Leseprobe Mord undercover

Eins

New York City, März 1906

Es war ein unruhiger Frühling gewesen, sowohl in Bezug auf das Wetter als auch auf mein Leben. Wir hatten früh einige warme Tage erlebt. Es blühte, Narzissen sprossen, die Vögel zwitscherten ihre Paarungsrufe, New Yorker legten Kleidungsschichten ab und erwachten aus ihrem Winterschlaf. Selbst die Bettler und Kreuzungskehrer hatten ein Lächeln auf den Lippen und bedankten sich mit frechen Sprüchen für die gelegentliche Münzgaben. Der März hatte noch recht harmlos begonnen, uns dann aber mit eisigen Winden malträtiert, die Blüten von den Bäumen rissen und uns sogar mit Schnee wieder in unseren Häusern eingesperrten.

Mein eigenes Leben hatte sich genauso unvorhersehbar und unruhig entwickelt. Zu Anfang des Jahres erholte sich Daniel noch von seiner Schusswunde, die er erlitten hatte, als er versuchte, einen übereifrigen Neuling davon abzuhalten, sich mit der fürchterlichen, neuen, italienischen Gang namens Cosa Nostra anzulegen. Daniel hatte überlebt, doch der junge Polizist hatte mit dem Leben bezahlt. Dazu kam noch, dass der aktuelle Police Commissioner Daniel nicht leiden konnte. Für ihn und seine Kumpane von Tammany Hall war Daniel zu geradlinig, da er sich weigerte, sich unterzuordnen und sich ab und zu bestechen zu lassen. Ich vermutete, dass sie nach einer Möglichkeit gesucht hatten, ihn loszuwerden, was sich allerdings nicht allzu einfach gestaltete, da er einer der angesehensten Police Captains von New York war. Doch während er mit seiner Schusswunde ausgeschaltet war, hatten dunkle Mächte versucht, ihn in Verruf zu bringen, solange er sich nicht persönlich dagegen wehren konnte. Aus einer unbekannten Quelle hatte sich das Gerücht verbreitet, Daniel hätte dem Neuling befohlen, den Boss der Cosa Nostra zu verhaften – ein törichter Plan, weil der sich mit mehr Leibwächtern umgab als der Kaiser von China. Tatsächlich war das genaue Gegenteil passiert: Daniel hatte herausgefunden, was der junge Mann vorgehabt hatte, und war ihm nachgeeilt. Unglücklicherweise hatte Daniel ihn nicht rechtzeitig aufhalten können und er war erschossen worden. Daniel hatte sich die zweite Kugel eingefangen, aber überlebt. Doch mittlerweile glaubte die halbe Polizeitruppe, dass Daniel Schuld am Tod des Kollegen war. Mein Ehemann, so verantwortungsvoll und mutig wie ein Mann nur sein konnte, war deswegen todunglücklich; und nicht in der Lage, die Sache ins rechte Licht zu rücken. Er sprach mittlerweile sogar erstmals von einem Rückzug aus der Polizei, und darüber, Anwalt zu werden oder in die Politik zu gehen, wie es seine Mutter immer vorgeschlagen hatte. Ich ertrug es nicht, ihn so still und nachdenklich zu sehen, wenn er in seinem Essen herumstocherte und kaum Augen für seinen jungen Sohn hatte. Es war schon so weit gekommen, dass ich am liebsten selbst zum Polizeihauptquartier gegangen wäre, um den Leuten dort gründlich die Meinung zu sagen.

Zum Glück kam es nicht so weit, da John Wilkie wieder in unser Leben trat. Als Ehefrau eines Police Captains hätte ich wohl lernen müssen, mich nicht mehr von unerwarteten Schicksalswendungen überraschen zu lassen. Doch die Haustür zu öffnen und John Wilkie auf der Schwelle stehen zu sehen, sorgte dafür, dass mir die Kinnlade herunterklappte. Einerseits ist es nicht unbedingt alltäglich, dass der Kopf des U.S. Secret Service zu Besuch kommt, und andererseits hatten wir uns nach unserer letzten Begegnung nicht gerade freundschaftlich getrennt. Als ich herausgefunden hatte, dass er mich als Lockvogel benutzt hatte, um meinen Bruder zu fassen, der dabei gewesen war, in Amerika Geld für die Irisch-Republikanische Bruderschaft aufzutreiben, war ich nicht in der Lage gewesen, meinen Zorn im Zaum zu halten. Das Ganze hatte mit dem Tod meines Bruders geendet, für den ich immer noch John Wilkie verantwortlich machte.

Mr. Wilkie schien diese unangenehme Zeit vergessen zu haben, als ich an einem stürmischen Märzabend in unserer kleinen Seitengasse, dem Patchin Place, die Haustür öffnete und er vor mir stand. Schneeflocken wirbelten um ihn herum und ich brauchte ein oder zwei Sekunden, um ihn zu erkennen, da er in einen dicken, roten Schal gehüllt war.

„Guten Abend, Mrs. Sullivan“, sagte er und streckte mir eine behandschuhte Hand entgegen. „Es ist schön, Sie wiederzusehen.“

„Mr. Wilkie“, antwortete ich, ohne sein Lächeln zu erwidern. „Das ist eine Überraschung.“

„Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen“, sagte er.

„Überhaupt nicht. Ich nehme an, dass es sich an diesem kalten und unfreundlichen New Yorker Abend nicht um einen Höflichkeitsbesuch handelt.“

Er lächelte. Sein Mund war immer noch unter dem Schal verborgen, doch ich konnte es an seinen Augen sehen. „Ich hatte gehofft, mich ungestört mit Ihrem Ehemann unterhalten zu können. Ist er zu Hause?“

„Er hat eben zu Abend gegessen“, sagte ich. „Kommen Sie doch herein, dann sage ich ihm, dass Sie hier sind.“

Ich hatte gerade die Haustür hinter uns geschlossen, als Daniel aus der Küche kam und sich noch die Mundwinkel mit einer Serviette abputzte. Es hatte Irish Stew gegeben, Daniels Lieblingsessen.

„Wer war da an der Haustür, Molly?“, fragte er, dann bemerkte ich die Überraschung in seinem Blick. „Mr. Wilkie. Das ist eine unerwartete Ehre, Sir. Lassen Sie mich Ihnen aus dem Mantel helfen. Und Molly, würdest du Mr. Wilkie bitte Handschuhe, Hut und Schal abnehmen?“

Wir befreiten Mr. Wilkie aus seiner äußeren Hülle.

„Ich fürchte, wir haben im vorderen Wohnzimmer kein Feuer vorbereitet, also müssen wir mit dem hinteren Vorlieb nehmen, das gleichzeitig mein Arbeitszimmer ist, jetzt da alle Schlafzimmer besetzt sind“, sagte Daniel, während er Mr. Wilkie den Flur hinunterführte.

John Wilkie lächelte. „Natürlich, Sie brauchen ja jetzt ein Kinderzimmer, nicht wahr? Sie haben ein Kind bekommen, seit wir uns zuletzt sahen. Junge oder Mädchen?“

„Ein Junge“, sagte ich. „Er ist mittlerweile achtzehn Monate alt. Wir haben ihn Liam genannt, nach meinem verstorbenen Bruder.“

Ich sah, dass Daniel mir einen warnenden Blick zuwarf, doch mein Kommentar schien Mr. Wilkie kalt zu lassen. Vielleicht hatte er bereits vergessen, wie mein Bruder gestorben war. Vielleicht war es ihm egal.

„Meinen Glückwunsch“, sagte er. „Ein Sohn, um die Familie zu begründen.“

„Können wir Ihnen etwas zu trinken anbieten, Mr. Wilkie?“, fragte Daniel, als er anhielt, um das Gaslicht im hinteren Wohnzimmer hochzudrehen. „Ich glaube, ich habe noch einen Rest von einem annehmbaren Whiskey übrig, sonst macht Ihnen Molly gewiss auch gern einen Kaffee oder einen Tee.“

„Zu dem Whiskey sage ich nicht nein.“

„Dann setzen Sie sich bitte ans Feuer und ich werde sehen, was ich tun kann“, sagte Daniel. Er sah wieder zu mir. „Molly, würdest du uns zwei Gläser bringen?“

Damit war klar, dass ich bei dieser Unterhaltung nicht erwünscht war, besonders, da Mr. Wilkie nichts hinzufügte, als er sich ans Feuer setzte. Nun gut, dachte ich. Je größer der Abstand, den ich zu John Wilkies Machenschaften halten konnte, desto besser. Ich ging wieder in die Küche, wo Liam protestierte, weil er in seinem Hochstuhl saß, obwohl offensichtlich Besuch im Haus war. Und Bridie, das Mädchen, das ich vor all den Jahren aus Irland mitgebracht hatte, räumte gerade den Tisch ab. Sie lebte zurzeit bei uns, damit sie in der Stadt zur Schule gehen konnte, und hatte sich als großartige Helferin erwiesen.

„Lass gut sein, Bridie, meine Liebe“, sagte ich. „Könntest du Liam aus seinem Stuhl holen und ihn bettfertig machen? Captain Sullivan hat Besuch.“

Sie stellte die Teller ab, die sie gerade aufeinandergestapelt hatte. „Komm mit, Liam“, sagte sie. „Wir machen dich bettfertig.“

Liam stieß einen Schrei aus. „Mama“, heulte er.

„Schlafenszeit, junger Mann“, sagte ich mit Nachdruck. „Und wenn du artig bist, wird Bridie dir die Geschichte von den drei Bären erzählen. Und dann kommt Dada, um dir Gutenacht zu sagen.“

Bridie trug ihn nach oben, während er immer noch protestierte. Doch als sie ihm etwas ins Ohr flüsterte, lächelte er sie an. Sie entwickelte sich beinahe zu einer Art kleiner Mutter, dachte ich. So erwachsen. Bereit, zur Frau zu werden. Ich holte zwei unserer guten Gläser aus dem Schrank, polierte sie und richtete noch einen Teller mit Käsestangen an, die ich am Tag zuvor gebacken hatte. Dann trug ich alles auf einem Tablett nach drüben.

Als ich die Tür öffnete, sagte Daniel gerade: „Ich gebe zu, was Ihre Spione Ihnen sagen, ist nicht falsch, und ich hielte es für schlau, Ausschau zu halten …“

Die Unterhaltung wurde unterbrochen, als ich hereinkam. Ich stellte das Tablett auf Daniels Schreibtisch ab. „Kann ich Ihnen noch etwas bringen, ehe ich damit beschäftigt bin, Liam ins Bett zu bringen?“, fragte ich.

„Nein, vielen Dank. Sehr freundlich, Mrs. Sullivan“, sagte Mr. Wilkie.

„Dann verschwinde ich wieder.“ Ich verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter mir. In der Vergangenheit hatte Mr. Wilkie mich als gute Detektivin bezeichnet und mich rekrutieren wollen, doch dieses Mal sollte ich offensichtlich nicht eingeweiht werden. Leider konnte ich durch die Tür nichts mehr hören, obwohl ich mein Ohr ans Holz legte, wie ich gestehen muss. Ich war also gezwungen, wieder zu meinen Pflichten als Ehefrau zurückzukehren und den Abwasch zu machen.

Nachdem ich die Küche aufgeräumt hatte, waren die beiden immer noch in dem Zimmer eingeschlossen. Ich ging hoch, um nach Liam zu schauen, stellte aber fest, dass er bereits eingeschlafen war. Bridie saß neben ihm und las im gedämpften Gaslicht ein Buch.

„Du musst nicht hier oben bleiben, mein Liebling“, sagte ich. „Komm nach unten und leiste mir in der Küche Gesellschaft. Da ist es schön warm.“

„In Ordnung.“ Sie folgte mir die Treppe hinunter.

„Was liest du?“

Little Women“, sagte sie. „Das Buch hat mir meine Lehrerin ausgeliehen. Sie weiß, dass ich gerne lese.“

„Eine wissbegierige, kleine Schülerin“, sagte ich. „Deine Mutter wäre sehr stolz auf dich.“

„Und mein Vater?“ Sie sah mich wehmütig an. „Er hatte nie viel für Bücher übrig. Ich glaube, er ist ebenfalls tot, oder?“

Bridies Vater und Bruder waren mit einem Schiff nach Panama gefahren, um an dem neuen Kanal zu arbeiten, und wir hatten seit über einem Jahr nichts mehr von ihnen gehört. Da ich Gerüchte über die entsetzlichen Arbeitsbedingungen an diesem schrecklichen Ort gehört hatte, hielt ich es durchaus für möglich, dass Seamus tot war, doch ich legte Bridie einen Arm um die Schultern. „Nein. Ich glaube, er ist nur zu weit von jeglicher Kommunikationsmöglichkeit entfernt. Und wie du schon sagtest, er hat nie viel geschrieben. Vielleicht denkt er gar nicht daran, dass du dir Sorgen machen könntest. Männer sind da anders. Sie glauben nicht, dass wir Frauen uns Sorgen machen.“

Sie bekam ein tapferes Lächeln zustande. „Er wird mich gar nicht wiedererkennen, wenn er zurückkommt“, sagte sie. „Ich hoffe, ich kann dann trotzdem bei Ihnen bleiben. Oder bei Captain Sullivans Mutter draußen auf dem Land.“
„Damit beschäftigen wir uns, wenn es soweit ist …“, sagte ich und unterbrach mich, als ich hörte, wie sich eine Tür öffnete.

„Sie denken also darüber nach?“ Das war John Wilkies Stimme. „Was soll ich Präsident Roosevelt ausrichten?“
„Ich werde Ihnen bis zum Ende der Woche meine Antwort mitteilen“, sagte Daniel. „Es ist ein großer Schritt. Das kann ich nicht leichtfertig entscheiden.“

„Ich kann gewiss beim Commissioner alles in die Wege leiten, besonders wenn die Anfrage direkt vom Präsidenten kommt“, sagte Mr. Wilkie. Er stand im Flur und Daniel half ihm in den Mantel. Dann reichte er ihm Schal, Hut und Handschuhe.

„Es war schön, Sie wiederzusehen, Mrs. Sullivan.“ Mr. Wilkie wandte sich mir zu. „Vielen Dank für die Käsestangen. Die waren köstlich.“

Ich nickte höflich, während Daniel ihn hinausführte. Kaum war die Haustür wieder geschlossen, fragte ich: „Worum ging es da? Mr. Wilkie möchte, dass du für ihn arbeitest?“

„Ich fürchte, ich darf nicht darüber sprechen“, sagte Daniel. „Aber, ja, darauf läuft es hinaus.“

„Du würdest die Polizei verlassen?“

„Wenn Wilkie das hinbekommt, werde ich ihm unterstellt.“

„Und diese Anfrage kommt direkt von Präsident Roosevelt?“

„Ja.“
„Dann würdest du für den Präsidenten höchstpersönlich arbeiten?“

„Indirekt.“

„Du machst mich rasend, Daniel Sullivan“, sagte ich genervt. „Wie kannst du deiner Ehefrau verschweigen, was du tun wirst? So eine Entscheidung in deinem Leben geht doch auch mich etwas an.“

„Ich habe mich noch nicht entschieden“, sagte er. „Ich muss die Vor- und Nachteile abwägen. Dieser Auftrag ist nicht gerade unkompliziert. Er beinhaltet ein gewisses Maß an List.“

„Und Gefahr?“

„Vermutlich auch das. Doch in meinem aktuellen Beruf bin ich auch tagtäglich in Gefahr, wie du nur zu gut weißt. Ich habe mir erst kürzlich eine Kugel eingefangen.“

Ich legte eine Hand auf seinen Arm. „Dann mach das, was deine Mutter sich immer gewünscht hat. Geh in die Politik.“

Jetzt lachte er. „Kannst du dir vorstellen, dass ich als Kongressabgeordneter in Albany sitze? Oder noch schlimmer, in Washington? Ich bin mit dem Police Commissioner aneinandergeraten, weil ich keine Bestechungsgelder annehme und bei Korruption kein Auge zudrücke. Was glaubst du, wie viel schlimmer das in der Politik wäre? Ich bin denen verpflichtet, die mich gewählt haben. Ich würde mich der Parteilinie unterwerfen und gegen mein Gewissen handeln müssen.“

„Dieser Auftrag für John Wilkie, ist der in New York?“, fragte ich. „Kannst du mir wenigstens so viel sagen?“

„Nein, ich glaube nicht, dass sich die Sache in New York abspielt.“

„Würden wir umziehen müssen?“
„Nein. Es geht nur um einen kurzen Ausflug, hoffe ich. Höchstens einen Monat oder so.“

„Und ich würde hierbleiben?“

„Ja“, sagte er. „Das ist besser so. Bridie muss zur Schule. Du hast deine Freundinnen, die ein Auge auf dich haben können. Und ich hätte die Freiheit, zu tun … was ich tun muss.“

Ich schlang ihm die Arme um den Hals. „Ich will nicht, dass du etwas Gefährliches tust, Daniel.“

„Sei nicht albern.“ Er küsste mich auf die Stirn. „Ich kann auf mich aufpassen. Ich werde keine unnötigen Risiken eingehen. Alles wird gut.“

„Das klingt, als hättest du dich schon entschieden.“

„Ich denke, das habe ich“, sagte er. „Ich bin lieber draußen und tue etwas, als hier herumzusitzen und dabei zuzusehen, wie meinen Kollegen die spannenden Ermittlungen zugeschoben bekommen, und darauf zu warten, dass meine Feinde den nächsten Nagel für meinen Sarg finden.“

„Bitte sprich nicht von Särgen.“ Ich blickte in sein Gesicht.

Zwei

Zwei Tage später teilte Daniel mir mit, dass er beschlossen hätte, Mr. Wilkies Auftrag anzunehmen. Das sei eine gute Herausforderung für ihn, sagte er. Und eine gute Gelegenheit, um neue Möglichkeiten auszuloten. Wenn er sich beim Präsidenten gutstellte, wenn der Präsident ihn zu schätzen lernte, wer konnte wissen, wohin das führen mochte?

Ich sah von den Kartoffeln auf, die ich in diesem Moment schälte. „Ich wünschte, die Menschen aus meinem Dorf in Irland könnten mich jetzt sehen“, sagte ich. „Molly Murphy, aus dem baufälligen Cottage und mit einem Trinker als Vater, die jetzt mit einem Mann verheiratet ist, der vom Präsidenten der Vereinigten Staaten persönlich für einen Spezialauftrag angefordert wurde.“

Daniel grinste. „Bei dir klingt das alles viel bedeutender, als es eigentlich ist“, sagte er.

„Du könntest mir wenigstens einen Hinweis darauf geben, was du tun wirst.“ Ich starrte ihn an. „Wirst du Kriminelle jagen, Spione schnappen? Ich weiß überhaupt nicht, was der Secret Service tut.“

„Ich auch nicht“, entgegnete Daniel. „Die auch nicht, glaube ich.“ Er lachte. „Die Behörde wurde gegründet, um Geldfälschung zu verhindern und den Präsidenten zu schützen. Doch John Wilkie ist ein Mann mit Ambitionen, und ich bin mir sicher, dass er darauf aus ist, die Zuständigkeit zu erweitern.“

„Dann wirst du den Präsidenten beschützen?“, fragte ich unschuldig.

„Nein. Meine Aufgabe wird sehr viel bescheidener sein, das kann ich dir versichern.“

„Also Spionage?“, fragte ich. „Anarchisten?“

„Keine Anarchisten, versprochen.“ Er lächelte. „Und du machst die Sache viel größer, als sie eigentlich ist, Molly. Ich glaube nicht, dass es um mehr als einen einfachen Betrugsfall geht.“

Ich war erleichtert, weil er sich wenigstens nicht mit gefährlichen Ausländern anlegen würde. „Warum kommt Mr. Wilkie dann zu dir? Hat er nicht eigene Agenten, die für ihn die Drecksarbeit erledigen können?“

„Natürlich. Doch ich glaube, er will mich, gerade weil ich keiner von ihnen bin. Ich bin ein Außenstehender. Unbekannt.“

Ich stand da und starrte ihn mit einer halb geschälten Kartoffel in der Hand an. Ich wollte, dass er weitersprach. „Daniel, erzählst du mir wenigstens, wohin du gehst?“

„Das kann ich dir nicht sagen, weil ich es selbst nicht weiß. Ich werde in Washington, D.C. den Präsidenten treffen. Und dann …“

„Dann was? Ich bin deine Ehefrau. Habe ich nicht das Recht zu erfahren, wo du sein wirst? Was wenn, Gott bewahre, Liam todkrank wird? Oder deine Mutter?“

„John Wilkie wird wissen, wo ich bin. In einem ernsten Notfall kannst du ihn kontaktieren.“

„Und welche Art von Kleidung soll ich für dich einpacken?“; fragte ich. „Lange Unterhosen oder dein Sommerjackett?“

Er lachte und ließ einen Arm um meine Hüfte gleiten. „Ich werde nicht auf diesen subtilen Versuch hereinfallen, mir ein Geständnis zu entlocken, Molly Sullivan. Und ich werde selbst packen, wenn ich aufbreche.“

Ich seufzte und widmete mich wieder den Kartoffeln.

Die folgenden Tage vergingen viel zu schnell. Daniel erhielt Telegramme und verschickte vermutlich Antworten. Ich sorgte dafür, dass all seine Kleidung gewaschen war. Er packte nur eine lächerlich kleine Tasche. Das machte mir wenigstens ein bisschen gute Laune. Er konnte nicht erwarten, lange fort zu sein, wenn er so wenig Kleidung mitnahm. Als ich nach Paris gereist war, hatte ich eine große Reisetruhe dabei gehabt. Vielleicht machte ich mir also völlig grundlos Sorgen. Möglicherweise würde er nach einer kurzen Unterredung mit dem Präsidenten schon wieder nach Hause zurückkehren.

Daniel schien bester Stimmung zu sein, als er sich an einem frischen Märzmorgen von uns verabschiedete. Der Wind zerrte an seinem Schal, als er auf halbem Weg den Patchin Place hinunter stehenblieb, um zu winken und Liam einen Luftkuss zuzuwerfen. Dann war er fort. Ich blinzelte alberne Tränen weg. Ich war unnötig emotional. Er wurde ja nicht als Spion ins Ausland geschickt. Er erledigte nur einen simplen Auftrag für den Präsidenten. Das war nicht gefährlicher als seine normale Arbeit in New York.

Die Haustür auf der anderen Straßenseite öffnete sich und meine Nachbarin Gus Walcott kam heraus.

„Dann ist er unterwegs?“, fragte sie, als Daniel hinter der Ecke zur Greenwich Avenue verschwand.

Ich nickte.

„Kopf hoch. Er ist wieder da, ehe du dich versiehst.“ Sie lächelte mir aufmunternd zu. „Und es heißt doch, dass die Liebe mit der Entfernung wächst. Ich gehe zur französischen Bäckerei und hole Croissants. Komm in einer halben Stunde auf einen Kaffee rüber. Wir planen ein paar aufregende Dinge für die Zeit, in der Daniel fort ist.“

Ich versuchte, fröhlicher zu wirken, als ich mich am späteren Vormittag in ihre warme Küche führen ließ. Der Duft von frischem Kaffee und warmem Brot erfüllte die Luft. Gus’ Lebensgefährtin, Sid Goldfarb, stand am Herd, rührte in einem brodelnden Topf herum und sah in ihrem smaragdgrünen Samtjackett und ihrer schwarzen Seidenhose aus wie eine glamouröse Hexe. Ich sollte wohl erklären, dass Sid und Gus die Spitznamen der beiden Frauen sind, die offiziell Augusta und Elena heißen. Sie verfügten über ausreichend Geld, um sich ein Künstlerinnenleben leisten zu können, und dabei sämtliche Regeln der gehobenen Gesellschaft zu ignorieren. Sie probierten ständig neue Dinge aus, malten, schrieben, reisten und hatten ihren Spaß. Sie waren zudem passionierte Suffragetten. Ich unterstützte ihr Anliegen zwar, musste aber vorsichtig vorgehen, da es Daniel nicht zusagte, wenn Frauen unangenehm auffielen (oder das Frauenwahlrecht einforderten, nahm ich an). Und da er ein angesehenes Mitglied der New Yorker Gesellschaft war, durfte ich nichts unternehmen, was seine Stellung gefährdete. Doch als ich Liam auf dem Boden absetzte, wo er gleich seinen unsicheren Gang übte, ging mir auf, dass ich mich mehr beteiligen könnte, solange er fort war.

Sid und Gus mussten zu demselben Schluss gekommen sein. Sid hob den Blick vom Topf. „Wenn die Katze aus dem Haus ist, können die Mäuse auf dem Tisch tanzen, nicht wahr, Molly?“, fragte sie mit einem verschmitzten Lächeln. „Wir sprachen gestern Abend über dich, und darüber, dass es unsere Aufgabe sein wird, dich zu unterhalten. Es gibt Kunstgalerien, die du besuchen musst, und wir werden all unsere verrufenen Künstlerfreundinnen einladen, von denen dein Ehemann nichts hält. Außerdem planen wir eine Frühlingskampagne der Suffragetten und würden uns freuen, wenn du dabei bist. Wir ziehen sogar in Erwägung, wieder mit unseren Transparenten bei der Osterparade mitzumarschieren.“

„Ist das wirklich eine gute Idee?“, fragte ich, während Gus mir eine Tasse Kaffee hinstellte. „Beim letzten Mal war das nicht allzu erfolgreich, oder? Und Daniel war außer sich, als er mich aus einer Gefängniszelle retten musste.“

„Das ist jetzt schon mehrere Jahre her“, sagte Gus. „Ich glaube, dass immer mehr Frauen unsere Denkweise übernehmen. Und wir können nicht wegen einiger kleiner Rückschläge aufgeben.“ Sie nahm ein Croissant aus dem Korb auf dem Tisch und reichte es Liam, der sich augenblicklich auf den Teppich sinken ließ und an einem Ende des Croissants saugte.

„Wirst du wenigstens zu unseren Treffen kommen?“, fragte Sid. Sie legte den Kochlöffel weg und setzte sich neben mich.

„Natürlich.“

„Wir müssen dich beschäftigen, damit du dich nicht vor Sehnsucht verzehrst“, sagte sie. „Das hat bei uns auch gut funktioniert. Du siehst ja, wie emsig wir sind, seit die Kinder bei ihrem Großvater leben.“

„Ihr vermisst sie immer noch?“, fragte ich. Sid und Gus hatten zwei Waisenkinder von der Straße aufgenommen, die jetzt wieder glücklich mit ihrer Familie vereint waren. (Dank meiner Detektivinnenarbeit, sollte ich hinzufügen.)

„Natürlich. Aber wir werden sie bald wiedersehen. Ihr Großvater hat uns vergangene Woche geschrieben. Der Familie gehört eine Hütte in den Adirondacks. Und da der alte Mann einer solchen Reise noch nicht wieder gewachsen ist, sollen wir die Kinder dort hinbringen, um den Schnee zu sehen.“

„Oh, das wird bestimmt schön“, sagte ich. „Ich freue mich für euch.“

„Ich will schon seit Jahren meine Technik beim Skifahren verbessern“, sagte Sid. „Ich habe es während meiner Collegezeit mal ausprobiert, hatte aber nie so ganz den Dreh raus. Mein deutscher Skilehrer sagte mir in seinem unvergesslichen Akzent immer wieder, ich solle die Knie beugen. Ich habe sie gebeugt, konnte aber dennoch nicht beeinflussen wohin mich diese verdammten Ski trugen.“

Gus sah mich an. „Ich glaube, ich ziehe einen heißen Kakao am lodernden Feuer vor und genieße den Blick in die Berge durchs Fenster“, sagte sie. „Vielleicht nehme ich sogar meine Farben mit und fange die Szenerie ein.“

„Du wirst bestimmt mit den Kindern im Schnee spielen wollen, davon bin ich überzeugt“, sagte Sid. „Stell dir nur vor, wie viel Spaß wir haben werden, wenn wir Schlitten fahren und Schneemänner bauen. Und selbst …“ Sie sprang auf, weil der Topf auf dem Herd wütend brodelte.

„Was kochst du da? Es riecht interessant“, sagte ich.

„Eine Mulligatawny-Suppe aus dem indischen Kochbuch, das du uns geschenkt hast. Wir werden immer vertrauter mit der indischen Küche, nicht wahr, Gus? Wir planen, bald ein indisches Bankett zu geben. Wir werden Saris tragen, uns einen Punkt auf die Stirn malen und einen Sitarspieler einladen.“
„Sid wollte herausfinden, ob wir aus dem Bronx Zoo einen Elefanten ausleihen können, der unsere Gäste den Patchin Place entlangträgt“, sagte Gus.

„Was ist so witzig daran?“, fragte Sid, als Gus und ich in Gelächter ausbrachen.

„Und wie willst du den Elefanten aus dem Zoo herbringen? Bestimmt nicht in der Straßen- oder U-Bahn.“

„Details.“ Sid machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wir haben beschlossen, dass uns unser nächstes großes Abenteuer nach Indien führen wird, Molly. Du weißt, wie sehr wir uns danach sehnen. Aber natürlich werden wir nicht verschwinden, ehe Daniel wieder zurück ist und du ohne uns auskommst.“

„Ihr führt ein so aufregendes Leben“, sagte ich. „Meines wirkt eintönig im Vergleich.“

„Es war weniger eintönig, als du noch diese Detektei geführt hast, oder?“

„Definitiv.“

„Gelegentlich sogar ein wenig zu aufregend, würde ich sagen“, fügte Gus hinzu, während sie Liam vom Boden hob, ehe er in der Speisekammer verschwinden konnte. „Wir haben uns damals um deine Sicherheit gesorgt, Molly. Wir sind ganz froh, dass du diese Abenteuer aufgegeben hast.“

„Du hast wohl recht.“

Sie hob den Blick von ihrem Kaffee. „Vermisst du es immer noch? Die Aufregung? Die Zufriedenheit darüber, einen Fall abgeschlossen zu haben?“

„Als ob sie je wirklich aufgehört hätte“, sagte Gus. „Wer hat denn vergangene Weihnachten die Wahrheit über die Kinder herausgefunden? Oder das Rätsel um die Träume dieses armen Mädchens gelöst?“

„Ich muss meine Fähigkeiten wohl gelegentlich auf die Probe stellen“, gab ich zu. „Und ich muss gestehen, dass es mich wurmt, dass Daniel mir nichts über seinen neusten Auftrag erzählt hat. Ich weiß nicht, wohin er geht oder was er tun wird.“

„Es muss etwas streng Geheimes sein“, sagte Sid. „Ich wette, er wird als Spion arbeiten. Wie aufregend. Ich wäre gern Spionin, du nicht auch, Gus?“

„Er wird nicht als Spion arbeiten“, sagte ich rasch. „Er hat mir versprochen, er würde nicht ins Ausland gehen.“

„Vielleicht darf er dir nichts erzählen“, sagte Sid und warf Gus einen wissenden Blick zu.

Ich wünschte, sie hätte das nicht gesagt. Jetzt machte ich mir noch mehr Sorgen – Daniel könnte verdeckt nach Russland, Japan oder Deutschland reisen … allein die Vorstellung war unerträglich.

Daher war ich erleichtert, als ich wenige Tage später eine Postkarte mit einem Bild des Weißen Hauses in Washington erhielt. Auf die Rückseite hatte Daniel geschrieben:

Hier läuft alles gut. Kuss an Frau und Sohn.

Er war in Washington, nur wenige Meilen entfernt. Und wenn er Zeit hatte, um eine Postkarte zu kaufen und zu schreiben, konnte er nicht unmittelbar in Gefahr sein, sagte ich mir. Vielleicht hatte er die Wahrheit gesagt und arbeitete tatsächlich an einem einfachen Betrugsfall. Ich beschloss, die Zeit seiner Abwesenheit zu genießen. Sid und Gus hielten Wort: Sie nahmen mich zu einer Ausstellung im Tenth Street Studio mit – ein großes Gebäude, das einem Lagerhaus ähnelte und in dem mittellose Künstlerinnen und Künstler aus der Gegend für sehr geringe Kosten ein Atelier mieten konnten. Allerdings war leider keine Heizung inbegriffen. Die Ausstellung fand unter dem zentralen Kuppeldach statt, doch wenngleich die Kulisse sehr prachtvoll wirkte, war es doch kühl und unwirtlich. Ich war froh, dass ich meinen Fellmuff dabeihatte und geradezu erleichtert, als man mir ein Glas Glühwein anbot. Ich legte meine Hände darum und spürte, wie die Wärme in meine Finger strömte.

Ich muss gestehen, dass mich die neusten Trends in der Kunst nicht gerade beeindruckten. Ich hatte die Gemälde des Impressionismus stets als schön und heiter empfunden. Dieser Post-Impressionismus, Kubismus, Fauvismus oder wie auch immer man die Strömung gerade nannte, brachte keine Bilder hervor, die ich mir an die Wand hängen würde – verzerrte Gestalten, grelle Farben und alptraumhafte Motive. Doch diese Bilder repräsentierten wohl das neue Jahrhundert, in dem wir lebten; mit mechanischem Fortschritt, politischem Umbruch und neuen wissenschaftlichen Ansätzen. Ich gab mich natürlich höflich, wenn Sid und Gus sich für ein Bild begeisterten und es mit Gus’ Arbeit verglichen (die ich gleichermaßen uninteressant fand, obwohl ich das natürlich nie ausgesprochen hatte).

Ich lernte einen jungen Mann kennen, dessen Arbeiten mir gefielen. Er hieß Feininger und malte langgestreckte Gestalten in angenehmen Farben, ein bisschen wie Buntglasfenster. Ich unterhielt mich gerade mit ihm, als Gus zu mir kam und mich mit überschwänglicher Begeisterung davonzerrte.

„Du wirst nie erraten, wen wir gerade getroffen haben, Molly. Mr. Samuel Clemens.“ Als sie meinen verdutzten Gesichtsausdruck bemerkte, führte sie aus: „Du weißt schon, Mark Twain höchstpersönlich. Er hat sich hier ein Haus gemietet und uns am Samstag zu einer Soiree eingeladen. Komm mit, du musst ihn kennenlernen.“

Natürlich. Mark Twain. Ich errötete ob meiner Unwissenheit. Ich hatte ihn schon einmal sprechen gehört, als er in Greenwich Village war, daher wirkten sein weißes Haar und sein eindrucksvoller, weißer Schnurrbart nicht ganz so überraschend auf mich. Er schüttelte mir die Hand, als wir einander vorgestellt wurden.

„Das ist genau das, was ich gerade um mich brauche“, sagte er, als er sich im versammelten Publikum umsah. „Eine Schar wunderschöner Frauen. Jung und wunderschön. Seit mir Frau und Tochter gestorben sind, wirkt die Welt trostlos und leer.“ Er drückte meine Hand. „Sie werden auch zu meinem kleinen Treffen kommen, oder, meine liebe Mrs. Sullivan?“

„Natürlich. Sehr gern“, sagte ich.

„Sieh mal einer an“, sagte ich, während wir gegenseitig untergehakt über die 5th Avenue zurückliefen und mit großen Schritten über die letzten Schneereste stiegen. „Erst wird mein Ehemann vom Präsidenten angefordert, und dann erhalte ich auch noch eine Einladung zu einem gesellschaftlichen Treffen mit Mark Twain. Wenn Schwester Mary Patrick mich jetzt sehen könnte. Oder meine Mutter. Sie haben mir beide gesagt, dass es schlimm mit mir enden würde, wenn ich meine Lebensweise nicht änderte.“

Wir lachten immer noch, als wir in den Patchin Place einbogen. Ich glaube, das war für eine lange Zeit mein letztes Lachen.