte er sie in den letzten Stunden stumm heruntergebetet.

Vier Stationen fahren. Aussteigen. In die Mitte des Platzes gehen. Rucksack und Jacke ablegen.

Weiter konnte und wollte Niklas nicht denken. Sonst würde er auf der Stelle umdrehen.

»Hauptbahnhof …«, murmelte er nach einer gefühlten Ewigkeit und legte eine Handvoll Münzen in das dafür vorgesehene Schälchen. Sein Blick fiel auf sein Spiegelbild in der Fensterscheibe. Die Mundwinkel zitterten vor Anstrengung. Auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen. Mit den verquollenen Augen und den eingefallenen Wangen sah er aus wie einer der Junkies in der Suchtberatung, verzweifelt auf der Suche nach dem nächsten Schuss.

Dieses Mal brauche ich das Geld wirklich dringend, mir sind ein paar Leute auf den Fersen.

Meine Tochter hat solchen Hunger.

Ich kann den Strom nicht mehr bezahlen.

Ich wurde ausgeraubt.

In seiner Zeit als Sozialberater in einer Entzugsklinik hatte er jede erdenkliche Entschuldigung gehört.

»Ist bei Ihnen alles in Ordnung?« Die Zähne der Busfahrerin bohrten sich tief in das Kaugummi. Am liebsten hätte er sie angeschrien. Sie solle jetzt endlich losfahren, statt ihre Nase in Dinge zu stecken, die sie nichts angingen. Was interessierte sie, wie er sich fühlte oder wohin er wollte.

»Mir geht es gut. Wohl bloß ein kleiner Infekt.« Er strich sich über die schweißnasse Stirn.

»Geht grade ganz schön rum, was? Meine halbe Familie hat’s auch erwischt. Liegen alle krank zu Hause.« Die Busfahrerin musterte ihn einen Augenblick zu lang, drückte ihm dann aber das Wechselgeld und ein Ticket in die ausgestreckte Hand.

»Gute Besserung.«

Niklas stammelte eine Höflichkeitsfloskel und drängte sich in den stickigen Innenraum hinein. Fast alle Plätze waren belegt, nur in der letzten Reihe war ein halber Sitzplatz neben einem Jugendlichen mit tiefgezogener Kapuze frei. Normalerweise wäre er stehen geblieben, aber seine Knie fühlten sich an, als würden sie jede Sekunde nachgeben. Er angelte sich an den Sitzreihen entlang durch den Bus wie an einer Rettungsleine, vorbei an Kinderwagen, vollen Einkaufstüten und müden Gesichtern. Während sich der Bus in Bewegung setzte und Häuser und Straßen an ihnen vorbeizogen, pumpte Niklas’ Herz, als habe er einen Hundertmetersprint hinter sich. Trotz der Novemberkälte würde viel los sein. Viele Zuschauer. Die Leute machten die letzten Besorgungen vor dem Wochenende. Berufstätige, die sich in den Kneipen und Bars das wohlverdiente Feierabendbier zuprosteten. Kinder, die noch in der Einkaufspassage bummelten.

Der Schweiß sammelte sich wieder auf seiner Stirn, aber dieses Mal machte er sich gar nicht erst die Mühe, ihn fortzuwischen. Sein Sitznachbar wandte demonstrativ das Gesicht ab und rückte so weit wie möglich von ihm ab. Niklas konnte es ihm nicht verübeln. Sein Körper verströmte eine beißende Mischung aus Adrenalin und Angst. Er roch wie ein wildes Tier, das man tagelang in einen dunklen, viel zu engen Käfig gesperrt hatte.

Noch kannst du zurück, dachte er.

Die blecherne Stimme aus den Lautsprechern kündigte den nächsten Stopp an. Blieben nur noch zwei Haltestellen.

Du kannst aussteigen und es aufhalten.

Die Erinnerung an heute Morgen schmerzte ihn. Sarah trug noch immer ihren verblichenen Pyjama voller winziger Mottenlöcher, den sie einfach nicht aussortieren wollte. Luca frühstückte am Küchentisch. Die Augen halb geschlossen und den Kopf auf den Arm abgestützt, während er sich einen Löffel regenbogenfarbener Cornflakes in den Mund schob. Vermutlich hatte er letzte Nacht wieder mit seinen Onlinefreunden gespielt und darüber die Zeit vergessen. Wie jeden Morgen war Niklas fünf Minuten zu spät mit einem viel zu heißen Kaffee in der Hand aus dem Haus gestürmt. Er hatte sich nicht einmal verabschiedet. Tränen stiegen ihm in die Augen. Die Erinnerung an heute Morgen fühlte sich surreal an. Sie zeigte das Leben eines Fremden, nicht sein eigenes.

»Invalidenstraße«, meldete die blecherne Stimme aus den Lautsprechern. Nur noch eine Haltestelle. Hier wurde das Gedränge noch dichter. Wenige Querstraßen trennten sie vom Zentrum. Niklas starrte auf die Menschen auf den Bürgersteigen, in den Cafés und Läden. Die Obdachlosen saßen in kleinen Grüppchen eng aneinandergedrängt an den Straßenecken, um sich gegenseitig zu wärmen. Einige stießen mit Flachmännern an, wohl in der Hoffnung, dass der brennende Schnaps darin die Kälte aus ihren Knochen trieb. Der Bus scherte links ein und bog ab.

»Berlin Hauptbahnhof«, leierte die gelangweilte Stimme jetzt. Sein Herz setzte für einen Moment aus. Der Bus bremste ab, rollte die letzten Meter auf die Haltestelle zu. Ein Zischen, und die Türen öffneten sich. Die Leute strömten heraus. Niklas stand auf und ließ sich vom Strom mitreißen, hinein in den Abgrund.

***

Theo Weiland riss die Augen auf, beugte sich nach vorn und würgte über dem Papierkorb. Sein leerer Magen brachte nichts außer bitterer Magensäure und ein paar salziger Lakritzstangen hervor, die er sich am Morgen auf dem Weg zur Arbeit gedankenverloren in den Mund geschoben hatte. In einer der vielen unaufgeräumten Schubladen tastete er nach Taschentüchern und trocknete damit sein Gesicht ab. Im ersten Augenblick bildete er sich ein, dass doch noch Fleischfetzen aus seinem Albtraum daranklebten. Tote Muskeln, die sich wie Spinnweben über sein Gesicht zogen und ihm die Luft zum Atmen nahmen. Aber da war nichts. Nur die ewig gleichen Falten, welche die Jahre in seine Haut gezeichnet hatten. Dazu ein paar kratzige Bartstoppeln, deren Farbe langsam, aber unausweichlich ins Grau wechselte. Er zerknüllte das nasse Taschentuch und griff nach der Wasserflasche auf seinem Tisch. Leerte sie mit einem Zug, aber der Durst blieb. Seine Kehle war so trocken und kratzig, als hätte er Sand geschluckt.

Du bist wach. Du lebst noch.

Fokussier dich aufs Hier und Jetzt.

Er atmete tief durch, bis sich sein Puls nicht länger wie ein Presslufthammer in seinen Ohren anhörte.

Der Raum, in dem er saß, maß zwei mal zwei Meter, darin ein einziger Metallschrank, in welchen man allerhand chemische Reiniger, Eimer, Lappen und Besen gestopft hatte. Der künstliche Geruch nach Zitrone kitzelte selbst durch die geschlossenen Schranktüren in seiner Nase. Die Wände um ihn herum waren dunstig gelb aus einer Zeit, in der Zigaretten noch angesagt und irgendwie rebellisch waren und jeder rauchte und trank, wann und wo immer es ihm passte. Dazu ein winziges Fenster, durch das Weiland seinen Kopf gerade so hindurchzwängen konnte, wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte.

Du willst in die Besenkammer ziehen?!

Er hätte versuchen können, es den anderen zu erklären: Erstens, alle anderen Ermittler mussten sich zu sechst ein Großraumbüro teilen, in dem es im Winter nach vollgeschwitzten Wollpullis roch und im Sommer alle ihre behaarten Knöchel unter den Tischen rekelten. Zu viele Menschen auf zu engem Raum für seinen Geschmack.

Zweitens, sein neues Büro lag direkt neben dem Kaffeeautomaten. Von der unscheinbaren Tür aus waren es fünf Meter pro Weg. Die blassbraune, wässrige Brühe hatte die Bezeichnung Kaffee eigentlich nicht verdient, aber sobald man fünf oder sechs Tassen davon trank, begann das Koffein trotzdem zu wirken. An harten Tagen gönnte Weiland sich einen Espresso. Die halbe Menge für den doppelten Preis. Dafür bekam man eine pechschwarze, geleeartige Suppe, die einen den ganzen Tag lang wach halten konnte. Vorher, von seinem alten Arbeitsplatz aus, hatte er für eine einzige Tasse an sämtlichen anderen Büros vorbeigemusst. Aufgrund gesellschaftlicher Konventionen musste er die Leute darin jedes Mal dämlich anlächeln oder ihnen zumindest zunicken, was beim zehnten oder elften Mal irgendwann doch albern wurde.

Die Besenkammer war wie ein eigenes kleines Universum, in dem es nur ihn gab. Ihn und ab und zu die Putzfrau, die nach Scheuermilch suchte oder eine kurze Verschnaufpause auf dem Besucherstuhl einlegte. Genau so hätte er es ihnen erklärt. Aber diese Erklärungen erforderten viele Worte und viel Geduld – Weiland verfügte derzeit über keines von beidem. Stattdessen hatte er eines Tages einfach seine Sachen herübergetragen. Er hatte seine Lieblingstasse mitgenommen, seinen Kalender, die wenigen Bilderrahmen und Hunderte Notizbücher, die sich jetzt in dem kleinen Raum wie ein Mahnmal bis an die Decke stapelten. Zwar hatte keiner seiner Kollegen geholfen, aber zumindest hatte niemand versucht, ihn aufzuhalten. Das war auch etwas wert. In der Besenkammer merkte niemand, dass ihn tagsüber der Schlaf übermannte, der ihm nachts oft verwehrt blieb, wenn seine Gedanken unendlich weite Kreise zogen.

Früher war es anders gewesen. Früher hatte er bei ihnen gesessen, hatte an ihrer Seite ermittelt. Fall für Fall, Ermittlung für Ermittlung. Bis tief in die Nacht hatten sie gemeinsame Theorien gesponnen. Er war einer der Besten gewesen. Einer, auf den man sich verlassen konnte. All das fühlte sich jetzt weit entfernt an. Seit dem letzten Jahr hatte er keinen einzigen Fall mehr gelöst. Er war zu Stein erstarrt, unfähig, sich zu bewegen, geschweige denn, um Hilfe zu rufen.

Ein schrilles Klingeln riss Weiland aus seinen Gedanken. Wahllos drückte er auf den Knöpfen des Analogweckers auf seinem Schreibtisch herum.

Siebzehn Uhr. Dienstschluss. Er hatte mindestens zwei Stunden geschlafen. Endlich fand er den richtigen Knopf, aber das Klingeln hielt noch immer an. Erst jetzt begriff er, was es war. Ein Geräusch, das er schon seit Monaten nicht mehr gehört hatte. Monate, die er im Tiefschlaf hier in seiner Kammer verbracht und nicht mehr ermittelt hatte. Weiland griff nach seinem Diensthandy.

»Ich bin es.«

»Du musst dich verwählt haben«, sagte Weiland.

»Bestimmt nicht. Ich brauche dich am Bahnhof, Theo. Am besten gestern.«

»Bahnhof?«

»Ja. Stimmt was nicht mit deinen Ohren?«

»Alles bestens.«

Während Weiland sprach, wirbelten die Staubkörner aus seinen Notizbüchern wie Schnee in einer Glaskugel durch die Luft.

»Ist ein großes Ding«, sagte die Stimme am Telefon.

»Ich kriege einen Fall?«

»Nicht ganz. Du kriegst ein Ding.«

»Keine offizielle Ermittlung?«

»Eher ein vorsichtiges Abklopfen.«

»Kriege ich ein Team?«

»Du kommst doch gut allein zurecht.«

»Schon.«

»Komm zum Bahnhof, dann erkläre ich dir alles. Wenn du mich jetzt entschuldigst. Die Presse wartet«, sagte Alexander Bachmann und legte auf.

 

Weiland parkte seinen Wagen in einer der Nebenstraßen und lief das letzte Stück zum Hauptbahnhof, wo sich Fast-Food-Ketten an Zigarettenläden und öffentliche Toiletten reihten. Neue Gerüche wehten ihm entgegen. Dreck und Abgase und Rauch. Berlin war heute Abend schizophren. Auffällig ruhig, beinahe totenstill. Und doch laut. Klickende Kameralinsen. Surrende Mikrofone. Ein Flüstern aus allen Ecken und Straßen. Ganz anders als die Geräuschkulisse, die man sonst an einem Freitagabend hier hörte. Kein aufgeregtes Lachen, kein lautes Schlürfen aus überteuerten Kaffeebechern mit Soja-Mandel-Chai-Latte. In den ausgebeulten Taschen fand Theo Weiland ein Pfefferminzbonbon, das er dankbar in den Mund schob, um den Geruch seiner Magensäure zu überdecken. Auf den riesigen LED-Bildschirmen in einem der Schaufenster pries eine strahlende Blondine gerade die Wirkung von probiotischem Joghurt an (wie eine Zahnbürste für Ihren Darm!). Vor den Schaufenstern stand ein weißes Zelt. Es wirkte eigenartig inmitten der Stadt. Umrandet von neugierigen Menschenmassen, die einen nahezu perfekten Kreis Schaulustiger darum bildeten. Man konnte die Anspannung beinahe in der Luft spüren, nur ein Baby schlief trotz der aufgeladenen Stimmung seelenruhig im Kinderwagen. Weiland schob sich unter dem Fluchen der Umstehenden nach vorn. In der ersten Reihe angekommen, zeigte er dem Beamten, der den Eingang bewachte, seinen Ausweis. Dann trat er ein.

Der Geruch traf ihn wie ein präzise gesetzter Kinnhaken. Verbranntes Haar und geschmolzenes Fett. Warmes Blut. Darunter schwelte noch etwas anderes, ein teeriger Gestank, den man auf der Zunge schmecken konnte. Brandbeschleuniger. Die Spurensicherung leistete bereits ganze Arbeit. Routinemäßig lasen sie Papierfetzen und platt gewalzte Kaugummis von den Pflastersteinen. Im Zentrum standen zwei Strahler, deren Lichtkegel nach vorn auf den Boden zeigten. Frieda Holm, die Rechtsmedizinerin, hockte inmitten des Lichtkreises über dem Leichnam. Sie sprach leise in ihr Aufnahmegerät. Weilands Blick fiel auf den Toten – oder das, was von ihm übrig war.

Der Kopf des Mannes war feuerrot, die Haut aufgedunsen. Dort, wo die Lippen gewesen waren, war eine fleischige, aufgeplatzte Masse zurückgeblieben. Der Unterkörper hingegen wies kaum Brandspuren auf. Turnschuhe und Jeans waren fast noch intakt, die Markenlogos klar erkennbar. Das konnte später bei der Identifizierung helfen.

»Industrieller Brandbeschleuniger. Darauf ausgelegt, ein Feuer in kürzester Zeit auf über tausendfünfhundert Grad zu erhitzen. Er hat gebrannt wie ein Streichholz.« Alexander Bachmann stand abseits der Spurensicherung. Der Polizeichef hatte die Arme in die Hosentaschen seiner Anzughose geschoben und den Schlips gerade so weit gelockert, dass er ihn beim Auftauchen einer Kamera innerhalb des Bruchteils einer Sekunde wieder richten konnte.

»Kommt er dir bekannt vor? Von seinem Gesicht ist nicht besonders viel übrig, aber vielleicht erkennst du ja die Kleidung oder seinen Rucksack.«

»Sollte er mir denn bekannt vorkommen?«, entgegnete Weiland.

Bachmann rang sich ein Lächeln ab. Zumindest die linke Seite seines Gesichts, die nach dem Schlaganfall letztes Jahr nicht in Mitleidenschaft gezogen worden war. Etwas stimmte nicht. Bachmann lächelte nie. Wäre er nicht schon immer so ein Aas gewesen, vielleicht hätte Weiland sogar ein wenig Mitleid mit ihm empfinden können. Im Grunde war es ein kleines Wunder, dass es Bachmann und nicht ihn getroffen hatte. Gerade Bachmann, der seinen dürren Hintern jeden Feierabend bei Wind und Wetter in einer zu engen Radlerhose auf sein ultraleichtes Vierundzwanzig-Gänge-Aluminiumrad schwang. Der am Montag in der Cafeteria davon erzählte, wie er wieder mehrere Hundert Euro dafür ausgegeben hatte, um sich bei einem Matschmarathon durch den Dreck zu wühlen und von Stromschlägen traktieren zu lassen. Masochistische Veranlagung.

Bachmann rieb sich jetzt die taube Seite seines Gesichts, die fahl und schlaff wirkte wie ein weißer Ballon, aus dem man die Luft gelassen hatte. An schlechten Tagen stellte Weiland sich vor, wie er in einem unbemerkten Augenblick mit einer Nadel in die leblose Haut stach und Bachmann damit stundenlang durch die Büros schlenderte, weil niemand sich traute, ihn darauf aufmerksam zu machen. Heute drohte ein ziemlich schlechter Tag zu werden.

»Beantwortest du bitte meine Frage? Kennst du diesen Mann, Theo?«

»Nein.«

Bachmann reichte ihm einen in einer Plastikhülle eingeschlossenen Personalausweis.

»Der hier war in seinem Rucksack. Genaueres wird wohl der DNA-Abgleich ergeben müssen. Klingelt da immer noch nichts?«

Weiland musterte das Gesicht auf dem Foto. Ein Durchschnittsgesicht. Dunkle Augen mit langen, feminin wirkenden Wimpern. Braune, lockige Haare. Vielleicht war er diesem Mann schon einmal begegnet, vielleicht hatten sich ihre Wege auf einer der Straßen Berlins gekreuzt, aber er erinnerte sich beim besten Willen nicht daran. Weiland hatte genug Verhöre geführt, um zu wissen, dass das hier eins war. Aber warum? Warum glaubte Alexander Bachmann, es gäbe eine Verbindung zwischen ihm und dem Toten?

»Kann mich nicht an ihn erinnern«, sagte er schließlich.

»Das habe ich schon befürchtet. Der Name aus dem Personalausweis taucht weder als Verdächtiger noch als Zeuge oder Opfer in irgendeinem deiner Fälle auf.«

»Warum hast du mich dann überhaupt gerufen? Ausgerechnet mich? Sieht doch nach Suizid aus. Ein verzweifelter Mann verbrennt sich bei lebendigem Leib. Grausam, aber nicht der erste Fall dieser Art.«

Alexander Bachmann seufzte und zog ein Beweismitteltütchen aus seiner Manteltasche.

»Die hier haben wir im Portemonnaie des Toten gefunden. Kannst du dir das irgendwie erklären?«

Weiland griff danach. Darin war ein Papier, das sich bei genauerem Hinsehen als fleckige Visitenkarte herausstellte. Das Papier war entlang der Faltlinie eingerissen und fühlte sich abgenutzt an, so als hätte man es jahrelang in einer engen Hosentasche getragen.

HILFE, hatte jemand mit Bleistift auf die Rückseite geschrieben. Die Buchstaben sahen seltsam krakelig aus, als wären sie in größter Hast auf das Papier gekritzelt worden. Mit einem unguten Gefühl betrachtete Weiland die Vorderseite der Karte. Es handelte sich um ein billiges Fabrikat, das erkannte er gleich daran, dass der Text darauf nur gedruckt, nicht geprägt worden war. Die Schrift, die einmal schwarz gewesen sein musste, war mittlerweile fast verblichen. Weiland musste die einzelnen Buchstaben nicht entziffern, um zu wissen, dass sein eigener Name daraufstand.

 

Ein Gewitter zog auf. Die ersten Regentropfen schlugen auf die weiße Plane und füllten die Luft mit einem ohrenbetäubenden Trommeln. Irgendjemand hatte lauwarmen Filterkaffee in Pappbechern vorbeigebracht, aber keiner von ihnen trank davon, nicht einmal Weiland, dessen Kehle sich inzwischen anfühlte, als hätte man sie mit grobem Schmirgelpapier bearbeitet.

»Du hast also keine Ahnung, warum der Mann ausgerechnet deine Visitenkarte bei sich trug?« Bachmann runzelte die linke Seite seiner Stirn. Wie oft hatte Weiland die Visitenkarte herausgegeben? Hunderte, vielleicht Tausende Male?

»Die Karte muss mindestens fünfzehn Jahre alt sein, wenn nicht älter, denn hier steht nur mein Festnetzanschluss, keine Handynummer. Warum hat der Tote sie über einen so langen Zeitraum behalten?«

»Sie war ganz hinten in eines der Fächer seines Portemonnaies geschoben. Vielleicht hat das Opfer sie auch schlicht und einfach dort vergessen.«

Weiland starrte auf die nach oben gebogenen Ecken der Visitenkarte und wusste, dass das nicht stimmte. Er stellte sich vor, wie der Besitzer die Karte wieder und wieder hervorgeholt hatte, bis das Fett und die Feuchtigkeit auf seinen Fingern die Ecken nach oben gebogen hatten.

»Das Portemonnaie sieht neu aus, zumindest keine fünfzehn Jahre alt. Er muss sie aus irgendeinem Grund bewusst aufbewahrt haben. Trug er sonst noch irgendwas bei sich?«, fragte er.

»Nichts Ungewöhnliches. Ausweis und Kreditkarte. Kein Bargeld. Hör mal, Theo, wahrscheinlich ist es unwichtig. Ich habe dich angerufen, weil ich dachte, du erkennst den Mann vielleicht wieder. Ich will kein großes Fass aufmachen. Er hat sich selbst den Brandbeschleuniger über den Kopf gegossen und angezündet, warum auch immer er geglaubt hat, das sei eine gute Art, seinem Leben ein Ende zu setzen. Das bestätigen uns immerhin …«, Alexander Bachmann blickte auf die Notizen in seinem Schoß, »zweiundachtzig Zeugen. Zweiundachtzig Menschen, die exakt die gleiche Geschichte erzählen. Da gibt es nicht viel zu ermitteln. Aber es kann nicht schaden, wenn du dir das Ganze trotzdem einmal ansiehst, zumindest bis wir ein Motiv kennen. Benni fährt jeden Augenblick los, um die Angehörigen zu informieren. Ich will, dass du mitfährst, vielleicht fällt dir dort irgendetwas auf. Eine Seelsorgerin wartet vor Ort auf euch. Wir müssen nur sichergehen, dass das hier«, Bachmann drehte die Visitenkarte in seinen Fingern, »absolut keine Rolle beim Tod des Mannes gespielt hat. Außer uns wissen nur noch Doktor Holm und ein Techniker davon. Niemand anderes. Und ich will, dass das so bleibt.«

Bachmann klopfte Theo so fest auf die Schulter, dass der mittlerweile kalte Kaffee in seiner Hand auf den Boden schwappte.

»Die Sache ist die: Seit dem Vorfall letztes Jahr werde ich, werden wir alle von denen da draußen genau beobachtet.« Alexander Bachmann nickte in Richtung des Sichtschutzes, hinter dem sich die einzelnen Silhouetten der Reporter und Schaulustigen abzeichneten. Hyänen, wie Bachmann sie hinter verschlossenen Türen nannte. »Machen wir uns nichts vor: Ein Mensch, der sich mitten in der Stadt an einem Freitagabend anzündet und so das Leben nimmt, wird einen großen Medienrummel auslösen. Pressekodex hin oder her, das interessiert die Journalisten nicht mehr, wenn es eine Story ist, die sich gut verkaufen lässt. Sie werden jeden Stein umdrehen, den sie finden können. Wenn die Zeitungen Wind davon bekommen, dass das Opfer deine Visitenkarte mit einem Hilferuf darauf bei sich trug, rennen sie uns die Türen ein. Vor allem, wenn herauskommt, dass wir dieser Spur nicht nachgegangen sind.«

»Du willst also eine Ermittlung, die keine ist, um dir die Presse vom Hals zu halten«, sagte Weiland. »Damit du später sagen kannst: Seht her, einer meiner Leute hat diesen Hinweis geprüft. Aber eigentlich willst du diese Geschichte nur so schnell wie möglich abschließen.«

Die nächsten Sätze sprach Bachmann so langsam, als müsste er jede Silbe einzeln abwägen.

»Letztes Jahr habe ich ab der zehnten Todesdrohung aufgehört zu zählen. Jemand hat meine Frau beim Einkaufen im Supermarkt verfolgt, ihr ins Gesicht gespuckt und sie eine Polizistenhure genannt. Sie wollte das Haus wochenlang nicht mehr verlassen. Sie hat sich so geschämt.« Bachmann leckte sich über die vor Kälte aufgesprungenen Lippen. »Sind sie damals nicht auch bei dir eingestiegen? Haben ›Bullenschwein‹ an deine Wand gesprüht? Hast du das etwa schon vergessen?«

Weiland schüttelte den Kopf. Die Geschichte von letztem Jahr würde keiner von ihnen jemals vergessen.

In den Zeitungen hieß sie damals nur Alina K. Irgendwann war sie auf die schiefe Bahn geraten, vielleicht nachdem ihr Vater ihre Mutter zum hundertsten Mal verprügelt hatte oder nachdem ihr Bruder wegen Drogenhandels im Gefängnis gelandet war.

Sie hatte geklaut, nicht zum ersten Mal, aber zum ersten Mal wurde sie dabei von einem Polizisten erwischt. Kai arbeitete da schon seit fünfzehn Jahren als Ermittler.

Weiland hatte mit ihm zusammengearbeitet, gemeinsam hatten sie sich die Nächte um die Ohren geschlagen und nach einer erfolgreichen Festnahme zu viel Bier und Wodka getrunken. Vor allem Wodka, vor allem seit Kais Frau ihn für einen anderen verlassen hatte. Ob Alina sich nicht gewundert habe, dass ein Polizist sie allein verhaftet habe? Kam es ihr nicht seltsam vor, dass er sie gleich in seinen Privatwagen verfrachtete, anstatt Verstärkung zu rufen oder die Supermarktleitung zu informieren?

Nein, hatte sie geantwortet. Einem Polizisten traut man doch. Misstrauisch sei sie erst geworden, als der Polizist sie nicht aufs Revier, sondern in ein Waldstück gefahren hatte. Dreizehn Minuten und zehn Sekunden hatte es gedauert. Daran erinnerte sie sich so gut, weil sie ihre Arme um die Kopfstütze des Beifahrersitzes legen musste und sie die ganze Zeit die geklaute Smart Watch an ihrem linken Handgelenk ansah, während er sie vergewaltigte.

Noch immer konnte Weiland die Nachbeben spüren. Wenn er ein Mädchen sah, das genauso wütend und verloren aussah wie Alina. Oder wenn er zufällig am alten Haus seines Kollegen vorbeifuhr, in dem jetzt eine neue Familie wohnte. Kai saß im Gefängnis. Aber irgendwie auch nicht. Er war wie ein Gespenst, das noch immer durch die Büros und Köpfe irrte.

»Wir müssen verhindern, dass sich so eine Geschichte wiederholt. Wir dürfen nicht noch einmal angreifbar werden«, sagte Bachmann jetzt und kippte den Inhalt seines Bechers mit einem großen Schluck herunter. »Koste es, was es wolle.«

 

Ab dem Moment, in dem Weiland aus dem Zelt heraustrat, ergoss sich ein Blitzlichtgewitter über ihn. Der kalte Regen hatte den Kreis der Schaulustigen und Reporter zwar ausgedünnt, aber nicht auflösen können.

»War das eine politisch motivierte Tat?«

»Kein Kommentar«, knurrte Weiland und schob die Mikrofone zur Seite.

»Können Sie schon etwas zur Identität des Mannes sagen?«

Er schlug den Kragen seines Mantels nach oben und steuerte auf den bärtigen Mann zu, der an einem der Polizeiwagen lehnte und bereits auf ihn zu warten schien. Benjamin Benni Thiel war an die zwei Meter groß. Mit seinem Vollbart, den buschigen Augenbrauen und nicht zuletzt seiner Körperbehaarung, welche man an Hals und Nacken unschwer erahnen konnte, erinnerte er an einen Grizzlybären.

»Weiland«, schnalzte der andere, »lang nicht mehr gesehen. Seit wann bist du zurück?« Er öffnete die Fahrerseite und schaffte es irgendwie, seine langen Beine hinter das Lenkrad zu schieben.

»Seit heute, schätze ich.«

»Wie lang ist das her? Sieben Monate? Acht?«

»Elf«, antwortete Weiland. Elf Monate und acht Tage, ergänzte er stumm. Benni Thiel pfiff durch die Vorderzähne.

»Und dann gibt man dir gleich die beliebteste Aufgabe von allen? Angehörige zu benachrichtigen?!« Sein Kollege lachte freudlos. Tatsächlich war das der Teil, den Weiland an seinem Job am meisten verabscheute. Sie klingelten an fremden Häusern und schnitten die Leben der Menschen darin in zwei Hälften, in ein Davor und ein Danach. Schmerz und Wut und Trauer prasselten auf sie herab, und doch fuhren sie wenige Stunden später nach Hause in ihr eigenes Leben, so als wäre nichts gewesen. Business as usual. Thiel manövrierte den Wagen fachmännisch in einem einzigen Zug aus der engen Parklücke.

»Na dann, herzlich willkommen zurück an Bord, schätze ich.«

Er drehte das Radio auf, und den Rest der Fahrt sagte niemand von ihnen ein Wort.

***

Noch immer kein Anruf. Keine Nachricht, dass es heute später werden würde.

Sarah starrte so angestrengt auf den dunklen Bildschirm ihres Handys, dass das Bild vor ihren Augen zu verschwimmen begann. Zum achten Mal an diesem Abend drückte sie die Wahlwiederholung. Es klingelte. Einmal, zweimal. Dann sprang die Mailbox an.

»Hier ist der Anschluss von Niklas Winter. Gerade bin ich nicht –«

Sarah legte auf und warf das Handy auf den Couchtisch. Mittlerweile konnte sie den Text schon auswendig. Die fortschreitenden Zeiger der roten Uhr an der Wand schienen sie zu verhöhnen. Anderthalb Stunden ohne Lebenszeichen.

Da war ein Stein in ihrem Magen, der von innen gegen ihre Bauchdecke pochte. Sie redete sich ein, dass es eine Erklärung gab. Die hatte es doch bis jetzt immer gegeben.

Du wirst eine von diesen verrückten Helikoptermüttern. Wahrscheinlich saßen sie nach dem Training gerade in diesem billigen Fast-Food-Restaurant, das Luca so liebte. Wenn sie nach Hause kämen, würden sie nach Gewürzgurken und Fett riechen, aber das wäre ihr egal. Hauptsache, sie kamen nach Hause. Sarah wusste, dass sie sich selbst belog.

Sie hatte gekocht, wie jeden Freitag. Wenn sie es unter der Woche schon nicht hinbekam, dann wenigstens am Wochenende. Meistens reichte es nur für Nudeln bolognese, aber die waren zumindest richtig gut. Dann saßen sie zusammen, und alles war aus: Fernseher, Handys, Musik. Nur sie drei. Das war ihr heiliges Familienritual. Der Stein in Sarahs Magen wurde mit jeder Minute größer, höhlte sie langsam, aber stetig von innen aus.

Sie musste sich ablenken. Hektisch drückte sie auf der Fernbedienung herum und blieb schließlich an einer Werbung für Haarentfernung hängen. Eine Frau am Strand zog gerade genüsslich einen Epilierer über ihre spiegelglatten, sonnengebräunten Beine, als Sarah plötzlich hörte, wie sich die Wohnungstür öffnete.

Sie sprang auf. Die Fernbedienung rutschte ihr vom Schoß und schlitterte mehrere Meter über den Boden. In der Diele stolperte sie über Merlin, ihren alten Promenadenmischling, der ihnen vor Jahren im Spanienurlaub zugelaufen war. Merlin jaulte und humpelte davon. Um ihn würde sie sich später kümmern.

»Wo wart –?«, bevor sie die Frage stellen konnte, hatte Luca sich unter ihrem Arm hinweggeduckt und den Ranzen in die Ecke gepfeffert.

»Es ist halb sieben.« Sie versuchte das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. Gott, wahrscheinlich klang sie total hysterisch.

»Haben heute etwas länger beim Training gebraucht.«

Bildete sie sich das ein, oder zitterte seine Stimme genauso? Er sah blass aus. Seine Augen rot gerändert.

»Anderthalb Stunden? Was habt ihr so lang gemacht?«

»Über die T-Shirts für die kommende Saison gesprochen.«

»Die neue Saison, die erst in vier Monaten startet?«

»Jep.« Luca zog die miefigen Sportklamotten aus der Tasche, stapfte ins Bad und presste sie dort in den sowieso schon überquellenden Wäschekorb.

»Wo ist Papa?«

Sarahs Augen suchten den leeren Hausflur ab. Ihre Ohren warteten auf das Surren des Aufzugs. Vielleicht hatte er nur etwas im Auto vergessen und Luca schon einmal hochgeschickt.

»Keine Ahnung. Kann ich jetzt gehen?«

»Was meinst du damit? Hat er dich denn nicht vom Training abgeholt?!« Sie sprach lauter als beabsichtigt. Hinter einer der Wohnungstüren nahm sie eine schwache Bewegung wahr. Die Frau von gegenüber stand wahrscheinlich gerade vor ihrem Türspion, die Ohren an das dünne Holz gepresst, um ja nichts zu verpassen.

»Ich weiß es nicht. Ich bin heute mit Ben gefahren.« Jetzt hörte sie es wieder, dieses Zittern. Sie machte ihrem Sohn Angst. Sie machte sich ja selbst Angst.

»Wieso hat Papa dich nicht abgeholt?«

»Weiß nicht. Er ist nicht aufgetaucht.«

»Bist du sicher? Wie lang hast du auf ihn gewartet?«

»Er war nicht da, Mama. Ist was passiert?« Lucas Stimme bebte. Der Stein in Sarahs Bauch war plötzlich so schwer, dass sie das Gefühl hatte, ihre Knie könnten jeden Moment unter dem Gewicht nachgeben.

»Alles in Ordnung, tut mir leid. Papa kommt bestimmt gleich nach Hause.«

Luca zögerte. Er klappte den Mund auf und zu, als wollte er etwas sagen und hätte es sich dann doch anders überlegt.

»Nimmst du dir schon mal was zu essen? Ich brauche hier noch ein paar Minuten.« Sie versuchte unbekümmert zu klingen.

»Keinen Hunger. Ich bin ganz schön müde, also … Ich bin dann mal in meinem Zimmer.« Er knallte die Tür hinter sich zu. Stille. Sarah blieb im dunklen Hausflur zurück und atmete schwer. In den weiten Taschen ihres Cardigans ertastete sie das Telefon. Sie drückte die Wahlwiederholung und lauschte dem Klingeln. Wollte schon wieder auflegen, als sie es hörte. Zuerst nur ganz leise und gedämpft.

Niklas’ nervtötender Klingelton. Weil er jederzeit erreichbar sein musste, war sein Handy auf die höchste Lautstärke eingestellt. Unzählige Male hatte Bob Marley sie seither aus dem Schlaf gerissen. Trotzdem war Sarah noch nie so glücklich gewesen, ihn zu hören, wie in diesem Moment. Das leise Surren des Aufzugs gesellte sich zum Schlagzeug. Das erste Lämpchen leuchtete auf. Erdgeschoss. Das Klingeln wurde lauter. Erster Stock. Sie zog die Wohnungstür hinter sich zu, noch nicht wissend, ob sie Niklas eine verpassen oder ihm um den Hals fallen würde. Zweiter Stock. Der Aufzug kam vor Sarah zum Stehen. Jetzt hörte sie es klar und deutlich. Die Türen glitten auf. Der Stein schien in ihrem Magen zu explodieren, Tausende kleine Splitter, die sich in ihr Innerstes bohrten. Es war tatsächlich Niklas’ Handy.

Sicher verstaut klingelte es in einer Plastiktüte im Arm eines Polizisten.

***

Weiland lauschte seinen eigenen Worten.

Seltsam dumpf und hohl purzelten sie aus seinem Mund, mit Kanten, so scharf, dass man sich daran schneiden konnte. Stoisch gab er wieder, was zweiundachtzig Zeugen berichtet hatten und was morgen in allen Zeitungen stehen würde: Um Punkt siebzehn Uhr war Niklas Winter in den Bus Richtung Innenstadt gestiegen. Er hatte sich mit keinem der Fahrgäste unterhalten, war aber dennoch einigen in Erinnerung geblieben, weil er während der ganzen Fahrt unverständlich vor sich hin gemurmelt und sehr nervös gewirkt hatte.

Um 17:10 Uhr hatte Winter sein Ziel erreicht und war am Bahnhofvorplatz ausgestiegen. Dort verlor sich seine Spur für einige Minuten. Niemand hatte wahrgenommen, wie er seinen Rucksack abgenommen und einen Benzinkanister daraus hervorgeholt hatte. Die Erkenntnis, dass sich gerade eine Katastrophe vor ihrer aller Augen abspielte, war den Ersten gekommen, als Niklas Winter den Inhalt des Kanisters über seinen Kopf goss. Die Details von allem, was danach geschah, ließ Weiland lieber aus. Wie das Fett eines Menschen schmilzt, wenn es verbrennt und den Körper mit einer glänzenden, öligen Schicht bedeckt. Wie sich die Gliedmaßen nach innen krümmen und verdrehen, weil die Hitze die Muskeln zusammenzieht. Sarah Winter hatte ihr Haar zu einem losen Zopf gebunden. Einzelne dunkle Strähnen fielen in ihr blasses Gesicht. Seit sie sich gesetzt hatten, war sie wie zu Eis erstarrt, vollkommen regungslos, den Blick starr auf Weilands Lippen gerichtet. Ihr Sohn hingegen war kommentarlos in sein Zimmer gegangen. Durch die geschlossene Tür hörte Weiland sein atemloses Schluchzen, untermalt vom leisen Flüstern der Seelsorgerin, die nicht von seiner Seite wich.

Niklas Winter, 38 Jahre alt, Sozialpädagoge in der Suchtberatung der Stadt, Betreuung von Drogenabhängigen.

So stand es in dem knappen Memo, das Mona ihnen auf dem Weg hierher per Mail zugeschickt hatte.

Keine psychischen Vorerkrankungen. Keine Vorstrafen.

Theos Blick flatterte wie ein Vogel durch das Wohnzimmer, in dem sie jetzt saßen, versammelt um den Couchtisch mit einem Mosaik aus gebrochenen Fliesen, gegen dessen Kanten er unablässig mit seinen Knien stieß. Die Einrichtung sah aus wie ein Mix der gängigen schwedischen und deutschen Möbeldiscounter. Hinter ihm eine weiße Fernsehwand, vollgestopft mit Kinder- und Familienfilmen. Ein Bücherregal, Kurt oder Svensson oder wie diese Dinger hießen, ebenso vollgestopft mit Büchern. Wir Kinder vom Bahnhof Zoo, las er stumm auf einem der Buchrücken. Es wirkte klein und beengt, als sei der Raum mit der Zeit geschrumpft oder die Möbel über Nacht gewachsen. An der Wand rechts neben ihnen hingen Fotos der letzten Jahre. Eindrücke von Sommerurlauben auf Fehmarn, Weihnachten mit den Großeltern an einem runden Tisch voller Schüsseln mit Kartoffeln, Fleisch und Rotkohl. Daneben ein Foto von einem Ausflug nach Disneyland Paris, auf dem der Sohn stolz neben Mickey Mouse in die Kamera grinst. Zeige- und Mittelfinger triumphierend zu einem Peace-Zeichen erhoben. Familie Winter sah glücklich aus.

»Angezündet?«, murmelte die Frau jetzt tonlos. Weiland nickte.

»Nein. Ich meine, das kann nicht … Das würde Niklas niemals tun!«

»Leider bestätigen die Zeugenberichte, dass Ihr Mann sich das selbst angetan hat.«

Sämtliche Farbe verschwand aus Sarah Winters Gesicht. Wenn sie vorher schon blass gewesen war, dann wirkte ihre Haut jetzt fast durchsichtig.

»Hat er gelitten?«

»Das wissen wir noch nicht. Wir gehen davon aus, dass er maximal drei Minuten bei Bewusstsein war, nachdem er das Streichholz entzündet hat«, sagte Benni Thiel eine Spur zu schnell.

»Drei Minuten.« Sarah Winter begann, sich vor und zurück zu wiegen. »Drei Minuten können so lang sein. Warum sollte er sich das antun? Sind Sie sicher, dass es Niklas ist?«

»Der Tote hatte den Ausweis Ihres Mannes bei sich. Die Zeugenbeschreibungen passen auch. Wir brauchen noch eine DNA-Probe, um die Identität mit hundertprozentiger Sicherheit zu bestimmen.«

»Was haben diese Zeugen gemacht? Dort gestanden und Handyvideos gedreht? Über achtzig Menschen, haben Sie gesagt? Wieso hat verdammt noch mal keiner geholfen?«

»Viele haben versucht ihn zu retten«, entgegnete Weiland. »Sie haben ihre Jacken über ihn geworfen, um die Flammen zu ersticken. Ein geistesgegenwärtiger Zeuge hat einen Feuerlöscher aus einem der anliegenden Kaufhäuser geholt. Aber so ein Brandbeschleuniger ist darauf ausgelegt, das Feuer möglichst schnell und heiß zu entzünden. Mit den gegebenen Mitteln war es unmöglich, den Brand zu löschen.« Eine lebende Fackel, so würde es eines der billigen Klatschblätter später schreiben, welches man für achtzig Cent am Kiosk kaufen konnte.

»Wir müssen die Hintergründe verstehen. Deshalb werde ich Ihnen jetzt ein paar Fragen stellen, die etwas unangenehm sein könnten.«

Sarah Winter zuckte zusammen, als hätte sie eine Ohrfeige bekommen.

»Kann ich …? Geben Sie mir ein paar Minuten Zeit, ja?«

»Sicher. So viel Sie brauchen.«

Sie stand auf und schwankte an ihnen vorbei in einen Raum, wo Weiland das Badezimmer vermutete. Sie hörten keinen Ton, nur das Wasser, das wütend durch die Rohre rauschte und gurgelte. Als Sarah Winter fünf Minuten später wieder auf dem Sofa saß, waren ihre Augen so feuerrot, als hätte sie mit den Nägeln über ihre Pupillen gekratzt.

»Alles in Ordnung?«

Sie straffte die Schultern. »Bringen wir es hinter uns. Was wollen Sie wissen?«

Weiland und Thiel wechselten einen schnellen Blick.

»Hatte Ihr Mann in letzter Zeit viel Stress?«

»Stress?« Sarah Winter räusperte sich, spielte gedankenverloren mit dem Saum ihres T-Shirts. »Wer hat heutzutage keinen Stress?«

»Mehr als sonst?«

»Niklas hat vor Kurzem mehr Verantwortung bei sich auf der Arbeit übernommen. Er betreut jetzt die Beratungsresistenten, so hat er sie genannt. Leute, die wieder und wieder den Entzug versuchen und damit scheitern. Er war einer der wenigen, die diese Gruppe betreuen wollten. Niklas hat immer an die Leute geglaubt, auch wenn sie zum zehnten Mal vor seiner Tür landeten.«

Benni Thiel hatte sich auf dem breiten Fernsehsessel zurückgelehnt, die Brille nach unten auf seine Nasenspitze geschoben, sodass er aussah wie ein billiger Therapeut im Nachmittagsfernsehprogramm.

»Wie ist Ihr Mann damit umgegangen? Das ist sicher keine leichte Aufgabe.«

»Ich weiß, worauf Sie hinauswollen, aber so war es nicht!«, antwortete sie scharf. »Natürlich ist das kein Achtstundenjob, man muss im Notfall immer erreichbar sein. Und natürlich gibt es auch immer wieder Schicksale, über die Niklas auch nach seinem offiziellen Feierabend nachgedacht hat. Das mag für uns nach viel Stress klingen, nach Erschöpfung, aber Niklas hat diese Arbeit geliebt. Dieses Gefühl, gebraucht zu werden. Etwas für die Leute zu tun, die der Rest der Gesellschaft meidet. Die Menschen tun gern so, als sei Sucht etwas Hochansteckendes. Die Patienten haben Niklas vertraut. Er hatte diese ruhige, gelassene Art, die einem vermittelt, dass alles schon wieder in Ordnung kommt. Viele haben ihn sogar als Notfallkontakt fürs Krankenhaus eintragen lassen. Er ist für sie wie ein großer Bruder, den sie nie hatten.«

»Gab es irgendwelche anderen Dinge, beruflich oder privat, die Ihren Mann belastet haben könnten?«

»Nein. Niklas hatte keine Probleme. Wir sind nicht reich, aber wir haben genug für Miete und Essen und hier und da einen kleinen Urlaub. Niklas brauchte nicht viel Geld, er hat viel selbst gemacht. Reparaturen, kleinere Renovierungen und all das.«

»Gab es Schwierigkeiten in Ihrer Ehe? Familiäre Probleme?«

»Wir hatten gute und schlechtere Tage, wie Sie zu Hause wahrscheinlich auch, aber die Guten haben bei Weitem überwogen.«

»Papa war glücklich. Mit uns.«

Luca stand plötzlich in der Tür. Der Junge flüsterte so leise, dass Weiland es beinahe überhört hätte. Die Luft fühlte sich plötzlich seltsam schwer an, dicker, zäher Sirup, der Weiland erdrückte. Luca Winter war ein schmächtiger Junge, fast zart.

»Das wissen wir. Niemand zweifelt daran. Ich wette, dein Vater war stolz auf deine ganzen Pokale, oder?« Er nickte in Richtung der Vitrine. Fußballpokale, so weit das Auge reichte.

Luca antwortete nicht.

»Manchmal kann beides wahr sein, weißt du? Ein Mensch kann sehr glücklich sein, so wie dein Vater mit euch. Und trotzdem gab es etwas, das ihn traurig gemacht hat. Etwas, das nichts mit dir oder deiner Mutter zu tun hat.« Weiland fiel wieder das Buch ein, das eine Kollegin ihm letztes Jahr heimlich unter seine Unterlagen geschoben hatte. Das Leben nach dem Tod. Ein weißer Umschlag mit einer lebensbejahenden Sonnenblume darauf, wie bei jedem zweiten Lebensratgeber. Er hatte das Buch ganz hinten ins Regal geschoben. Vielleicht würde es nicht schaden, doch darin zu blättern, sich ein paar der Phrasen herauszuschreiben, die man so sagte, wenn es eigentlich nichts zu sagen gab. Wenn er am liebsten davonlaufen würde, weil der Schmerz und die Wut und die Trauer ihn erstickten.

»Wenn ich das richtig verstehe, dann wollte dein Vater dich heute also zum Training fahren, oder?«

»Ja.«

»Aber er ist einfach nicht aufgetaucht?«

»Stimmt. Er kam nicht.«

»Um welche Uhrzeit war das?«

»Gegen vier.«

»Du hast dir sicher Sorgen gemacht, oder?«

»Nein.«

»Nein?«, fragte Weiland überrascht.

»Papa wollte vorher in die Autowerkstatt. Wahrscheinlich hat es da länger gedauert. Also bin ich einfach mit einem Freund gefahren.«

Weiland machte sich Notizen. Sarah Winter schloss die Augen. Atmete einmal tief ein, als müsste sie all ihren Mut sammeln.

»Da ist eine Sache, die ich nicht verstehe.« Ihre Stimme brach. Sie griff nach einem der halb leeren Wassergläser auf dem Tisch und nahm einen Schluck.

»Niklas hat ein Brandmal auf der Brust. Er hat beide Eltern bei einem Hausbrand verloren, seitdem hatte er schreckliche Angst vor Feuer.« Sie begann stumm zu weinen, ein atemloses Schluchzen.

»Er sagte, er will solche Schmerzen nie wieder in seinem Leben spüren. Wir haben deshalb in jedem Raum zwei Rauchmelder.« Sie deutete an die Decke. »›Falls einer nicht richtig funktioniert‹, hat er immer gesagt. Bei Flugzeugen würde man das auch so machen. Jedes Sicherheitssystem zweimal einbauen, nur für den Fall, dass eines ausfällt. Ich habe ihm immer gesagt, dass das verrückt ist. Reine Geldverschwendung, aber er ließ sich einfach nicht davon abbringen.«

Weiland wandte den Kopf zur Decke, blickte auf die zwei blinkenden Rauchmelder. Einer in der Mitte des Raumes, der zweite am Ende, direkt über dem Fenster.

»Also warum Feuer? Wieso verdammt noch mal Feuer? Das ergibt überhaupt keinen Sinn.« Sie starrte ins Nichts. Weiland wusste, dass sie keine Antwort erwartete. Dass es vielleicht keine gab. Aber ihm war ein Gedanke gekommen, roh und ungeschliffen. In seiner Tasche kramte er nach einer seiner Karten, schob sie über den Tisch.

»Wenn Sie Fragen haben, Ihnen etwas einfällt oder ich sonst irgendwas für Sie tun kann, können Sie mich jederzeit anrufen.« Er wusste, dass sie die nächsten Stunden so sitzen bleiben würde, stumm und erstarrt, während sie langsam begreifen würde, was geschehen war.

»Und du natürlich auch. Egal, um welche Uhrzeit, in Ordnung?« Der Junge nickte. Er hatte die Lippen aufeinandergepresst und Tränen in den Augen. Als Weiland und Thiel nach ihren Mänteln griffen, ging Luca Winter wortlos hinaus in den Flur. Er hielt ihnen die Haustür auf, so als könne er es gar nicht erwarten, dass sie endlich wieder gingen.

Und dass sie das Unheil, das sie mitgebracht hatten, wieder mitnahmen.

 

Benjamin Thiel zündete sich eine Zigarette an.

»Du auch?«

»Lieber nicht. Ich kann es immer noch riechen.« Eigentlich konnte Weiland es sogar schmecken. Der Gestank nach Feuer klebte auf seiner Zunge und zwischen seinen Zähnen.

»Man fühlt sich irgendwie schmutzig nach solchen Gesprächen, findest du nicht?« Milchige Rauchschwaden stiegen von Thiels Zigarette in die Höhe. Der Wind trug sie in alle Himmelsrichtungen davon.

»Hm-hmm.«

»Du hast gehört, was die Gottesanbeterin gesagt hat? Doktor Holm. Das Fett ist dem Toten von den Knochen geschmolzen wie Wachs. Eine ziemlich beschissene Art zu sterben, wenn du mich fragst. Also, was denkst du? Warum hat Winter sich umgebracht? Und warum so? Seine Frau hat doch offensichtlich gelogen, als sie über die Ehe gesprochen hat. Dieser Quatsch über gute Zeiten und schlechte Zeiten. Verdammt, das Gleiche würde ich über meine Frau sagen. Und ich hab einen Drachen geheiratet.« Thiel lachte und verschluckte sich dabei am Rauch.

»Ich bin mir nicht sicher, ob er sich umgebracht hat«, sagte Weiland.

Thiels Lachen verstummte abrupt. »Sondern? Ist der Heilige Geist gekommen und hat ihn angezündet? Oder hat der Staat mehr als achtzig Hintermänner bezahlt, damit sie alle erzählen, der Mann hätte sich das selbst angetan? Komm schon, Theo. Ich halte dir zugute, dass du eine Weile raus warst. Keine Ermittlungen über so lange Zeit, da rostet man ein bisschen ein im Kopf. Du redest wirres Zeug.«

»Der Abschiedsbrief fehlt.«

»Viele gehen ohne Abschiedsbrief. Ich meine, was will man auch schreiben?«

»Warum hat Niklas Winter Feuer gewählt? Wenn er so große Angst davor hatte? Warum mitten in der Stadt? Vor so vielen Menschen?«

»Ist das wichtig?«

»Vielleicht schon. Das war keine spontane Tat. Sondern geplant. Vermutlich über Wochen oder sogar Monate«, entgegnete Weiland.

»Warum laufen Menschen Amok? Warum bringen sie ihre Familien um? Manchmal bricht da oben einfach etwas zusammen.« Thiel tippte sich an die Stirn. »Irgendeine Synapse brennt ab.«

»Ich sage ja nicht, dass es unmöglich ist. Nur, dass mich etwas stört. Ein paar Zahnräder greifen nicht ineinander. Das ist alles.«

»Wie du meinst. Mein Vater hat immer gesagt, wenn etwas wie Scheiße aussieht und wie Scheiße riecht, dann ist es auch Scheiße. Ein weiser Mann, wenn du mich fragst.«

Weiland starrte auf die Asche, die langsam auf dem kalten Asphalt erlosch.

 

Es war fast Mitternacht, als Theo Weiland schließlich die Tür zu dem unscheinbaren Haus aufschloss, das er gern sein Eigen nannte. Auch wenn die Hälfte (plus Zinsen) rein mathematisch gesehen noch der Bank gehörte und er seine Schulden bis zur Rente und darüber hinaus weiter abstottern würde. Er hatte in einem Randbezirk gekauft, bevor die Immobilienpreise in Berlin schwindelerregende Höhen erreicht hatten. Ihm gefielen die Mauern aus Backstein, die aussahen, als könnten sie Wind und Wetter noch Jahrtausende trotzen. Die Dachgiebel, die im Wind klapperten und sich anhörten wie ein leises Atmen.

Weiland trat in den dunklen Flur. Drinnen war es so kalt, dass er seinen eigenen Atem als weißen Schatten in der Dunkelheit sehen konnte. Blind fand er den Weg in die Küche. Er öffnete den Kühlschrank und fand nichts weiter als ein Stück ranziger Butter und eine weiche Tomate. Er seufzte. Einkaufen, schrieb er sich stumm auf die Liste. Sein Magen knurrte jämmerlich. Die einzige feste Nahrung, die er heute zu sich genommen hatte, war im Papierkorb auf der Arbeit gelandet.

Auf dem Weg zum Bad schälte er sich aus seiner Kleidung. Mantel, Pullover und Jeans warf er achtlos auf das dunkle Parkett. Sofort breitete sich Gänsehaut auf seinem Körper aus. Minutenlang stand er vollkommen regungslos unter der heißen Dusche und wartete darauf, dass sein durchgefrorener Körper wieder zum Leben erwachte. Während das Gefühl langsam in seine Gliedmaßen zurückkehrte, begann er sich von Kopf bis Fuß einzuseifen und betrachtete den gurgelnden Schaum, der für immer im Abfluss verschwand. Weiland bildete sich ein, dass der Gestank nach verbranntem Fleisch aus jeder seiner Poren strömte. Als er das Wasser schließlich ausstellte, kribbelte sein ganzer Körper. Er schlüpfte in seinen Bademantel und ging die Treppe nach oben ins Schlafzimmer, während die Stufen unter seinem Gewicht ächzten.

Die Decke lag noch genauso da wie am Morgen, als er sie in aller Eile zurückgeschlagen hatte und schlaftrunken ins Badezimmer getorkelt war.

Er dachte daran, Ingrid anzurufen. Ihr zu sagen, dass er einen neuen Fall hatte. Dass etwas daran nicht stimmte. Manche nannten es Instinkt. Manche eine Vorahnung. Er wollte ihr sagen, dass er langsam den Verstand verlor. Und dass er unbedingt ihre Stimme hören musste.

Der Wecker auf seinem Nachttisch zeigte 0:33 Uhr. Blieben nur noch knapp fünf Stunden. Weiland verwarf den Gedanken wieder und nahm sich vor, seine Frau morgen anzurufen. Er nahm zwei Schlaftabletten, schloss die Augen und wartete darauf, dass ihn der ewig gleiche Traum einholte.

1985

Die Männer wechselten kein einziges Wort miteinander. Zwei Profis, die genau wussten, was zu tun war, um zwei Menschen spurlos verschwinden zu lassen. Der Dicke suchte alte Laken und Teppiche zusammen. Verbotenerweise hatte Jakob genug Krimis im Fernsehen gesehen (das hätte eine Woche Hausarrest gegeben, so streng war seine Mutter dann doch), um zu wissen, dass Gangster darin Leichen einrollten. Der Anführer der beiden telefonierte, aber er war zu weit weg, als dass Jakob auch nur eines seiner Worte hätte verstehen können. Er konzentrierte sich darauf, tief einzuatmen. Sich bloß nicht vor Angst zu übergeben. Rechts neben ihm auf dem Boden lag seine Mutter, den Kopf von ihm abgewandt. Sie lagen so dicht, dass er spüren konnte, wie sich ihr Brustkorb ganz sanft hob und senkte. Sie lebte noch, atmete. Er hatte nie daran gedacht, dass ihnen etwas zustoßen könnte. Dass sie sterben könnten. Alte Menschen starben, Menschen mit grauen Haaren und vom Alter gebeugten Rücken.

»Mama«, flüsterte er. Seine Stimme klang dumpf. Sie reagierte nicht, natürlich nicht. Aber er musste es zumindest versuchen. Es gab nur diese eine Chance.

»Mama, du musst jetzt wirklich aufwachen.« Bevor Jakob einen weiteren Versuch unternehmen konnte, beendete der hagere Anführer das Telefonat und ging dann geradewegs auf sie zu. Er kniete sich auf den dreckigen Boden.

»Hör mir jetzt gut zu«, sagte er leise. Er beugte sich so weit nach vorn, dass Jakob seinen sauren Atem riechen konnte. »Ich werde mich nicht wiederholen. Wir werden gleich zu meinem Wagen gehen und eine Weile rumfahren. Wenn du einen Mucks machst, bist du tot. Wenn du jemanden ansiehst, bist du tot. Wenn du versuchst zu fliehen, bist du erst recht tot, aber du wirst ganz langsam verrecken. Und deine Mama, die schlitzen wir auf, wenn du Ärger machst. Hast du mich verstanden? Es liegt ganz in deiner Hand. Willst du etwa, dass ich deine Mama aufschlitze?«

Mit seinen langen Fingern fuhr er über den reglosen Körper am Boden. Jakobs Mutter sah aus, als würde sie schlafen. Die Augen noch immer geschlossen, eigenartig friedlich.

»Meinst du, ich soll hier schneiden?« Sanft strich er über ihren Bauch. »Oder lieber hier?« Seine Fingerspitzen fuhren über ihre Kehle. »Vielleicht schneide ich auch erst ihre Beine ab, damit sie nicht mehr weglaufen kann, was sagst du? Das würde bestimmt lustig aussehen, wenn deine Mama mit zwei blutigen Stümpfen über den Boden kriecht.«

Jakob begann zu weinen. Er zweifelte keine Sekunde daran, dass der Irre es ernst meinte.

»Na also. Wir verstehen uns.« Der Hagere wandte den Blick zu seinem Komplizen mit dem Bulldoggen-Gesicht. »Du weißt, was du zu tun hast?« Als Antwort gab der Dicke ein heiseres Grunzen von sich. Plötzlich kippte Jakobs Welt. Sein Entführer warf ihn über seinen Rücken wie einen Sack Mehl. Jakob wagte es nicht zu schreien, presste die Lippen fest aufeinander, um nicht laut loszuweinen. Ein letztes Mal sah er zu seiner Mutter. Der Gedanke, dass er sie nie wiedersehen würde, dass sie vollkommen hilflos war, fühlte sich schlimmer an als alles, was er je fühlen musste. Schlimmer als die Schläge, die er manchmal in der Schule kassierte. Schlimmer als die Enttäuschung, wenn sie seinen Geburtstag vergessen hatte. Es fühlte sich an, als säße er in einem dunklen Raum, wo sich niemals ein Streifen Licht hineinverirrte. Der Mann trug ihn aus der dreckigen Wohnung hinaus in den Flur. Der Weg nach unten schien eine Ewigkeit zu dauern und doch nicht lang genug zu sein. Bei jedem Schritt schlug Jakobs Kopf gegen den knochigen Rücken. Er hatte keine Kraft mehr, ihn zu halten. Der Hagere wählte die Tür zum Hinterhof nach draußen: Kein Mensch weit und breit. Nicht einmal Fenster. Niemand wollte auf die stinkenden Mülltonnen hier sehen.

Jakob hörte einen Schlüssel klappern, dann standen sie plötzlich vor einem roten Wagen. Mit einer Hand öffnete sein Entführer den Kofferraum. Jakobs Welt kippte erneut. Kopfüber landete er im Wageninneren. Sofort schlug ihnen ein muffiger Geruch entgegen. Urin und Blut. Jakob zitterte.

»Na, dann mach es dir mal bequem.« Der Hagere grinste. »Wir zwei Hübschen machen einen kleinen Ausflug, nur du und ich. Deine Mami kann dir nicht mehr helfen.«

Ein Knallen, und der Kofferraum schnappte zu. Jakob war in der Dunkelheit gefangen.