Leseprobe Für die Liebe einer Lady

1. Kapitel

April 1809

Armitage Hall, Lincolnshire

Lady Gwyn Drake schritt auf der Zierbrücke auf und ab wie eine Tigerin im Käfig. Was hatte es zu bedeuten, wenn sich ein Erpresser verspätete? Es war kein gutes Omen für die Verhandlungen, die sie führen wollte.

Vielleicht war sie am falschen Ort. Sie zog die Nachricht des Mannes aus der Tasche und las sie wieder:

An Lady Gwyn:

Bring mir morgen um vier Uhr nachmittags fünfzig Guineen auf den Landsitz von Armitage bei der Brücke, die über den Fluss führt, wenn Du sicher sein willst, dass ich schweige. Andernfalls werde ich nicht zögern, Geheimnisse über Dich und mich preiszugeben, die Deinen guten Namen ruinieren werden. Du weißt, dass ich es kann.

Captain L. Malet

Also war sie nicht am falschen Ort. Auf dem Landsitz gab es nur diese eine Brücke, die über einen Fluss führte. Wusste er, dass das Haus, in dem der gut aussehende Wildhüter Major Joshua Wolfe wohnte, nur ein kleines Stück entfernt war? Oder war es ihm egal?

Sie machte ein finsteres Gesicht. Als sie „L.“ Malet vor zehn Jahren zum letzten Mal gesehen hatte, war er nur ein Fähnrich und sie erst zwanzig gewesen. Aber wenn er glaubte, das dumme, kuhäugige Mädchen von damals anzutreffen, würde er sich wundern. Sie knüllte die Nachricht zusammen und warf sie in den Fluss. Dann fasste sie in den Muff und tastete nach der Pistole ihres Zwillingsbruders Thorn, auch bekannt als Duke of Thornstock. Die Pistole war nicht geladen – sie hatte keine Ahnung, wie man eine Pistole abfeuerte, geschweige denn, wie man sie lud –, aber das Gefühl des geschnitzten Elfenbeingriffs war ermutigend. Es würde genug Eindruck machen, um einen Feigling wie Lionel Malet abzuschrecken.

Sie hörte den Kies unter Wagenrädern knirschen und sah Malet aus einem Phaeton steigen. Wahrscheinlich hatte er ihn auf Kredit gekauft, doch man wäre nicht darauf gekommen, wenn man ihn unbekümmert den Hügel zur Brücke hinunter schlendern sah. Kaum zu glauben, dass sie vor Jahren alles für zwei blaue Augen, ein selbstgefälliges Lächeln und einen schwarzen Lockenkopf riskiert hatte. Selbst in der Uniform eines einfachen Fähnrichs hatte Lionel unglaublich anziehend auf eine Frau gewirkt, die sonst nur mit den alternden Freunden ihres Stiefvaters zu tun gehabt hatte – oder mit ihrem Bruder und den Halbbrüdern, die sie geärgert hatten. Heute war er noch eindrucksvoller gekleidet, ganz wie ein Gentleman, aber es ließ sie kalt. Wie war es nur möglich, dass sie die Wahrheit nicht schon damals erkannt hatte – dass er charmant und aalglatt war, die Sorte Mann, die sich in das Leben einer naiven Frau einschlich, sie dann vergiftete und ihre Zukunft mit einem Bissen verschlang? Wenn sie es nur eher begriffen hätte …

Es spielte keine Rolle. Sie erkannte seinen wahren Charakter jetzt.

Als er auf sie zuging, die Selbstsicherheit in Person, zog sie Thorns Pistole und zielte auf ihn. „Das ist nah genug, Sir.“

Er lachte sie aus. Zum Teufel mit ihm. „Du willst mich also erschießen?“

„Ich muss.“

„Aber nicht doch.“ Er warf frech den Kopf zurück. „Du musst nur meinen Preis zahlen. Fünfzig Guineen sind eine angemessene Summe für mein Schweigen, findest du nicht?“

Ihre Hände zitterten. Sie hoffte, dass er es nicht sah. „Ich wundere mich, dass du so wenig verlangst, wenn man bedenkt, wie viel du bekommen könntest, wenn du mich heiraten würdest.“

„Interessiert dich das noch?“ Sie starrte ihn nur finster an und er zuckte die Achseln. „Ich hatte es nicht erwartet. Was für ein Jammer. Eine Hochzeit würde uns beiden gut passen.“

„Ich bin sicher, dass es für dich finanziell gut wäre, aber was habe ich schon davon?“, fragte sie kalt.

Er ließ seinen unverschämten Blick über sie schweifen. „Du bist nicht mehr halb so jugendfrisch wie mit zwanzig. Bald wird man dich als alte Jungfer betrachten, die aus dem Rennen ist, und dann wird dich keiner mehr heiraten.“

„Gut. Das passt mir ausgezeichnet.“ Seltsamerweise war das die Wahrheit. „Ich fürchte, du hast mir die Männer gründlich verleidet, mein Lieber.“ Auch das stimmte. Jedenfalls teilweise. „Und ich bin auch kein Grünschnabel mehr, der auf deine Tricks hereinfällt.“

„Wozu brauchst du dann die Pistole?“

„Mein Bruder fürchtete, du würdest versuchen, mich zu entführen. So wie du zu Weihnachten Kitty Nickman von genau diesem Landsitz entführen wolltest.“

Die Erinnerung an seinen gescheiterten Plan brachte sein Blut in Wallung. „Ich habe es erwogen. Aber ich kenne Thornstock. Wenn ich dich entführen würde, würde er dir keinen Penny mehr geben und dann wären wir beide arm. Das hat er dir ja schon vor Jahren angedroht.“

Die Erinnerung an diesen Verrat hatte sie wie eine schlimme Erklärung befallen. Es machte sie wütend, dass es immer noch wehtat. „Er wollte mich beschützen. Das hätte jeder gute Bruder getan.“

Doch es nagte immer noch an ihr, dass ihr Zwillingsbruder Lionels Charakter so gründlich durchschaut hatte, während sie blind gewesen war. „Und nach deinem Erpressungsversuch zu urteilen, war es klug von ihm.“

„Das ist kein Versuch!“ Er machte einen Schritt nach vorn. „Ich will mein Geld!“

Sie richtete die Pistole auf ihn. „Ich habe es nicht.“

Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Dann werde ich wohl der ganzen Welt von uns erzählen – und bei deinem Bruder anfangen.“

Ihr wurde beinahe übel vor Angst bei dem Gedanken, dass Thorn – oder überhaupt jemand – die Wahrheit erfahren könnte. „Ich verspreche, dass du dein Geld bekommst, sobald die Familie für die Saison nach London fährt. Bis dahin sind es nur noch ein paar Tage. So lange kannst du wohl noch warten.“

„Ah, aber warum sollte ich?“

„Wenn ich Thorn in der Stadt um fünfzig Guineen bitte, wird er sich nichts Arges denken, denn das könnte ich ja ohne Weiteres für Schmuck oder Kleidung ausgeben. Doch hier auf dem Lande, wo das nicht so leicht geht, wird er die Bitte verdächtig finden und wissen wollen, wozu ich das Geld brauche. Ich kann ihm keine glaubwürdige Lüge auftischen. Und wenn ich die Wahrheit sage, bringt er dich vielleicht einfach um.“

Lionel schmunzelte. „Du meinst, du hast deinem Schweinehund von Bruder nicht erzählt, was wir getan haben?“

„Natürlich nicht. Und ich weiß, dass du es ihm auch nicht erzählt hast. Denn dann würdest du nicht versuchen, mich zu erpressen. Thorn hätte dich schon vor Jahren umgebracht.“

„Stimmt.“ Die Belustigung schwand aus seinem grausam schönen Gesicht und es blieb nur das kalte Glitzern in seinen Augen. Das war der Lionel Malet, den sie kannte und hasste. „Glücklicherweise“, fuhr er fort, „bin ich dieser Tage besser dafür gerüstet, um es mit deinem Bruder aufzunehmen. Ich war nicht umsonst Soldat. Und Thornstock ist sicher schon altersmilde.“

„Wenn du das glaubst, hattest du in letzter Zeit wenig mit ihm zu tun.“

„Jedenfalls“, sagte er und wischte ihre Bemerkung beiseite, „habe ich nicht vor, auf mein Geld zu warten. Wenn du heute nicht zahlen kannst, muss ich eben etwas anderes als Zahlung mitnehmen.“

Er ging auf sie zu und obwohl sie rasch zurückwich, holte er sie ein, bevor sie weit kam. Erst als er ihr die Waffe aus der Hand riss, begriff sie, dass es ihm nicht um sie ging.

„Die kannst du nicht haben!“, rief sie und ihr Herz sank. „Die Pistole gehört Thorn! Ich kann sie nicht einfach weggeben!“ Es war eine von zwei Pistolen. Thorn hatte sie erst vor Kurzem gekauft und liebte sie sehr. Ihr Bruder würde ihr nie verzeihen, wenn sie ihr abhandenkam.

„Das kümmert mich nicht!“ Lionel untersuchte die Pistole und schnaubte, als er sah, dass sie nicht geladen war. „Die wird mir in London ein hübsches Sümmchen einbringen, während ich auf den Rest meines Geldes warte.“ Er steckte sich die Waffe in die Manteltasche. „Oh, und der Preis für mein Schweigen ist soeben gestiegen. Es sind jetzt hundert Guineen.“

Als er sich abwandte, packte sie ihn am Arm, damit er sich nicht mit Thorns Waffe davonmachte. „Ich treibe das verflixte Geld auf, aber die Pistole kannst du nicht haben!“

Sie hatte sie schon halb aus seiner Tasche gezerrt, doch dann packte er sie an den Oberarmen und schüttelte sie. „Ich werde alles von dir bekommen, was ich will, bilde dir ja nichts anderes ein! Wenn du also willst, dass ich deine Geheimnisse für mich behalte …“

Über ihren Köpfen ertönte ein Schuss. Sie und Lionel blickten erschrocken in die Richtung, aus der er gekommen war – von der Anhöhe, auf der das Witwenhaus stand.

Sein Bewohner, Major Wolfe, hantierte am Lauf seines Gewehrs und zielte dann direkt auf Lionels Herz. Sie war noch nie so froh gewesen, den ungehobelten ehemaligen Soldaten zu sehen.

„Lassen Sie Lady Gwyn in Ruhe“, rief Major Wolfe und eilte zur Brücke hinunter. Irgendwie gelang es ihm, die Waffe auf Lionel gerichtet zu halten, während er mit seinem Stock das holprige Ufer entlang stapfte.

Lionel sah ihn höhnisch an. „Sonst? Ein einfacher Wildhüter wird es nicht wagen, den Sohn eines Viscounts zu erschießen.“

Gwyn runzelte die Stirn. „Woher weißt du, dass er Wild – oh. Richtig.“ Sie hatte vergessen, dass Major Wolfe geholfen hatte, die Entführung zu vereiteln, die Lionel zu Weihnachten geplant hatte. Es spielte ohnehin keine Rolle. „Der Major ist der Sohn eines Herzogs und ein ausgezeichneter Schütze. Er würde es nicht nur wagen, auf dich zu schießen, er würde auch treffen.“

Major Wolfes Blick fiel auf sie. Ihre Bemerkung schien ihn zu wundern, aber sie wusste nicht, warum. Sie hatte so oft mit ihm geflirtet, dass ihm klar sein musste, was sie für ihn empfand. Doch sie hatte es aufgegeben, nachdem er mehr als einmal mürrisch reagiert hatte. Kein Mann würde sie je wieder zum Narren halten. Sie hatte es sich von Lionel gefallen lassen und es war katastrophal ausgegangen.

Der Major nahm Lionel ins Visier. „Sie stehen auf meinem Grund und Boden und bedrohen ein Mitglied der Familie, für die ich arbeite. Also lassen Sie die Dame jetzt los oder Sie werden es bereuen, das schwöre ich. Kein Richter im County würde mich dafür verurteilen, dass ich einen bewaffneten Mann auf meinem Grundstück erschossen habe.“

Lionel fuhr zusammen. „Ich bin nicht bewaffnet.“ Major Wolfe machte eine Kopfbewegung in Richtung Lionels Manteltasche, aus der der Elfenbeingriff von Thorns Pistole hervorschaute, und Lionel wurde blass. „Die Waffe ist nicht geladen“, sagte er, war aber klug genug, Gwyn loszulassen.

„Ganz zu schweigen davon, dass sie nicht dir gehört.“ Sie begegnete Major Wolfes Blick. „Sie gehört Thorn. Captain Malet hat sie mir weggenommen.“

Major Wolfe zog eine seiner dunklen Augenbrauen hoch. „Und was wollten Sie mit einer ungeladenen Pistole?“

„Das spielt keine Rolle. Ich sage nur, dass ich sie wiederhaben will.“

„Ah.“ Major Wolfe richtete die Waffe wieder auf Lionel. „Sie haben gehört, was die Dame gesagt hat. Geben Sie sie ihr.“

Lionels Augen wurden schmal und Gwyn blieb fast das Herz stehen. Was, wenn er Major Wolfe ihr Geheimnis verriet, um sich an ihr zu rächen? Das sähe ihm ähnlich! Und sie würde vor Scham sterben! Das wollte etwas heißen, denn heutzutage war ihr nur noch sehr wenig peinlich.

Sie trat dichter an Lionel heran. „Gib sie her.“ Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern. „Ich verspreche dir, dass du dein Geld bekommst, sobald ich in London bin. Aber nicht, wenn du ihm ein Wort über unsere gemeinsame Vergangenheit verrätst.“

Lionels Blick schweifte von Major Wolfes Waffe zu ihrem aschfahlen Gesicht. „Ich nehme dich beim Wort“, murmelte er, gab ihr Thorns Pistole und wich zurück – bis zum Ende der Brücke und auf den Pfad, auf dem sein Phaeton wartete. Major Wolfe, der sie beide aufmerksam beobachtet hatte, fragte zum Glück nicht, worüber sie gesprochen hatten. Sie war sicher, dass das Rauschen des Flusses das Gespräch übertönt hatte, doch sie zitterte noch in dem Bewusstsein, dass sie nur um Haaresbreite entkommen war.

Und dass es so bleiben würde, so lange es Lionel gab. „Ich wünschte, Sie hätten ihn umgebracht“, murmelte sie, als Major Wolfe auf sie zukam und Lionel nachsah.

Als Lionel in seinen Phaeton gestiegen und weggefahren war, entspannte sich Major Wolfe sichtlich. Dann steckte er die große, seltsam aussehende Pistole in die geräumige Tasche seines zerlumpten Mantels, den er immer trug, wenn er auf dem Landsitz arbeitete.

„Ich begleite Sie zurück nach Armitage Hall.“ Sie wollte protestieren, doch er fügte hinzu: „Nur für den Fall, dass Malet hier noch irgendwo herumlungert und Ihnen auflauert.“

Oh. Das war ein gutes Argument. „Danke, dass Sie mir zu Hilfe gekommen sind.“

Er nickte, schweigsam wie immer, und gab ihr mit einer Geste zu verstehen, dass sie vor ihm her gehen sollte. Sie überquerten die Brücke und erklommen den Hügel. Eine Weile herrschte Schweigen und sie warf ihm immer wieder verstohlene Blicke zu. Himmel, der Mann sah gut aus. Sein langes schwarzes Haar war unmodern frisiert – ein Zopf mit einem einfachen Lederband –, aber er sah trotzdem gut aus. Manchen war sein Kinn zu energisch und seine Lippen zu schmal, doch Gwyn fand die Kombination faszinierend. Aber was ihn von allen anderen Männern unterschied, die ihr je begegnet waren, waren seine haselnussbraunen Augen, auch von Heywood, der ebenfalls haselnussbraune Augen hatte. Die Augen des Majors hatten die Farbe von dunklem Honig, ein Goldton, der so ungewöhnlich war, dass sie sie den ganzen Tag hätte anstarren können. Allerdings hatte sie nur noch selten Gelegenheit dazu. Als seine Schwester Bea auf dem Landsitz gewesen war, hatte Gwyn ihn öfter gesehen, aber seit Bea verheiratet war, wollte er anscheinend nichts mehr mit den Bewohnern von Armitage Hall zu tun haben.

Das hielt die Dienstmädchen nicht davon ab, über ihn zu tuscheln – wie er aussah, was er sagte, was er tat. Eine hatte sogar gesagt, dass sie Major Wolfe vom Fleck weg heiraten würde, lahmes Bein hin oder her. Aber er schien nicht zu ahnen, wie er auf Frauen wirkte, denn sonst wäre er sicher längst verheiratet. Laut seiner Schwester war er schon einunddreißig.

„Was wollte Malet?“, fragte Major Wolfe.

Sie war froh, eine plausible Erklärung abgeben zu können. „Dass ich mit ihm gehe. Deshalb habe ich die Pistole gezogen.“

Major Wolfe sah sie forschend an. „Seit wann tragen Sie auf dem Grund und Boden von Armitage eine Pistole mit sich herum?“

„Seit Mr. Malet Heywood gesagt hat, dass er mich entführen wollte – als Rache für etwas, das Heywood und sein Freund im Ausland getan haben“, fuhr sie ihn an.

„Malet hat diese Drohung vor vier Monaten ausgestoßen“, sagte Major Wolfe. „Es ist seltsam, dass er mit dem Versuch bis jetzt gewartet hat.“

„Vielleicht hat er gewartet, bis unsere Wachsamkeit nachgelassen hat“, sagte sie trocken. „Oder vielleicht hat er einer Erbin den Hof gemacht, die nichts von seinen bösen Absichten wusste, und ihr Geld hat ihm nicht gereicht, also griff er wieder auf seine alten Methoden zurück.“

„Und Sie sind rein zufällig mit der ungeladenen Pistole Ihres Bruders über den Landsitz gestreift, als Malet kam, um Sie zu entführen.“

Sie wusste genau, dass Major Wolfe nicht so gutgläubig war, ihr das abzunehmen. Dann fiel ihr etwas ein. „Thorn hat gehört, dass Malet in Sanforth herumgeschnüffelt hat, deshalb ermahnte er mich, wachsam zu sein.“

„Ihr Bruder hält sich zurzeit auf Armitage Hall auf?“

„Ja. Und er hat mir seine Pistole zu meinem Schutz gegeben.“

„Eine wertvolle, ungeladene Pistole – ohne Ihnen zu zeigen, wie man sie lädt oder abfeuert? Das kommt mir sehr leichtsinnig vor. Und ich habe Ihren Zwillingsbruder nie für leichtsinnig gehalten.“

„Da kennen Sie ihn aber schlecht“, murmelte sie. Zum Teufel mit Major Wolfe und seinem strategischen Denken! Es lief nicht gut.

„Und außerdem schienen Sie und Malet einander zu kennen, jedenfalls gut genug, um Vertraulichkeiten auszutauschen.“

„Vertraulichkeiten! Seien Sie nicht albern! Was auch immer Sie gesehen haben, es war nicht das, was Sie andeuten!“

„Hmm. Wenn Sie das sagen.“ Dafür, dass er ein gelähmtes Bein hatte, schritt Major Wolfe den Waldweg erstaunlich schnell entlang. „Warum ist Ihr Bruder überhaupt hier? Hat er nicht einen eigenen Landsitz, um den er sich kümmern muss?“

„Doch, natürlich, aber er will mich und Mama für die Saison nach London begleiten. Ich werde bei Hofe vorgestellt und in die Gesellschaft eingeführt.“

„Ich weiß“, sagte er und es klang angespannt.

Was hatte das zu bedeuten?

Oh, er dachte sicher an seine Schwester Bea. Sie würde auch vorgestellt werden, aber als Greys Frau und Duchess of Greycourt.

„Glücklicherweise“, fuhr er fort, „wird der heutige Vorfall Thornstock klarmachen, dass er in London ein wachsames Auge auf Sie und Ihre Verehrer haben muss.“

Diese Bemerkung war so typisch Mann und arrogant, dass sie ihm am liebsten eine Ohrfeige gegeben hätte, als ihr aufging, was seine Worte bedeuteten. „Sie wollen Thorn doch wohl nichts davon erzählen!“

Major Wolfe zog eine Augenbraue hoch. „Natürlich! Er muss Bescheid wissen, damit er sich darauf vorbereiten kann, Sie überall hin zu begleiten.“

Sie vertrat ihm den Weg. „Aber das können Sie nicht machen! Ich will nicht, dass Thorn sich in meine Angelegenheiten einmischt. Das habe ich zur Genüge erlebt, als wir in Berlin zusammen aufgewachsen sind.“

In der Dunkelheit des Waldes sahen die Augen des Majors braun wie Eichenholz und ebenso hart aus. „Sie können nicht erwarten, dass ich über diese Sache Stillschweigen bewahre.“

„Warum nicht? Es geht Sie doch nichts an. Ich bin eine erwachsene Frau. In der guten Gesellschaft werde ich mit Leuten wie Mr. Malet fertig, denn dort bin ich ja nie allein.“

„Nie? Nicht einmal im Stadthaus der Armitages? Oder wenn Sie auf einem Ball auf den Balkon gehen, um etwas frische Luft zu schnappen? Oder …“

„Ich werde mich überall in Acht nehmen, das versichere ich Ihnen. Und außerdem wird es nur sehr wenige Gelegenheiten für ihn geben, eine Entführung zu versuchen, ohne selbst Aufsehen zu erregen.“

Und noch weniger, wenn der Major Thorn von Lionel erzählen und ihr Zwilling beschließen würde, nicht von ihrer Seite zu weichen. Dann würde sie ihn nie unter vier Augen sehen, um ihm sein Geld zu geben.

Und sie konnte Thorn auch nicht von der Erpressung erzählen. Er würde Lionel entweder gleich erschießen und im Gefängnis landen oder Lionel zum Duell fordern und im Gefängnis landen. Nein, Thorn durfte nie erfahren, was Lionel vorhatte.

„Bitte, Major Wolfe, Sie dürfen meinem Bruder nichts sagen …“

„Ihr Bruder hört vielleicht auf Ihre Bitten, Lady Gwyn, doch ich bin klug genug, es ist nicht zu tun. Entweder sagen Sie es ihm in meiner Anwesenheit, oder ich sage es ihm selbst. Aber er muss auf jeden Fall erfahren, was Malet vorhatte, und damit Schluss.“

Großer Gott, er war wie ein Hund mit einem Knochen. Und ihm sei Dank war es nun noch zehn Mal schwieriger für sie, Lionel zu bezahlen und seinen Verrücktheiten einen Riegel vorzuschieben.

2. Kapitel

Joshua konnte nicht glauben, dass er und Lady Gwyn diese Diskussion führten. Nicht einmal seine Schwester wäre so leichtsinnig gewesen, sich solch einer Gefahr auszusetzen.

Doch sie würde die Gefahr verheimlichen. Und das hatte sie auch getan, bevor Greycourt sie geheiratet hatte. Also hatten Lady Gwyn und Beatrice vielleicht mehr gemeinsam, als er dachte. Es spielte keine Rolle. Er hatte nicht vor, Lady Gwyns Geheimnisse zu wahren. Und an ihrer Reaktion auf seine Fragen hatte er erkannt, dass sie auf jeden Fall welche hatte. Vorgetäuschten Zorn erkannte er immer sofort.

Dass sie ihren Bruder nicht einweihen wollte, sagte auch eine Menge. Wahrscheinlich hatte es damit zu tun, dass Malet heute auf dem Landsitz aufgetaucht war. Thornstock nichts von dem Vorfall zu sagen, wäre unklug. Was, wenn Malet ihr etwas antat, weil Joshua ihren Bruder nicht von der Gefahr in Kenntnis gesetzt hatte?

Nein, das konnte er nicht riskieren. Ihm war fast das Herz stehen geblieben, als er gesehen hatte, wie Malet auf Gwyn losgegangen war. Nicht, weil ihm etwas an ihr lag. Mehr als desinteressierte Besorgnis für die reiche Schwester eines Herzogs zu empfinden, wäre absurd gewesen. Laut seiner Schwester war Lady Gwyn dreißig Jahre, doch sie sah nicht älter aus als Beatrice. Wenn sie erst einmal in London war, würde sie sich vor Verehrern kaum retten können. Das sollte er sich klarmachen, bevor er sich zu Dummheiten hinreißen ließ … wie etwa der, sie zu begehren.

Er schaute zu ihr hin und bemerkte, dass sie etwas blass geworden war. Das wollte etwas heißen bei einer Frau, deren Haut schon so weiß wie Alabaster war. Wahrscheinlich benutzte sie irgendeine Schminke; das hatte Beatrice auch lange versucht. Aber Gott allein wusste, was Lady Gwyn verwendete, um ihren Lippen diese faszinierende Pfirsichfarbe zu geben, und ihren Augen das herausfordernde Grün. Smaragdgrün nannte er es, denn es glitzerten wie der gleichnamige Edelstein.

Verdammt, er wurde poetisch. Davor nahm man sich besser in Acht. Er war der Enkel eines Herzogs, doch sein Vater war der jüngste von drei Söhnen dieses Herzogs gewesen und obendrein ein Verschwender. Joshua schied schon durch seine Herkunft für die verwöhnte – und ja, wunderschöne – Tochter eines anderen reichen Herzogs aus. Und jetzt erst recht, da er wegen seines versehrten Beines nur den halben Sold bekam und in der Marine keine glänzende Zukunft hatte.

Außerdem wollte er, wenn er seinem Land nicht dienen konnte, lieber außerhalb der Reichweite der sogenannten „guten“ Gesellschaft und ihrem frivolen Treiben leben.

„Sie sind ja auf einmal so still“, sagte er und wusste selbst nicht, warum es ihn ärgerte.

Sie schniefte. „Warum soll ich reden, wenn Sie ohnehin nicht zuhören?“

„Ich höre ja zu. Aber das heißt nicht, dass ich automatisch alle Ihre Befehle befolge. Darum sind Sie ärgerlich – weil jeder andere Gentleman tut, was Sie sagen, und ich nicht.“

Sie blieb stehen und starrte ihn wütend an. „Thorn tut nicht, was ich sage, und meine Halbbrüder auch nicht.“

„Das entscheidende Wort ist ‚Brüder‘. Die Brüder einer Frau sehen sie immer klarer als andere Herren.“

„Oh? Sie dachten nicht, dass Ihre Schwester Herzogin werden würde, aber Sie lagen falsch.“ Als er auf diese Offenheit gereizt reagierte, fügte sie hinzu: „Und falls es Ihnen entgangen sein sollte, Mr. Malet war auf der Brücke auch nicht gerade gefügig.“

„Ich habe es bemerkt. Deshalb sollten Sie ihm aus dem Weg gehen, bevor er Sie in eine Kutsche zerrt und Sie sich auf dem Weg nach Gretna Green wiederfinden.“

Sie stemmte die Hände in die Hüften. „Also was nun, Major Wolfe? Bin ich verwöhnt, weil mir alle Männer zu Füßen liegen, oder bin ich in Gefahr, weil sie es nicht tun?“

Zur Hölle mit der Frau, weil sie seinen Denkfehler erkannt hatte. Sie verwirrte ihn, er konnte mit ihr nicht vernünftig argumentieren. Er wollte lieber nicht darüber nachdenken, warum das so war.

Sie fügte hinzu: „Sie haben mich ja nur mit meinen Brüdern und Mr. Malet erlebt. Sie wissen nicht, wie ich mich anderen Herren gegenüber verhalte. Trotzdem maßen Sie sich an, meinen Charakter zu beurteilen.“ Sie straffte die Schultern und ging weiter. „Sie sollten sich schämen!“

Er schüttelte den Kopf. Diese Frau würde einem Mann das Fell über die Ohren ziehen, wenn sie nicht ihren Willen bekam. Und er würde nicht in die Falle tappen. Als er nicht gleich antwortete, stieß sie ein Schnauben aus. „Bisher habe ich nicht verstanden, warum Bea Ihretwegen immer so verzweifelt war. Jetzt tue ich es.“

Nichts hätte ihn mehr aufbringen können als die Bemerkung über seine Schwester. „Da wir von Menschenkenntnis reden – Sie haben nicht einmal mitbekommen, dass sie es nicht mag, wenn man sie Bea nennt!“

Die Totenstille nach diesen Worten dauerte so lange, dass er zu Lady Gwyn hinschaute und es sofort bereute. Sie sah so verlegen aus, dass er seine Worte zurücknehmen wollte.

„Stimmt das?“, fragte sie gequält. „Oder sagen Sie das nur … um mich zu ärgern?“

Er erwog zu lügen, um diesen Ausdruck aus ihrem Gesicht zu vertreiben. „Verzeihen Sie mir, Lady Gwyn. Beatrice würde mich erwürgen, wenn sie wüsste, dass ich Ihnen das erzählt habe.“

„Warum hat sie uns nichts gesagt? Wir würden nie absichtlich … Das heißt, wir dachten alle … Nein, es gibt keine Entschuldigung.“ Sie runzelte die Stirn. „Allerdings hat Mama sie von Anfang an so genannt, weil Ihr Onkel Armie sie in seinen Briefen auch so genannt hat.“

Joshua konnte es sich nur zu gut vorstellen. Ihr Onkel, der vorherige Duke of Armitage, hatte keine Gelegenheit ausgelassen, Beatrice zu gängeln und ihr sogar einen Spitznamen gegeben, den sie nicht mochte. Auf diese boshafte Art hatte er sie gezwungen, zu tun, was er wollte. Glücklicherweise war der Mistkerl gestorben, bevor er seinen schlimmsten Plan hatte ausführen können. Aber Lady Gwyn konnte das nicht wissen. Und trotz allem – ihre tödliche Verlegenheit darüber, dass sie Beatrice falsch angeredet hatten, stimmte ihn milder. Denn natürlich mochte sie seine Schwester und bereute, dass sie sie gekränkt hatte.

„Wir hätten sie fragen sollen, wie sie genannt werden will. Es war ein Fehler, dass wir es nicht getan haben.“ Die Röte auf Lady Gwyns Gesicht legte sich ein wenig. „Das erklärt auch, warum Grey sie immer Beatrice nennt. Ich dachte, es liege an seiner Förmlichkeit als Herzog, aber sie hat ihm wohl gesagt, was ihr lieber ist. Ich verstehe nicht, warum sie es uns anderen nicht gesagt hat.“

Er seufzte. „Sie wollte dazugehören – sie wollte, dass Sie und Ihre Angehörigen sie mögen. Deshalb hat sie Ihnen – vor allem unserer Tante – nicht gesagt, dass ihr diese Abkürzung ihres Namens nicht gefällt.“

„Nun, dann“, sagte sie milde, „werde ich mich bei ihr entschuldigen, sobald wir übermorgen in London sind. Bea … Beatrice … ist zwar keine Blutsverwandte von mir, aber ich betrachte sie trotzdem als Familienmitglied. Und ich möchte, dass sie sich gemeinsam mit dem Rest unserer bunten Truppe willkommen fühlt.“

Jetzt kam er sich wirklich schäbig vor, weil er das Thema überhaupt zur Sprache gebracht hatte. Vor allem, weil er seine Tante wirklich mochte und genau wusste, dass sie nie jemanden absichtlich beleidigte.

Joshuas und Beatrice’ Tante Lydia war Lady Gwyns Mutter. Sie hatte in die Familie Wolfe eingeheiratet, nachdem Lady Gwyns Vater gestorben war. Tante Lydia hatte Onkel Maurice geheiratet, der kurz danach als Diplomat nach Preußen gegangen und schließlich Botschafter geworden war. Deshalb hatten Joshua und Beatrice Tante Lydia und ihre beiden Söhne aus der Ehe mit Onkel Maurice erst vor Kurzem kennengelernt. Sie waren nach Onkel Armies Tod auf den Landsitz zurückgekehrt und Onkel Maurice hatte geerbt. Dann war Onkel Maurice gestorben und ihr Cousin Sheridan war der neue Duke of Armitage geworden. Sheridans jüngerer Bruder Heywood würde den Titel erben, wenn Sheridan nicht selbst einen Erben zeugte.

Als Sohn des jüngsten Wolfe-Bruders konnte Joshua den Titel nur erben, wenn Sheridan und Heywood starben, ohne Nachkommen zu hinterlassen. Da beide jung und gesund waren, war das sehr unwahrscheinlich.

Er wollte sowieso nicht Herzog werden. Er hatte gesehen, wie sehr Sheridan gekämpft hatte, um den Landsitz schuldenfrei zu machen, und Joshua wollte sich diese Arbeit nicht antun. Er wollte zur Marine zurückkehren und wieder den vollen Sold bekommen. Leider machte der Zustand seines Beines das unwahrscheinlich, vor allem, da der Staatssekretär für Krieg und die Kolonien seine Briefe nicht einmal beantwortete.

Plötzlich merkte er, dass Lady Gwyn mit ihm sprach. „Hmm?“, fragte er.

„Wir sind da.“

Er schaute zu dem imposanten Armitage Hall hinauf und seufzte. „Ja.“

Es war Zeit für ein unangenehmes Gespräch mit ihrem Bruder, dem Duke of Thornstock, den er kaum kannte. Sie betraten die Halle und erfuhren, dass der Herzog im Schreibzimmer war. Joshua fragte sich, was Thornstock mit dem winzigen Kämmerchen wollte, in dem nur ein Schreibtisch und ein Bücherregal mit ein paar Almanachen aus den letzten Jahren Platz hatten. Irgendwie konnte sich Joshua nicht vorstellen, dass der Mann las. Thornstock war nicht der Typ dafür. Es stellte sich heraus, dass der Herzog den ausgezeichneten Branntwein gefunden hatte, der dort verwahrt wurde. Er schrieb eifrig und war mit dem Ergebnis offenbar nicht zufrieden, denn der Fußboden war mit zusammengeknüllten Papierbögen übersät.

„Sag nicht, dass du ein Theaterstück schreibst wie dein Namensvetter Marlowe“, sagte Lady Gwyn. „Mutter wird stolz sein!“

Es war das erste Mal, dass Joshua Thornstocks Vornamen hörte. Offenbar eine Hommage an Christopher Marlowe, den Dramatiker. Einer von Joshuas Lieblingsautoren.

Thornstocks Kopf flog hoch und sah seine Zwillingsschwester finster an. „Herzöge schreiben keine Theaterstücke, merk dir das. Aber wir schreiben verdammt viele Briefe.“

Joshua entging nicht, dass der Herzog den Brief, den er gerade geschrieben hatte, in der obersten Schublade hatte verschwinden lassen. Lady Gwyn grinste ihren Bruder hämisch an und wies auf die zusammengeknüllten Papierbögen. „Das muss ein wichtiger Brief sein, wenn so viele Entwürfe nötig sind.“

Lady Gwyn zog Thornstock wie immer auf. Das Verhältnis der beiden war angespannt, ähnlich wie das von Joshua und Beatrice, bevor sie eine so gute Partie gemacht hat. Nur dass es sich bei ihm und Beatrice durch ihre verzweifelte Lage verschärft hatte. Doch Lady Gwyn und ihr Bruder waren beide reich. Was heizte den Ärger zwischen ihnen ständig an?

Nein, es konnte ihm egal sein. Es war nicht sein Problem. Lady Gwyn war nicht sein Problem.

Thornstock stand auf und begrüßte Joshua mit einem Nicken. „Also, was bringt Sheridans Wildhüter und meine Lieblingsschwester dazu, mich mit ihrem Besuch zu beehren?“

„Lieblingsschwester? Hast du noch eine Schwester, von der ich nichts weiß?“, fragte Lady Gwyn schelmisch.

„Ich hoffe nicht. Mit mehr als einer würde ich nicht fertig werden.“

Joshua hatte die Erfahrung gemacht, dass die Zwillinge stundenlang aufeinander herumhacken konnten. Heute hatte er keine Geduld dafür. „Verzeihen Sie meine Aufdringlichkeit, Euer Gnaden, aber wir sind gerade draußen Lionel Malet begegnet.“

„Was?“ Thornstock eilte zu dem kleinen Fenster und schaute hinaus. „Wo? Wie lange ist es her?“

Lady Gwyn beugte sich zu ihm und flüsterte: „Sie hätten es ihm schonender beibringen können.“

„Im Gegensatz zu Ihnen beiden habe ich nicht den ganzen Tag Zeit.“ Joshua sah den Herzog an. „Malet hat Ihre Schwester auf der Brücke beim Witwenhaus belästigt. Glücklicherweise habe ich die beiden gesehen und ihn mit meiner Pistole zur Räson bringen können, bevor er weiter gehen konnte. Ich habe mich überzeugt, dass er den Landsitz verlassen hat, kann aber nicht versprechen, dass er nicht zurückkommt.“

„Das würde auch nichts machen.“ Lady Gwyn schniefte. „Denn dann sind wir schon in London.“

„Um so mehr ein Grund, ihn im Auge zu behalten“, sagte Joshua. Die Frau war hartnäckiger als Greyhounds, die einen Hasen aufspürten.

Thornstock runzelte die Stirn und marschierte zurück zum Schreibtisch. „War Malet bewaffnet?“

„Wenn, dann habe ich es nicht gesehen“, sagte Joshua. „Er hat versucht, die Pistole zu stehlen, die Sie Lady Gwyn gegeben haben, damit sie sie zur Sicherheit bei sich trägt.“

Thornstocks Blick flog zu Lady Gwyn und an seinem Kiefer zuckte ein Muskel. Damit stand für Joshua fest, dass die Frau gelogen hatte, als sie ihm erzählt hatte, wie sie an die Pistole ihres Bruders gekommen war.

„Hast du daran gedacht, die Pistole zu laden, die ich dir gegeben habe, Gwyn?“, sagte der Herzog mit sarkastischer Betonung auf dem Wort „gegeben“.

Sie sah ihren Bruder mit einem gewissen Trotz an. „Natürlich nicht. Man muss sich mit den Dingern auskennen, um sie zu laden, und du hast dir nicht die Mühe gemacht, es mir zu zeigen.“

Joshua war beeindruckt davon, wie sie aus ihrer leichtsinnigen Tat einen Fehler ihres Bruders machte. Gott sei Dank hatte Beatrice sich das nicht von ihr abgeschaut.

„Stimmt“, sagte Thornstock ungerührt. „In diesem Fall solltest du sie mir vielleicht zurückgeben. Es ist unklug, mit einer Pistole herumzufuchteln, mit der man nicht umgehen kann.“

„Genau das habe ich ihr auch gesagt“, sagte Joshua.

Thornstock lächelte ihn an. „Wie ich sehe, gewöhnen Sie sich allmählich daran, dass meine Schwester meistens nicht tut, was man ihr sagt.“

„Jetzt hör mal …“, fing Lady Gwyn an.

„Ganz zu schweigen davon“, fuhr Thornstock fort, ohne sie zu beachten, „dass die Pistole ein verdammtes Vermögen wert ist.“

„Dann ist es wohl gut, dass ich verhindert habe, dass Malet sie stiehlt“, sagte Joshua.

„Allerdings.“ Thornstock warf seiner Schwester einen rätselhaften Blick zu. „Gib sie mir, Gwyn.“

Lady Gwyn lächelte. „Wäre es nicht besser, wenn du mir einfach zeigen würdest, wie man schießt?“

„Ich bekomme eine Gänsehaut bei der Vorstellung, dass du bei deinem Debüt bis an die Zähne bewaffnet bist.“ Thornstock streckte die Hand aus. „Gib sie her, Schwester.“

„Oh, schon gut“, knurrte sie und schleuderte ihm die Pistole so heftig auf die Hand, dass er zusammenfuhr.

Thornstock richtete den Blick auf sie. „Wolfe, würden Sie mich einen Augenblick mit meiner Schwester allein lassen?“

Joshua verbeugte sich und war froh, die Zwillinge ihren Krach unter sich austragen zu lassen. „Lassen Sie sich ruhig Zeit. Ich habe genug zu tun.“

Aber als er sich zur Tür wandte, sagte der Herzog: „Wolfe, ich möchte, dass Sie in der Halle warten, bis mein Gespräch mit Gwyn beendet ist.“

Die Lady wurde blass. „Warum?“

Joshua fragte sich dasselbe, war aber klug genug, nicht nachzufragen.

Thornstock ignorierte die Frage ohnehin. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Sir.“

Joshua war kein Dummkopf. Er ließ nichts davon verlauten, dass die Aussicht, noch länger in Lady Gwyns Nähe zu sein, einen Heiligen rasend gemacht hätte. „Ich warte gern.“

„Ich verspreche, dass es nicht lange dauert.“ Thornstock ging zur Tür und öffnete sie.

Joshua verließ das Zimmer mit einem kurzen Nicken und erstarrte, als sich die Tür hinter ihm schloss. Er hasste es, weggeschickt zu werden. Er wusste nicht, was schlimmer war – von einem Mann seines Alters wie ein Diener behandelt zu werden oder auf die verwünschte Lady warten zu müssen.

Es war sowieso nicht wichtig. Bettler, vor allem solche mit einem lahmen Bein, hatten keine Wahl. Um so mehr Grund, sich möglichst bald eine bessere Position zu suchen. Denn sein Leben auf dem Landsitz Armitage wurde jeden Tag unerträglicher.

Gwyn starrte ihren Bruder an. „Du brauchst nicht ruppig zu ihm zu sein!“

„War ich das?“ Thorn hielt inne. „Ah, du willst einfach nur das Thema wechseln. Aber darauf falle ich nicht herein!“

„Du hast mich durchschaut“, log sie. Sie konnte ihrem Zwillingsbruder unmöglich erklären, warum es sie zornig machte, dass Thorn Joshua mehr oder weniger die Tür vor der Nase zuschlug.

Thorn wies auf den einzigen anderen Stuhl in dem kleinen Zimmer. „Nimm Platz“, befahl er und setzte sich an den Schreibtisch. „Ich will die Wahrheit darüber wissen, was zwischen dir und Malet vorgefallen ist.“

„Das habe ich dir schon erzählt.“

Seine Augenfarbe änderte sich zu einem stürmischen Grau. „Nicht die ganze Wahrheit, fürchte ich.“

Sie wünschte Thorn die Pocken an den Hals, weil er sie so gut kannte. Der Segen – und der Fluch – des Lebens als Zwilling war, dass sie kaum etwas voreinander verbergen konnten.

Sie überlegte, was sie sagen sollte, um ihn abzuwimmeln, und schlenderte zu dem Stuhl hinüber. Thorn durfte auf keinen Fall die „ganze Wahrheit“ darüber erfahren. Aber eine gemilderte Version würde vielleicht reichen, am besten eine, in der sie wirkte wie eine dumme Gans. Brüder hielten ihre Schwester immer für dumme Gänse und Thorn tat es mit Sicherheit, seit er Lionel in Berlin bezahlt hatte, um ihn loszuwerden.

„Ich habe heute Morgen eine Nachricht von Mr. Malet bekommen“, sagte Gwyn. „Er schrieb, er wolle mit mir reden und unsere alte … Bekanntschaft erneuern.“

Thornstock sprang auf. „Und du hast dich mit ihm getroffen – einfach so? Was hat dich dazu getrieben, so eine bodenlose Dummheit zu begehen? Du wusstest doch, dass er schon einmal versucht hat, eine Erbin zu entführen?“

„Ich habe mir deine Pistole geliehen. Ich dachte, wenn ich damit herumfuchtele, wäre ich in Sicherheit.“

Thorn ging auf sie zu. „Offenbar hat das nicht funktioniert.“

„Deshalb solltest du mir zeigen, wie man sie benutzt“, sagte sie und begegnete seinem zornigen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken.

„Nur über meine Leiche!“, knurrte er.

„Oder meine.“

Ihm schoss das Blut ins Gesicht. „Ich werde dir nie zeigen, wie man eine Waffe lädt oder abfeuert, also schlag dir das gleich aus dem Kopf!“

„Dann solltest du dich nicht wundern, wenn ich in London in Schwierigkeiten gerate.“

Er sah aus, als würde ihn der Schlag treffen. Er tigerte im Zimmer auf und ab und blieb dann vor ihr stehen. „Schwierigkeiten mit Malet, meinst du wohl.“

„Natürlich nicht.“ Jedenfalls nicht die Art, an die Thorn dachte. „Ich versichere dir, dass sich meine Zuneigung zu Mr. Malet schon vor Jahren gelegt hat.“

Thorn sah skeptisch aus und das war eine Ironie, denn sie meinte jedes Wort ernst. „Warum bist du allein zu dem Treffen mit ihm gegangen?“

„Um ihm zu sagen, was ich dir gerade gesagt habe – dass ich nichts mehr mit ihm zu tun haben will und er mich in Ruhe lassen soll. Ich musste ihn persönlich entschieden zurückweisen, sonst hätte er gedacht, dass du mich zwingen würdest, ihn abzulehnen, und dann hätte er mich weiter belästigt. Aber ich habe mich sehr klar ausgedrückt. Es hat ihm nur nicht gefallen.“

Thorn verschränkte die Arme vor der Brust. „Was hast du dann mit den Schwierigkeiten in London gemeint?“

„Dass ich – da Männer unberechenbar sind und ich eine Erbin bin – bei meinem Debüt Probleme bekommen könnte. Und dass eine Waffe ein guter Schutz davor wäre.“

„Es wäre ein noch besserer Schutz, wenn ich die ganze Zeit bei dir wäre“, knurrte er.

Ihr Herz setzte einen Schlag aus. „Ganz und gar nicht.“ Wenn Thorn die ganze Zeit in der Nähe wäre, würde sie nie dazu kommen, Mr. Malet das Geld zu geben. Sie stand auf und sah ihren Bruder an. „Ich kann nicht hinnehmen, dass du während meines ganzen Debüts um mich herumschleichst. Das würde alle meine Bewerber abschrecken und außerdem magst du solche ‚Heiratsmärkte‘ nicht. Du wirst dich langweilen und dann wirst du immer unfreundlich. Ich bevorzuge angenehmere Gesellschaft auf Bällen, vielen Dank.“

Er öffnete den Mund und überlegte es sich dann anders, was auch immer er hatte sagen wollen. Stattdessen stieß er einen tiefen Seufzer aus. „Was soll ich mit dir anfangen, Liebchen?“

Der vertraute Kosename lenkte sie nicht von ihrem Ziel ab. „Sei mir ein Bruder, kein Vater“, sagte sie sanft. „Ich habe schon eine neugierige Mutter, das reicht. Ich bin dreißig, Herrgott noch mal! Ist es nicht langsam Zeit, dass du aufhörst, mich wie eine Anstandsdame zu bewachen?“

Er erstarrte bei dem beleidigenden Vergleich, sagte jedoch: „Ich wünschte, ich könnte aufhören. Glaub mir nur.“

„Wenn du mir zur Abwechslung einmal vertrauen würdest …“

Dir vertraue ich ja auch. Ich misstraue all den Dreckskerlen von Mitgiftjägern in der Gesellschaft. Wie Malet. Und da wir von ihm reden – hat Wolfe genug von eurem Gespräch mitbekommen, um zu begreifen, dass du einmal beinahe mit dem Schweinehund verlobt warst?“

„Ich glaube nicht. Der Major war zu weit weg.“

Thorn stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. „Gott sei Dank. Es wäre nicht gut, wenn die Gesellschaft erfahren würde, dass du mit Malet zu tun hattest. Der Tratsch darüber, dass er unehrenhaft entlassen wurde – und warum –, ist schon bis zu den obersten Zehntausend vorgedrungen und dort ist er persona non grata. Vielleicht würden die Leute in wilde Spekulationen über dich verfallen, wenn bekannt würde, dass du den Taugenichts vor zehn Jahren beinahe geheiratet hättest.“

Sie blinzelte Thorn an. „Unehrenhaft entlassen? Das wusste ich nicht. Was ist passiert?“

Ein Schatten huschte über das Gesicht ihres Zwillingsbruders. „Frag Heywood und Cass, wenn du die ganze Geschichte wissen willst. Lass dir einfach gesagt sein, dass Malet kein akzeptabler Bewerber für junge Damen ist.“

„Wenn ich mich richtig erinnere, hast du dafür gesorgt, dass ich das selbst herausfinde“, sagte sie kurz angebunden.

Wenigstens hatte ihr Bruder den Anstand, schuldbewusst dreinzublicken. „Bist du mir deswegen immer noch böse?“

„Unsinn. Du hast mir ein hartes Schicksal erspart – mit Captain … Mr. Malet verheiratet zu sein.“ Kein Problem, dass du dabei beinahe meine Zukunft zerstört hättest. „Es ist Vergangenheit.“

„Lügnerin“, sagte ihr Zwillingsbruder milde. Als sie ihre Behauptung nicht wiederholte, seufzte er. „Jedenfalls solltest du Wolfe nichts von deiner früheren Verbindung mit Malet sagen. Wir lassen ihn einfach in dem Glauben, dass Malet dich heute wegen seines Zerwürfnisses mit Heywood entführen wollte. Einverstanden?“

„Natürlich.“ Beim bloßen Gedanken daran, dass Major Wolfe erfahren würde, wie dumm sie in ihrer Jugend gewesen war, zog sich ihr Magen zusammen, auch wenn sie nicht genau wusste, warum. Wahrscheinlich würde sie den ehemaligen Offizier in Zukunft nur noch selten sehen. Ihr Familie würde in wenigen Tagen nach London aufbrechen und er würde hierbleiben.

„Ich bin froh, dass du zustimmst“, fuhr Thorn fort. „Ich glaube wirklich nicht, dass Wolfe zu Klatsch neigt, aber je weniger über die Sache gesprochen wird, desto besser.“

„Ganz sicher.“

Als ihr Zwillingsbruder zur Tür ging und sie öffnete, fiel ihr ein, dass Major Wolfe draußen auf sie beide wartete. Aber warum? Wollte Thorn ihm eine Belohnung dafür anbieten, dass er sie heute gerettet hatte?

Sie hoffte es nicht. Der Major war stolz wie ein Löwe – und doppelt so angriffslustig. Er würde es nicht gut aufnehmen.

„Kommen Sie herein, Sir“, sagte Thorn. „Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen.“

O nein. Das klang nicht gut.

Nach Major Wolfes misstrauischer Miene zu urteilen, war er ihrer Meinung. „Was für einen Vorschlag?“, sagte er und warf ihr einen fragenden Blick zu.

Sie zuckte hilflos die Achseln. Sie hatte keine Ahnung, was ihr Bruder ausbrütete.

„Wie Sie vielleicht wissen“, sagte Thorn, „wird die ganze Familie in ein paar Tagen nach London aufbrechen. Wir reisen am Tag nach Ostern ab.“

„Ich weiß“, sagte der Major und verschränkte die Arme über der Brust.

„Ich möchte, dass Sie uns begleiten.“

„Ich fürchte, in Ihrem Londoner Stadthaus haben Sie wenig Verwendung für einen Wildhüter“, sagte Major Wolfe argwöhnisch.

„Ja, aber als solchen brauche ich Sie auch nicht. Ich brauche Sie als Gwyns Leibwächter.“